I. Freie Wahlen als Vorstufe zum Zerfall des Landes
1990 wurden erstmals seit dem Krieg freie Wahlen unter den Bedingungen des Mehrparteiensystems in allen jugoslawischen Republiken abgehalten. Gemeinsames Merkmal dieser Wahlen war, daß sie zu einer nationalen Homogenisierung führten. Die Wähler gaben ihre Stimmen den Parteien, die die jeweiligen nationalen Belange am besten zu vertreten schienen. So entschied man sich in Slowenien für die DEMOS-Koalition und in Kroatien für die Demokratische Gemeinschaft unter General Tudjman Dabei war die Ablösung der kommunistischen Herrschaft ein sehr wichtiges Element, doch es ist bezeichnend, daß die neuen Werte wie Parlamentarismus, Rechtsstaat, Marktwirtschaft den Wähler nicht per se überzeugten. Das gelang erst in Verbindung mit dem nationalen Element, als die siegreichen Parteien nämlich argumentierten, die bürgerliche Demokratie und die Hinwendung nach Europa entsprächen dem slowenischen wie dem kroatischen Nationalcharakter und den historischen Traditionen beider Völker. Auch eine gewisse personelle Kontinuität wurde offenbar nicht als störend empfunden. Slowenischer Präsident wurde der Ex-KP-Chef Milan Kucan, nachdem er seine Mitgliedschaft im Bund der Kommunisten (BdK) Slowenien für „ruhend“ erklärt hatte. Kroatischer Präsident wurde Franjo Tudjman, der als General und später als Professor eine glänzende Karriere unter dem Kommunistischen Regime machte, bis er 1967 in Ungnade fiel. Wenn die kommunistischen Parteien in Slowenien wie in Kroatien die Wahlen verloren, so primär deshalb, weil sie nicht mehr als geeignete Sachwalter der nationalen Interessen betrachtet wurden.
Im November 1990 fanden in Makedonien die ersten freien Wahlen statt. Die Wahlbeteiligung lag in beiden Wahlgängen bei mehr als 80 Prozent. Auch hier setzte sich mit der VMRO (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation) eine nationale und antikommunistische Partei durch, wenngleich nur mit relativer Mehrheit. Die VMRO erhielt 37 von 120 Sitzen. Den zweiten Platz belegte der Bund der Kommunisten, der sich mit dem Zusatz „Partei des Demokratischen Über-gangs“ schmückte und 31 Sitze eroberte. 25 Sitze im Parlament gewann die Partei der Demokratischen Prosperität, die nationale Partei der Albaner, die in Makedonien zwischen 25 und 30 Prozent der Bevölkerung stellen. An vierter Stelle lag der kommunistische Bund der Reformkräfte, die Partei des damaligen jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovic mit 19 Sitzen. Beide gewendeten kommunistischen Parteien erreichten somit zusammen beinahe die Hälfte der Mandate. Die restlichen acht Sitze verteilten sich auf Splitterparteien. Präsident der Republik wurde der 73jährige Altkommunist Kiro Gligorov, auf dessen Wahl sich im Januar 1991 alle Parteien einigten
Zumindest bei der VMRO wurde auch in Makedonien der gesamtjugoslawische Trend hin zu den „nationalen“ Parteien bestätigt, die vielfach weltanschaulich nicht gebunden sind und oft nicht einmal ein Programm zur Wirtschafts-oder Sozialpolitik aufweisen. Die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation geht auf die berüchtigte gleichnamige Gruppierung zurück, die seit 1893 auch unter Zuhilfenahme von Terrorakten bestrebt war, die Autonomie der Makedonier bzw. ihre staatliche Selbständigkeit gegen die Türken und später die Serben zu erkämpfen. Die 1990 wiedergegründete VMRO strebt langfristig danach, das zwischen Bulgarien, Griechenland und Jugoslawien dreigeteilte Makedonien -eventuell auch im Rahmen einer Balkanföderation -zu vereinigen. Über der Frage, welche Mittel dabei einzusetzen sind, hat sich die Partei inzwischen gespalten.
Spötter sagten, die Wahlen in Bosnien-Hercegovina, die am 18. November und am 2. Dezember 1990 auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts stattfanden, hätten mehr die Funktion einer Volkszählung erfüllt. Von den 240 Sitzen in beiden Kammern des Parlaments entfielen nicht weniger als 201 auf die nationalen Parteien. Die Partei der Demokratischen Aktion, die die Muslime repräsentiert, kam auf 86 Sitze, die Serbische Demokratische Partei erreichte 70 Mandate, während die Kroatische Demokratische Gemeinschaft 45 Abgeordnete stellte. Diese Sitzverteilung spiegelt in etwa die Bevölkerungsanteile wider, die die drei Nationen in Bosnien-Hercegovina haben. Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1991 leben in Bosnien-Hercegovina 47 Prozent Muslime, 33 Prozent Serben und 17 Prozent Kroaten.
Die zuvor regierenden Kommunisten mußten eine empfindliche Niederlage einstecken: Sie brachten es auf ganze 14 Sitze im Parlament. Der Bund der Reformkräfte -die Partei des damaligen jugoslawischen Ministerpräsidenten Markovic -kam nicht über 12 Mandate hinaus. Die drei nationalen Parteien haben 86 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung inne. Bei der Besetzung der höchsten Staatsämter knüpften sie an das Proporzdenken früherer Zeiten an: Zum Präsidenten der Republik wurde der Muslim Alija Izetbegovic gewählt, Parlamentspräsident wurde der Serbe Momcilo Krajisnik, während der Kroate Jure Pelivan das Amt des Ministerpräsidenten erhielt
Im Dezember 1990 fanden freie Parlaments-und Präsidentschaftswahlen in Montenegro statt. In der kleinsten Republik mit nur 600000 Einwohnern gaben 73 Prozent der insgesamt 390000 Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Triumphaler Wahlsieger wurde der Bund der Kommunisten von Montenegro, der im Unterschied zu den Kommunistischen Parteien in den anderen Republiken seinen Namen nicht geändert hatte. Der BdK Montenegro eroberte 83 der insgesamt 125 Sitze in der Nationalversammlung, gefolgt vom Bund der Reformkräfte mit 17 Mandaten, einem Bündnis von fünf überwiegend sozialistischen Parteien. 13 Sitze eroberte die Demokratische Koalition, ein Bündnis aus drei Parteien der Muslime und Albaner, während die Volkspartei, die für die Vereinigung Montenegros mit Serbien eintritt, 12 Mandate gewann. Zum Präsidenten der Republik wurde im zweiten Wahlgang Momir Bulatovic vom Bund der Kommunisten gewählt.
Der klare Erfolg der Kommunisten -sie eroberten bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit-ist vor allem dadurch zu erklären, daß sie ihre Vorteile als etablierte Regierungspartei weidlich auszunutzen verstanden. Sie besaßen das Informationsmonopol, d. h. die Herrschaft über Fernsehen, Funk und Presse. Folglich gelang es den meisten oppositionellen Parteien nicht, ihr Programm und ihre Kandidaten überall in der Republik bekanntzumachen. Es handelte sich demnach um semikompetitive Wahlen im Stil einer „Balkandemokratie“.
An den ersten freien Parlaments-und Präsidentschaftswahlen in Serbien vom 9. Dezember 1990 (Nachwahlen 23. Dezember) beteiligten sich 80 Prozent der rund 6, 8 Millionen wahlberechtigten Bürger. Die Albaner in Kosovo boykottierten die Wahlen, um dagegen zu protestieren, daß Serbien ihnen ihre Autonomie, ihr Parlament, ihre Regierung und die albanischsprachigen Medien genommen hatte. Zudem waren zahlreiche oppositionelle Parteien und Gruppierungen der Albaner nicht zu den Wahlen zugelassen worden. Die 34 in Kosovo vergebenen Mandate fielen so ohne Ausnahme an die regierende Sozialistische Partei, obwohl die Wahlbeteiligung in vielen Orten unter 20, ja unter zehn Prozent lag. Zum Präsidenten der Republik Serbien wurde Slobodan Milosevic von der regierenden Sozialistischen Partei bereits im ersten Wahlgang gewählt. Er bekam über 65 Prozent der Stimmen, während es sein antikommunistischer Gegenspieler von der Serbischen Erneuerungsbewegung, Vuk Draskovic, nur auf 16 Prozent brachte.
Das Mehrheitswahlrecht begünstigte die serbischen Sozialisten deutlich. Mit weniger als 50 Prozent der Wählerstimmen eroberten sie 78 Prozent aller Mandate, d. h. 194 der insgesamt 250 Parlamentssitze. Die Serbische Erneuerungsbewegung erhielt als „zweitstärkste Partei“ 7, 6 Prozent der Stimmen und mußte sich mit 19 Sitzen zufrieden-geben. Sieben weitere Parteien gewannen jeweils einen einzigen Sitz im Parlament, so daß sie sich zwar artikulieren, jedoch praktisch keinen politischen Einfluß ausüben können. Bemerkenswert ist der Erfolg der Demokratischen Gemeinschaft. Diese Partei, die die Interessen der Ungarn in der Vojvodina (500000 Menschen) vertritt, eroberte acht Parlamentssitze, mehr als die in der ganzen Republik angetretene Demokratische Partei mit sieben Abgeordneten.
Der Wahlerfolg der im Juli 1990 zu Sozialisten gewendeten Kommunisten kam nicht überraschend. Zu groß war ihr Vorsprung vor den Oppositionsparteien. Die Sozialistische Partei bestimmte nicht nur Form und Ablauf der Wahl, sie beherrschte auch die Medien und verfügte zudem über Geld in fast unbegrenzter Höhe. Die Wahlen verliefen nach Ansicht internationaler Beobachter bis auf wenige Ausnahmen fair. Es bedurfte keiner zusätzlichen Manipulationen zugunsten der Soziali-B stischen Partei, die von vornherein dafür gesorgt hatte, daß alle Trümpfe in ihrer Hand lagen.
Die freien Wahlen, die zwischen März und Dezember 1990 in allen Republiken stattfanden, können nicht als grundsätzliche Entscheidung für die parlamentarische Demokratie westlichen Stils auf der gesamtjugoslawischen Ebene gewertet werden. Man darf nicht übersehen, daß es gewissermaßen „Landtagswahlen“ waren und daß das Entscheidende nicht stattfand, nämlich freie Wahlen zum jugoslawischen Bundesparlament. Die Wahlen in den Republiken waren ein Abgesang auf Jugoslawien, die endgültige Entscheidung, diesen Staat auf noch so demokratischer und rechtsstaatlicher Basis nicht wiederherzustellen.
Freie Wahlen zum Bundesparlament hätten all die Prinzipien auf den Kopf gestellt, nach denen das politische Leben in der Zeit nach Titos Tod ablief. Zum einen war der Bund der Kommunisten ganz und gar nach dem Republiks-bzw. Provinzschema organisiert. Daher hatten die Parteimitglieder praktisch keine Gelegenheit, für Anschauungen einzutreten, mit denen sie innerhalb ihrer Republikpartei in der Minderheit geblieben waren. Es gab nie die Möglichkeit, auf der gesamtjugoslawischen Ebene Gesinnungsgenossen zu suchen und für bestimmte Ideen zu kämpfen. Alle politischen Kommunikationskanäle hörten an den Republik-grenzen auf. Folglich gab es keine ganz Jugoslawien durchziehenden Kommunikationslinien; das ganze politische Geschehen ereignete sich im Rahmen der Republiken und hatte den Filter ihrer Interessen zu durchlaufen. Selbst die Umweltschutz-bewegung, also eine Vereinigung, die ihrer Natur nach keine Grenzen akzeptieren kann, endete an den Republikgrenzen
Der Gedanke der politischen Repräsentation war in Jugoslawien in dem Sinne unterentwickelt, als nur an die adäquate Vertretung der Republiken, nicht aber an die gleichberechtigte Vertretung aller Bürger gedacht war. Die grundlegende politische Einheit war demnach die Nation und die ihr zugehörige Republik, nicht aber der Bürger, der zusammen mit Gesinnungsgenossen im ganzen Land seine Interessen zu vertreten sucht. Nach der Verfassung von 1974 setzte sich die Bundeskammer des jugoslawischen Parlaments aus 220 Abgeordneten zusammen. Jede Republik stellte -unabhängig von ihrer Einwohnerzahl -30 Abgeordnete, jede Provinz 20. Läßt man einmal die Spezifika dieser Wahl -ihren indirekten Charakter unter den Bedingungen der Einparteienherrschaft -außer acht, so ergibt sich, daß die Stimme eines montenegrinischen Bürgers ebensoviel politisches Gewicht hatte wie die Stimmen von 16 Bürgern der Republik Serbien Diese Relation ergibt sich aus einem Vergleich der Einwohnerzahlen von Montenegro (644000) und Serbien (9 880000).
Weil bundesweite politische Kommunikationslinien in Jugoslawien einfach nicht existierten und weil viele Wähler alles andere als ein Votum für die nationale(n) Partei(en) in ihrer Republik als Verrat am eigenen Volk betrachteten, blieben die wenigen gesamtjugoslawisch operierenden Parteien ohne den erhofften Erfolg. Der Bund der Reformkräfte des damaligen Ministerpräsidenten Markovic hatte zwar als einzige Partei ein detailliertes wirtschaftspolitisches Programm anzubieten, wurde aber dennoch in Serbien und Bosnien-Hercegovina schwer geschlagen. In Slowenien und Kroatien war die Partei mit dem gesamtjugoslawischen Anspruch nicht angetreten, in Makedonien konnte sie einen Achtungserfolg erzielen. Generell läßt sich sagen, daß weltanschaulich bestimmte Parteien das Rennen gegen die ethnozentrisch ausgerichteten Parteien deutlich verloren In fast allen Republiken herrschte eine Atmosphäre, in der die Errichtung neuer Nationalstaaten explizit gefordert (Slowenien, Kroatien) oder immerhin nicht ausgeschlossen wurde (Makedonien, Bosnien-Hercegovina). Lediglich in Serbien und Montenegro schien man entschlossen, am jugoslawischen Staat festzuhalten.
Die kommunistischen Parteien konnten ihre Herrschaft nur in Serbien und Montenegro behaupten. In Serbien gelang es dem zum Sozialisten geläuterten Präsidenten Milosevic, sich selbst als den wahren Sachwalter serbischer Interessen darzustellen. Die Sozialistische Partei Serbiens schnitt deutlich schlechter ab als Milosevic selbst. Die Partei ist in ihren offiziellen Stellungnahmen darum bemüht, mit ihrer kommunistischen Vergangenheit zu brechen. Serbien wird als „Opfer des Bolschewismus“ dargestellt, das in der Tito-Ära nur Entrechtung und Benachteiligung habe hinnehmen müssen. Offenkundig hat der Wähler diese Haltung honoriert, denn die betont antikommunistisch und serbisch-national auftretende Serbische Erneuerungsbewegung unter Vuk Draskovic mußte eine empfindliche Niederlage hinnehmen. Die nichtgewendeten Kommunisten in Montenegro hingegen profitierten von der Tatsache, daß den oppositionellen Par-teien in dieser Republik die materiellen Möglichkeiten fehlten, einen Wahlkampf zu führen und sich allen Wählern zu präsentieren. In Makedonien eroberten die beiden kommunistisch orientierten Parteien knapp die Hälfte aller Parlamentssitze, ein deutlicher Beweis, daß auch hier die Wahlen nicht im Zeichen des Antikommunismus standen. In Bosnien-Hercegovina herrschte eine besondere Situation. Hier waren die Kommunisten im Sog der drei nationalen Parteien von Muslimen, Serben und Kroaten chancenlos.
Generell läßt sich feststellen, daß die kommunistischen Parteien nur dann eine Chance bei den Wahlen hatten, wenn sie sich als Exponenten und Hüter nationaler Interessen darstellen konnten und die supranationalen Aspekte ihrer Ideologie völlig in den Hintergrund stellten. In den vier Republiken, in denen die kommunistische Herrschaft abgelöst wurde, geschah dies nicht auf Druck von unten. Es gab keine empörten Menschenmengen, die demonstrierten oder die Parteizentralen stürmten, um den Rücktritt der kommunistischen Machthaber zu fordern. Es waren die Kommunisten selbst, die Wahlgesetze verabschiedeten und die Wahlen durchführen ließen, die ihre eigene Entmachtung nach sich ziehen sollten. Wenn sie Systemveränderungen in der Hoffnung vornahmen, der Wähler werde ihren Reformeifer honorieren, so sahen sie sich zumeist enttäuscht.
II. Sloweniens und Kroatiens Weg in die Unabhängigkeit
Seit dem Jahresende 1990 war klar, daß die beiden höchstentwickelten jugoslawischen Republiken die Föderation verlassen wollten und die Eigenstaatlichkeit anstrebten. Die Motive hierfür waren unterschiedlich. Slowenien hatte wegen des anhaltenden serbischen Widerstands die Hoffnung aufgegeben, ganz Jugoslawien in einen demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaat umwandeln zu können, und sah nur noch die Möglichkeit, die dementsprechenden politischen Ordnungsvorstellungen auf seinem eigenen Territorium zu verwirkUchen. Die Enttäuschung wegen der Unreformierbarkeit Jugoslawiens wurde in eine Art Trotzhaltung umgemünzt: Das kleine Slowenien mit seinen zwei Mio. Einwohnern wollte beweisen, daß es ohne das übrige Jugoslawien lebensfähig ist und den Anschluß nach Europa finden kann. Auf dieser Basis entwickelte sich ein starker Nationalismus, der Slowenien und Kroatien mit dem katholischen Abendland gleichsetzte, während für das restliche Jugoslawien die Symbole Orthodoxie, Byzanz, Orient und Bolschewismus standen.
Auch in Kroatien bediente man sich dieser Zweiteilung. Doch hier war die Situation anders. Franjo Tudjman hatte bereits im Wahlkampf keinen Hehl daraus gemacht, daß er den alten Traum der Kroaten von einem unabhängigen Nationalstaat verwirklichen wollte. An Jugoslawien -in welcher Form auch immer -lag ihm nichts. Die Idee einer Konföderation der jugoslawischen Republiken war für ihn allenfalls das Durchgangsstadium zum selbständigen Staat Kroatien. In einem Rückblick auf die Aktivitäten zur Durchsetzung dieses Ziels erklärte Präsident Tudjman Anfang Juni 1991, die vergangenen zwölf Monate hätten große Erfolge auf Kroatiens Weg zur Bewährung in der Staaten-welt gebracht. In der Zeit davor sei die internationale Stellung Kroatiens kaum wahrnehmbar, ja erniedrigend gewesen. Dann jedoch habe sich die Lage wesentlich verbessert, Kroatien sei zu einer Realität des internationalen Lebens geworden. Das lasse sich an der Tatsache ablesen, daß die Republik bereits Auslandsbüros in den Vereinigten Staaten, Deutschland, Italien, Kanada und bei der Europäischen Gemeinschaft eröffnet habe Diese Stellungnahme zeigt deutlich, daß Eigenstaatlichkeit und internationale Anerkennung das höchste Ziel kroatischer Politik waren.
Zur Jahreswende 1990/91 verkündeten die Führungen Sloweniens und Kroatiens, beide Republiken würden sich zu unabhängigen Staaten erklären, sollte es binnen sechs Monaten nicht gelingen, eine einvernehmliche Lösung über die künftige Ordnung Jugoslawiens zu finden. Slowenien ließ im Dezember 1990 ein Plebiszit durchführen, in dem die Bürger entscheiden sollten, ob sie wie bisher in einem Bundesstaat oder in einer Konföderation souveräner Staaten leben wollten. Ein derartiges Referendum fand in Kroatien Ende Mai 1991 statt. Das Ergebnis war in beiden Fällen das gleiche: Eine überwältigende Mehrheit der Bürger stimmte für die konföderative Lösung.
Obwohl Kroatien und Slowenien fest entschlossen waren, der jugoslawischen Föderation den Rücken zu kehren, wurde in allen offiziellen Erklärungen und Dokumenten dieser Republiken der Begriff der Sezession oder Abspaltung sorgfältig vermieden. Dabei wäre es naheliegend gewesen, sich auf die dem Buchstaben nach noch immer gültige Bundes-Verfassung von 1974 zu berufen, die den jugoslawischen Völkern in ihrer Präambel ein Recht auf Sezession zusichert. Doch ähnlich wie in der sowjetischen Verfassung fehlt jeder Hinweis darauf, wie dieses Recht praktisch verwirklicht werden soll. Den Weg der Sezession wollte man in Zagreb ebensowenig gehen wie in Ljubljana, weil man der Meinung war, daß eine Republik, die sich eigenmächtig und einseitig aus dem jugoslawischen Staatsverband abspaltet, nicht einmal partieller Rechtsnachfolger Jugoslawiens werden kann. Man strebte deshalb nach der einvernehmlichen Auflösung dieses Staates, die den Nachfolgestaaten auch die Rechtsnachfolge gestattet hätte. Der positive Effekt einer solchen Lösung wäre gewesen: Alle Nachfolgestaaten hätten die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (z. B. Vereinte Nationen, KSZE) geerbt und könnten sich grundsätzlich auf alle von Jugoslawien geschlossenen internationalen Verträge berufen. Um diesen Weg zur Auflösung Jugoslawiens zu umschreiben, prägte man in Kroatien den Begriff der „razdruzivanje", der sich am besten mit „Dissoziierung“, d. h. Beendigung einer früher bestehenden Gemeinschaft, übersetzen läßt.
Der Weg zur Eigenstaatlichkeit war allerdings weder von den slowenischen noch von den kroatischen Politikern gründlich durchdacht worden, zumindest nicht im Hinblick darauf, wie man die internationale Anerkennung letztlich erreichen wollte. Man hatte sich dem Ziel der Selbständigkeit verschrieben und unternahm praktische Schritte zu seiner Verwirklichung, indem man zum Beispiel Zug um Zug alle rechtlichen Bindungen der beiden Republiken an die Föderation kappte. Der jugoslawische Bundesstaat sollte nicht einmal mehr minimale Rechte in Kroatien und Slowenien besitzen.
Slowenien und Kroatien wurden zu Gefangenen des von ihnen selbst aufgestellten Zeitplans. Ende Juni 1991 mußten sie die Unabhängigkeit proklamieren, wenngleich dieser Akt per se noch nicht die offene Sezession sein mußte. „Die Republik Slowenien ist ein selbständiger Staat“, „Der Staat Kroatien ist geboren“ -so lauteten die Schlagzeilen der slowenischen und kroatischen Presse am 26. Juni 1991. Am Vortag hatten die Parlamente beider Republiken in einer konzertierten Aktion feierliche Deklarationen über ihre Souveränität und Unabhängigkeit verabschiedet, die zwar in der Form sehr unterschiedlich waren, sich jedoch inhaltlich weitgehend deckten. Folgende Punkte bildeten den Kern dieser Dokumente: 1. Die jugoslawische Verfassung besitzt in beiden Republiken keine Gültigkeit mehr. 2. Die Republiken übernehmen wieder alle Rechte und Pflichten, die sie einst an den Bundesstaat übertragen hatten. 3. Die Republikgrenzen werden zu Staatsgrenzen. 4. Beide Republiken erkennen sich wechselseitig an und erklären ihre Absicht zur Gründung eines Bundes zweier selbständiger, souveräner Staaten. 5. Obwohl sich die beiden Republiken nicht länger als Teil Jugoslawiens betrachten, sind sie prinzipiell bereit, mit den übrigen jugoslawischen Republiken einen Staatenbund zu gründen, der auf folgenden Prinzipien basieren sollte: Politischer Pluralismus, Marktwirtschaft, Respektierung der Menschen-und Minderheitenrechte
Die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien bedeuteten per se noch nicht die Sezession. Erst die Begleitumstände ließen diesen Schritt in einem derartigen Licht erscheinen. Noch Anfang Juni 1991 hatte der kroatische Ministerpräsident Manolic erklärt: „Man kann nicht einfach Hut und Mantel nehmen und Jugoslawien verlassen.“ Damit war gemeint, daß die endgültige Trennung vom jugoslawischen Bundesstaat noch zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen würde. Als man in Ljubljana jedoch erklärte, die Grenzund Zollkontrollen sofort in eigener Regie zu übernehmen und die Zolleinnahmen nicht länger an den Bund weiterzuleiten, herrschte in Belgrad Alarmstimmung. Als dann Grenzschilder mit der Aufschrift „Republik Slowenien“ errichtet wurden, war der Vorwand für eine militärische Intervention da. Doch Ziel dieser Aktion war nicht die militärische Niederwerfung Sloweniens, sondern die Wiederherstellung der jugoslawischen Grenzund Zollhoheit und damit die zwangsweise Aufrechterhaltung der staatlichen Einheit Jugoslawiens.
III. Krieg in Slowenien und Kroatien
Die Intervention der jugoslawischen Volksarmee in Slowenien erfolgte nicht auf Befehl des Staats-präsidiums, sondern unter Bruch der Verfassung in Absprache mit der jugoslawischen Bundesregierung. Der jugoslawische Regierungschef Ante Markovic hatte zuvor gedroht, er werde alle Zwangsmittel des Staates gegen die abspaltungswilligen Republiken einsetzen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Serbiens Präsident Milosevic nicht nur informiert, sondern ebenfalls eine treibende Kraft bei der Militäraktion.
Die tragische Bilanz der kriegerischen Auseinandersetzungen in Slowenien: 56 Tote und 287 Verletzte, die meisten davon auf Seiten der Bundesarmee. Staunend verfolgte die Welt, wie sich eine hochmotivierte Territorialverteidigung gegen eine wohlgerüstete Armee behauptete. Was die Welt nicht wußte: Die Soldaten der Bundesarmee hatten weder einen Schießbefehl noch die zum Schießen erforderliche Munition. Das galt zumindest für die Truppen, die abkommandiert waren, um die slowenischen Grenzübergänge zu besetzen. Man hatte nicht mit Widerstand gerechnet, und so wurde die Aktion wie eine innerjugoslawische Truppenverlegung gehandhabt, bei der die Ausgabe scharfer Munition ebenfalls nicht üblich war. Bewaffnet waren demnach nur die Truppen in den Kasernen, im Gegensatz zu den bereits ausgerückten Einheiten. Die Aufmarschpläne der Armee waren zudem in slowenischer Hand. Im Bundesverteidigungsministerium beschäftigte Slowenen hatten sie nach Ljubljana gemeldet. So agierte die Armee in Slowenien -bildlich gesprochen -mit angezogener Handbremse. Gleichzeitig kannte der Gegner jede Aktion im voraus. Hätte die jugoslawische Armee wirklich Krieg geführt, d. h. bedenkenlos all ihre militärischen Mittel eingesetzt, dann wäre aus Slowenien -wie ein Militärexperte bemerkt hat -innerhalb von drei Tagen ein einziger Friedhof geworden
Mitte Juli 1991 beschloß das von Serbien beherrschte jugoslawische Staatspräsidium völlig überraschend, die Truppen der Volksarmee aus Slowenien abzuziehen. Serbiens Vertreter im Staatspräsidium Borisav Jovic erklärte gegenüber dem Belgrader Fernsehen, die jugoslawische Armee wolle nicht in einem Landesteil stationiert sein, in dem man sie als Besatzer betrachte. Diese Aussage klang angesichts der Tatsache zynisch, daß zu diesem Zeitpunkt 70000 Soldaten der Armee in Kroatien standen, die von der Bevölkerung dieser Republik ohne Zweifel als Besatzer angesehen wurden. Der Truppenabzug bedeutete aus serbischer Sicht nicht mehr als ein Bauernopfer. Die nach Bosnien-Hercegovina und nach Serbien verlegten Truppen waren jetzt für den eigentlichen Feind Kroatien eine größere Bedrohung als vorher. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache hervorzuheben, daß Serbiens Präsident Milosevic der natürliche Verbündete der Armeeführung war. Ideologische Nähe und landsmannschaftliche Verbundenheit fungierten als das einigende Band zwischen dem zu zwei Dritteln aus Serben bestehenden Offizierskorps und dem serbischen Präsidenten. Die Republik Serbien, die (neben dem winzigen Montenegro) als einzige die kommunistische Ordnung noch halbwegs hochhielt, stellte für die durchweg kommunistisch geprägten Offiziere so etwas wie den ideologischen Rettungsanker dar. Slowenien und Kroatien hingegen waren natürliche Feinde, weil sie als Zerstörer der kommunistischen Ordnung galten. Immerhin waren 1989 96 Prozent aller Offiziere und 100 Prozent aller Generäle und Admiräle Parteimitglieder. Doch nicht nur Ideologie und Patriotismus waren ausschlaggebend für das Bündnis zwischen Offizierskorps und serbischem Präsidenten. Wenn sich die Offiziere serbischer Nationalität fragten, wer nach der von Slowenien und Kroatien in einem Zeitraum von drei Jahren geplanten Abschaffung der Volksarmee ihr Dienstherr sein und ihnen Gehalt zahlen würde, richteten sich ihre Augen automatisch auf Serbien. Diese Republik verfügte nicht nur über die wirtschaftliche Potenz zur Finanzierung der Armee, sie schien auch der legitime Erbe Jugoslawiens zu sein. Die enge Verbindung zur Armee war schon Anfang März 1991 zum Ausdruck gekommen. Es war die Armee, die in Belgrad Panzer auffuhr, um das Milosevic-Regime gegen die Opposition zu verteidigen
Im Krieg in Kroatien nahm die Armee zunächst eine halbwegs verschleierte Funktion wahr: Sie beteiligte sich nicht an den Kämpfen gegen die kroatische Nationalgarde und die autonomen Freischärler dieser Republik, die ca. fünf Prozent der Kämpfer auf kroatischer Seite ausmachten. Sie unterstützte vielmehr die aus in Kroatien ansässigen Serben gebildeten Verbände von Freischärlern. Diese Kämpfer, die von der serbischen Regierung mit Waffen, Geld und Nahrungsmitteln unterstützt wurden, dürfen nicht mit den Tschetniks verwechselt werden, wie das vielfach in den deutschen Medien geschah. Diese neofaschistischen Kämpfer, die etwa fünf Prozent aller Kombattanten auf ser-bischer Seite stellten, wurden von der serbischen Emigration finanziert und unterstanden nicht den Weisungen aus Belgrad.
Die von Belgrad finanzierten Freischärler standen im geheimen Einverständnis mit der Bundesarmee. Sie konnten den militärischen Nachrichtendienst nutzen und waren daher zumeist über die Bewegungen der kroatischen Einheiten informiert. Gerieten sie doch einmal in eine prekäre Lage, konnten sie auf die Unterstützung der Armee rechnen. Die Republik Serbien, die nicht müde wurde zu betonen, sie befände sich nicht im Krieg, hat den Krieg in Kroatien initiiert, finanziert und mehr und mehr eskaliert. Sie bediente sich dabei der serbischen Freischärler und der Armee als Instrumente, wobei sie der Armee zunächst eine weitgehend passive Rolle zugewiesen hatte.
Eine Änderung trat ein, als sich Kroatien zur Blokkade der Kasernen auf seinem Territorium entschloß. Dieser Schritt wurde als Kriegserklärung gewertet. Jetzt trat die jugoslawische Volksarmee offen als kriegführende Partei in Erscheinung. Allerdings versuchte sie noch die Fiktion aufrechtzuerhalten, sie handle aus eigenem Ermessen und in eigener Verantwortung. Dabei war offenkundig, daß Serbien die Armee voll und ganz finanzierte und damit zu ihrem Brotherren geworden war. Doch nicht jeder Offizier erkannte, daß die Armee sich zu einem Instrument der serbischen Politik entwickelt hatte. Der eine oder andere General glaubte für die Wiederherstellung der sozialistischen Ordnung oder für ein einheitliches Jugoslawien zu kämpfen, wie sich anhand von öffentlichen Äußerungen nachweisen läßt.
Die serbischen Kriegsziele, die niemals offiziell artikuliert wurden -wenn man von dem Schlagwort „Schutz der serbischen Minderheit“ einmal absieht-bestanden mit Sicherheit nicht in der Eingliederung Kroatiens in ein „großserbisches Reich“. Kroatien sollte vielmehr militärisch in die Knie gezwungen werden, um es von der Sezession abzuhalten und zum Verbleib in Jugoslawien zu zwingen. Sollte sich dieses Ziel nicht realisieren lassen, dann sollten die von Freischärlern und der Armee eroberten Gebiete als Faustpfand eingesetzt werden, um bei einer Friedenskonferenz erhebliche Territorialgewinne durchzusetzen. Die militärischen Aktionen der Armee waren brutal und rücksichtslos, wenn es um Städte wie z. B. Vukovar und Osijek ging, die im europäischen Bewußtsein wenig bedeuten. Die Angriffe auf Dubrovnik und Zadar wurden zwar geführt, es wurde jedoch offensichtlich, daß man hier mit Rücksicht auf das internationale Echo bei weitem nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel einsetzte. Die von den Kroaten immer wieder als unmittelbar bevorstehend angekündigte Großoffensive auf Zagreb blieb ganz aus.
Die serbischen Kriegsziele waren demnach begrenzt. Hervorzuheben ist, daß die serbische Regierung keinerlei Unrechtsbewußtsein zeigte, nachdem sie sich entschlossen hatte, die Frage der kroatischen Grenzen unter Einsatz brutaler militärischer Gewalt zu lösen. Vermeintliche Rechte der serbischen Bevölkerung Kroatiens und damit verbundene territoriale Ansprüche mit der Waffe in der Hand erkämpfen zu wollen, wurde in Serbien als eine Art Naturrecht, nicht aber als blutiger Anachronismus am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verstanden. Die vorläufige Bilanz des Krieges ist grauenhaft: 10000 Tote, wobei die Anzahl der Verletzten diese Zahl noch übersteigen dürfte. Hinzu kommen mehr als eine halbe Million kroatischer und serbischer Flüchtlinge, die vielfach alles verloren haben, was sie sich im Leben erarbeitet haben
Angesichts seiner offenkundigen militärischen Unterlegenheit konnte das kroatische Kriegsziel nur darin bestehen, das Tempo der serbischen Eroberungen zu drosseln und gleichzeitig ein Maximum an internationaler Unterstützung zu mobilisieren. Kroatien mußte als unschuldiges und hilfloses Opfer einer brutalen serbischen Aggression erscheinen, wollte es seinem Hauptziel, der internationalen Anerkennung als Staat, näherkommen. Die Anerkennung -ohnehin das ersehnte Ziel kroatischer Politik -erhielt jetzt die Funktion eines Schutzschilds, gleichzeitig erhoffte man sich von den anerkennungswilligen Staaten zumindest diplomatische Unterstützung bei der Rückgewinnung der von Serben besetzten Territorien, die immerhin ein Drittel des kroatischen Staatsgebiets ausmachen. Die politische Führung in Zagreb erhoffte sich von der internationalen Anerkennung auch die Aufhebung des Waffenembargos, das gegen ganz Jugoslawien und damit auch gegen Kroatien verhängt worden war. Nicht ohne ein gewisses Maß an Naivität ging man davon aus, daß ein unabhängiger Staat Kroatien überall Waffen kaufen könne und damit in die Lage versetzt würde, sein besetztes Staatsgebiet selbst zu befreien.
Der Krieg in Kroatien war wesentlich auch ein Medien-und Propagandakrieg. Für die Serben als Aggressor war Publizität eher hinderlich oder schädlich, während es in Kroatiens Interesse lag, daß die schrecklichen Bilder der Ereignisse in allen euro-päischen Fernsehanstalten präsent waren und das Bewußtsein dafür wachhielten, daß im Herzen des Kontinents ein grausamer Krieg tobte. Dabei griff die kroatische Propaganda zum naheliegenden Mittel der Schwarzweißmalerei. Alle Massaker und brutalen Verbrechen wurden auf das Konto der Serben gebucht, während die Kroaten unschuldige Opfer bzw. heroische Kämpfer gegen einen übermächtigen Feind waren. Man kann sagen, daß Kroatien der eindeutige Sieger im Medien-und Propagandakrieg war. Die Unterstützung von Seiten der EG-Staaten, die schließlich in die Anerkennung einmündete wurde auch von der Stimmung begünstigt, wie sie von den Medien erzeugt wurde.
Am 9. Januar 1992 erklärte Serbiens Präsident Milosevic den Krieg in Kroatien für beendet. In einem offenen Brief an Milan Babic, den selbsternannten Präsidenten der sogenannten „Serbischen Republik Krajina“ schrieb Milosevic, der Kriegsgrund -nämlich der Schutz der serbischen Minderheit in Kroatien -sei erloschen, weil dieses Ziel durch die geplante Entsendung von 10000 UN-Blauhelmen gewährleistet sei. Wer sich wie Babic der Entsendung von UN-Truppen widersetze, gefährde die „vitalen Interessen“ des serbischen Volkes
Wie ist diese überraschende Wende in der Politik des serbischen Präsidenten zu erklären? Der wesentliche Grund liegt sicher darin, daß der Krieg nicht länger finanzierbar war. Serbien war am Ende seiner Ressourcen angelangt, nachdem es seit dem Sommer die Bundesarmee, die serbischen Freischärler und nicht zuletzt die Kriegsindustrie finanziert hatte. Allein die Versorgung der Armee mit Bargeld verschlang monatlich Dinare im Gegenwert von 150 Mio. US-Dollar
Der Krieg ließ sich auch deshalb nicht mehr weiterführen, weil der Widerstand der Öffentlichkeit immer stärker geworden war. Bereits am 8. September 1991 hatten die Parteichefs der serbischen Opposition die Erklärung von Genf unterzeichnet. Dieses Dokument, das von namhaften Persönlichkeiten aus allen Teilen Jugoslawiens verfaßt worden war, forderte zur Beendigung des „brutalen und sinnlosen Kriegs in Kroatien“ auf und trat für das Prinzip ein, daß die bestehenden äußeren und inneren Grenzen Jugoslawiens nicht mit Gewalt geändert werden dürfen Die zunehmend stärkere Friedensbewegung in Serbien sorgte für eine kritische Atmosphäre, so daß mehr und mehr junge Männer keinen Sinn mehr darin sahen, die Uniform anzuziehen. Neunzig Prozent der Reservisten in Belgrad leisteten dem Einberufungsbefehl keine Folge, in ganz Serbien waren es siebzig Prozent und selbst im als kriegerisch geltenden Montenegro 60 Prozent. Angehörige der Bundesarmee, die aus Makedonien und Bosnien-Hercegovina stammten, wurden von der Regierung ihrer Republik aufgefordert, in die Heimat zurückzukehren. Auch die Zahl der Deserteure nahm lawinenartig zu. Bis Ende September 1991 desertierten allein in Kroatien mehr als 11000 Soldaten der jugoslawischen Armee. Nachdem 2000 makedonische Soldaten entgegen der Zusicherung des Oberkommandos der III. Armee nach Kroatien an die Front geschickt worden waren, ließ das Innenministerium der Republik sämtliche Einberufungslisten verschwinden. Gleichzeitig beschloß der Rat für Volksverteidigung unter Staatspräsident Kiro Gligorov, keine Rekruten oder Reservisten mehr in die Volksarmee zu entsenden
Finanzielle Ausblutung Serbiens und Kriegsmüdigkeit in denjenigen Republiken, die überhaupt noch bereit waren, die Entsendung von Reservisten in Erwägung zu ziehen, brachten den Krieg zu einem vorläufigen Stillstand. Doch die geplante Entsendung von UN-Blauhelmen stieß zunächst auf Widerstand. Während sich die Führung der Republik Serbien vorbehaltlos für diesen Schritt aussprach, kündigte der Führer der Serben in der Krajina, Milan Babic, bewaffneten Widerstand an. Auch die kroatische Führung zog ihre anfängliche Zustimmung wieder zurück und stellte zusätzliche Bedingungen. Die Anwesenheit der UN-Friedenstruppen sollte auf sechs Monate bis maximal ein Jahr begrenzt werden. Kroatien bestand darauf, daß die von Serben besiedelten Territorien der Republik weiterhin unter kroatischer Rechtshoheit verbleiben, während der UN-Friedensplan nicht nur die Entmilitarisierung dieser Gebiete vorsieht, sondern auch die Übernahme der Verwaltung und Polizeigewalt durch die örtlichen Serben. Schließlich gab Präsident Tudjman trotz erheblicher Bedenken seine Zustimmung. Nach einem Treffen der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats am 13. Februar 1992 wurden erste Schritte zur Entsendung von 10000 Blauhelmen nach Kroatien eingeleitet. Die Kosten dieser Mission beziffert man in New York auf 400 Mio. US-Dollar pro Jahr Allem Anschein nach ließ sich die Kriegsgefahr in Kroatien durch die beschlossene Entsendung von Blauhelmen auf ein Minimum reduzieren. Doch im benachbarten Bosnien-Hercegovina eskalierten die nationalen Spannungen und drohten, einen noch schrecklicheren Krieg als in Kroatien auszulösen. In dieser multinationalen Republik fand Ende Februar ein Referendum über die Unabhängigkeit statt. Dieser Volksabstimmung, deren Abhaltung und positiver Ausgang von der Europäischen Gemeinschaft als Grundvoraussetzung für die diplomatische Anerkennung genannt war, widersetzten sich die bosnischen Serben vehement. Ihr Führer Radovan Karadzic äußerte sich zehn Tage vor dem Referendum wie folgt: „Wenn das Referendum den freien Willen des kroatischen und des muslimischen Volkes zum Ausdruck bringt, dann gibt es keinen Grund zum Krieg. Sollte das Referendum jedoch automatisch Konsequenzen nach sich ziehen -im Sinne der Unabhängigkeit von Bosnien-Hercegovina -und sollte jemand versuchen, auch den Serben diese unabhängige Republik aufzuzwingen, dann könnte er das nicht ohne Anwendung von Gewalt tun. Wenn jemand also versuchen sollte, gegenüber den Serben Gewalt anzuwenden, dann wäre der Krieg da. Ganz genau so war es auch in Kroatien.“
Weshalb sprachen sich die Serben, die ein knappes Drittel der Bevölkerung stellen, derart vehement gegen das Referendum und einen unabhängigen bosnischen Staat aus? Ihre Befürchtungen gehen dahin, daß die Muslime ihren Bevölkerungsanteil von jetzt 47 in wenigen Jahren auf über 50 Prozent steigern werden. Sie hätten dann nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Parlament die Mehrheit, da in der Republik nach strikt nationalen Gesichtspunkten gewählt wird. Die Serben gehen davon aus, daß die Muslime ihre Vorherrschaft zur Gründung eines islamischen Staates nutzen werden. In diesem Gemeinwesen bliebe Serben wie Kroaten nur noch die Rolle einer widerwillig geduldeten Minderheit. Die Serben wären im bosnischen Parlament auf Dauer in der Opposition, ohne jemals die Chance zu haben, allein oder mit einem Partner die Regierung bilden zu können. So absurd und realitätsfremd die Ängste vor der Errichtung eines islamischen Gottesstaates auch sein mögen -gerade unter den Intellektuellen gibt es bei den bosnischen Muslimen sehr viele Atheisten die serbischen Politiker malen diesen „Alptraum“ an die Wand und machen ihre Politik damit. Wenn die Serben einen unabhängigen Staat Bosnien nicht wollen, so hängt das auch mit ihrer Option für das „neue Jugoslawien“ zusammen. Sie möchten, daß sich die Republik Bosnien-Hercegovina dieser von Serbien und Montenegro ins Auge gefaßten Staats-gründung anschließt. Ein unabhängiges und international anerkanntes Bosnien-Hercegovina würde sich sicherlich nicht freiwillig in den serbischen Herrschaftsbereich eines „neuen Jugoslawien“ begeben.
Das von den bosnischen Serben boykottierte Referendum brachte das erwartete Ergebnis. 63 Prozent der 3, 1 Mio. Wahlberechtigten gingen zu den Urnen. Von diesen stimmten fast alle, nämlich 99, 4 Prozent, für das souveräne und unabhängige Bosnien-Hercegovina. Die angekündigte Revolte der Serben weitete sich rasch zum blutigen Konflikt aus. Mit Bussen und Autos wurden an mehr als zwanzig Punkten in Sarajevo Straßensperren errichtet. Bei Feuerüberfällen fanden mehrere Menschen den Tod. Die Serbische Demokratische Partei Bosniens forderte die Regierung auf, unverzüglich alle Bemühungen zur Gründung eines unabhängigen Staates einzustellen. Parteichef Karadzic erklärte, daß im Falle eines Bürgerkriegs Nordirland im Vergleich zu Bosnien ein Urlaubsort wäre
Präsident Izetbegovic machte den rebellierenden Serben erhebliche Zugeständnisse -u. a. wurde die Unabhängigkeit auf unbestimmte Zeit vertagt und den Serben erheblicher Einfluß auf das staatliche Fernsehen zugesagt -, all diese Konzessionen wurden jedoch kurze Zeit später widerrufen. Der unabhängige Fernsehsender YUTEL richtete nicht nur dringende Appelle an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren. Dem Chefredakteur dieses Mediums gelang es auch, Präsident Izetbegovic und seinen Gegenspieler Karadzic zum Dialog zu bringen, der in eine vorläufige Deeskalation einmündete.
Doch die Spannung stieg wieder, als Radovan Karadzic die Europäische Gemeinschaft eindringlich vor einer Anerkennung Bosnien-Hercegovinas warnte, da sonst ein Bürgerkrieg in dieser Republik drohe. Gleichzeitig forderte der Serbenführer ein Eingreifen der jugoslawischen Bundesarmee, die in Bosnien nicht weniger als 100000 Soldaten mit 200000 Familienangehörigen stationiert hat. Die Armeeführung erkläite jedoch, sie werde sich im Konflikt zwischen den Völkern Bosnien-Hercegovinas strikt neutral verhalten.
Der UNO-Sonderbeauftragte Cyrus Vance sagte in Sarajevo, trotz der kritischen Entwicklung werde die Stadt das Hauptquartier für die 14000 Soldaten der UN-Friedenstruppe bleiben. Auch das logisti-sehe Zentrum für die Truppen werde in Bosnien -in der Stadt Banja Luka -bleiben.
Am 5. März erklärte Radovan Karadzic, die Republik Bosnien-Hercegovina werde unter der Schirmherrschaft der Europäischen Gemeinschaft aufgeteilt. Vertreter der Muslime, Serben und Kroaten würden in Brüssel Zusammentreffen, um anhand von Landkarten eine „territoriale Abgrenzung“ vorzunehmen. Karadzic fügte hinzu: „Ein einheitliches Bosnien-Hercegovina gibt es nicht mehr.“
Die Siedlungsgebiete der einzelnen Völker in Bosnien-Hercegovina sind derart miteinander verzahnt, daß eine wie auch immer geartete Aufteilung unmöglich erscheint. Die von den Serben beanspruchten Gebiete machen nicht weniger als 60 Prozent des bosnischen Territoriums aus. Hier handelt es sich um utopische Forderungen, die jedoch entsprechende Verhandlungen erheblich belasten werden. Wie immer eine „Aufteilung“ aussehen würde, es wäre damit zu rechnen, daß etwa 1, 5 Mio.der 4, 5 Mio. Einwohner Bosnien-Hercegovinas als Minderheit beim Mehrheitsvolk leben müßten.