Tarifpartnerschaft im vereinten Deutschland. Die Bedeutung der Arbeitsmarktorganisationen für die Einheit der Arbeits-und Lebensverhältnisse | APuZ 12/1992 | bpb.de
Tarifpartnerschaft im vereinten Deutschland. Die Bedeutung der Arbeitsmarktorganisationen für die Einheit der Arbeits-und Lebensverhältnisse
Gerhard Kleinhenz
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Zusammenfassung
Die Tarifautonomie als Ordnungselement der Sozialen Marktwirtschaft wird im deutschen Einigungsprozeß auf eine besondere Bewährungsprobe gestellt. Die bisherigen Vereinbarungen zur Angleichung der Tariflöhne in Ostdeutschland werden vielfach schon als Versagen der Tarifautonomie gewertet. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie setzte zunächst in den neuen Bundesländern den Aufbau freier und unabhängiger Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände voraus. Dies wurde bei den Gewerkschaften vor allem durch die völlige Diskreditierung des FDGB erschwert. Beide Koalitionen haben die ordnungspolitische Aufgabe des Aufbaus der Organisationen mit Partnerschaften aus dem Westen in erstaunlich kurzer Zeit bewältigt. Gleichzeitig mußten die ersten Tarifverträge (schon für die zweite Jahreshälfte 1990) abgeschlossen werden. Das „Sofortprogramm“ der Tarifparteien und die bisherige Tarifpolitik waren durch politische Vorgaben (1: 1-Umstellung der Löhne) und durch das Bestreben zur Angleichung der tariflichen Arbeitsbedingungen im vereinten Deutschland in einem absehbaren Zeitraum bestimmt. Für die Beurteilung der Sozialverantwortlichkeit der Tarifparteien im weiteren Prozeß der Herstellung gleichwertiger Arbeits-und Lebensbedingungen in Deutschland wird entscheidend sein, daß der gesamtdeutsche-gesamtwirtschaftliche Verteilungsspielraum begrenzt ist und daß die besonderen Bedingungen des Arbeitslebens in den neuen Bundesländern (z. B. hohe Frauenerwerbstätigkeit) neue Antworten von den Tarifpartnern fordern.
I. Bewährungsprobe der Tarifautonomie
Der Staatsvertrag zur Errichtung einer Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion (WWSU; vom 18. Mai 1990) und der Einigungsvertrag (vom 31. August 1990) haben nicht nur die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt, sondern auch den rechtlichen Ordnungsrahmen der „Sozialen Marktwirtschaft“ in den neuen Bundesländern zur Geltung gebracht Der wirtschaftliche Anpassungsprozeß und die Erfüllung der in diese Ordnung gesetzten Erwartungen auf Wohlstand, Chancengleichheit, soziale Sicherheit und Umweltqualität für alle werden nun zu einer Bewährungsprobe für die zentralen Ordnungselemente der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei besteht die Gefahr, daß Fehleinschätzungen, (sachlich oder zeitlich) überzogene Erwartungen, vernachlässigte Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit dieser Ordnung und/oder die Nichtbeachtung des Zusammenwirkens der einzelnen wesentlichen Ordnungselemente zu vorschnellen Urteilen, zu ordnungspolitischen Irrtümern und unter Umständen zu Ordnungskorrekturen führen, die gerade die erfolgreiche Balance der Gesamtordnung der Sozialen Marktwirtschaft beseitigen.
Der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung der neuen Bundesländer von der Euphorie bei der Einführung der DM am 1. Juli 1990 zu der bitteren Erfahrung der Abwärtsspirale von Produktion und Beschäftigung bis zur Jahreswende 1991/92 und auch die nun teilweise erkennbare Sprachlosigkeit, Verunsicherung oder auch ein zunehmender Hang zu Aktionismus für den Aufschwung Ost bei Politikern verweisen auf einen Vertrauensverlust in das Wirken der Kräfte des Marktes und der Anreize einer Wettbewerbsgesellschaft. Jetzt (schon) an den Kräften der Marktwirtschaft zu zweifeln, ist aber sicherlich nicht gerechtfertigt, weil in den neuen Bundesländern unter anderem die Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nicht gegeben waren bzw. sind (z. B. ungelöste Eigentumsprobleme), weil die Abhängigkeit der Leistungsfähigkeit des Marktes von einer funktionsfähigen Verwaltung und Infrastruktur vernachlässigt wurde oder weil schließlich ein Transformations-und Aufholprozeß dieses Ausmaßes in der erwarteten Frist überhaupt als utopisch angesehen werden muß.
Es überrascht nicht, daß mit dem Ausbleiben eines raschen Aufschwungs im Osten nach anderen möglichen Ursachen für ein „Versagen“ der in Westdeutschland so erfolgreichen Ordnung gesucht wurde, obwohl allein von der Rechtskraft des Ordnungsrahmens der Sozialen Marktwirtschaft ein solches „Wirtschaftswunder“ nicht hatte erwartet werden können. Es ist auch verständlich, daß dann (etwa seit April 1991 und verstärkt seit dem Sommer 1991) die Tarifautonomie und die Tarifpolitik für die neuen Bundesländer als Ursachen für den unerwartet massiven und langanhaltenden Produktions-und Beschäftigungsrückgang sowie für den ausbleibenden Aufschwung mit in Betracht gezogen wurden.
Bis zum Ende des Jahres 1991 hat sich in Verbindung mit der Vorlage der ersten Lohnerhöhungsforderungen für 1992 die öffentlich-wissenschaftliche Fachdebatte so auf dieses Erklärungsmuster für die Arbeitsmarkt-und Beschäftigungsprobleme in den neuen Bundesländern verdichtet, daß sich weitere Überlegungen zur Diagnose erübrigen würden, wenn über die Gültigkeit von Aussagen auch in der Wissenschaft durch Mehrheiten entschieden werden könnte. Die Vorstellung, daß die Tarifpolitik 1990/91 in den neuen Bundesländern, insbesondere mit den von der Produktivitätsentwicklung völlig abgelösten Vereinbarungen über die schrittweise (aber zügige) Angleichung der Tariflöhne an das West-Niveau, mindestens als Mitursache für den Beschäftigungseinbruch und für die ausbleibende (klare) Wende am Arbeitsmarkt anzusehen sei fand eine ausgesprochen schnelle und verbreitete Annahme.
Diese Entwicklung der Fachdiskussion über die Bedeutung der Tarifpolitik für die Arbeitsmarkt-entwicklung im vereinten Deutschland kann verstanden werden als direkte Fortsetzung und Anwendung der kritischen Beurteilung der Tarifautonomie in der westdeutschen ordnungspolitischen Deregulierungsdiskussion und der Erklärung des anhaltend hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit in den achtziger Jahren als „Mindestlohnarbeitslosigkeit“ bei zu hohem Tariflohnniveau und bei mangelnder Lohndifferenzierung Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Deregulierungsdiskussion, die auch in der Analyse der wirtschaftlichen Integration Deutschlands dominierend wurde, wird die tarifpolitische Entwicklung im vereinten Deutschland bereits als „Versagen der Tarifautonomie“ beurteilt Dagegen waren im Frühjahr, als die Stimmung in bezug auf den Aufschwung Ost noch optimistischer war, die Vereinbarungen zur stufenweisen Angleichung der Tariflöhne in Ostdeutschland an das Westniveau in der Presse noch durchweg als Ausdruck „vernünftiger“ Tarifpolitik dargestellt worden.
Die Tarifautonomie als zentrale Säule der sozialen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung in Deutschland wird -wie alle anderen in den alten Bundesländern entwickelten Institutionen -auch in bezug auf ihren Beitrag zum Einigungsprozeß und zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland zu beurteilen sein. Dieser historische Prozeß ist eine neue, besondere Bewährungsprobe auch für bislang gut funktionierende Regelungen und Institutionen. Sie schließt das Risiko des Scheiterns und damit möglicherweise einen Verlust des bisher gegebenen Vertrauens in die Tarifautonomie ein, ob man das dann bedauern würde oder nicht. Eine solche historische BeWährungsprobe wirft über die Analyse der Ordnungs-und Zielkonformität sowie der allgemeinen Anpassungsflexibilität der Tarifautonomie hinaus neue wissenschaftliche Fragestellungen auf, denen in diesem Beitrag vorrangig nachgegangen wird.
Der Verfasser ist sich der Problematik bewußt, eine solche Analyse bei einem „schwebenden Verfahren“ zu beginnen, so daß vielfach nur Forschungsbedarf aufgezeigt und noch kaum gesicherte Ergebnisse vorgelegt werden können. Die aktuellen Tarifauseinandersetzungen 1992 belasten ebenfalls einen solchen Versuch, der aber angesichts der eindeutig strukturierten öffentlichen Diskussion über die Tarifautonomie und die Tarif-politik gerade dann unternommen werden muß, wenn man von dieser Institution der Sozialen Marktwirtschaft Schaden abgewendet und Chancen der Tarifparteien zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland offengehalten wissen möchte.
II. Aufbau der Arbeitsmarktorganisationen
Abbildung 2
Tabelle 1: Mitglieder der Gewerkschaften in den DGB-Landesbezirken-Ost (in 1000) Stand: 30. Juni 1991 Quelle: DGB -Angaben der Gewerkschaften vom September/Oktober 1991.
Tabelle 1: Mitglieder der Gewerkschaften in den DGB-Landesbezirken-Ost (in 1000) Stand: 30. Juni 1991 Quelle: DGB -Angaben der Gewerkschaften vom September/Oktober 1991.
1. Ausgestaltung der Tarifautonomie Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. III GG und die damit begründete Tarifautonomie vertrauen die Gestaltung und Förderung der Arbeits-und Wirtschaftsbedingungen den freien Koalitionen der Arbeitnehmer (Gewerkschaften) und der Arbeitgeber (Arbeitgeberverbände) und deren selbstverantwortlichen Vereinbarungen (Tarifverträge) an. Die konkrete Ausgestaltung der Institution „Tarifautonomie“ und ihr tatsächlicher Beitrag zur Gestaltung der Arbeits-und Wirtschaftsbedingungen wird u. a. durch die Existenz, die Ordnung und die Verhaltensweisen der Arbeitsmarktkoalitionen bestimmt.
Mit dem Vertragswerk zur Deutschen Einigung konnten zwar die Koalitionsfreiheit (Art. 17, WWSU) und die Autonomie von Tarifvertragsparteien für eine freie Lohnbildung rechtlich verankert werden. Die Ausfüllung dieser Rechte und damit die funktionsfähige Institutionalisierung der überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen zur kollektiven Regelung der Arbeits-und Wirtschaftsbedingungen bleiben aber grundsätzlich Angelegenheit der persönlichen Entfaltungsfreiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (und ihrer positiven Freiheit, Koalitionen zu bilden bzw. diesen beizutreten, sowie ihrer negativen Koalitionsfreiheit, sich nicht an der Bildung der Koalitionen zu beteiligen bzw.den gebildeten Koalitionen nicht beizutreten). Wie in vielen anderen Bereichen konnte die Implementation der staatlichen Einheit und insbesondere die Umsetzung des Rechts der Sozialen Marktwirtschaft überhaupt nicht oder nicht in der vom Einigungswillen des Volkes bestimmten Schnelligkeit erwartet werden. Die Verwirklichung einer Sozialen Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern bedurfte der Unterstützung der im Umgang mit diesem Recht erfahrenen staatlichen Einrichtungen, Kammern und Verbänden, d. h.
der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände der alten Bundesländer.
Diese deutschlandpolitische Verantwortung wurde von den beiden Dachverbänden der Arbeitsmarkt-koalitionen unmittelbar angenommen, als sich die Bildung einer gemeinsamen Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion abzeichnete Aufgrund eines Spitzengesprächs (am 9. März 1990) zwischen dem DGB-Vorsitzenden, Ernst Breit, und dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Klaus Murmann, wurde in einer „Gemeinsame(n) Erklärung zu einer einheitlichen Wirtschafts-und Soz März 1990) zwischen dem DGB-Vorsitzenden, Ernst Breit, und dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Klaus Murmann, wurde in einer „Gemeinsame(n) Erklärung zu einer einheitlichen Wirtschafts-und Sozialordnung in beiden deutschen Staaten“ der politische Einigungswille begrüßt und für die DDR eine Ordnungspolitik gefordert, die marktwirtschaftlichen Prinzipien der freien Preisbildung bei den Unternehmen folgt, in der die Tarifautonomie gilt und frei gebildete unabhängige Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen in einem Gleichgewicht der Kräfte Lohn und Arbeitsbedingungen aushandeln 8. 2. Vom FDGB zur Einheit freigebildeter und unabhängiger Gewerkschaften 9
Der FDGB war in der DDR zur zentralistischen Staatsgewerkschaft und zum Transmissionsmechanismus der SED-Politik geworden Die FDGB-Einzelgewerkschaften waren als Mitglieder des FDGB somit von oben bestimmt und auch finanziell abhängig. Die großen Mitgliederzahlen und die für westliche Länder ungewohnt hohen Organisationsgrade waren kein Indiz für das Vertrauen der Arbeitnehmer. Vielmehr wurden „die totale Diskreditierung des FDGB und seiner Gewerkschaften“ und die Tatsache, daß die demokratische Wende in der DDR nicht mit dem FDGB, sondern gegen ihn von den Bürgerbewegungen und durch die Abstimmung mit den Füßen herbeigeführt wurde, zu einem entscheidenden Hindernis des Gewerkschaftsaufbaus in den neuen Bundesländern
Zudem dürften die (in der gesamten politischen Linken verbreitete) zunächst zögerliche Haltung der westdeutschen Gewerkschaften gegenüber dem letztlich vom souveränen Volk in der DDR bestimmten Tempo der Vereinigung, die im Zuge der früheren Ost-und Entspannungspolitik betriebene schrittweise Annäherung und partielle Zusammenarbeit zwischen DGB und FDGB sowie die anfängliche Hoffnung auf eine demokratische Reformierung des FDGB und der Strukturen seiner Gewerkschaften den Einstieg und die Gewinnung einer Vertrauensbasis für die DGB-Gewerkschaften im Prozeß der Herstellung der gewerkschaftlichen Einheit belastet haben Daraus hätte sich eine historische Chance für die Christlichen Gewerkschaftsverbände ergeben können, die jedoch nach den wenigen öffentlich verbreiteten Informationen nicht wahrgenommen werden konnte. Der quantitativen Bedeutung folgend wird die Analyse nur auf die DGB-Gewerkschaften bezogen. Dabei war die von den Einzelgewerkschaften und dem DGB übernommene Aufgabe des Verbands-aufbaus an sich schon groß und schwierig genug. Hinzu kommt noch, daß die Tarifpolitik sowie die in diesem Beitrag nicht berücksichtigten Felder des Aufbaus der betrieblichen Organisation und Interessenvertretung, der arbeitsrechtlichen Beratung und Repräsentation der Mitglieder sowie der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen in der landes-und kommunalpolitischen Willensbildung zunehmend die nur begrenzt verfügbaren Ressourcen gebunden haben.
Die vielfach noch auf mittlere Sicht nicht überwundenen Schwierigkeiten der Herstellung einer gewerkschaftlichen Einheit können vereinfacht und zusammenfassend in den folgenden allgemeinen (auch aus anderen Bereichen bekannten) sowie den in gewerkschaftlichen Strukturen begründeten oder den in unterschiedlichen Einstellungen, Erwartungen und Gewohnheiten der Arbeitnehmer verankerten Faktoren gesehen werden -Überbetriebliche und betriebliche Funktionäre, ja selbst aktive Mitglieder des FDGB, konnten für den Neuaufbau der Gewerkschaften kaum herangezogen werden, weil sie von den Arbeitnehmern abgelehnt wurden und ihre Erfahrungen aus der FDGB-Zeit für den Neuaufbau nicht verwertbar waren. Wenngleich es nicht darum gehen konnte, „jeden in die Wüste (zu) schikken“ wird wohl auch bei den neuen Gewerkschaften die Vergangenheitsbewältigung noch . zu einer Fluktuation des Führungspersonals führen können.
-Das von den Einzelgewerkschaften und dem DGB (zunächst in Patenschaften, später in regional abgegrenzten Zuständigkeiten) bereitgestellte Personal war für die notwendigerweise flächendeckende Arbeit extrem knapp und in seiner Arbeit durch die allgemein bekannten Schwächen der infrastrukturellen und arbeitsorganisatorischen Rahmenbedingungen in seiner Wirksamkeit eingeschränkt.
-Die Unterschiede in der Abgrenzung der Organisationsbereiche von FDGB-und DGB-Einzel-gewerkschaften führten zum offenen Ausbruch und zur Austragung einer Konkurrenz um die organisatorische Zuständigkeit und um die Mitglieder in den neuen Bundesländern; insbesondere war dies der Fall zwischen der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie um die Arbeitnehmer der Energieversorgungsunternehmen sowie zwischen ÖTV und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) um die Beschäftigten in den Sparkassen. Der Einigungsprozeß hat damit zwar die Notwendigkeit einer innergewerkschaftlichen Diskussion um eine Struktur-und Organisationsreform öffentlich deutlich gemacht, andererseits aber die Problemlösungskapazität (und teilweise auch -bereitschaft) für eine solche Reform, die zu einer Konzentration auf Multibranchengewerkschaften führen könnte vermutlich für mittlere Zeit gebunden. -Die neue Wirtschafts-und Sozialordnung verlangt von den Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern ein extrem hohes Maß an Anpassungsbereitschaft, Umstellungen und Anpassungsleistungen.
Daher ist, wenn sie sich der Gewerkschaft zuwenden, von besonders hohen Erwartungen und von einem großen Bedarf an Rat und Hilfestellungen auszugehen. Die Geschäftsstellen der Einzelgewerkschaften und des DGB würden folglich in den neuen Bundesländern eine besondere Personalausstattung benötigen.
Insgesamt hat sich -bei einer bislang allerdings noch hohen Fluktuation -ein bedeutender Mitgliederzuwachs für die DGB-Gewerkschaften (Tabelle 1) ergeben, der zwar nicht der Mitgliedschaft des früheren FDGB (9, 6 Mio.) entspricht, aber deutlich über den verbreiteten Erwartungen liegt Es haben sich teilweise erhebliche Gewichtsverschiebungen nach der Mitgliederzahl der Einzelgewerkschaften aufgrund der unterschiedlichen sektoralen bzw. branchenmäßigen Beschäftigungsstrukturen und der unterschiedlichen Organisationsbereitschaft vollzogen; auch das relative Gewicht der Gewerkschaften und das Zahlenverhältnis der Mitglieder in den alten und neuen Bundesländern stellt sich bei den Gewerkschaften teilweise anders dar, als es den üblichen Denkschablonen im Westen entspricht (Tabelle 2). Es stellt eine bedeutende Leistung des DGB und der Einzelgewerkschaften im Vereinigungsprozeß dar, unter den dargestellten Bedingungen den Aufbau freier Gewerkschaftsverbände so weit vorangebracht und die Voraussetzungen für die tarifliche und politische Interessenvertretung der Arbeitnehmer sowie für die Serviceleistungen an die Mitglieder in allen Organisationsbereichen weitgehend flächendeckend geschaffen zu haben. Die Gewerkschaften haben die übernommene ordnungspolitische Verantwortung für die Einführung der Institution Tarifautonomie wahrgenommen -soweit dies, wie auch in anderen Politikbereichen, in der gebotenen Eile und unter den gegebenen Bedingungen realistischerweise zu erwarten und durchführbar war. Die Gewerkschaften haben damit (wenigstens) einmal mehr die ihnen im Tarifkonflikt oft abgesprochene Rolle als Ordnungsfaktor in der Sozialen Marktwirtschaft bei der Wiederherstellung der Deutschen Einheit erfüllt. 3. Der Aufbau der Arbeitgeberverbände
Auch für die westdeutschen Arbeitgeberverbände bestand im Zuge des deutschen Einigungsprozesses Anfang März 1990 die gemeinsame ordnungspolitische Verantwortung, zusammen mit den Gewerkschaften für die autonome Gestaltung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen im vereinigten Deutschland Sorge zu tragen. Mit der Entscheidung der DDR-Regierung Modrow, bedingt marktwirtschaftliche Strukturen und eine Beteiligung des (auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellten) FDGB an der Festlegung der Arbeitsbedingungen vorzusehen, begann für die Arbeitgeberverbände die Phase des zügigen Aufbaus einer eigenen Organisation auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Der gemeinsame Einstieg der Spitzenverbände der westdeutschen Wirtschaft (Bundesverband der Deutschen Industrie/BDI, Deutscher Industrie-und Handelstag/DIHT, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände/BDA) über ein Westberliner Büro im Februar 1990 differenzierte sich dann in die in der früheren Bundesrepublik gewachsenen funktionalen Säulen mit den Industrie-und Handelskammern, den Industrieverbänden und den Arbeitgeberverbänden. In den neuen Bundesländern wurden bis Ende 1990 flächendeckend Arbeitgeberverbände und überfachliche Landesvereinigungen gegründet und als Vollmitglieder der Bundesvereinigung aufgenommen Dabei wurden die Gründungsbemühungen und die Aufbauarbeit, z. B. bei den Arbeitgeberverbänden der Metall-und Elektroindustrie in den neuen Bundesländern materiell und personell insbesondere durch Partnerverbände unterstützt. Bis Ende März 1990 hatten sich die folgenden Partnerschaftsbeziehungen gebildet: -Verband der sächsischen Metall-und Elektroindustrie und Verein der Bayerischen Metallindustrie,
-Verband der Metall-und Elektroindustrie in Berlin-Brandenburg und Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie, -Verband der Metall-und Elektroindustrie Nord (für Mecklenburg-Vorpommern) und Arbeitgeberverband der Metallindustrie Hamburg -
Schleswig-Holstein, -Verband der Metall-und Elektroindustrie in Thüringen und Arbeitgeberverband der hessischen Metallindustrie, -Verband der Metall-und Elektroindustrie Sachsen-Anhalt und Verein der Metallindustriellen Niedersachsens.
Bis Mitte des Jahres 1990 waren ca. 600 Metallunternehmen und damit etwa 65 Prozent der Metallarbeiter in verbandsangehörigen Betrieben erfaßt. Bis Ende 1990 waren in diesem wichtigen Tarifbereich erste Verbandsfusionen erfolgt: Arbeitgeber-verband für die Berliner Metallindustrie und der Arbeitgeberverband der Metall-und Elektroindustrie für Berlin und Brandenburg fusionierten zum neuen Verband der Metall-und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg sowie die Verbände Hamburg -Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zum neuen Verband Nordmetall. Der Neuaufbau und die Struktur für das vereinigte Deutschland mit 16 Mitgliedsverbänden war damit zunächst abgeschlossen.
Der Aufbau der Arbeitgeberverbände stand wie der der Gewerkschaften unter dem Druck des Staatsvertrags zur WWSU, nach dem die „Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie mit Leben erfüllt“ und für „die schon 1990 notwendigen Tarifverhandlungen ... in relativ kurzer Zeit... handlungsfähige Strukturen geschaffen werden“ mußten Wenngleich einige der ersten Flächentarifverträge zur Übertragung der Grundstrukturen des westdeutschen Tarifwerkes auf die „Beitrittsgebiete“ noch von Arbeitgeberverbänden „in Gründung“ unterzeichnet werden mußten so waren doch bereits Mitte 1990 die Mindestvoraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erfüllt. Dabei hatten sich die frühe Einstellung auf die Vereinigung, die Kooperation der (funktional ausdifferenzierten) Wirtschaftsverbände in der Startphase und die Tatsache positiv ausgewirkt, daß die Arbeitgeberverbände (ungeachtet der späteren inhaltlichen Bewertung) auf bisherige Betriebs-und Kombinatsdirektoren für die Mitgliedschaft, Verbandsarbeit und Führungsaufgaben zurückgreifen konnten. 4. Kollektive Arbeitsbeziehungen in den neuen Bundesländern Der Aufbau der Koalitionen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer hat sich sehr rasch bis zu einem Stand vollzogen, in dem ein tarifpolitisches „Sofortprogramm“ der Übertragung des in mehr als 40 Jah- ren in den alten Bundesländern entwickelten Systems grundlegender Tarifnormen durch Tarifverhandlungen der Verbände der Sachnahen und Betroffenen aus dem Arbeitsleben möglich wurde. Beide Koalitionen sind grundsätzlich davon ausgegangen, daß die Tarifautonomie ein integraler Bestandteil des Ordnungskonzeptes der Sozialen Marktwirtschaft ist, der eine Schutzfunktion für Arbeitnehmer sowie eine Ordnungs-und Friedens-funktion bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch das Prinzip der Verbands-und Flächentarifverträge übernimmt, wenn eine Gleichberechtigung der Verhandlungspartner (auch in bezüg auf Mittel des Arbeitskampfes), Gegnerfreiheit und ein ausgewogenes (tatsächliches) Kräfteverhältnis gegeben sind. Die Tarifparteien haben in der Bewährungsprobe des Einigungsprozesses ein recht klares gemeinsames Bekenntnis zur Institution der Tarif-autonomie abgegeben und auf Revisions-und Reformkonzepte, wie sie vor allem in der neoklassisch fundierten Deregulierungsdiskussion aus der Kritik am „Tarifkartell" vorgetragen werden, verzichtet. Dennoch wäre es verfehlt anzunehmen, die Tarif-parteien würden sich des Wagnisses der Übernahme dieser gesamtdeutschen Verantwortung nicht ebenso bewußt sein, wie Politiker, Parteien, Unternehmer, Hochschullehrer, Arbeitnehmer, die solche Verantwortung irgendwo in den neuen Bundesländern übernommen haben. Niemand, der vor Ort etwas an Erfahrung gewinnen konnte, würde seine Ressourcen, Organisation und Handlungskonzepte für wirklich ausgereift und angemessen halten können; aber ein Abwarten würde vermutlich weit größeren Schaden entstehen lassen. Für die in den alten Bundesländern bewährte Institution Tarifautonomie sind nach verbreiteter Diagnose der Industrial Relations-Forschung eine Reihe von Faktoren mitentscheidend die in den neuen Bundesländern kaum schon gegeben oder so ausgeprägt sein können, wie sie sich in den kollektiven Arbeitsbeziehungen Westdeutschlands ausgebildet haben. Ferner ist nicht auszuschließen, daß sich im vereinigten Deutschland bei einheitli-ehern Recht ein letztlich doch „neues“ historisches System stabiler überbetrieblicher Arbeitsbeziehungen entwickelt: -Rolle und Funktion von Gewerkschaften einerseits und Arbeitgeberverbänden andererseits bei der Aushandlung der Tarifnormen als Mindestnormen für Einzelarbeitsverträge sind den einzelnen Arbeitnehmern, aber auch den (neuen) Gewerkschaftsfunktionären in den neuen Bundesländern noch wenig bewußt; die einzel-und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen Tariflöhnen, Beschäftigung und Preisen sind auch im Westen ständiger Gegenstand des Streites der Experten.
Die Möglichkeiten einer „rationalen“ Willensbildung sind in den Gewerkschaften der neuen Bundesländer vergleichsweise begrenzt.
Sieht man die Forderung der Gegnerunabhängigkeit der Tarifparteien nicht nur formal-rechtlich, kann bezweifelt werden, daß die Arbeitgebervertreter bei den ersten Verhandlungen in den neuen Bundesländern wirklich die kollektive Funktion des Arbeitgebers konsequent übernehmen konnten (oder wollten), die man mit Götz Briefs darin sehen kann, die Kosten der Produktion unter Druck zu halten.
-Die Tarifverhandlungen für Ostdeutschland werden vielfach als „ferngesteuert“ oder als „Stellvertreterverhandlungen“ bezeichnet. Die Beratung und Mitwirkung durch die jeweiligen westlichen Partnerverbände ist sicher unübersehbar.
Ob der Einfluß der westlichen Partner-verbände zu einer Überlagerung der Zielvorstellungen oder zu einer Änderung der Präferenzen, z. B. in bezug auf höhere Einkommen oder Arbeitsplatzsicherheit, geführt hat, darüber kann nur spekuliert werden.
-Schließlich fehlt in den neuen Bundesländern die selbsterfahrene Einbindung des verteilungspolitischen Interessenkonflikts der Tarifparteien in ein vielfältiges System von fast regelmäßigen Tarifverhandlungen über oft weit weniger gegensätzliche Angelegenheiten und in die gemeinsame „sozialpartnerschaftliche“ Selbstverwaltung der Einrichtungen der Sozialen Sicherung.
III. Die Einführung eines Systems grundlegender Tarifnormen
Die Ausgangssituation für eine autonome Tarif-politik freier Arbeitsmarktkoalitionen in der ehemaligen DDR war nach der politischen Wende zunächst noch durch gesetzliche Regelungen der Regierung Modrow und eine Fortschreibung der üblichen Rahmenkollektivverträge zwischen den zuständigen Ministerien und den FDGB-Gewerkschaften geprägt. Die zwar von der Einsicht zur Notwendigkeit tiefgreifender Reformen aber auch dem Bestreben nach Beibehaltung „sozialistischer Errungenschaften“ in der DDR geprägte Übergangsphase brachte eine Stärkung der Stellung der Gewerkschaften im Betrieb deutliche Lohnsteigerungen und vor allem sehr weitgehende Kündigungsschutzregelungen; sie wurden zwar mit der WWSU am 1. Juli 1990 außer Kraft gesetzt, wirkten aber als „Meßlatte“ der neuen Tarifpolitik. Erst nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 war klar, daß sich der Neubeginn gewerkschaftlicher Tarifpolitik auf das westdeutsche System von Tarifverträgen ausrichten könnte.
Die entscheidende Grundlage für die Gestaltung der Löhne in den neuen Bundesländern war gegen den überwiegenden Rat ökonomischer Experten politisch mit der ab 1. Juli 1990 wirksam gewordenen Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion durch die Umrechnung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1 DM: 1 Mark der DDR bestimmt worden. Von Einfluß auf die Untergrenzen des tarif-vertraglichen Gestaltungsspielraums waren zudem die Sonderregelungen im Arbeitsförderungsgesetz für Ostdeutschland (gemäß Einigungsvertrag), insbesondere mit dem erhöhten Unterhaltsgeld, der ausgeweiteten Anwendung der Kurzarbeitsregelung und dem-erhöhten Zuschuß bei’Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sowie letztlich die Sozialhilfe als eine Art von gesellschaftlicher Lohnuntergrenze.
Für das tarifpolitische „Sofortprogramm“, das auf die Regelung der Arbeitsbedingungen nach dem 1. Juli 1990 abzielt, hatten die Gewerkschaften vor allem die Ziele einer Sicherung der Realeinkommen und des Einstiegs in die Angleichung der Einkommenstarife sowie der Anpassung der wöchentlichen Arbeitszeit und des Bestandsschutzes für die Arbeitsverhältnisse durch Rationalisierungsschutz und Qualifizierung Ein besonderes Anliegen der Arbeitgeberseite war die Verwirklichung einer stärkeren Lohndifferenzierung, vor allem nach der Qualifikation der Beschäftigten Die Tarifrunde in Ostdeutschland im Sommer 1990 stattete die Wirtschaft der neuen Bundesländer mit einem System von branchenmäßig differenzierten Lohn-und Gehaltstarifverträgen (vielfach mit ergänzenden Regelungen zu Arbeitszeit und Rationalisierungsschutz) aus, durch das der Unsicherheit bei der Beurteilung der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung durch relativ kurze Vertragslaufzeiten Rechnung getragen wurde Im einzelnen wurden in den ersten Runden (im zweiten Halbjahr 1990 und ersten Halbjahr 1991) die folgenden tariflichen Arbeitsbedingungen festgelegt: -In vielen Vereinbarungen wurde die wöchentliche Arbeitszeit von bisher überwiegend über 43 Stunden auf 40 bis 42 Stunden verkürzt und teilweise die 40-Stunden-Woche eingeführt.
-Bei den Entgelttarifen wurden teilweise Erhöhungen der Durchschnittseinkommen (z. B. um 50 Prozent bei den Sparkassen) oder der Tarif-entgelte (z. B. um 35 Prozent in der Chemischen Industrie), teilweise monatliche pauschale Zulagen (z. B. von DM 250, -bzw. DM 300, -in der Metallindustrie), teilweise Anpassungen an das westdeutsche Niveau (z. B. auf zwischen 55 und 72 Prozent, durchschnittlich auf 60 Prozent im Bauhauptgewerbe) vorgenommen.
Die Tarifrunden des Jahres 1991 haben zu weiteren Stufenabkommen für die Anpassung der Lohn-und Gehaltstarife an das Westniveau geführt, bei denen teilweise die volle Angleichung bis 1993 bzw. 1994 (z. B. Pilotabschluß in der Metallindustrie für Mecklenburg-Vorpommern vom l. März 1991) vorgesehen ist.
-Beim Rationalisierungsschutz wurden teilweise westdeutsche Abkommen übernommen und zudem Kündigungsschutzfristen verlängert, Unterhaltsgeld (auf 85 bzw. 90 Prozent des Nettoeinkommens) aufgestockt und Regelungen für gemeinsame Initiativen der betrieblichen Qualifizierung (Metallindustrie) getroffen. -In Manteltarifverträgen wurden die Entgelt-strukturen (Differenzierung nach Qualifikations- und Leistungsgruppen), die Verfahren der Leistungsbewertung und die Bestimmungen für besondere Einkommensbestandteile (Zuschläge) aus den westdeutschen Manteltarifverträgen übertragen und teilweise allgemeine Tarifregelungen (z. B. über Arbeitsbefreiungen, Beginn und Beendigungen von Arbeitsverhältnissen) sowie erste Regelungen über Sonder-zahlungen (z. B. Weihnachts-und Urlaubsgeld) vorgenommen.
Die größte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fand -wie auch im Westen üblich -die Tarifpolitik in bezug auf die laufende Lohn-und Gehaltsentwicklung, insbesondere die Anpassungsrate an das Niveau der westlichen Tariflöhne und -gehälter. Dabei sind die ausgewiesenen Erfolge einer im Schnitt schon erreichten Angleichung auf 60 bis 65 Prozent des westlichen Tariflohnniveaus vielfach (auch in der Wissenschaft) mißverstanden oder überinterpretiert worden. Diese Anpassung läßt Zuschläge, Sonderzahlungen (Weihnachts-, Urlaubsgeld) und insbesondere alle übertariflichen Zulagen außer acht Die Angleichung des Effektivlohnniveaus West und Ost (bei durchschnittlich längerer Wochenarbeitszeit) ist in der Realität deutlich weniger vorangekommen.
IV. Sozialverantwortlichkeit in der gesamtdeutschen Tarifunion
Die dargestellte Entwicklung der Tariflöhne und -gehälter seit dem Sommer 1990 wird zu Beginn der Tarifrunde 1992, für die aus dem gewerkschaftlichen Bereich vor einer falschen neuen Bescheidenheit gewarnt und Forderungen auf bis zu 10, 5 Prozent Lohnzuwachs angemeldet wurden, nahezu einhellig und von ernstzunehmenden Gremien und Persönlichkeiten als tarifpolitische Fehlentwicklung charakterisiert. Die kräftigen und raschen Lohnsteigerungen spielen eine zentrale Rolle in den Erklärungsversuchen für den anhaltenden Beschäftigungsabbau und den ausbleibenden Aufschwung am Arbeitsmarkt in Ostdeutschland. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft sieht in dieser Tarifpolitik ein schwerwiegendes „Versagen der Tarifautonomie“ 30 und gelangt zu dem Schluß, daß es einen Korrekturbedarf (im Sinne der Vorschläge der Deregulierungskommission) im System der kollektiven Lohnfindung gibt, bei dem auch „Eingriffe in die geltende Arbeitsmarktordnung, zumindest temporäre... nicht tabu sein“ dürfen. Dabei hatte der Wissenschaftliche Beirat im Vergleich zur monokausalen Verantwortungszuschreibung in der öffentlichen Debatte sogar die politische Verantwortung für die 1: 1-Umstellung der Löhne in der Währungsunion berücksichtigt und das gebräuchliche Argument der Abkoppelung der Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung mit dem Hinweis auf die Tendenz zu einer Lohnangleichung im nun einheitlichen Wirtschaftsraum abgeschwächt.
Da hier eine umfassende Analyse der Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern und der möglichen Auswirkungen der Tarifpolitik nicht möglich ist, müssen einige Hinweise auf das Dilemma der Tarifparteien im Vereinigungsprozeß genügen, um die (immer wiederkehrenden) Zweifel und Vor-Urteile in bezug auf die Verantwortlichkeit der Tarifpartner zu entkräften: -Unabhängig von der Anerkennung und Interpretation der Verfassungsnorm der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 3 GG) werden in einem einheitlichen Staats-und Wirtschaftsraum größere Unterschiede des Wertes der Lebensverhältnisse zwischen Teilräumen nicht bestehen bleiben können, sondern durch Wanderungsbewegungen ausgeglichen werden. Der bei produktivitätsorientierter Lohnentwicklung realistische Zeithorizont für die Einkommensanpassung (z. B. von 20 Jahren) war politisch völlig inakzeptabel; das Bestreben der Tarifparteien, eine Angleichung (wenigstens) der Tariflöhne auf „absehbare“ Zeit zu vereinbaren, war lediglich ein verantwortlicher Versuch zur Fortsetzung der mit der WWSU eingeschlagenen politischen Vorgaben. -Wie die meisten (früheren) Analysen zeigten, kann der Produktionseinbruch und der Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland durch die Aufdeckung „verdeckter Arbeitslosigkeit“, durch den Verlust der internen und externen Märkte, durch fehlende Konkurrenzfähigkeit der bisherigen Produkte und des Marketings, veraltete Produktionstechnik, Verfahrensweisen und Logistik weitgehend erklärt werden. Dem marktwirtschaftlichen Aufschwung stehen bisher entgegen die Eigentumsprobleme, Infrastrukturmängel und der Zeitbedarf für die Privatisierung der Treuhandbetriebe, von denen bislang kaum unternehmerische Initiativen ausgingen. Daß die Entwicklung der Lohnkosten als Produktions-und Investitionsbremse wirkt, kann für die Entwicklung nach der Währungsunion nicht ausschlaggebend gewesen sein. -Wenn die Tarifpolitik nicht den Weg gehen wollte (oder sollte), im einheitlichen Wirtschaftsraum Deutschland eine Billiglohnregion Ostdeutschland (vielleicht mit Ausnahme des Berliner Raums) anzustreben und damit über die Abwanderung der qualifizierten Arbeitskräfte eine dauerhafte Dualisierung zwischen West-und Ostdeutschland zu verfestigen, kann eigentlich nur noch um den angemessenen Grad und die Geschwindigkeit der Anpassung der Tarifbedingungen gestritten werden.
Für die weitere Entwicklung der Tarifpolitik im vereinten Deutschland wird die Beurteilung der Systemkonformität der Tarifautonomie und der . Sozialverantwortlichkeit der Tarifpartner vor allem an deren Anpassungen an die neuen gesamtdeutsch-gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen können. Der gesamtwirtschaftliche Verteilungsspielraum, der im wesentlichen aus der Wirtschaftsleistung und der Produktivitätszunahme Westdeutschlands resultiert, kann nur einmal verteilt werden. Gesamtwirtschaftliche Verantwortlichkeit und gewerkschaftliche Solidarität verlangen von den Tarifparteien bei der Entwicklung der Einkommen im Westen einen entsprechenden Verzicht auf den in Ostdeutschland (im Vorgriff auf zukünftige Produktivitätszuwächse) schon verteilten Anteil des in den alten Bundesländern erwirtschafteten Produktivitätszuwachses.
Diese Überlegungen führen erneut zu einer vor allem für die Gewerkschaften ausweglos erscheinenden Situation angesichts der in den achtziger Jahren hingenommenen Verringerung der (bereinigten) Lohnquote, höherer Steuer-und Abgabenbelastung der Arbeitnehmer und zunehmender Preis-steigerungsraten. Mögliche Wege zu einem gesamtwirtschaftlich im vereinten Deutschland vertretbaren Kompromiß sind bekannt, gehen aber in der für eine offene Suche nach Lösungen wenig geeigneten Polarisierung der Diskussion immer wieder unter. Die wichtigsten sollen hier kurz angerissen werden: -Investivlohnregelungen stellen eine Möglichkeit dar, um Verteilungsziele ohne Gefährdung der Preisniveaustabilität und der Beschäftigungsentwicklung zu verwirklichen. Die investive Bindung des über den Preisanstieg hinausgehenden Lohnerhöhungsspielraums in den westlichen Bundesländern könnte zudem für Investitionen in den neuen Bundesländern bereitgestellt werden. Die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern, bei denen eher von einem Nachholbedarf im Konsum auszugehen ist, könnten am Vermögensbestand der (nicht privatisierten) Treuhandbetriebe beteiligt werden.
Die Einbindung dieser politisch versäumten „Verteilung von Volksvermögen“ in die Tarifpolitik könnte vor allem als Ausgleich bedeutsam werden, um gegebenenfalls den Anpassungszeitraum für alle tariflichen Einkommensbestandteile besser an die wirtschaftliche Entwicklung angleichen zu können. -Tarifvertraglich vereinbarte Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Arbeits-und Entlohnungsbedingungen könnten eine größere Flexibilität für die Betriebe bei der Suche nach wirtschaftlich tragbaren Lösungen ermöglichen.
-Angesichts der deutlich höheren Frauenerwerbsbeteiligung in der ehemaligen DDR könnte die Tarifpolitik ihre Kreativität bei der Verwirklichung besserer Arbeits-und Lebensbedingungen in Ostdeutschland durch neuartige (flächendeckende) tarifvertragliche Regelungen beweisen, die flexible Arbeitszeiten und gesicherte Arbeitsbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie bereitstellen.
Die Tarifparteien in der Bundesrepublik Deutschland haben sich durch eine über vierzigjährige Ta-rifpolitik als Ordnungskräfte des Arbeits-und Wirtschaftslebens bewährt und sich damit (ungeachtet der ökonomischen Beurteilung von Fehlentwicklungen in bestimmten Situationen) auch in bezug auf die Bewährungsprobe bei der Herstellung einer Einheit der Arbeits-und Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland einen gewissen Vertrauensvorschuß verdient. Die wissenschaftlich gesicherte Erfahrung mit der Verantwortlichkeit der Tarifpartner führt für die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie zu der begründeten Empfehlung an die Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik, der Beurteilung der Tarifpolitik nicht die Ausgangsforderungen und nicht den „Verbalradikalismus“ in den Tarifauseinandersetzungen zugrunde zu legen. Die Partnerschaft in der Last der Kompromißfindung kann nicht durch mißtrauische Anprangerung der Tarifparteien, sondern nur durch Vertrauen und den Appell an die Sozialverantwortlichkeit gefördert werden.
Gerhard Kleinhenz, Dr. rer. pol, geb. 1940; Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschaftspolitik an der Universität Passau; stellv. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Familien-fragen beim Bundesministerium für Familie und Senioren; Vorsitzender des Ausschusses für Sozialpolitik im Verein für Socialpolitik. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Heinz Lampert) Zwei Jahrzehnte Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland -Eine kritische Analyse, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1971); Zur politischen Ökonomie des Konsums, Berlin 1978; Der Wandel in der Arbeitswelt: Die Herausforderung der Gewerkschaften, in: Orientierungen zur Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, 32 (1987) 2; Die sozialpolitische Bedeutung der Verwirklichung des Binnenmarktes, in: R. Birk (Hrsg.), Die soziale Dimension des Europäischen Binnenmarktes, Baden-Baden 1990.
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