Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vom Kommunismus zur Demokratie in Bulgarien | APuZ 14/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1992 Jugoslawien vor dem Zerfall Vom Kommunismus zur Demokratie in Bulgarien Rumänien zwischen Revolution und Restauration Albaniens Weg zur Demokratie

Vom Kommunismus zur Demokratie in Bulgarien

Georgi Karasimeonov

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag analysiert die Merkmale des Übergangs zur demokratischen Regierungsform in Bulgarien nach dem Sturz des kommunistischen Regimes im November 1989. Der Autor zeigt die Spezifika und die Etappen des bulgarischen Weges zur Demokratie auf, die mit der allmählichen Verdrängung der kommunistischen Nomenklatura aus der Macht auf dem Wege von Wahlen, bei Wahrung der demokratischen Prozeduren, verbunden sind. Die Erhaltung des sozialen Friedens beim Übergang zur parlamentarischen Demokratie und zur Marktwirtschaft gilt als eine der wesentlichsten Errungenschaften des Postkommunismus. Nach den Parlamentswahlen vom Oktober 1991 und den Präsidentschaftswahlen im Januar 1992, aus denen die demokratischen Kräfte als Sieger hervorgingen, kann man davon ausgehen, daß die Demokratie in Bulgarien ihre Legitimität erhalten hat.

I. Historische und politische Ausgangslage

Tabelle 1: Ergebnisse der Parlamentswahlen (13. Oktober 1991)

Um einige Besonderheiten des Beginns und des anfänglichen Verlaufs des Demokratisierungsprozesses in Bulgarien nach dem Sturz des totalitären, kommunistischen Schiwkow-Regimes im November 1989 zu verstehen, ist es notwendig, gewisse Unterschiede in der historischen und politischen Entwicklung dieses Landes und einiger anderer Staaten der osteuropäischen Region herauszustellen. Es ist angebracht, diese Region in Mitteleuropa (Tschechoslowakei, Polen und Ungarn) und Süd-osteuropa (Bulgarien, Rumänien, Serbien und Albanien) zu unterteilen. Zwischen diesen beiden Staatenblöcken bestehen wesentliche ökonomische, politische und kulturelle Unterschiede, die noch aus der Zeit stammen, als die Herrschaft und der Einfluß der moslemischen Türken Osteuropa nach dem 14. Jahrhundert praktisch in zwei Teile gespalten hat.

Im folgenden soll auf einige Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung Bulgariens eingegangen werden, die für die Analyse der gegenwärtigen Situation von Bedeutung sind. 1. Infolge der über fünf Jahrhunderte andauernden Unterdrückung der nationalen Identität der Bulgaren und der christlichen Werte durch das türkische Reich, die erst 1878 endete, war Bulgarien in hohem Maße von der europäischen Zivilisation isoliert und seine natürliche Entwicklung als unabhängiger Staat behindert. Seine sozialökonomische und kulturelle Modernisierung im Geiste der Renaissance wurde um Jahrhunderte verzögert. Deshalb fand Bulgarien ziemlich spät seinen Weg zur Gemeinschaft der europäischen Nationen; der kultur-psychologische Einfluß des Orients und die verspätete kapitalistische Wirtschaftsentwicklung haben seine Entwicklung stark geprägt. 2. Die späte Entwicklung des Landes hat die Etablierung liberaler und demokratischer Werte im politischen Leben verzögert. In der historisch kurzen Zeitspanne bis zur Machtübernahme durch die Kommunisten (von 1878 bis 1944) wurde die politische Entwicklung des Landes durch zwei regionale und zwei von Bulgarien verlorene Weltkriege, durch erbitterte Klassenkämpfe und gesellschaftliche Konflikte, Staatsstreiche und autoritäre Regierungen unterbrochen. Dies hat die Entwicklung einer politischen Kultur im Sinne der Demokratie und stabiler demokratischer Regierungsformen behindert. « 3. In dem äußerst rückständigen Bulgarien, das vorwiegend von der Landwirtschaft lebte, konnte sich weder ein einflußreiches Bürgertum noch eine bedeutende Mittelklasse herausbilden, die das Fundament einer stabilen Demokratie bilden. Die große wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit der Bauern und die Armut der Bevölkerung haben die Etablierung von egalitären und linkspopulistischen (kommunistischen, sozialistischen, agrarischen, radikaldemokratischen) Ideologien gefördert. Gerade die diesen Ideologien verbundenen Parteien haben das politische Leben des Landes vor 1944 am stärksten beeinflußt. 4. Die prorussische und panslawische Orientierung des größeren Teils der Bevölkerung (Rußland hatte Bulgarien 1878 von den Türken befreit) war ein Hindernis für die effektive Integration Bulgariens in den mittel-und westeuropäischen Raum und hat später -nach 1944 -zur Oktroyierung des bolschewistischen Regimes und des sowjetischen Einflusses beigetragen. 5. Im Unterschied zu anderen Ländern Mitteleuropas besaß das kommunistische Regime in den Augen der Bevölkerung in Bulgarien eine gewisse Legitimität bis in die siebzigerJahre, als sich die Krise des Weltkommunismus auch hier bemerkbar machte. Die kommunistische Partei war ein Instrument für den sozialen und materiellen Aufstieg eines großen Teils der unterprivilegierten sozialen Schichten, insbesondere der Bauern. Durch eine Politik der Vergünstigungen, Privilegien und der Korruption gelang es ihr, sich eine eigene Basis in dem rasch wuchernden Staats-und Parteiapparat zu schaffen. Die relative Stabilisierung des Regimes in den ersten Jahrzehnten seiner Herrschaft war auch eine Folge des wachsenden Lebensstandards der Bevölkerung und einer günstigen Wirtschaftsentwicklung, vor allem auf der Grundlage massiver Importe billiger Rohstoffe aus der Sowjetunion. 6. Kennzeichnend für die politische Entwicklung Bulgariens war der Umstand, daß es keine ernsthafte Opposition gegen die Regierung der Kommunisten gab, nachdem man die früheren politischen Parteien aus der vorkommunistischen Periode verboten und ihre Spitzenpolitiker Repressalien ausgesetzt hatte. Anders als Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei hat Bulgarien nie Massenaufstände oder einen Widerstand gegen das System erlebt. In einzelnen Perioden gab es eine Opposition gegen das Regime innerhalb der kommunistischen Partei, die jedoch gegen einzelne Persönlichkeiten und nicht gegen das kommunistische System als solches gerichtet war. Die ersten ernsthaften Oppositionsgruppen bildeten sich 1985 heraus, vor allem in den intellektuellen Kreisen der Universität, unter Journalisten und Schriftstellern und in erster Linie unter dem Einfluß der Perestroika Gorbatschows sowie der Ereignisse in Osteuropa. Die Unzufriedenheit der Massen und ihr Protest richtete sich hauptsächlich gegen die Schiwkow-Clique und weniger gegen das sozialistische System.

Diese Faktoren erklären, warum die Wende in Bulgarien nicht das Ergebnis einer antikommunistisehen Massenprotestwelle oder einer „sanften“ Revolution von unten war, sondern als innerparteilicher Putsch begann. Er wurde von einer Gruppe jüngerer Mitglieder der Parteielite organisiert und geleitet, die sich Schiwkow widersetzte und von Moskau unterstützt wurde. Sie vollzog den Regime-wechsel in dem Ehrgeiz, einen der Perestroika Gorbatschows ähnlichen Prozeß einzuleiten und das Land zu einem „modernen“ sozialistischen Staat mit begrenztem Pluralismus und marktwirtschaftlichen Mechanismen zu machen. Ihr Ziel war es, den Wendeprozeß zu steuern, dabei an der Macht zu bleiben und die politische Opposition im Rahmen eines gemäßigten Antikommunismus, der die politischen und insbesondere die materiellen Interessen der Nomenklatura nicht gefährdet, möglichst gut zu kontrollieren.

II. Charakter und Etappen der Demokratisierung

Tabelle 2: Ergebnisse der wichtigsten Parteien und Koalitionen in den Parlamentswahlen vom Juni 1990 und vom Oktober 1991

Die demokratische Wende in Bulgarien hat mehrere Etappen durchlaufen, die die Spezifika der politischen Situation in Bulgarien und vor allem den relativ starken Einfluß der kommunistischen Partei widerspiegeln. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Ländern kam es nicht zu einem Kollaps der kommunistischen Partei, der Demokratisierungsprozeß war durch die allmähliche Verdrängung der Nomenklatura aus ihren Positionen und parallel dazu durch die Herausbildung und das Erstarken der antikommunistischen Oppositionskräfte gekennzeichnet. Die Demokratisierung erfolgte in einer äußerst schwierigen und komplizierten Situation. Die Wirtschaft des Landes befand sich in einer schweren Krise. Das durch die menschenfeindliche Politik des Schiwkow-Regimes gegen die türkische Minderheit außerordentlich zugespitzte nationale Problem stellte eine Zeitzünder-bombe dar. International befand sich das Land in einer starken Isolation.

Erste Etappe: Vom September 1989 bis zu den ersten demokratischen Wahlen im Juni 1990 wurden der Pluralismus auf allen Ebenen der Gesellschaft sowie die Grundrechte und Freiheiten der Bevölkerung wiederhergestellt, wodurch die Zivilgesellschaft „erwachen“ konnte. Im Laufe weniger Monate wurde eine große Zahl politischer Parteien gegründet, darunter auch die Union der demokratischen Kräfte (UDK), eine Koalition mehrerer Parteien und Organisationen, die zur wichtigsten antikommunistischen Alternativgruppierung wurde. Drei Hauptgruppen prägten das Profil der UDK: -die wiederbelebten, historisch traditionellen Parteien aus der Zeit vor 1947 -die Bulgarische Sozialdemokratische Partei (BSP), die Bauernpartei „Nikola Petkow“, die Radikaldemokratische Partei, die Demokratische Partei u. a.;

-die politischen Organisationen der Dissidenten in der kommunistischen Partei, einen Teil von ihnen hatte man ausgeschlossen, andere stießen nach dem Sturz des Regimes zur Opposition, so der Klub für Glasnost und Perestroika, dessen Führer Sheljo Shelew an die Spitze der UDK trat, Ökoglasnost und die Partei der Grünen;

-politische Gruppen, die unmittelbar vor und nach der Wende von antikommunistisch orientierten oder während des vorigen Regimes unterdrückten Persönlichkeiten gebildet wurden, wie die Gewerkschaft „Podkrepa“, die Bürgerinitiative, die Bewegung für den Schutz der Menschenrechte, der Klub der Repressierten u. a.

Das Besondere in Bulgarien war, daß die Opposition weder organisatorische Erfahrungen noch eigene Presseorgane und auch keinen beträchtlichen Einfluß auf die Öffentlichkeit besaß. In der kurzen Zeit bis zu den Wahlen mußte sie ein immenses Arbeitspensum bewältigen, um sich vor ihren potentiellen Wählern und Sympathisanten zu profilieren, die Einheit dieser äußerst heterogenen Koalition zu bewahren und ein Alternativprogramm vorlegen zu können.

Ihr größter Erfolg war die Durchführung eines „Runden Tisches“, ähnlich wie in anderen osteuropäischen Ländern. Dort gelang es ihr, sich vor der Bevölkerung zu profilieren (die Sitzungen wurden vom Fernsehen ausgestrahlt) und einige für den Demokratisierungsprozeß wichtige Siege zu erringen; der bedeutendste darunter war die Tilgung des Parteimonopols aus der Verfassung.

Daneben erreichte die Opposition eine Demokratisierung des Pressewesens und die Auflösung der Grundorganisationen der kommunistischen Partei in den Betrieben und Behörden. Mit machtvollen Straßenaktionen setzte sie die kommunistische Partei unter Druck und erzwang so wichtige Kompromisse, die zu ersten Einschnitten in die totalitären Strukturen von Partei und Staat führten.

Der Umstand, daß die UDK sehr schnell gegründet worden war, daß sie keine Erfahrungen besaß und es an Koordination fehlte, führte gleichzeitig zu gewissen Schwächen und reduzierte ihre Effektivität im Kampf gegen die kommunistische Partei. Kennzeichnend hierfür war vor allem die Tatsache, daß sie kein positives Programm besaß -es wurde erst ziemlich spät entwickelt -, daß sie die Betonung auf einen aggressiven Antikommunismus legte, wodurch sie vor allem unter den Mitgliedern der kommunistischen Partei viele potentielle Anhänger verlor, daß es ihr an ausreichend prominenten Spitzenpolitikern fehlte und es in ihren Reihen Politiker gab, die ihr schadeten.

Zur gleichen Zeit gelang es der kommunistischen Partei, eine Spaltung zu verhindern und durch die Integration von möglichst vielen Reformern innerhalb der Partei die Einheit ihrer Führung zu erhalten. Ihr Wahlprogramm vom Juni 1990 orientierte sich an sozialdemokratischen Werten. Zudem hatte sie inzwischen auch ihren Namen von „kommunistische“ in „sozialistische“ Partei geändert und die Schiwkow-Clique aus ihren Reihen ausgeschlossen. Diese politischen Schritte in einer sich verschlechternden, jedoch noch relativ stabilen Wirtschaftssituation ermöglichten ihr in den Wahlen vom Juni 1990 zur konstituierenden Volksversammlung den Sieg mit 47 Prozent der Stimmen, was ihr die absolute Mehrheit im Parlament sicherte.

Das Paradoxe an der Situation war, daß die Oppositionsfraktion, die 36 Prozent der Stimmen erhalten hatte, im Parlament stark polarisierte, was den Kommunisten die Suche nach einem Dialog außerordentlich erschwerte. De facto traten auch die anderen beiden Parlamentsfraktionen als Gegner der BSP auf -die der Bauernpartei mit acht Prozent der Stimmen und die der Bewegung für Rechte und Freiheiten, der Partei der türkischen Minderheit, mit sechs Prozent der Stimmen.

Die zweite Etappe war durch die Legitimierung der politischen Demokratie und das „Eindringen“ der Opposition in die Machtstrukturen gekennzeichnet. Die praktisch isolierte kommunistische Partei wollte das Land nicht allein regieren. Sie setzte alles daran, die Entwicklung durch die Bildung einer Regierungskoalition in den Griff zu bekommen. Nach dem Rücktritt des kommunistischen Präsidenten Mladenow und dem Scheitern mehrerer Versuche, einen ihr genehmeren Kandidaten auf diesen Posten zu wählen, sahen sich die Kommunisten gezwungen, den Oppositionsführer Sheljo Shelew als Staatspräsidenten zu akzeptieren. Das war der erste wesentliche Durchbruch der Opposition in den staatlichen Strukturen, durch den sie den politischen Prozeß nun ernsthaft beeinflussen konnte. Präsident Shelew machte sich diese Möglichkeit bereits in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt geschickt zunutze.

Die alten örtlichen Machtorgane wurden aufgelöst, in den neuen waren die Parteien des Parlaments paritätisch vertreten. Des weiteren wurden die wichtigsten Staatsorgane, vor allem die Armee und die Polizei, entpolitisiert. Zugleich verstärkte sich der außerparlamentarische Druck gegen die kommunistische Partei.

Das Scheitern der Versuche Lukanows, des prominentesten unter den kommunistischen Spitzenpolitikern, ein neues, von den Kommunisten dominiertes Koalitionskabinett zu bilden, lähmte die Regierungstätigkeit. Unter dem Druck außer-parlamentarischer Aktionen mußte er Ende 1990 zurücktreten. Der neue, neutrale Premier bildete eine Koalitionsregierung, in der die für die Wirtschaft wichtigsten Ministerposten mit Funktionären der Opposition besetzt wurden.

Alle diese Ereignisse trieben den Prozeß der Demontage der totalitären Strukturen und des zunehmenden Einflusses der demokratischen Bewegung voran. Trotz der Parlamentsmehrheit der kommunistischen Partei gelang es der Opposition, in wichtigen Machtstrukturen Fuß zu fassen. Die kommunistische Partei verlor die Initiative, unter dem Druck der demokratischen Opposition sah sie sich gezwungen, für die notwendigen Reformen zu stimmen.

Auf ihrem außerordentlichen Parteitag im September 1990 war es den Kommunisten gelungen, ihre relative Einheit zu bewahren, obwohl die Partei über die Hälfte ihrer Mitglieder -rund 500000 -verloren hatte. Gleichzeitig verstärkte der Umstand, daß alte, mit dem Schiwkow-Regime verbundene Kader wie der Parteivorsitzende Lilow auch weiterhin eine führende Rolle in der Partei spielen, ihre Isolation und ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame Sprache mit den Oppositionsparteien zu finden. Als die neue Regierung Anfang 1991 aktiv wurde, waren die Bedingungen für eine Forcierung der Reformen, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, vorhanden.

Die dritte Etappe der Demokratisierung des Landes ist vor allem durch den Beginn ernsthafter Wirtschaftsreformen geprägt, wodurch die Dynamik des Übergangs zur Marktwirtschaft in Einklang gebracht wurde mit der Etablierung der pluralistischen Demokratie. Die Wirtschaftsreform wurde in einer extrem ungünstigen, fast katastrophalen ökonomischen Situation des Landes in Angriff genommen. Bulgarien bekam die Folgen der Auflösung des RGW und des ganzen Systems der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den ehemaligen sozialistischen Ländern am schwersten zu spüren. Es war am engsten an die Sowjetunion gebunden, so daß es vom Zusammenbruch der Mächte im Osten außerordentlich stark betroffen wurde. Dabei wirkte sich der Rückgang der Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion besonders negativ aus.

Nach 1984 hatten sich die Auslandsverpflichtungen Bulgariens um weitere acht Mrd. US-Dollar erhöht, so daß das Land insgesamt mit zwölf Mrd. US-Dollar verschuldet war, was eine erhebliche Belastung bedeutete. Seit März 1990 war es praktisch zahlungsunfähig, wodurch das Vertrauen der internationalen Finanzinstitute stark erschüttert wurde.

Nach den siebziger Jahren hatte das Schiwkow-Regime eine äußerst kurzsichtige Politik der Hyperindustrialisierung und der Einschränkung der Subventionen für die traditionell rentablen Zweige -die Landwirtschaft, die Leichtindustrie, den Fremdenverkehr u. a. -eingeschlagen. Ein Fehler waren auch die strukturellen Veränderungen aus dieser Zeit: die Zusammenlegung und daraus folgende Vergrößerung der Unternehmen, die zu einer Überbürokratisierung der zentral geleiteten Planwirtschaft führte.

In der Zeit zwischen dem Sturz Schiwkows und der Bildung der Regierung Popow hatte die Regierung Lukanow keine ernsthaften Schritte unternommen, eine Verschlechterung der Lage abzuwenden; die von ihr vorgenommenen unbegründeten Lohnerhöhungen erschwerten die Situation auf dem Verbrauchermarkt zusätzlich. Die Produktion ging stark zurück und die Exportmöglichkeiten des Landes verschlechterten sich zunehmend. All das führte Ende 1990 zu einer schweren Wirtschaftskrise mit galoppierender Inflation, einem wachsenden Produktionsrückgang, einem blühenden Schwarzmarkt und „leeren Geschäften“.

Die erste Etappe der Wirtschaftsreform war mit der Stabilisierung des Staatshaushaltes und des Verbrauchermarktes verbunden. Die meisten Preise wurden liberalisiert, damit sie vom Markt bestimmt werden können, der Leitzins wurde erhöht, um die immense Geldmenge ohne Warendeckung aus dem Verkehr zu nehmen. Mit einer Reihe von Maßnahmen, unter anderem auch mit der kleinen Privatisierung, begann die Umstrukturierung und Entmonopolisierung der Wirtschaft. Unter dem Druck der Regierung verabschiedete das Parlament wichtige Gesetze, vor allem das Gesetz über den Boden, durch das das Recht auf Privateigentum legitimiert wird, das Handelsgesetz, das Gesetz über die ausländischen Investitionen, das Konkurrenz-gesetz usw.

Auch wenn die rigorosen monetären Wirtschaftsmaßnahmen eine beträchtliche Verarmung der Bevölkerung bewirkten, gelang es durch sie doch, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage teilweise wiederherzustellen. Die marktwirtschaftlichen Mechanismen begannen, wenn auch noch schwach, zu greifen, die Kontakte zu den internationalen Finanzinstituten wurden wieder aufgenommen. Gleichzeitig wurde die Reform durch den anhaltenden Rückgang der Produktion (annähernd um 30 Prozent im Vergleich zu 1989), das schwach entwickelte Rrivate Unternehmertum und das Ausbleiben ausländischer Investitionen behindert. All das. führte zu einem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen um 400000 im Januar 1992, zu einem sinkenden Lebensstandard und zu erhöhter sozialer Unsicherheit. Ein Erfolg der Regierung war es, daß es ihr gelang, ihre Politik mit den Gewerkschaften zu koordinieren, und daß sie die Unterstützung der Parlamentsparteien erhielt und den sozialen Frieden wahren konnte.

Ein wichtiger Schritt beim Übergang zur Demokratie war die Verabschiedung einer neuen Verfassung, die von 312 der insgesamt 400 Abgeordneten unterzeichnet wurde. Trotz einiger Mängel und der Notwendigkeit einiger Novellen markiert sie eine wichtige Etappe auf dem Wege zur etablierten Demokratie.. Die neue Verfassung lehnt sich im ganzen an die wichtigsten Errungenschaften der konstitutionellen Tradition in den entwickelten Demokratien an und definiert Bulgarien als einen parlamentarischen und sozialen Rechtsstaat. Von ganz besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß in ihr die Grundrechte und Freiheiten der Persönlichkeit auf der Basis der internationalen Menschenrechts-pakte verbrieft sind. Die Verfassung schreibt die Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichts als wichtige Komponenten der Demokratie vor.

Durch die Verfassung wird die Rechtsgrundlage für die Gestaltung einer parlamentarischen, pluralistischen Demokratie und, auf der Basis der Unantastbarkeit des Privateigentums, für die Marktwirtschaft geschaffen. Die Frage nach dem Gleichgewicht und der Teilung der Gewalten wird in Bulgarien auf originelle Weise durch die verstärkte Präsidialmacht gelöst. Der Präsident besitzt einige wesentliche Vorrechte, darunter auch ein beschränktes Vetorecht hinsichtlich der vom Parlament verabschiedeten Gesetze, und er kann Einfluß auf die Außenpolitik und die nationale Sicherheit nehmen.

Die wichtigsten Einwände der Opposition und der Parlamentsmitglieder, die die Verfassung nicht signierten, bestehen darin, daß die Rolle des Staates in den gesellschaftlichen Beziehungen noch zu groß ist und seine sozialen Funktionen noch zu weit formuliert sind. Einige oppositionelle Gruppen fordern als Staatsform die Monarchie. Ein Teil der Kritik ist berechtigt, doch das bulgarische Grundgesetz entspricht vollauf der europäischen Verfassungstradition, in der die etatistischen Momente im Gegensatz zur angelsächsischen Theorie und Praxis stärker ausgeprägt sind.

Gleichzeitig haben die kommenden Parlamente laut Verfassung das Recht, diesen oder jenen Text nach einem relativ einfachen Modus mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu novellieren. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, daß die neue Verfassung die Rechtsgrundlage für den Demokratisierungsprozeß schafft, eine seiner wichtigen Etappen abschließt und die Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen ermöglicht, die für die Etablierung einer demokratischen Wirtschaftsordnung notwendig sind.

Trotz der politischen und ökonomischen Krise verläuft der Demokratisierungsprozeß in Bulgarien konsequent und ohne starke Erschütterungen, die den sozialen Frieden im Lande gefährden. Trotz einiger kritischer Momente gelang es der politischen Elite, einen Ausweg aus der entstandenen Situation zu finden und Konflikte zu verhindern, die die politische Stabilität bedroht hätten. Eine Rolle spielten hier auch die neuen Parlaments-und Kommunalwahlen vom 13. Oktober 1991. Sie stellen eine außerordentlich wichtige Etappe bei der Legitimierung der demokratischen Institutionen dar.

III. Die Parlamentswahlen vom Oktober 1991 und die neuen politischen Realitäten

Am 13. Oktober 1991 wurden zum zweitenmal freie Wahlen durchgeführt, diesmal zu einem (regulären) Parlament mit 240 Abgeordneten, nach dem Verhältniswahlrecht und mit einer Vierprozentklausel für den Einzug ins Parlament.

Die Wahlen wurden von der radikalsten antikommunistischen Gruppe -der oppositionellen UDK -gewonnen. Sie erhielt fast alle Stimmen der Vorjahreswähler der Opposition (vgl. Tab. 1 und 2). Die anderen Gruppen, die sich von den Radikalen der UDK distanzierten -die Liberalen der UDK, das Zentrum der UDK und die Bauernpartei „Nikola Petkow“ -blieben unter der Vier-Prozent-Grenze und haben jetzt keine Vertreter im Parlament. Zwischen diesen vier Gruppen der einst einigen UDK war es zu gravierenden Meinungsunterschieden in taktischen, ideologischen und psychologischen Fragen gekommen. Die Radikalen warfen den anderen Gruppen und besonders dem charismatischen Vorsitzenden der Sozialdemokraten, P. Dertliew, Kollaboration mit den Sozialisten und Untätigkeit im Kampf gegen die Nomenklatura vor. Die gemäßigten Gruppen der UDK konnten ihrerseits nicht die außerparlamentarische Taktik der Radikalen akzeptieren, die aus Protest gegen die Verabschiedung der Verfassung das Parlament verlassen hatten. Hinter diesen scharfen Kontroversen kam auch der Kampf um die Macht in der UDK zum Vorschein, insbesondere zwischen den jüngeren „neuen“ Oppositionellen und der „alten“ Garde der historischen Parteien.

Die Taktik der Radikalen der UDK, der ein aggressiver Antikommunismus zugrunde lag, erwies sich letzten Endes als erfolgreich. Dazu trug auch der gescheiterte Putsch gegen Gorbatschow in Moskau bei. Sie gewannen die Wahlen mit 34, 36 Prozent der Stimmen.

Das zweitbeste Ergebnis erzielte die BSP, die über eine Million ihrer Vorjahreswähler verlor und einen Rückgang von 47, 15 auf 33, 14 Prozent der Stimmen hinnehmen mußte. Auf diese Weise verlor sie ihre Parlamentsmehrheit und wurde zweitstärkste Fraktion. Dadurch verlor die kommunistische Partei praktisch auch die Möglichkeit, sich an der Regierungsbildung zu beteiligen. Wenn man die Stimmen hinzuzählt, die für zentristische und kleinere Parteien abgegeben wurden, so votierten rund zwei Drittel der bulgarischen Wähler gegen die BSP. Gleichzeitig sollte man jedoch nicht vergessen, daß die Niederlage der BSP nur sehr knapp ausfiel, die UDK hat nur vier Sitze mehr im Parlament. Folglich bleibt die BSP auch in Zukunft eine ernstzunehmende Opposition mit starkem Einfluß im Lande, vor allem in bestimmten Regionen und sozialen Gruppen. Ihr Potential ist immer noch beträchtlich, ihre Möglichkeiten, Widerstand zu leisten oder die Tätigkeit der neuen Regierung zu sabotieren, dürfen nicht unterschätzt werden. Im Vergleich zu den anderen Parteien hat sie mit rund 450000 immer noch eine große Mitgliederzahl, sie besitzt eine stabile organisatorische Struktur und gute Kaderreserven.

Parallel dazu vollziehen sich innerhalb der BSP gewisse Veränderungen. Eine neue Gruppe junger Führungspersönlichkeiten verdrängte auf ihrem Parteitag im Dezember 1991 den bisherigen Vorsitzenden Alexander Lilow von seinem Posten. Der neue 33jährige Parteivorsitzende Jean Widenow gilt als „Zentrist“, sogar als konservativ. In der Politik hat er keine nennenswerten Erfahrungen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er in Zukunft den von Lilow verfolgten Kurs der Balance zwischen Konservativen und Reformern in der BSP fortsetzen wird. Die Reformer weigerten sich ihrerseits, in der neuen Parteiführung zu arbeiten und bildeten die Fraktion „Vereinigung für soziale Demokratie“. Es wäre denkbar, daß sie in Zukunft die BSP verlassen und eine eigene, sozialdemokratisch orientierte Partei gründen. Die Tatsache, daß Lilow, ein Vertreter der alten Nomenklatura, ausgeschaltet wurde, zeugt von Umschichtungsprozessen in der höheren Hierarchie und dem Vorstoß einer neuen Generation von Führungspersönlichkeiten in der BSP. Sie werden sich bemühen, den Einfluß ihrer Partei im politischen Raum links vom Zentrum zu bewahren. Im Spektrum der Linksparteien hat die BSP bisher keine ernstzunehmende Konkurrenz. Zudem besitzt sie eine stabile Basis, rund 25 Prozent der Bevölkerung gehören zu ihren Stammwählern. All das garantiert ihr auch in Zukunft eine nicht unwesentliche Präsenz im politischen Leben. Den größten Einfluß hat sie in den Dörfern und Kleinstädten sowie unter der älteren Bevölkerung.

Die Stellung der BSP als Oppositionspartei wird sich zweifellos auf ihre weitere Entwicklung auswirken. Einer der ersten legislativen Akte des neuen Parlaments war die Verstaatlichung des Vermögens der ehemaligen kommunistischen Partei, wodurch sie ihre finanzielle Macht verlor, durch die sie gewisse Vorteile im Vergleich zu den anderen politischen Parteien besaß. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Differenzierung innerhalb der Partei zwischen ihren jüngeren Mitgliedern und den in immer größere Isolation geratenden Überresten der ehemaligen Nomenklatura vertiefen wird.

Sollte es ihr aber nicht gelingen, sich selbst zu modernisieren und entschieden mit ihrer totalitären Vergangenheit zu brechen, wird sie als Partei in zunehmende Isolation geraten und allmählich alle Möglichkeiten verlieren, Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen. Die Prozesse in dieser Partei sind also kompliziert und widerspruchsvoll, die kommenden Monate werden zeigen, in welcher Richtung sie sich, vor allem nach dem Führungswechsel, entwickeln wird.

In ihrer Haltung zum neuen Kabinett der UDK setzt die BSP vor allem auf die „antitürkische“ Karte und den Nationalismus. Sie wird die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die Diskreditierung der regierenden Partei nutzen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sie versuchen wird, eine Parlamentskrise und Neuwahlen zu provozieren, um ihre verlorenen Positionen wiederzugewinnen. In den kommenden Monaten werden sich die Sozialisten in der Defensive befinden und viele ihrer Vorteile in den staatlichen Strukturen verlieren. In einer Reihe von Institutionen des Staatsapparates wird man vermutlich viele Mitglieder der ehemaligen kommunistischen Partei durch neue Personen ersetzen, die mit der ehemaligen Opposition verbunden sind.

Der andere Wahlsieger vom Oktober 1991 ist die Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF), die Partei der türkischen Minderheit, die 7, 55 Prozent der Stimmen erhielt. Da weder die UDK noch die BSP die absolute Mehrheit im Parlament besitzen und keine anderen Parteien ins Parlament gewählt wurden, ist die BRF jetzt eine Art Schiedsrichter, ohne deren Unterstützung die UDK nicht regieren kann. Die starke Konfrontation zwischen UDK und BSP verwandelt die BRF unweigerlich in einen Partner der UDK. Das zwangsweise Bündnis zwischen UDK und BRF wird der neuen Regierung viel Kopfschmerzen bereiten, da sie praktisch von der Unterstützung der „türkischen“ Partei abhängig ist. Die öffentliche Meinung in Bulgarien steht dem im großen und ganzen feindlich und äußerst reserviert gegenüber, da es nach der Befreiung Bulgariens noch nie eine solche Situation gegeben hat. Bisher hat die BRF keine Ansprüche gestellt, sie ist auch nicht an der Regierung beteiligt, da sie sich der diffizilen Situation bewußt ist. Es ist bisher auch unklar, welchen Preis die BRF dafür verlangen wird, daß sie die UDK unterstützt. Es wäre denkbar, daß die BRF bestimmte Gesetze fordern wird, zum Beispiel über den Türkischunterricht in den Schulen und die Erweiterung der kulturellen Autonomie der Türken. Solche Forderungen stoßen auf den Widerstand der bulgarischen Öffentlichkeit, vor allem in den Gebieten mit bulgarischer und türkischer Bevölkerung, und auch der meisten politischen Parteien außerhalb der UDK. Die Furcht vor einer eventuellen Forderung der türkischen Bevölkerung nach politischer Autonomie und das „Zypernsyndrom“ sind im Volk und den politischen Kreisen weit verbreitet. Manche Politiker sind auch der Meinung, daß die BRF von der Türkei abhängig ist und ihren Interessen dient, trotz der Versicherungen des Führers der Bewegung, A. Dogan, daß sie eine nationale Partei sei und sich die Erhaltung der territorialen Integrität Bulgariens zum Ziel setze. Hinzu kommt der Konflikt um die Verfassungsmäßigkeit der BRF, da das neue Grundgesetz die Bildung politischer Parteien auf ethnischer Basis verbietet. Das neue Verfassungsgericht wurde bereits zu dieser Frage angerufen und wird sich dazu vermutlich sehr bald äußern müssen. Sollte es die BRF verbieten, so ist nicht ausgeschlossen, daß sich die ethnischen Konflikte zuspitzen und es zu Komplikationen in den Beziehungen zwischen Bulgarien und der Türkei kommt.

Im Zuge dieser Gedanken muß darauf verwiesen werden, daß eine aktive „Schiedsrichterrolle“ der BRF im Parlament nicht nur die nationale Frage im Lande, sondern auch den Demokratisierungsprozeß komplizierter machen kann. Es besteht die Gefahr, daß sich der Nationalismus verstärkt, was unvorhersehbare Folgen für die Stabilität des Landes haben kann. Die nationalistische Kampagne in den Reihen der BSP und anderer politischer Kräfte nimmt zu, so daß eine Zuspitzung der Konflikte in den Regionen mit überwiegend türkischer Bevölkerung denkbar ist. Der Faktor BRF hat eine unerwartete Situation im Parlament geschaffen, da dort keine anderen Parteien vertreten sind, die eventuell eine Koalition, insbesondere mit der UDK, eingehen könnten, und der Kurs der BRF hinsichtlich der nationalen Frage unklar ist. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß sich die politischen Konflikte, vor allem zwischen den Fraktionen der UDK und der BSP, in absehbarer Zukunft im Zusammenhang mit diesem Problem verstärken werden.

Nicht wenige politische Beobachter sind der Ansicht, daß die extrem zugespitzte Situation 1992 zu Neuwahlen führen wird. Andere Kreise in der UDK stehen auf dem Standpunkt, daß das Parla19 ment für die ganze Legislaturperiode tätig bleiben kann, falls sich die Zusammenarbeit zwischen BRF und UDK festigt. Die kommenden Monate werden zeigen, welche dieser beiden Meinungen Recht behalten wird.

Aufgrund des Wahlsystems konnten mehrere Parteien mit dem Anspruch auf zentristische Orientierung nicht ins Parlament einziehen. Das war eine der großen Überraschungen dieser Wahlen. Einige der zentristisch orientierten Parteien und Koalitionen waren in den vergangenen Wahlen Teil der Union der demokratischen Kräfte, so die Bulgarische Sozialdemokratische Partei, die Partei der Grünen und die Bulgarische Bauernpartei „Nikola Petkow“. Die andere Bauernpartei, einst Regierungspartner der Kommunisten, hatte in den Wahlen für das vorige Parlament rund acht Prozent der Stimmen erhalten. Im Vorfeld der Wahlen 1991 schlossen sich die Sozialdemokraten mit einem Teil der Gruppe Ökoglasnost und zwei kleineren Parteien zum sogenannten Zentrum der UDK zusammen, die Grünen bildeten mit den Klubs für Demokratie und weiteren Organisationen die „Liberalen der UDK“. Sowohl die beiden Bauernparteien als auch die beiden neuen Koalitionen hofften, daß sie genügend Stimmen unter den Vorjahreswählern der UDK und der kommunistischen Partei gewinnen würden, um im neuen Parlament einen Zentrumsblock bilden zu können. Alle vier scheiterten jedoch an der Vier-Prozent-Klausel. Für dieses Ergebnis gibt es mehrere Gründe, zwei davon erscheinen als besonders wichtig: -Es gelang diesen Gruppierungen nicht, sich vor den Wahlen zusammenzuschließen und ein eigenes Wahlbündnis zu bilden, das mit den beiden großen Formationen, der BSP und der UDK, konkurrieren konnte.

-Die öffentliche Meinung und die Mehrheit der Wähler waren mit der Frage „Für oder gegen den Kommunismus“ konfrontiert, wodurch sich die zentristisch orientierten Parteien nicht ausreichend profilieren und kein sehr überzeugendes Alternativprogramm vorlegen konnten.

Zugleich erhielten diese Parteien und Koalitionen insgesamt über 13 Prozent der Stimmen, was dafür spricht, daß die zentristische Alternative öffentliche Zustimmung findet. Nach entsprechender Umgruppierung und Umstrukturierung können diese Parteien und Koalitionen durchaus wieder mit einer Vertretung im Parlament rechnen. Ihre Spitzenpolitiker sind momentan in dieser Richtung aktiv: Ende Oktober wurde das Bulgarische Demokratische Zentrum gegründet, eine-Koalition, der vorläufig das Zentrum und die Liberalen der UDK angehören. Ihre Initiatoren werden vermutlich versuchen, auch die beiden Bauernparteien sowie andere politische Gruppen und unabhängige Intellektuelle für sie zu gewinnen, die sich weder an die UDK noch an die BSP binden wollen. Die neue Koalition muß ihre Standpunkte und ihre Plattform klären, denn in den nächsten Wahlen wird sie vermutlich bestrebt sein, jene Wähler für sich zu gewinnen, die im Oktober 1991 für keine der beiden größten politischen Kräfte im Parlament votiert haben.

Parallel zu den Parlamentswahlen fanden im Oktober 1991 auch Kommunalwahlen statt. Die antikommunistischen Parteien dominieren in den großen und mittleren Städten. In den Kleinstädten und den Dörfern wurden die Wahlen von der BSP gewonnen. Der Einfluß der BRF ist vor allem in einigen Regionen Süd-und Nordbulgariens sehr stark. Durch die Wahl von Bürgermeistern und Gemeindeverwaltungen wurde das neue demokratische System auch in den örtlichen Institutionen legitimiert.

IV. Die neue Regierung und die Zukunft der Reformen

Am 8. November 1991 berief das Parlament die neue, von Filip Dimitrow, einem Politiker der UdK, geleitete Regierung. Sie erhielt die Unterstützung der Fraktionen der UDK und der BRF. Ihr gehören ausschließlich Führungspersönlichkeiten der UDK und einige Experten an. Wie der neue Premier bei seinem Amtsantritt erklärte, ist die Regierung gewillt, die Reformen besonders im wirtschaftlichen Bereich entschieden fortzusetzen, um Bedingungen für den endgültigen Wechsel des Systems und ein dauerhaftes Fundament für den Übergang des Landes zur parlamentarischen Demokratie und zur Marktwirtschaft zu schaffen. Bereits in den ersten Tagen regte die Regierung die Verabschiedung von außerordentlich wichtigen Wirtschaftsgesetzen durch das Parlament an, die dem privaten Unternehmertum und der Eigeninitiative klare Perspektiven geben, die staatliche Wirtschaft entmonopolisieren und den ausländischen Investitionen sowie der Einbindung des Landes in die ökonomischen und politischen Strukturen Europas, einschließlich der militärischen, die Türen öffnen.

Von besonderer Bedeutung unter den Wirtschaftsgesetzen ist das Privatisierungsgesetz, das dem Übergang von der staatlich gelenkten Planwirtschaft zur Entwicklung eines umfangreichen privaB ten Sektors, anfangs im Bereich der Dienstleistungen, des Handels, des Verkehrswesens usw., den entscheidenden Impuls verleihen wird. Das Boden-gesetz wurde so novelliert, daß die früheren und neuen Eigentümer ihren Besitz leichter erhalten und so bessere Voraussetzungen für die Entwicklung der Landwirtschaft geschaffen werden können. Das Gesetz über die Restitution eines Teils des vom kommunistischen Regime verstaatlichten Eigentums ermöglicht die Erweiterung des Kreises der Privateigentümer. Das neue Gesetz über die ausländischen Investitionen ist bedeutend liberaler als sein Vorgänger und eröffnet ausländischen Investoren gute Möglichkeiten in Bulgarien. Verabschiedet wurden ein neues Steuer-und ein neues Bankgesetz u. a., wodurch der Zyklus der legislativen Akte, die eine solche Grundlage für den Über-gang des Landes zur Marktwirtschaft sind, praktisch geschlossen wurde. Die Privatisierung in der Industrie wird längere Zeit in Anspruch nehmen und in mehreren Etappen verlaufen; dabei wird man einen Teil des staatlichen Eigentums in öffentlicher Hand belassen, jedoch unter qualitativ neuen, marktwirtschaftlichen Bedingungen.

Das Modell, das von der Regierung angestrebt wird, ist folglich eine moderne, gemischte Volkswirtschaft, in der Privateigentum sowie Formen des genossenschaftlichen und staatlichen Eigentums eine Existenzberechtigung haben.

Die neue Regierung hat durch die Schließung mehrerer Ministerien Strukturveränderungen in den staatlichen Institutionen vollzogen und den Angestelltenapparat reduziert. Sie ist ferner bestrebt, die Einmischung des Staates in das sozialökonomische und politische Leben einzuschränken. Sie muß weiterhin eine gemeinsame Sprache mit den Gewerkschaften finden, um angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und der zunehmenden sozialen Unsicherheit die wachsende Unzufriedenheit zu parieren und breiteste soziale Schichten für die Reformen zu gewinnen. Die Bevölkerung ist zweifellos bereit, vernünftige Reformen zu unterstützen, zugleich steht sie jedoch ihrer eigenen sozialen Lage äußerst skeptisch gegenüber.

Erste Ansätze sozialer Marktwirtschaft sind noch nicht erkennbar, zum Teil werden sie auch durch den Schwarzmarkt, ambulante Händler und das Fehlen eines prosperierenden privaten Sektors beeinträchtigt. Letzterer wird sich erst nach der Verabschiedung des Privatisierungsgesetzes herausbilden und den marktwirtschaftlichen Prinzipien zum Durchbruch verhelfen.

In den Monaten nach Beginn der Wirtschaftsreform wurden auch einige ihrer negativen Folgen sichtbar, wie z. B.der starke Preisanstieg und der gedrosselte Konsum der Bevölkerung. Der Lebensstandard sank rapide, und die soziale Unsicherheit erhöhte sich. Die Erwerbslosenrate nähert sich der Zehnprozentmarke, das sind annähernd 400000 Menschen. Allem Anschein nach wird sie sich weiter erhöhen. Über 300000 Bulgaren verließen das Land auf der Suche nach Arbeit. Das Einkommen von rund 60 Prozent der Bevölkerung liegt unterhalb des von den Gewerkschaften errechneten offiziellen sozialen Minimums. Folglich befindet sich das bulgarische Volk in einer neuen ökonomischen und sozialpsychologischen Situation, die bisher mehr negative als positive Züge aufweist. Obwohl es in den Geschäften mehr und vielfältigere Waren gibt als vor einem Jahr, zur Zeit der „leeren Regale“, kommen die Menschen noch immer nicht in den Genuß der Vorzüge der Marktwirtschaft. Und gerade deshalb ist das gesellschaftliche Bewußtsein gespalten: Zum einen fühlen sich die Menschen vom marktwirtschaftlichen Modell des Westens angezogen und unterstützen die Reformen, zum anderen ist ihre Lage unsicher, und sie wissen nicht, welche Folgen es für sie persönlich haben wird. Es mangelt ihnen an der Motivation für einen aktiven Einsatz ihrer Arbeitskraft und ihrer Begabungen auf dem Markt, sie besitzen auch nicht ausreichend Kenntnisse über die Gesetze der Marktwirtschaft.

In bestimmten, vornehmlich sozial schwachen Kreisen wächst die Feindseligkeit gegen die verstärkte finanzielle Differenzierung und den steigenden Wohlstand bestimmter Bevölkerungsgruppen. Das bulgarische Volk hat sich noch nicht von den egalitären Gewohnheiten und Traditionen der kommunistischen Periode befreit, als es eine bestimmte Sicherheit genoß und seine Arbeit garantiert war, wenn auch unter relativ ärmlichen Bedingungen. Dieser ambivalenten Einstellung der Gesellschaft zur Marktwirtschaft entspringen auch gewisse Reaktionen der Regierung, der Parteien und einzelner Politiker. Den Prognosen bekannter bulgarischer und ausländischer Experten zufolge wird die Rezession mindestens noch 1993 fortdauern, eine sichtbare Belebung der Wirtschaft und ein Anstieg des Lebensstandards sind erst in etwa zehn Jahren zu erwarten.

Infolge des nach der Auflösung des Warschauer Vertrages entstandenen Vakuums steht die Außenpolitik des Landes vor ernsten Prüfungen. Zum einen bringt die Situation auf dem Balkan schwere Probleme mit sich. Die Lage wird vor allem durch den Zerfall Jugoslawiens destabilisiert. Gleichzeitig sucht Bulgarien nach einer rascheren Einbindung in Europa; dieser Weg ist nicht leicht und erfordert in erster Linie innenpolitische Stabilität. Die Beziehungen zu Westeuropa, zum Gemeinsamen Markt und der NATO entwickeln sich gut. Die Beziehungen zu den Republiken der ehemaligen Sowjetunion müssen überdacht und neu gestaltet werden. Bulgariens Beziehungen zu Rußland, der Ukraine, Weißrußlands und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sind traditionell gut. Bulgarien wird nicht nur seine Kontakte zu Westeuropa, sondern auch in östlicher Richtung auf der Grundlage der Gleichberechtigung und'des gegenseitigen Vorteils ausbauen.

S Augenblicklich ist Bulgarien eine Oase der Stabilität auf dem Balkan. Wie lange es so bleiben wird, läßt sich nur schwer voraussagen. Sowohl die Ereignisse in Jugoslawien und eine eventuelle „Wiedergeburt“ des Makedonienproblems als auch die Zuspitzung der ethnischen und anderer Probleme können den inneren Frieden schnell untergraben und das Land in soziale Konflikte stürzen. Das Wichtigste ist jedoch, daß der Demokratisierungsprozeß weiter voranschreitet, insbesondere nach den Präsidentschaftswahlen vom Januar 1992. Durch die Wahl Sheljo Shelews zum Präsidenten wurde der Kreis von Wahlen, die die neue Demokratie legitimieren, geschlossen. Shelew erhielt mit 53 Prozent der Stimmen nicht nur das Votum der UDK, sondern auch der Mehrheit der Parteien mit antikommunistischer Orientierung. Die BSP lehnte ihn kategorisch ab und unterstützte seinen Opponenten Walkanow (47 Prozent). Jetzt beginnt für Bulgarien die verantwortungsvollste Etappe der Etablierung der neuen demokratischen Institutionen und der Marktwirtschaft. Ihr Erfolg hängt jedoch in hohem Grade vom ganzheitlichen Verlauf des KSZE-Prozesses und der Annäherung der osteuropäischen Staaten an die westeuropäischen Demokratien ab.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Georgi Karasimeonov, Dr., geb. 1949; Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Sofia, Abteilung Theorie der Politik; Vorsitzender der Bulgarischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Die Sozialdemokratischen Parteien. Politische Rolle und sozialer Einfluß, Sofia 1988; Parteien und Politik in den USA, Sofia 1990.