Die objektiven Rahmenbedingungen des amerikanischen Engagements in Europa haben sich in vieler Hinsicht geändert. Entscheidend jedoch ist der Wegfall der sowjetischen Bedrohung, wie er sich seit 1985 durch die nachhaltigen Veränderungen im Lande und die weitreichenden Abrüstungsvorschläge auf beiden Seiten abzeichnete. Zu Beginn der neunziger Jahre nehmen gar zwei anfänglich utopisch anmutende Visionen sowjetischer und amerikanischer Provenienz Konturen an: Gorbatschows Plädoyer für eine atomwaffenfreie Welt bis zum Jahre 2000 und die Vorstellung Bushs von einer neuen Weltordnung, zuletzt unterstrichen durch die amerikanische Initiative vom Januar 1992 zur weiteren Abrüstung des amerikanischen Nuklearwaffenarsenals.
Die wenigsten Amerikaner glauben heute ernsthaft an eine Rückkehr zu den Verhältnissen der vergangenen Jahre. Der Zerfall des Sowjetreiches ist zwar nicht unumkehrbar, so wie auch größere Imperien nicht für die Ewigkeit bestimmt sind; gerade die Geschichte dieses großen Reiches hat sich im unregelmäßigen Rhythmus zwischen Auflösung und neuer Zentralisierung entwickelt. In den USA geht man aber zunächst einmal davon aus, daß die GUS Bestand haben wird. Entsprechend wächst der Druck auf die Administration, die amerikanischen Truppen in Europa nachhaltig zu reduzieren, insbesondere wenn solche Reduzierungen mit Kürzungen des Verteidigungsbudgets und den abgeschlossenen Rüstungskontrollabkommen in Verbindung gebracht werden Die Regierung hat dem soweit entsprochen und bis 1997 eine Reduzierung des Wehretats auf 18 Prozent des Gesamthaushalts angekündigt -nach einem rund 27prozentigen Anteil am Haushalt in den achtziger Jahren. Weitere Kürzungen wurden auch von konservatiDerfolgende Beitrag ist in Teilen ein Auszug aus dem in Kürze im Bouvier-Verlag, Bonn, erscheinenden Buch des Autors mit dem Titel „Die USA und die neue Weltordnung“. ven Regierungsvertretern wie Verteidigungsminister Cheney nicht ausgeschlossen.
Das politische Establishment sah bereits nach den einseitigen und asymmetrischen Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion im Rahmen des INF-Vertrags zum Abbau der Mittelstreckenwaffen und des KSE-Vertrags zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa, vor allem aber nach dem Einlenken beim jahrzehntelang umstrittenen Verifikationsproblem und dem Zusammenbruch des War-schauer Pakts in der Sowjetunion keine ernsthafte militärische Gefahr mehr für Europa Selbst an eine unmittelbare Bedrohung für die USA durch die sowjetischen Interkontinentalraketen wollte nach dem START-Abschluß keiner mehr so recht glauben. Aufgrund der großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten sah man das Land zudem schon Ende der achtziger Jahre nicht mehr in der Lage, seine Nuklearbestände zu modernisieren.
Auf der anderen Seite stimmt die jetzige Entwicklung in der GUS die Amerikaner auch nicht gerade optimistisch. Selbst wenn die Feststellung Fukuyamas zutrifft und die kommunistische Herausforderung tatsächlich „tot“ ist, so ist noch nicht erkennbar, ob Rußland und die übrigen Nachfolgestaaten den Weg in ein marktwirtschaftliches System kapitalistischen Zuschnitts steuern Wirtschaftliches Chaos, soziale und interethnische Spannungen könnten sich in Anarchie und Bürgerkrieg entladen. Die Geschichte lehrt, daß die inneren Gärungen der Völker fast immer eine Bedrohung der Sicherheit bedeuten und die Rückwirkungen revolutionärer Prozesse eine wesentliche Determinante für die Veränderung der internationalen Machtverhältnisse darstellen. Dies traf bereits auf die beiden ersten Russischen Revolutionen von 1904/5 und 1917 zu; es traf auf den Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 und die nationalsozialistische Revolution der Jahre 1933-45 zu, und es galt zuletzt für die fundamentalistische Revolution im Iran Ende der siebziger Jahre. Wer garantiert also, daß der innere Zerfall der kommunistischen Regime in einer sicherlich langwierigen Übergangsphase nicht doch zu Erschütterungen führen wird?
I. Das besondere Verhältnis der USA zur GUS
Für die Amerikaner bedeuteten Instabilitäten in Europa in diesem Jahrhundert immer, daß sie früher oder später in die europäischen Wirren hineingezogen wurden. Auch deshalb will man sicherstellen, daß die Abkehr vom Kommunismus in der früheren Sowjetunion und in Osteuropa unwiderruflich ist und in der Region nicht erneut ein zerrüttetes, instabiles Machtvakuum hinterläßt. Daß dies nur funktioniert, wenn sich die westlichen Demokratien bereit finden, die Demokratisierungs-und Modernisierungsprozesse in der GUS wirtschaftlich und politisch zu unterstützen, demonstrieren die Amerikaner hingegen mit vornehmer Zurückhaltung. Insgesamt folgt die Regierung in Washington dem trägen Muster ihrer jugoslawischen Unionsstrategie. Auch dort setzte man noch auf eine Zentralisierung, als im Grunde schon abzusehen war, daß die in den Einzelrepubliken entfesselten Kräfte viel zu gewaltig waren, um von einer wie immer gearteten Zentralgewalt in Schach gehalten werden zu können; bis zuletzt schob man die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens hinaus.
Nunmehr, da man auch in den USA erkannt hat, daß der Selbstverwirklichungsprozeß der Einzelrepubliken in der GUS und in Jugoslawien nicht mehr aufzuhalten ist, setzt die Regierung auf die „demokratische Differenzierung“ als leitendes Prinzip ihrer Osteuropapolitik: Hilfe für die Einzelrepubliken wird von deren Fortschritten bei der Einführung der Marktwirtschaft und der Verwirklichung von politischem Pluralismus abhängig gemacht. Dies ist in doppelter Hinsicht konsequent: Zum einen widerspräche die ungebundene Vergabe von Kreditmitteln den Erfahrungen der siebziger Jahre, als Gelder in die Region gepumpt wurden, ohne damit Fortschritte bei Strukturreformen zu verbinden; zum anderen paßt dieses Prinzip in die Grund-muster künftiger amerikanischer Außenpolitik mit einem stärker selektiven Ansatz.
Obwohl dieser Ansatz nicht neu ist und amerikanische Auslandshilfe zumindest theoretisch traditionell an die Erfüllung bestimmter ordnungspolitischer und demokratischer Prinzipien gebunden war, wurden Entscheidungen zugunsten oder zuungunsten amerikanischen Engagements in der Welt in der Vergangenheit vor allem vom sowjetischen Einfluß in der betreffenden Region abhängig gemacht und praktisch ausschließlich unter dem Aspekt des weltweiten Ideologiekonflikts getroffen. Heute ist amerikanische Außenpolitik frei von diesen Zwängen und kann die Demokratie-und Unabhängigkeitsbestrebungen der Einzelrepubliken in der GUS oder in Jugoslawien im Grunde offen unterstützen. Zu verlieren hat man dabei nichts.
Jetzt, wo das sowjetische Großreich in eine Anzahl locker verbundener Republiken zerfallen ist und diese ähnlichen Problemen gegenüberstehen wie vor kurzem noch der Gesamtstaat, bemüht man sich deshalb in den USA um koordinierte Hilfsaktionen für die Einzelrepubliken, warnt auf der anderen Seite aber gleichzeitig vor den möglichen Konsequenzen der Dezentralisierung. Vor allem die Frage nach der Kontrolle der sowjetischen Kernwaffen bereitet den Amerikanern Sorgen. In Washington sieht man die Gefahr der Entstehung neuer Atommächte und einer Verschärfung des Proliferationsproblems: Werden nicht jene nichtrussischen Staaten, auf deren Territorium Kernwaffen stationiert sind, an diesen entgegen allen Beteuerungen festhalten wollen, weil sie darin die verläßlichste Rückversicherung gegen erneute Zentralisierungsbestrebungen Rußlands sehen?
Die Tatsache allein, daß sich Rußland, Weißrußland, die Ukraine und Kasachstan auf die Russische Föderation als Verhandlungsführer bei internationalen Friedenskonferenzen oder den bilateralen Abrüstungsgesprächen mit Washington geeinigt haben, beweist nach Ansicht der Amerikaner noch nicht, daß die Frage der Verfügungsgewalt über die Kernwaffen auf dem ehemals sowjetischen Territorium hinreichend geregelt ist. Die Erklärung der GUS, die strategischen Atomwaffen einem zentralen Kommando zu unterstellen, ist für sie ohne den dazu erforderlichen Konsultationsmechanismus zwischen den Nuklearstaaten wertlos. Und zu der großen Anzahl taktischer Atomwaffen gibt es -abgesehen von Absichtserklärungen einzelner Republiken, sie bereits 1992 abzubauen -ohnehin keine verbindliche Kontrollzusage, da sie praktisch über das gesamte Territorium der früheren Sowjetunion verstreut sein sollen. Schon aus diesem Grund setzt man in den USA darauf, daß am Ende die Russische Föderation allein die nukleare Erbschaft antreten wird, zumal da auf ihrem Territorium ohnehin der Großteil der strategischen Nuklearwaffen lagert. Diese Haltung ist symptomatisch für den amerikanischen Kurs gegenüber den weltweiten Unabhängigkeitsbestrebungen und kennzeichnet das eigentliche Dilemma amerikanischer Osteuropapolitik: Einerseits gehört es zu den höchsten Prinzipien amerikanischer Außenpolitik, die friedliche Selbstbestimmung der Völker zu unterstützen; andererseits ist man bestrebt, sich nach dem jeweils mächtigsten Glied im Verbund auszurichten, da man im Falle des Fehlens einer Zentralgewalt befürchtet, daß ethnische und soziale Spannungen noch an Explosivität zunehmen könnten und beispielsweise der Wandel in der GUS nicht durch geordnete demokratische Prozesse, sondern durch Gewalt vonstatten geht. Daß eine solche Strategie die Nationalitätenkonflikte aber auch verschärfen kann, scheint man in den USA im Falle der GUS auszuschließen. Dabei wird sogar die Frage, ob es mit den Bestimmungen des Völkerrechts vereinbar ist, wenn die Welt dem bis zum Zusammenbruch eines Vielvölkerstaates beherrschenden Volk die Entscheidung darüber einräumt, welche der sich lösenden Völker eigenständige Nationen werden dürfen und welche Bevölkerungen zu bleiben haben, dem überragenden Interesse an der Selbstbehauptung gegen mögliche Existenzgefährdungen der westlichen Welt untergeordnet. Friedenspolitik wird als Desiderat aufgeklärter Eigeninteressen primär als Aufgabe verantwortlicher Realisten verstanden, die lieber zu viel als zu wenig Skepsis in die Gesamtanschauung der Außenpolitik einbringen.
Die Geschichte wird vielleicht schon bald darüber zu urteilen haben, ob es ein Fehler der USA wie der gesamten westlichen Welt war, im Fall der ehemaligen Sowjetunion praktisch ausschließlich auf die Russische Föderation zu setzen -mit der Folge, daß Rußland nun den Großteil der ehemaligen Sowjetarmee und den Wirtschaftsablauf im ganzen Lande zu kontrollieren beginnt. Am Ende dieses Prozesses könnte eine Russische Föderation mit ähnlichem Herrschaftsanspruch wie das sowjetische Regime stehen. In der Regel pflegen Macht-vakuen in der internationalen Staatengesellschaft früher oder später von neuen Einflußsphären oder Hegemonialsystemen abgelöst zu werden. Umgekehrt ist auch nicht gewährleistet, daß die von Vorherrschaft befreiten Völker gleiches Recht einzuhalten gewillt sind, was wiederum die eigene Passivität keinesfalls rechtfertigt. Prognosen sind im Moment kaum zu stellen. Grundsätzlich aber ist der Schutz unabhängig gewordener Völker mit nationalen Minderheiten eine der dringlichsten Aufgaben in Osteuropa und die tauglichste Lösung dafür eine föderative Ordnung.
Die USA haben sich dennoch für die Unterstützung einer Zentralgewalt in dieser labilen Phase entschieden; sie glauben, daß es mit ihr zusammen am ehesten zu einvernehmlichen Lösungen für alle Beteiligten kommen wird; vor allem aber, daß dies die international sicherste Lösung ist. Schon die Entscheidung Bushs vom Herbst 1991, fast alle amerikanischen Atomwaffen außerhalb Amerikas abzuziehen und einer konzentrierten und verschärften Kontrolle zu unterziehen, war ein klares Signal an die damalige Sowjetunion, daß man in den USA angesichts einer sich ohnehin abzeichnenden Entwicklung hin zu regionalen Atommächten in der Dritten Welt nicht auch noch in diesem Raum eine weitere Zersplitterung der atomaren Verantwortung wünschte.
Das Nuklearpotential auf dem Territorium der GUS stellt demnach für die Amerikaner auch in den neunziger Jahren eine latente Bedrohung dar - nicht mehr im Sinne der noch vor kurzem geäußerten Überzeugung amerikanischer Sowjetexperten, daß zerfallende Diktaturen nicht still zu Ende gehen können oder selbst eine reformierte Sowjetunion in die imperialistische „Kreml-Politik“ zurückfallen könnte sondern eben im Sinne einer möglichen Dezentralisierung der Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen auf die Einzelrepubliken. Der Zerfallsprozeß des Zentralverwaltungssystems in gleichberechtigte autonome Republiken ohne einen regionalen Vorposten stellt sich vor allem vor diesem Hintergrund für Amerika als die wesentlich gefährlichere, rational nicht steuerbare Entwicklung in den neunziger Jahren dar Warnungen aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Elends vor einem bis an die Peripherie der eurasischen Landmasse ausstrahlenden innenpolitischen Anarchismus rücken demgegenüber schon bedenklich in den Hintergrund
Daß die wenigsten Einzelrepubliken angesichts der mit der Stationierung und dem Unterhalt von Kernwaffen verbundenen Kosten und des Drucks auf weitere Abrüstung seitens des Westen -gekop-pelt mit Angeboten zum Kauf der abzuziehenden Waffen -Wert darauf legen, Atommächte zu werden, ist den Amerikanern ebensowenig Garantie, obwohl man einräumt, daß die allenthalben verheerende wirtschaftliche Situation kaum eine andere Wahl läßt. Man scheint auch sehr rasch vergessen zu haben, wie die sowjetische Militärmacht die westliche Welt in Atem und das östliche Mitteleuropa am Boden hielt und jeden noch so zaghaften Loslösungsprozeß brutal unterdrückte. Nicht einmal eine wirtschaftlich prosperierende Sowjetunion wäre nach den historischen Erfahrungen eine Gewähr für eine friedliche Sowjetunion gewesen Plötzlich aber scheinen die noch nicht einmal bestehenden Heere der Ukraine oder Kasachstans bedrohlicher als das sowjetische.
Andererseits müssen die USA in der jetzigen Phase natürlich auf die Russische Föderation als Hauptansprechpartner setzen; der Abrüstungsprozeß läuft nur über Moskau. Die legitimen Interessen der übrigen GUS-Staaten dürfen deswegen aber nicht ignoriert werden; Moskau muß stets aufs neue an seinem vorgeblichen Verständigungswillen erinnert und bei Hilfeleistungen aus dem Westen an seiner Politik gegenüber den übrigen Nachfolgestaaten gemessen werden.
Die Einzelrepubliken müssen in die europäischen Sicherheitsstrukturen genauso eingebunden werden wie die neuen Demokratien Ost-und Mittel-europas, und die Russische Föderation von Anfang an unter Druck gesetzt werden, das ehemals sowjetische und nun von der GUS verwaltete Nuklearpotential im Rahmen der laufenden Abrüstungsverhandlungen abzubauen. Wie diese Sicherheitsstrukturen auszusehen haben und welche Formen amerikanischer Beteiligung man sich vorstellt, hat Washington sehr rasch deutlich gemacht.
II. Zur künftigen Sicherheitsarchitektur Europas unter amerikanischer Beteiligung
Aus der Diskussion über die künftigen europäischen Sicherheitsstrukturen kristallisieren sich derzeit drei komplementäre Ebenen heraus: die um die WEU und die Zwölf der EG zentrierte europäische; eine „paneuropäische“, verkörpert durch die KSZE als die Institution, die sowohl alle europäischen Staaten als auch die USA und Kanada zusammenbringt; und schließlich die atlantische auf der Basis des NATO-Bündnisses als der einzigen Organisation, welche die Amerikaner an die europäische Verteidigung bindet.
Die Amerikaner wollen sich entlasten. Sie werden ihre Präsenz in Europa angesichts der schwindenden europäischen Bedrohung aus dem Osten sukzessive zurückschrauben, einen vollständigen Rückzug aus Europa aber schließen sie bis jetzt aus. Auf der Konferenz der NATO-Außenminister im Juli 1991 in Kopenhagen und zuletzt beim NATO-Gipfeltreffen in Rom im November letzten Jahres machten sie deutlich, daß sie an den sicherheitspolitischen Kernfunktionen der NATO schon deswegen nicht rütteln lassen wollen, weil sie das entscheidende Instrument zur Verankerung mit dem europäischen Kontinent darstellt. Der Fortbestand des Bündnisses wird als Stabilitätsfaktor gesehen und ist daher auch für Amerika von sicherheitspolitischer Bedeutung. Noch immer betrachtet die Regierung in Washington die NATO als Fundament des weltweiten amerikanischen Engagements schlechthin und die europäischen Verbündeten als wichtige Partner in außereuropäischen Krisenregionen. So gesehen bleibt die Allianz die Voraussetzung für den Einfluß Amerikas als europäische Macht.
Entsprechend verfolgten die Amerikaner die innereuropäische Diskussion um den Erhalt des NATO-Bündnisses anfänglich mit Argwohn. Wie immer, wenn der westeuropäische Integrationsprozeß einen entscheidenden Schritt in Richtung Erweiterung oder Vertiefung unternommen hat oder umgekehrt die Amerikaner über Kennedys Konzept des „Grand Design“ oder Nixons „New Atlantic Charta“ diesen Prozeß nach ihren Vorstellungen zu fördern suchten, waren die transatlantischen Beziehungen auch diesmal von Anpassungsschwierigkeiten begleitet. Dabei handelte es sich nicht um die natürlichen Reibungsverluste, die sich aus den unterschiedlichen Interessenlagen einer Weltmacht mit globalen Ambitionen einerseits und von Regionalmächten mit modifizierten außenpolitischen Präferenzen andererseits ergeben. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die Grundstrukturen bisheriger europäischer Sicherheitsarchitektur erhalten bleiben oder durch neue ersetzt werden sollten Amerika hatte sich insbesondere über Vorschläge, die WEU dem Europäischen Rat unterzuordnen, besorgt erklärt. Die Absicht, eine europäische Sicherheitsgemeinschaft zu schaffen und die WEU dabei als Brücke zwischen NATO und EG zu nutzen, lief seiner Meinung nach auf eine Marginalisierung der NATO hinaus Was aus Sicht der Europäer als Kompromißlösung zwischen beiden Institutionen gedacht war, trug aus amerikanischer Perspektive eher zu größeren Komplikationen im transatlantischen Verhältnis bei.
Weniger Probleme hatten die Amerikaner mit einer sich entwickelnden, institutionalisierten KSZE. Auf ihre Beschränkungen hatten sie beim ersten Treffen des KSZE-Rats der Außenminister in Berlin zwar hingewiesen, ihre Bedeutung als künftiges paneuropäisches Forum, in dessen Rahmen der Verhaltenskodex für die zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmt wird und Organe zur vorbeugenden Krisensteuerung geschaffen werden, aber anerkannt. In der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklärung vom Oktober 1991 würdigten der amerikanische Außenminister Baker und sein deutscher Amtskollege Genscher gar die einzigartige Rolle der KSZE im Hinblick auf die Schaffung eines euroatlantischen Bundes freier Nationen von Vancouver bis Wladiwostok.
Unverzichtbarer Bestandteil jeder künftigen Ordnung aber blieb für die Amerikaner von Anfang an ein erneuertes atlantisches Bündnis, in dem den Europäern zwar eine stärkere Rolle zugedacht wird, das aber weiterhin für die gemeinsame Verteidigung und Abschreckung zuständig ist und als ein stabilisierendes Element auf dem europäischen Kontinent wirkt, solange auf dem Territorium der früheren Sowjetunion das größte Militärpotential lagert.
Nunmehr haben die Amerikaner ihre noch im Frühjahr vergangenen Jahres harsch vorgetragenen Einwände gegen mehr europäische Gemeinsamkeit in Sachen Verteidigung und Sicherheit aufgegeben. Zwar läßt man nach wie vor keinen Zweifel daran aufkommen, daß das eigene Engagement in Europa und europäische Verteidigungsanstrengungen nur in dem Maße aufrechterhalten und unterstützt würden, wie damit auch die NATO gestärkt wird da die NATO aber mittlerweile -sieht man einmal von gewissen Vorbehalten in Paris ab -von den Europäern unisono als unersetzbar anerkannt wird, brauchen sich die Amerikaner um den Fortbestand der Allianz keine Sorgen mehr zu machen. Jetzt drängt man sogar in Washington darauf, daß die Bündnispartner durch die WEU in Europa eine Aufgabe übernehmen, um so die lästige innenpolitische Diskussion um das „burdensharing“ endgültig aus der Welt zu schaffen, ohne die NATO ersetzen zu müssen.
III. Der mühsame Weg zu einer europäischen Sicherheitsidentität
Mit der amerikanischen Rückversicherung drängten vor allem Frankreich und die Bundesrepublik, den Impetus in Richtung einer Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion auf die Institutionalisierung einer gemeinschaftlichen Außen-und Sicherheitspolitik zu übertragen. Am 14. Oktober 1991 hatten beide Seiten deshalb die Schaffung einer deutsch-französischen Kernarmee in Europa sozusagen als Motor für diesen Prozeß vorgeschlagen. Nachdem Großbritannien und Italien ihren lange an die amerikanischen Bedenken angelehnten Widerstand gegen eine gemeinsame Verteidigungspolitik der Europäer im Rahmen der WEU bereits in der englisch-italienischen Initiative vom 4. Oktober 1991 teilweise aufgegeben hatten und auch Den Haag Kompromißbereitschaft signalisierte, schienen die Voraussetzungen zunächst geschaffen, um die Phase der Unklarheiten und Mißverständnisse zu beenden und Entscheidungen zu treffen. Unstimmigkeiten in Detailfragen verhinderten jedoch nur wenige Wochen später auf dem Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs in Maastricht den Ausbau der WEU zu einem Organ der Europäischen Union. Erneut bekundeten Mitgliedstaaten ihre Bereitschaft, eine größere europäische Verantwortung in Verteidigungsfragen anzustreben. Zu einer gemeinsamen Sicherheitsidentität konnte man sich aber nicht durchringen; sie soll schrittweise hergestellt werden.
Damit rückte das von Frankreich und Deutschland avisierte Ziel, die WEU mit eigenen Streitkräften auszustatten, erneut in weite Feme. „Zu gegebener Zeit“, so heißt es lediglich in der Erklärung, „könnte“ die Entwicklung zu einer „gemeinsamen Verteidigung“ führen. Lediglich die Koordinie-rung in Fragen der Allianz, die von gemeinsamem Interesse sind, wolle man verstärken, um innerhalb der WEU vereinbarte gemeinsame Positionen in den Konsultationsprozeß der Allianz einbringen zu können. Ansonsten aber bleibe die NATO das entscheidende Forum für Konsultationen unter ihren Mitgliedern und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheitsund Verteidigungsverpflichtungen der NATO-Staaten auswirken.
Sehr rasch verpufften so die von den Entwicklungen in Ost-und Mitteleuropa ausgehenden Impulse auf die westeuropäischen Integrationsbemühungen. Von dem Wunsch nach einer politisch handlungsfähigen Gemeinschaft auch in Sicherheitsfragen war in Maastricht nicht mehr viel zu spüren; dabei hatte nur ein Jahr zuvor der Golf-konflikt den Europäern ihre Handlungsunfähigkeit in der Außen-und Sicherheitspolitik drastisch vor Augen geführt
So aber entpuppte sich der vom WEU-Rat favorisierte graduelle Ansatz, der sowohl die Position bestimmter Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, die Evolution der Atlantischen Allianz wie auch die Sicherheitsinteressen der mittel-und osteuropäischen Länder in Rechnung stellt als realistische Einschätzung des politisch Machbaren. Gleiches gilt für die von der WEU-Versammlung in Paris im Juni 1991 erzielte mehrheitliche Einigung über eine Revision der WEU-Verträge. Auch hier blieben die Aussagen über einen zeitlichen Rahmen für die Verwirklichung des Ausbaus der WEU zum Sicherheitsorgan der Europäischen Union nur vage. Allerdings deuteten die Hinweise auf den „notwendigen Ausbau“ der Kontakte zur UN darauf hin, daß man sich gemeinsame Aktionen mit ihr in begrenzten „out of area“ -Einsätzen durchaus vorstellen kann, gewissermaßen als Testfeld für die spätere Übernahme größerer sicherheitspolitischer Verantwortung in Europa.
Wie man sich diese vorstellt, zeigen die Empfehlungen der WEU-Versammlung in Richtung auf einen Ausbau mobilerer multinationaler Truppen-verbände auch für den Einsatz in Europa und auf eine Umstrukturierung der Streitkräfte Der Vorschlag, die Errichtung eines strategischen Luftbrückenkommandos -ausgestattet mit einer militärischen Version des Airbus A-340 und im WEU-Rahmen operierend -ebenso zu prüfen wie die Installation eines Raketenabwehrsystems an der Südflanke Europas und den Ausbau vor allem der seegestützten Streitkräfte mit präzisionsgelenkten Waffensystemen, läuft in jedem Fall auf eine stärkere Europäisierung der Streitkräfte, ob innerhalb oder außerhalb des Bündnisses, hinaus.
Zu den internen Abstimmungsschwierigkeiten der WEU kommt das institutioneile Kompetenzgerangel innerhalb der Gemeinschaft erschwerend hinzu. So wünscht das Europäische Parlament gar nicht erst den Umweg über die WEU, sondern die direkte Einrichtung eines Verteidigungsrates der EG. Die EG soll quasi selbst die Sicherheitsdimension ausbauen, die Kommission mit einem Initiativrecht auch in sicherheitspolitischen Fragen ausstatten, das Parlament mit in den Entscheidungsprozeß einbinden und den Einsatz einer multinationalen europäischen Truppe prüfen.
Ungeachtet der innereuropäischen politischen Differenzen und solcher Kompetenzstreitigkeiten wirft die Frage nach der Alternative WEU oder NATO aber auch ganz praktische Probleme auf. Käme es zu einer Wiederbelebung der WEU innerhalb der NATO, so führte diese zwangsläufig zur Verdoppelung von Organen, Kommandostrukturen, Verwendungszwecken und Verfügungsgewalt über Truppen der Allianz. Die Parallelität von Institutionen, Beratungs-und Beschlußvorgängen in beiden Organisationen würde sogar bei Personalunion -was undenkbar ist -Reibungsverluste verursachen und Konflikte vorprogrammieren: Wo würde in Krisenfällen künftig entschieden -im NATO-Rat oder im WEU-Rat? Wo rekrutiert man das Personal in einer Zeit, in der die NATO ohnehin ihre Personalstärke abbaut? Wer trägt die Kosten, die mit einem solchen parallelen Ausbau verbunden sind? Wie läßt sich der Ausbau der WEU zu einer eigenständigen Sicherheitsorganisation nach dem Ende des Kalten Krieges psychologisch in Europa plausibel machen? Wie wird die Frage der politischen Zuständigkeiten geregelt, welches Zustimmungsrecht erhalten die EG-Länder in der NATO? Und wie werden schließlich die alles entscheidenden Fragen der Einsatzplanung, Dislozierung und weiteren Ausrüstung der Streitkräfte geregelt -bleibt es bei einer nuklearen Komponente?
Man kann es drehen und wenden, wie man will -ein exklusiv europäisches Kooperationsmodell der Verteidigung ist undenkbar, solange solche Fragen ungeklärt bleiben. Zur Zeit ist europäische Verteidigungspolitik allenfalls in kooperativen Formen möglich, im besten Falle bei der Integration militärischer Kommandostrukturen. Dabei sind die atlantische Verknüpfung, die europäische Integration und das Zusammenwirken mit dem Osten gleichermaßen die Halteseile einer vielfältigen Verschränkung.
IV. Die amerikanische Position
In Washington hat man deshalb zu Recht vor der Umgestaltung der WEU zu einem EG-Organ gewarnt und darauf hingewiesen, daß dies auf eine Verdrängung der Amerikaner aus gemeinsamen Beratungen und schließlich auf ein Hinausdrängen ihrer Truppen hinausliefe -sogar die Teilnahme an der KSZE und an der europäischen Abrüstung wurde für diesen Fall von regierungsoffizieller Seite und gleichgesinnten Internationalisten in Frage gestellt. Auf ein Kompromißangebot aus Washington, bei dem die NATO in irgendeiner Weise zur Disposition gestellt würde, konnten die Europäer zu keinem Zeitpunkt hoffen; Sicherheit in Europa ist für die Amerikaner nicht teilbar. Nur die wenigsten können sich eine sicherheitspolitische Lösung vorstellen, bei der die NATO auch nach der Auflösung des Warschauer Pakts ihre raison d’etre verliert und die WEU als vielversprechendes Parallel-oder gar Alternativmodell zu ihr in Erscheinung tritt
Tatsächlich akzentuierte die Unterordnung der WEU unter die EG die Trennung und Unabhängigkeit des europäischen Pfeilers von der Allianz, da die EG nicht innerhalb der NATO steht. Dies schwächte die Integrität der transatlantischen Sicherheit und Verteidigung und erhöhte die Gefahr einer Blockbildung innerhalb der NATO in dem Maße, in dem die EG an Entscheidungsfähigkeit gewinnt und dann an Fragen mitwirkt, die in die Zuständigkeit der NATO fallen. Dies wiederum wäre schon deshalb problematisch, weil dadurch Staaten -wie derzeit Irland, künftig sicherlich auch andere -, die zwar der EG, aber nicht der NATO angehören, auf dem Weg über die WEU Einfluß, ja Mitsprache in NATO-Gremien gewännen.
Unproblematischer wäre aus Sicht der Amerikaner eine Entwicklung, bei der die NATO durch den Einfluß der EG auf die WEU eine stillschweigende oder indirekte Sicherheitsverpflichtung für Staaten übernehmen muß, die ihr nicht angehören, wohl aber Angehörige einer Europäischen Union sind. Eine solche über die innerhalb der NATO eingegangenen gegenseitigen Verteidigungsverpflichtungen hinausgehende Sicherheits-und Verteidigungsdimension der Europäischen Union entspräche im Grunde der von den Amerikanern zuletzt ausgesprochenen Einladung einer NATO-Mitgliedschaft an die mittel-und osteuropäischen Länder.
Mit ihr weisen die Amerikaner weit über die bisherigen Möglichkeiten der Mitarbeit in den Konsultationsmechanismen der NATO und im NATO-Kooperationsrat hinaus den Weg für eine künftige sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa. Lediglich mit Blick auf die GUS zögert man angesichts dort drohender interethnischer und zwischenstaatlicher Spannungen noch mit einem solchen Angebot. Ein offener Konflikt zwischen den einzelnen GUS-Republiken würde die NATO aufgrund der im Nordatlantikvertrag festgelegten gegenseitigen Beistandsverpflichtung vor unlösbare Probleme stellen.
V. Die KSZE als Auffangbecken
Ansonsten aber haben die Amerikaner ihre Bereitschaft zu einem neuen sicherheitspolitischen Denken gezeigt, das den Veränderungen in Europa gerecht wird. In Washington weiß man, daß mit dem Demokratisierungsprozeß in Ost-und Mitteleuropa ein Stück der Begründung traditioneller amerikanischer Europapolitik weggefallen ist. Auf der anderen Seite hat man allen Grund, der Neuordnung Europas gelassen entgegenzusehen; man weiß ebenso, daß die USA als europäische Macht bei den Bündnispartnern mittlerweile unumstritten sind. Warum soll man daher nicht auch einer KSZE als Institution zur Entwicklung einer europäischen Sicherheitsidentität, die allen Verbündeten, die daran teilhaben wollen, einen Platz bietet, aufgeschlossener als bisher gegenüberstehen
Ansichten wie die des renommierten Harvard-Professors Robert Keohane, wonach in Zukunft ein kontinuierlicher Prozeß von institutionalisierter Zusammenarbeit das Fundament der Sicherheit in Europa bilden wird, finden inzwischen auch in den USA Anklang. Die Aufgabe der NATO würde davon nicht tangiert. Zu weit ist die KSZE trotz der kosmetischen Veränderungen, beschlossen auf dem letzten KSZE-Treffen in Berlin, noch vom Status einer supranationalen Ordnung entfernt. Die Praxis sieht eben so aus, daß beispielsweise die nach dem vereinbarten „Mechanismus für Konsultation und Zusammenarbeit in dringlichen Situationen“ möglich gewordene Einberufung einer Dringlichkeitssitzung des ständigen „Ausschusses Hoher Beamter“ sich nur vierzehn Tage später im jugoslawischen Nationalitätenstreit als relativ stumpfes Instrument erwiesen hat. Solange es nicht zu konkreten Sanktionsbeschlüssen gegen die eine Konfliktpartei kommt, bei denen auch ein militärisches Eingreifen nicht ausgeschlossen wird, kann es auch in Zukunft kaum erfolgreiche Vermittlungsversuche, geschweige denn glaubwürdige Beistandsverpflichtungen des KSZE-Ausschusses geben. Eine KSZE ohne Instrumentarium, um auf den Ausbruch regionaler Krisen wirkungsvoll reagieren zu können, ist nur schwer vorstellbar.
Auf der anderen Seite wird die Funktion der KSZE in einem Europa des Übergangs von den Amerikanern auch nicht unterschätzt. Das große Interesse an ihr liegt an ihrer Verbindlichkeit und gleichzeitig doch Unverbindlichkeit für alle Teilnehmer. Sie erlaubt allen, am traditionellen Konzert der Mächte teilzunehmen, ohne sich einem bindenden Vertragstext unterordnen zu müssen. Dies kommt einmal den europäischen Ländern entgegen, die sich dem Einigungsprozeß zwar nicht verschließen wollen, andererseits aber auch zu Souveränitätsverzichten nur bedingt bereit sind. Und es kommt den Amerikanern gelegen, weil die KSZE die einzige Organisation ist, in der die USA mit ganz Europa verbunden sind.
Die meisten wollen es daher auch bei dieser relativen Unverbindlichkeit belassen. Wenige Langzeit-strategen in den Vereinigten Staaten, die die jetzige Konstellation in Europa doch nur als Interims-lösung betrachten, regen deshalb heute schon an, auf einen verbindlichen KSZE-Vertrag hinzuwirken. In der Regel weist man in diesem Zusammenhang eher auf die Aussichtslosigkeit hin, einem solchen Vertrag den nötigen Sicherheitsgehalt geben zu können
Dennoch ist man in den USA bereit, dem bislang zu Recht nur als „Prozeß“ bezeichneten Wirken der KSZE künftig einen festeren Rahmen zu geben, um den tiefgreifenden Umwälzungen in der Mitte und im Osten Europas gerecht zu werden. Die bisherige Aufgabe, trotz Kalten Krieges ein Klima des Vertrauens zu schaffen und die Menschenrechte zur Geltung zu bringen, hat sich praktisch erledigt. Es gilt, sich einem neuen Etappenziel auf dem Weg zu einem friedlich zusammenlebenden und in allen seinen Teilen prosperierenden Gesamteuropa zu nähern. Dies geht nach Ansicht der Amerikaner nur behutsam und in paralleler Weise zu den beiden Stabilitätsankern des Umbruchprozesses -der EG für die wirtschaftliche Perspektive und der NATO im Sicherheitsbereich
Die Verantwortlichkeiten sind demnach für die USA klar definiert: Die wirtschaftliche Hilfe soll durch die EG koordiniert werden; allenfalls bei der Verteilung von Hilfsgütern könne die NATO aufgrund ihrer großen logistischen Erfahrungen eine wichtige Rolle übernehmen. Washington selbst hält sich aufgrund der eigenen angespannten Haushaltslage bei der wirtschaftlichen Unterstützung des Reformprozesses im Osten bisher bedeckt; ein zweiter Marshallplan für den Aufbau des Ostens ist von den Amerikanern weder zu leisten noch zu erwarten Man beschränkt sich auf technische Hilfe, um so die Infrastruktur für westliche Investitionen und finanzielle Hilfe zu schaffen, und beteiligt sich lediglich in bescheidenem Rahmen an der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD)
Die KSZE soll dem Sicherheitsbedürfnis der Länder Mittel-und Osteuropas und der GUS-Staaten durch Einbindung in verläßlichere gesamteuropäische Strukturen entsprechen; mittlerweile haben fast alle an ihrem Tisch Platz genommen. Sie soll den Risiken der Übergangsphase in kooperativen Formen begegnen und könnte der Ansatz sein für die von amerikanischer Seite bereits an die Sowjetunion ausgesprochene Einladung zum Eintritt in die „euroatlantische Gemeinschaft“.
VI. Die NATO als unverzichtbares Instrument des Übergangs
Für die Sicherheit in Europa bleibt also vorerst der Dritte in diesem Komplementärgefüge, die NATO, zuständig. Sie war politisch im Grunde nie so unumstritten wie in dieser Zeit. Die ehemaligen War-schauer-Pakt-Staaten suchen eine möglichst enge Anlehnung an die NATO; die GUS und die Allianz streben ein geregeltes politisches Verhältnis an. Alle Anstrengungen zum Ausbau einer genuin europäischen Sicherheitsidentität können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es zur Allianz mittelfristig keine sicherheitspolitische Alternative gibt.
Auch wenn die NATO künftig nicht vorwiegend militärisch determiniert sein wird, so bleibt sie dennoch die einzige militärische Rückversicherung gegen eventuelle Instabilitäten vor allem in der GUS, aber auch in den labilen, halb-autoritären Systemen wie Bulgarien, Rumänien, Albanien oder dem zerfallenden Jugoslawien. Allenfalls den neuen Demokratien in Polen, der SFR oder Ungarn kann man aufgrund der besseren Vorbereitung des Übergangs und ihrer Zugehörigkeit zur westlichen Welt günstigere Erfolgsprognosen stellen; sie stehen den rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weitaus näher. Dennoch ist auch ihre Situation keinesfalls günstiger als die der europäischen Demokratien Mittel-und Osteuropas oder auf dem Balkan in den Jahren 1919/20. Außerdem ist die NATO die einzige Garantie gegen eine Renationalisierung der Verteidigung. Bei aller formellen Logik, die vielleicht dagegen sprechen mag, sollte diese Funktion nicht unterschätzt werden.
In akademischen Kreisen der USA befürchten nicht wenige, daß Europa in Zukunft konflikt-trächtiger wird. John Mearsheimer löste mit seiner Behauptung, daß man den Kalten Krieg bald noch „vermissen“ werde, heftige Diskussionen im Lande aus. Er hält eine multipolarere Welt zwangsläufig für instabiler als den bisherigen Bipolarismus. Gewaltausbrüche seien auch nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa durchaus vorstellbar, vor allem dann, wenn die USA nicht als Ordnungsmacht in Europa verblieben
Die Amerikaner legen daher Wert darauf, daß die Allianz bei aller Notwendigkeit einer Weiterentwicklung ihrer politischen Dimension eine solide, kollektive militärische Struktur behält. Eine glaubwürdige amerikanische Garantie ohne eine militärische Strategie, ohne ein Minimum an militärischen Mitteln in Europa und eine logische Risiko-teilung kann es ihrer Ansicht nach nicht geben
Hier kommt erneut die unterschwellige Angst zum Vorschein, nach dem Ende des Kalten Krieges international an Bedeutung zu verlieren. Bei aller Unterstützung für ein partnerschaftliches transatlantisches Verhältnis haben sich die Amerikaner, nachdem sie jahrzehntelang die Hauptlasten der Verteidigung Europas übernommen haben an ihre Vormachtstellung innerhalb des Bündnisses gewöhnt. Solange der Schwerpunkt der Allianz noch auf den militärischen Aufgaben liegt, bliebe Amerika daher das entscheidende Mitglied der NATO und der wichtigste Partner Europas.
Auf der anderen Seite will man damit auch leichtfertigen Vorstellungen einiger Europäer von einer eventuellen Demilitarisierung der Sicherheit Europas vorbeugen; sie erwecken in den USA noch immer weitverbreitetes Mißtrauen. Henry Kissinger warnte in diesem Zusammenhang davor, die NATO zu einer „leeren Hülse“ werden zu lassen. Der innenpolitische Druck in Deutschland könnte langfristig zu einer Denuklearisierung der NATO führen, was wiederum den Abzug Amerikas aus Europa zur Folge hätte. Hielten die derzeitigen Trends an, so würde aus der NATO bestenfalls eine unilaterale amerikanische Garantie, die es einzelnen europäischen Ländern -allen voran Deutschland -erlaubte, eigene nationale Prioritäten im Osten zu verfolgen Viel zu schnell, befürchtet Gregory Treverton vom Council on Foreign Relations, könnte sich die NATO umgestalten. Der Abzug amerikanischer nuklearer Waffen aus Europa sei durchaus nicht auszuschließen, eine völlige Denuklearisierung aber könne nicht im Interesse des Westens liegen
Um solchen Stimmungen in Europa vorzubeugen, drängen die Amerikaner ihrerseits auf eine Veränderung des Bündnisses: Angesichts der gewandelten Rahmenbedingungen im Ost-West-Verhältnis soll der militärische Aspekt der Allianz modifiziert, gleichzeitig aber die politische Komponente stärker ausgebaut werden. Nach Jahren und Jahrzehnten der Kontroverse und einer politisch defensiven Grundhaltung erwies sich das Bündnis in der Phase des Umbruchs in Europa vor allem deshalb als stabiler Rahmen, weil die Amerikaner die Bereitschaft zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen erkennen ließen. Für die künftige politische Rolle im Prozeß der Umordnung Europas wird es entscheidend sein, welchen Verlauf die Reform des Bündnisses nimmt. Wichtig ist, daß sie von einer für die Öffentlichkeit überzeugenden politischen Interpretation des Wandels in Europa ausgeht. Auf keinen Fall darf sie als bloßes Resultat bürokratischer Politik im Bündnis erscheinen.
Im Mittelpunkt steht erstens die Frage, wie die Funktionen des Bündnisses angesichts des Zerfalls des Warschauer Pakts neu zu definieren sind. In Erwartung der Reduzierung vor allem amerikanischer Streitkräfte in Europa muß zunächst ein Dispositiv gesucht werden, das im Krisenfall eine möglichst rasche Rückführung abgezogener Truppen im Bündnisrahmen ermöglicht. Dieses soge-nannte Rekonstitutionskonzept wurde von amerikanischer Seite zugrunde gelegt und ging zuletzt von verschiedenen Varianten aus -von einer Halbierung der Präsenz bis zu einer Verringerung auf rund 100 000 Soldaten
Zweitens ist die NATO nicht mehr als der dominante Rahmen anzusehen, sie hat ihre wichtigsten Funktionen gerade in der Stabilisierung eines Gefüges internationaler Strukturen. Ausdruck fand dies im Konzept einer NATO innerhalb eines so-genannten „framework of interlocking institutions“, wie es das Ministerrats-Kommunique bereits im Dezember 1990 formulierte. Danach besteht die Hauptaufgabe des Bündnisses darin, ihre bisherige Funktion der Kriegsvermeidung durch Abschreckung nur noch dann zu übernehmen, wenn die Politik des Interessenausgleichs mit dem Gegner scheitern sollte.
Eine Reform der Streitkräftestruktur und der Strategie muß von der Situation nach dem Abzug der GUS-Streitkräfte hinter die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion, d. h. von einem Zustand strategischer Entflechtung ausgehen. Dieser Abzug stellt den entscheidenden strategisch-politischen Wandel an der Ostgrenze dar. Damit verändert sich nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die zeitliche Struktur künftiger Konflikte: die Vorwarnzeiten werden verlängert.
Im Falle größerer Konflikte soll die NATO daher über drei Kategorien von Streitkräften in der Vorlaufphase verfügen: die „main forces“, denen bei einem Angriff der Verteidigungsauftrag obläge, die „rapid reaction forces“ (Schnelle Eingreiftruppe) und die „augmentation forces“ (Zusatz-streitkräfte), ein neuer Begriff für den bisher üblichen Terminus „Verstärkungstruppen“. Damit würde die NATO-Strategie nicht wie bisher vor allem auf mögliche Eskalation zum Zwecke der Abschreckung, sondern auf militärisches Verhalten in der Konfliktvorlaufphase einwirken. Das Ganze liefe auf eine Kombination von Krisenmanagement, Rekonstitution, Abschreckung und Verteidigung hinaus -ein Konzept, welches als Strategie der „dissuasion“ (Abraten) vorgestellt wurde.
Mit Blick auf den Osten ist es außerdem notwendig, sich innerhalb des Bündnisses mit der schwierigen Frage der Definition des Bündnisfalls auseinanderzusetzen. Nicht nur an die Bedeutung von außereuropäischen Eventualfällen ist zu denken, sondern auch an die Tatsache, daß jeder Konflikt, in den die NATO in Mitteleuropa vielleicht doch irgendwann einmal verwickelt werden sollte, bei der momentanen Ausgangslage noch mit einer Invasion in ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten eingeleitet werden müßte, bevor es zu einer Verletzung von NATO-Territorium kommt.
Bisher haben die Amerikaner es durchaus verstanden, das Bündnis als flexibles Instrument zu nutzen. Sollte die Allianz weiterhin bei der Organisation der Zusammenarbeit mit Osteuropa erfolgreich sein, wird sie sich den Nachweis ihrer Existenzberechtigung ersparen können. In einer Phase, in der der Einsatz militärischer Machtmittel fraglicher geworden ist, wird dies für das Bündnis von großer Bedeutung sein. Nur so kann es auch bündnisinterne Funktionen ausüben, die sich nicht gleich der öffentlichen Diskussion ausgesetzt sehen, so den Ausgleich unter den wichtigsten Bündnispartnern schaffen und die wichtige Frage der amerikanischen Militärpräsenz klären. Diese bleibt nach der Abnahme der Bedrohung aus dem Osten -keinesfalls ihrer endgültigen Aufhebung -auch aus einem anderen Grund vorerst unerläßlich: Sie ist am besten dazu geeignet, im Mittelmeerraum den Frieden zu bewahren und von dort aus ihren Einfluß zum Vorteil aller Bündnispartner auf den mittelöstlichen Krisenherd auszuüben. Die künftige Sicherheit Europas wird sich eben in viel stärkerem Maße an seiner Südflanke entscheiden.