I. Rahmenbedingungen
Weltweit soll es nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats 15 Mio. Flüchtlinge geben.
Diese Zahl erfaßt nur die politisch Verfolgten gemäß der Genfer Konvention. Nicht mitgerechnet sind jene Menschen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, auf der Flucht vor Krieg oder Bürgerkrieg, wegen Menschenrechtsverletzungen oder ökologischer Krisen Aufnahme in anderen Ländern suchen. Auch jene 14 Mio. Binnen-flüchtlinge, die innerhalb der eigenen Landesgrenzen bleiben, sind nicht einbezogen. Primäre Fluchtursache sind die Lebensverhältnisse im Herkunftsland (Push-Faktoren), hinzu kommt die Attraktivität des Ziellandes (Pull-Faktoren). Vielfach verstärken sich die migrationsfördernden Faktoren gegenseitig. Ein aktueller Anlaß ist zumeist dafür verantwortlich, daß sich eine latent vorhandene Fluchtneigung in eine tatsächliche Flucht umsetzt.
Etwa 80 Prozent dieser Flüchtlinge halten sich gegenwärtig in der Dritten Welt auf, zehn Prozent in Westeuropa, mit steigender Tendenz. Die Wiederherstellung der Freizügigkeit in Osteuropa, aber auch die steigende Zahl von Dritte-Welt-Flüchtlin-Igen stellen für die westeuropäischen Staaten eine neue Herausforderung dar. Gleichzeitig wird in ganz Europa die Forderung nach einer schärferen Begrenzung des Asylrechts lauter. Westeuropa befindet sich damit quantitativ und qualitativ an einer Wegscheide seiner Migrationsgeschichte Folgende Phänomene fallen dabei ins Auge: -Die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte wird heute nicht mehr gefördert, der Schwerpunkt der Immigration liegt auf der Familienzusammenführung. -Allein von 1983 bis 1989 verfünffachte sich die Asylbewerberzahl in den Ländern des Europa-rates auf 350000. Auch wenn die Anerkennungsquote weiter sinkt -sie beträgt derzeit etwa fünf Prozent so erfolgen doch nur wenige Abschiebungen. -Seit Anfang der achtziger Jahre übersteigt auch in den südeuropäischen Ländern die Zuwanderung die Auswanderung. -Tendenziell kommen die Asylbewerber aus immer entfernteren Regionen. In Schweden waren es 1985 zu 64 Prozent Asiaten. -Sprunghaft stieg in den letzten Jahren die Zahl der illegalen Einwanderer sowie der Schlepper-organisationen, so daß heute z. B. von etwa einer Mio. illegal sich aufhaltender Ausländer in Italien und mehreren Hunderttausenden in Spanien und Frankreich auszugehen ist. -Neuerdings dienen die osteuropäischen Staaten vielen Dritte-Welt-Flüchtlingen als willkommenes Transitland, bevor sie die „grüne Grenze“
nach Westen überqueren.
In Deutschland hat sich in den letzten vier Jahren die Asylbewerberzahl mehr als vervierfacht Im letzten Jahr meldeten sich insgesamt 256000 Bewerber, was einer Steigerung um 33 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. 65 Prozent der Asyl-bewerber kamen 1991 aus Mittelost-und Südosteuropa. Seit 1989 wuchs die Zahl der Asylbewerber aus den europäischen Krisenländern Rumänien (von 3100 auf 40500), Bulgarien (430/12000) und Sowjetunion (300/5700) stark an. Aus dem krisengeschüttelten Jugoslawien kamen mit 75000 Flüchtlingen 1991 fast ein Drittel aller Bewerber.
Für 1990 ist ein EG-weiter Vergleich möglich. Mehr als jeder zweite Asylbewerber in der EG beantragte 1990 in Deutschland Asyl (193000 von 359000). In weitem Abstand folgten Großbritannien (60000) und Frankreich (52000), wobei gerade die bisher von Asylanten noch kaum betroffenen Staaten wie Spanien zum Teil ganz erhebliche Zuwächse zu verzeichnen hatten. Schaut man sich dagegen die Relation von Asylanten-und Einwohnerzahl an, so rangierte Deutschland 1990 in Westeuropa nur an fünfter Stelle, hinter der Schweiz, Schweden, Österreich und Großbritannien. Die Zahl der deutschen Aussiedler wuchs von 1988 bis 1990 von 203 000 auf 397 000, hat sich im letzten Jahr überraschenderweise jedoch fast halbiert (222000). Bei den Herkunftsgebieten fällt auf, daß sich die Zahl der Aussiedler aus Polen von 1988 bis 1991 von 250000 auf nur noch 40000 zurückentwickelt hat. Die Zahl der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich von 1988 bis 1990 auf 147000 verdreifachte, hat sich 1991 auf diesem hohen Niveau stabilisiert. Aus Rumänien kamen im letzten Jahr nur noch 32 000 Aussiedler; im Jahr davor waren es noch 111000. Somit scheint der Strom der Aussiedler aus Polen und Rumänien allmählich zu verebben. In Zukunft dürften allein die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion noch eine ernsthafte Herausforderung darstellen. Insgesamt nahm Deutschland seit 1988 fast 2, Mio.
Aussiedler und Asylanten auf.
II. Migration aus Osteuropa
Die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes durchlaufen einen tiefgreifenden politischen, wirtschaftlich-sozialen, kulturellen und vor allem geistigen Transformationsprozeß. Die Stabilisierung dieses Prozesses, oder besser gesagt, die optimale Eindämmung der unvermeidlichen Krisen wird darüber entscheiden, wie umfangreich die Wanderungsbewegungen aus Osteuropa im nächsten Jahrzehnt ausfallen werden 3. Eine Prognose ist derzeit ebensowenig möglich, wie es eine Vorhersage der Massenflucht von über 20000 Albanern im März 1991 -nur wenige Wochen vor den ersten anberaumten freien Wahlen dort -
gegeben hat. Nach einer Umfrage des Pariser Ipsos-Instituts im März und April 1991 wollen in den nächsten drei Jahren 17 Prozent der Tschechen und Slowaken, zehn Prozent der Bürger im Großraum Moskau, sechs Prozent der Polen und vier Prozent der Ungarn „auf jeden Fall“
oder „vielleicht“ ihr Land verlassen Folgende Faktoren werden für den Umfang künftiger Ab-Wanderungen in Osteuropa ausschlaggebend sein:
Erstens: Für alle osteuropäischen Staaten gilt, daß sie ihre wirtschaftlich-soziale Talsohle im Umstrukturierungsprozeß noch nicht erreicht haben. Allgemein ist -wenn auch mit starken länderspezifischen Unterschieden -die Lage durch stark rückläufige Industrie-und Agrarproduktion, sinkende Exporte, wachsende Auslandsverschuldung und steigende Arbeitslosigkeit geprägt. Für den Aufbau eines Sozialstaates besteht kaum finanzieller Spielraum. Das Wirtschaftsgefälle zwischen West und Ost wird sich weiter vertiefen-ein entscheidender Pull-Faktor in der Migrationsfrage. Ein Ausbleiben oder Verzögern durchgreifender Reformen wird die Migrationsneigung zusätzlich erhöhen.
Zweitens: In vielen Ländern Osteuropas leben umfangreiche nationale Minderheiten, die wegen ihres Bezuges zur Heimat besonders migrationswillig sind. Dies gilt etwa für die 320000 Türken, die 1990 aus Bulgarien an den Bosporus übergesiedelt sind. Angesichts des nationalen Erwachens in Osteuropa kommt einem rechtlich abgesicherten und gesellschaftlich verankerten Minderheitenschutz größte Bedeutung zu. Für einige Minderheiten dürfte ein effektiver Schutz allerdings zu spät kommen. Dies gilt für die Rumäniendeutschen, aber auch für die Völker im ehemaligen Jugoslawien, wo sich eine ethnische Homogenisierung durch veränderte Grenzziehung und Vertreibung der Minderheiten abzeichnet. Wo Minderheitenkonflikte gewaltsam ausgetragen werden -wie in Nagornyi-Karabach -wächst der Migrationsdruck.
Drittens: Die Fluchtneigung nimmt überall dort zu, wo repressive Regime noch immer die Opposition unterdrücken und die Menschenrechte verletzen. Dies galt etwa für das Georgien Gamsachurdijas, der die Oppositionellen und die Süd-Osseten durch seine autoritäre Politik ins Ausland trieb. Ähnliche Konflikte drohen in Rumänien durch das nur scheinbar gewendete Regime Iliescus und im Serbien des Milosevic. Beim Macht-zerfall einer Zentralregierung wie in der Sowjetunion kommt der Stabilisierung des Übergangs auf dem Weg zu neuen Machtstrukturen große Bedeutung zu. In Jugoslawien gelang diese Stabilisierung nicht.
Viertens: Entscheidende Fluchtursache dürfte die „Hoffnungs-und Perspektivlosigkeit vor allem der jungen Generation“ sein, die in der Heimat keine persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten sieht. Der totale Verlust des Vertrauens in die politischen Führungen von Rumänien und Albanien etwa bedingt es, daß trotz eingeleiteter Wirtschaftsreformen die Abwanderung ungehemmt weitergeht. Die umfangreiche Emigration aus Bulgarien dürfte durch die nur sehr allmähliche, in Etappen verlaufende Ablösung der Kommunisten gefördert worden sein; sie kann nun jedoch nach der unter Beteiligung der türkischen Minderheit erfolgten Etablierung der ersten bürgerlichen Regierung eingedämmt werden. Nicht auszuschließen ist jedoch, daß auch die heute scheinbar stabilisierten Staaten Osteuropas in Chauvinismus, anti-westliche Denkweisen und in einen Populismus nach dem Muster des ehemaligen polnischen Präsidentschaftskandidaten Tyminski zurückfallen, falls Enttäuschung über ausbleibende Erfolge der Marktwirtschaft und die neuen politischen Kräfte um sich greift.
III. Pulverfaß Sowjetunion
Das Ausmaß an Instabilität, die Tiefe des Transformationsprozesses und der Umfang des Migrationspotentials machen die ehemalige Sowjetunion zu einem Sonderfall in Osteuropa, was die Größe potentieller künftiger Flüchtlingsströme anbelangt Migrationsrelevant sind vor allem folgende Phänomene: -der weitgehende Kollaps der wirtschaftlich-sozialen Struktur, den der einzelne Bürger als einen sich zuspitzenden Kampf gegen den sozialen Abstieg erfährt; -die Lähmung und schließlich das Verschwinden der alten Zentralgewalt, verbunden mit den begrenzten Steuerungsmöglichkeiten der neuen Politikergeneration. Dies führt zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, was zum Teil als existenzielle Bedrohung empfunden wird; -die allgemeine Enttäuschung auch über Politik und Parteien der demokratischen Bewegung, denen allerdings seit dem Putschversuch im August ein „Fenster der Gelegenheiten“ 7 für einschneidende Reformen offensteht; -die „Explosion des Ethnischen“ in einem Über-schwung nationaler Erregung, was zu Ausgrenzung und Vertreibung von Minderheiten führt und Autonomiebestrebungen auch bei den kleinsten der 140 Ethnien hervorruft. 1. Sowjetische Emigration im Zeitraffer Seit dem Zweiten Weltkrieg haben mehr als 1, 2Mio. Bürger die Sowjetunion verlassen, davon mehr als die Hälfte 1989 und 1990. Noch in Gorbatschows ersten Regierungsjahren wurde Emigration als unpatriotisch verurteilt. Jeder Antragsteller hatte mit beträchtlichen Diskriminierungen zu rechnen. Das Gesetz von 1959 mit seinen Revisionen von 1970 und 1986 gewährte keinerlei Rechtssicherheit und sah lediglich Familienzusammenführungen vor. Die Ausreise war eine willkürlich gehandhabte Konzession des Staates, abhängig von internen Quoten, bilateralen Vereinbarungen, westlichem Druck, der internationalen Großwetterlage und langwierigen, erniedrigenden Prozeduren. Sie war auf vier Gruppen -Juden, Deutsche, Armenier und zuletzt Griechen -beschränkt, die zusammen nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten.
Die Emigration aus der ehemaligen Sowjetunion läßt sich in vier Phasen einteilen. 1948 bis 1970 durften im Durchschnitt nur 2700 Bürger jährlich auswandem. 1971 bis 1980, in der Phase der Entspannungspolitik, stieg der Ausreisestrom mit 35000 jährlichen Ausreisen erheblich an: 248000 Juden, 64000 Deutsche und 34000 Armenier verließen das Land. Die Ostverträge, die Schlußakte von Helsinki und das Jackson-Vanick-Amendment des amerikanischen Kongresses dürften diese Entwicklung gefördert haben. Von 1981 bis 1986, dem letzten Aufflackern der Ost-West-Konfrontation, sank die Ausreisezahl wieder auf 8000 pro Jahr, wobei erstmals mehr Deutsche als Juden emigrierten. Seit 1987 ist die Ausreisekurve steil nach oben geschossen: 1987 26000, 1988 77000, 1989 237000, 1990 452000 Ausreisende. Für die Auswahl des Ziellandes waren vor allem die ethnische Herkunft und die Aufnahmebereitschaft des Ziellandes relevant. Nahezu alle 300000 Deutschen, die 1987 bis 1990 die ehemalige Sowjetunion verließen, fanden in der Bundesrepublik Aufnahme. Waren 1987 nur 14500 ausgewandert, so schnellte die Zahl der Aussiedler bis 1990 auf 148000 hoch, was die Gesamtzahl von 1945 bis 1986 (106000) überstieg. Über die Hälfte aller Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1945 waren jüdischer Herkunft. Während nach 1948 zunächst fast alle ausreisenden Juden in Israel eine neue Heimat fanden, gingen seit den siebziger Jahren immer mehr von ihnen in die USA, bis die Amerikaner im Oktober 1989 den Zuzug auf 50000 pro Jahr begrenzten. Heute ist Israel wieder primäres Ziel der Juden. Allein 1990 hatte Israel 180 000 Zuzüge zu verkraften, was die Staatsfinanzen, den Wohnungs-und den Arbeitsmarkt vor schwerwiegende Probleme stellt. Die Zahl der emigrierten Armenier stieg von 1988 bis 1990 von 11000 auf etwa 60000. Sie fanden fast ausschließlich bei ihren Landsleuten im Süden Kaliforniens eine neue Bleibe. Erstmals wanderten 1990 auch 14300 pontische Griechen und 4200 Evangelikale und Pfingstler aus. Damit beginnt die Emigration allmählich weitere ethnische und religiöse Gruppen zu erfassen.
Die Motive für die Ausreise der vier Hauptgruppen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt und weisen nur zum Teil Gemeinsamkeiten auf. In allen Fällen spielte die jahrzehntelang praktizierte Politik der Russifizierung, Diskriminierung und Deportation von Minderheiten eine herausragende Rolle. Im Fall der Juden und Deutschen war der Druck ausländischer Regierungen auf liberalere Ausreisepraktiken von außerordentlicher Bedeutung, wobei der Kreml Ausreisegenehmigungen als „bargaining-chip" mißbrauchte. Bei allen vier Gruppen kommen in wachsendem Maße Sogeffekte hinzu, die sich aus der massenweisen Abwanderung von Verwandten und Freunden ergeben. 2. Ungewisse Perspektiven Seit 1989 verzögerte sich immer wieder die Verabschiedung des neuen sowjetischen Reisegesetzes im Obersten Sowjet, in dessen Folge weithin eine erhebliche Ausweitung des Ausreisestroms aus der Sowjetunion erwartet wurde. Im Herbst 1990 erfolgte endlich die Verabschiedung des Gesetzes, das jedoch erst im Januar 1993 in Kraft treten soll. Danach ist nur noch der Reisepaß zur Ausreise erforderlich, wobei jedem Bürger das „Recht“ auf Ausreise nach westlichem Vorbild garantiert wird. Gegen eine Ablehnung kann gerichtlich Einspruch erhoben werden. Ob dieses Gesetz je in Kraft tritt, ist mehr als ungewiß. Allerdings ist es vorstellbar, daß zahlreiche Parlamente in den neuen, souveränen Staaten das Gesetz in abgewandelter Form übernehmen.
Sieht man sich das Migrationspotential in der ehemaligen Sowjetunion an, so lassen sich 15 Minderheiten mit starkem ethnischen Bewußtsein und Bezug zu anderen Ländern ausmachen . Für die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion ist die Prognose schwierig 9, da sie kaum gesellschaftlich diskriminiert sind und zunehmend kulturelle Frei-räume erhalten. Beruflich sind viele von ihnen sehr erfolgreich. Die von Jelzin bei seinem Bonn-Besuch im November letzten Jahres versprochene Wiederherstellung der Wolga-Republik und weiterer nationaler Bezirke kommt allerdings für viele Deutsche zu spät. Selbst der Vorsitzende der Gesellschaft „Wiedergeburt“, Heinrich Groth, rechnet nicht mit mehr als 400000 Rückkehrwilligen. Viele Berichte aus den deutschen Siedlungsgebieten in Kasachstan sprechen von einer ungebrochenen Fluchtmentalität, die durch die Verschlechterung der ökonomisch-sozialen Lage und das Erwachen des kasachischen (islamischen) Volkes verstärkt wird. Wer als Deutscher aus Kasachstan seine Heimat verlassen will, für den dürfte auch weiterhin eine Emigration nach Deutschland näherliegen als eine Übersiedlung in das Wolgagebiet. Weit mehr als die in der Volkszählung von 189 erfaßten 1, 9 Mio. Deutschen könnten sich als solche deklarieren.
Die Juden werden die größte migrationswillige Volksgruppe bleiben. Der verstärkte Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion, die Angst vor Pogromen und der Sogeffekt durch bereits ausgewanderte Verwandte lassen Experten erwarten, daß fast alle der mindestens noch eine Mio. Juden nach Israel übersiedeln werden. Ähnliches könnte für die Griechen (1989 offiziell 400000) gelten. Sie werden von Athen willkommen geheißen und verfügen über keinerlei Autonomie. Die Migrationsneigung der Armenier dagegen wird vorerst angesichts der geringen Aufnahmebereitschaft der USA und der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Armeniens weiter zurückgehen. Daneben gibt es über zwei Mio. weitere Auslän-der: 1, 1 Mio. Polen, 430000 Koreaner, 380000 Bulgaren, 170000 Ungarn und 150000 Rumänen. Diese Nationalitäten könnten bei der Einführung wirklicher Reisefreiheit und einer Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen in ihren Heimatländern auf Aufnahme hoffen. Schließlich leben in der ehemaligen Sowjetunion noch etwa 9, 5 Mio. Bürger mit familiären Beziehungen vor allem nach . Westeuropa, den USA und nach Kanada. Der überwiegende Teil der Bevölkerung verfügt dagegen über keinerlei nennenswerte Westkontakte.
Von Bedeutung dürften allerdings die 72 Mio. Bürger sein, die außerhalb ihres eigenen ethnischen Territoriums in der ehemaligen Sowjetunion leben, davon 25 Mio. Russen und sieben Mio. Ukrainer. Angesichts des nationalen Erwachens in den einzelnen neuen Staaten erscheint eine Rückkehr vieler dieser Nicht-Autochthonen in ihre angestammte Heimat unvermeidlich. In den letzten Jahren ist die Zahl der Binnenflüchtlinge auf über eine Mio. angestiegen Diese Wanderungsbewegung wird die ethnische Homogenität der neuen staatlichen Einheiten vergrößern. Eine Abwanderung in Drittländer dürfte eher die Ausnahme bleiben.
Zweifelsohne wird die zu erwartende Beseitigung aller bisherigen Hemmnisse die Ausreise erheblich stimulieren. Von entscheidender Bedeutung für das Ausmaß der künftigen Emigration wird dann die Stabilisierung der interethnischen Konflikte, der neuen politischen Führungen und des wirtschaftlich-sozialen Strukturwandels sein. Auf diese innere Entwicklung in der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kann der Westen nur begrenzt Einfluß nehmen. Mit kurzfristigen, panikartigen Fluchtwellen muß verstärkt gerechnet werden, wobei die Zahl der illegalen Grenzübertritte zunehmen dürfte.
Die faktischen Reisemöglichkeiten werden allerdings zunächst begrenzt bleiben. Die großen Entfernungen, die Devisenknappheit, die begrenzten und über Monate im voraus ausgebuchten Transportkapazitäten und die Papierknappheit bei der Ausstellung von Reisepässen, die heute nur wenige Privilegierte besitzen, werden die Emigration nachhaltig bremsen Von politischer Seite kann die Ausgabe neuer Pässe und die Visaausteilung in den Konsulaten verzögert werden. Zudem gibt es kaum Länder, die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion signalisieren. Zuzugsbeschränkungen durch Visa, Devisennachweis oder Einladungen können ebenfalls regulierend wirken. Schließlich können die Zielländer durch Angebote für befristete Arbeitsaufenthalte, Qualifikationsmaßnahmen und Praktika den Einwanderungsdruck vermindern.
IV. Migration aus dem Maghreb
Während die Migration aus Osteuropa ein herausragendes Thema der europäischen Politik vielleicht des nächsten Jahrzehnts ist, wird die Migration aus der Dritten Welt, insbesondere aus dem nördlichen Afrika, Europa über unvergleichlich längere Zeit in wachsendem Maße beschäftigen. Die dadurch entstehenden Probleme sind gegenwärtig erst in ihren Umrissen erkennbar, und dies weitaus weniger in Deutschland als in den europäischen Mittelmeeranrainerstaaten und anderen europäischen Staaten mit kolonialer Vergangenheit in Afrika. In Frankreich und Belgien wird die zunehmende illegale Einwanderung aus dem Maghreb (Tunesien, Algerien, Marokko) seit Jahren vehement diskutiert, während diese Entwicklung in Deutschland kaum thematisiert wird. Die Zuwanderung hält sich bisher in Grenzen, wächst jedoch deutlich an. Im Januar 1990 lebten 61800 Marokkaner, 24300 Tunesier und 5 900 Algerier in Deutschland. Von 1989 bis 1990 erhöhte sich die Asylbewerberzahl der Marokkaner von 450 auf 830, der Tunesier von HO auf 230 und der Algerier von 290 auf 1030.
Diese Zahlen erscheinen vernachlässigenswert, vergegenwärtigt man sich, daß in Frankreich 1987 schon 1, 5 Mio. Maghrebiner, vor allem Algerier, legal lebten, was etwa der Zahl der Türken in Deutschland entspricht. In Belgien und in den Niederlanden stellten die Marokkaner mit (1989) 152000 bzw. 130000 die jeweils zweitgrößte ausländische Wohnbevölkerung. In Italien wurde 1989 etwa einer halben Mio. illegaler Einwanderer aus dem Maghreb ein Bleiberecht zugestanden. In Frankreich sind die Maghrebiner zum „neuen Proletariat“ geworden, das vorwiegend in regelrechten Ghettos lebt. Hohe Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlte Jobs, politische Verwurzelung im Heimatland, kulturelle Abschottung und Festhalten am militanten Islam erschweren vielfach die gesellschaftliche Integration.
Verschiedene Entwicklungen lassen erwarten, daß die Migration aus dem Süden künftig immer weniger an Deutschland vorbeigehen wird:
1. Je mehr Flüchtlinge aus Afrika kommen, desto mehr Zielländer werden sie sich suchen. Dabei ist zum einen davon auszugehen, daß der Migrationsdruck in Afrika kontinuierlich anwachsen wird. Zum anderen verlieren geographische Entfernungen an Bedeutung, so daß auch die Fluchtbewegung aus Schwarzafrika den europäischen Kontinent in wachsendem Maße erfassen dürfte.
2. Historische Bindungen an die Kolonialstaaten werden immer weniger die Auswahl eines Ziellandes beeinflussen, auch wenn Sprachkompetenzen sicherlich das Migrationsverhalten weiterhin lenken werden.
3. Mit der Verschärfung des Asylrechts in den traditionellen Zielländern werden sich die Nordafrikaner vermehrt anderen europäischen Ländern zuwenden. So hat Frankreich im Juli 1991 ein Arbeitsverbot für Asylbewerber verfügt» drastische Strafen für illegale Beschäftigung verhängt, die unverzügliche Abschiebung aller abgelehnten Asylbewerber beschlossen sowie die Visaausstellung eingeschränkt.
4. Die Herstellung der Freizügigkeit im Gemeinsamen Markt der EG 1992 erleichtert die Zuwanderung über andere europäische Länder nach Deutschland. Solange das Asylrecht nicht EG-einheitlich geregelt ist, verliert Deutschland Steuerungsmöglichkeiten. 1. Das Damoklesschwert der Geburtenrate Die grundlegende Ursache für die Migration von Afrika nach Westeuropa liegt in den unterschiedlichen demographischen, sozio-ökonomischen und politischen Entwicklungsstufen beider Kontinente. Die demographische Entwicklung muß künftig als die Hauptursache für Migrationsbewegungen angesehen werden. In Afrika wächst die Bevölkerung schneller als auf jedem anderen Kontinent, in Europa schrumpft sie. Von 1950 bis 1980 verdoppelte sich die Bevölkerung Afrikas auf 575 Mio. Menschen und wird sich bis zum Jahr 2025, so eine Projektion des Europarates, noch einmal auf 1, 58 Mrd. Menschen verdreifachen Selbst wenn Maßnahmen der Geburtenkontrolle zukünftig bes-ser greifen sollten, wird sich dies nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auswirken, da die große Zahl der heute schon lebenden Kinder auch bei geringer Kinderzahl pro Familie für anhaltendes Bevölkerungswachstum sorgen wird. In den Maghreb-Staaten hat sich die Bevölkerung allein von 1953 bis 1980 auf 45, 2 Mio. Menschen verdop„pelt. Bis zum Jahr 2000 wird sich dies noch einmal wiederholen. Allerdings geben die Programme zur Familienplanung dort Anlaß zur Hoffnung. So sank zwischen 1977 und 1987 die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen in Algerien von 7, 4 auf 4, 8, in Marokko von 5, 9 auf 4, 6 und in Tunesien von 5, 5 auf 4, 0.
Fast zwangsläufig führt die demographische Entwicklung zu einer Verschlechterung der ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen in den Ländern Afrikas In den achtziger Jahren ist dort das Bruttosozialprodukt pro Kopf um 2, 2 Prozent pro Jahr gesunken. Selbst bei einem enormen Wirtschaftswachstum würde der Lebensstandard angesichts der Bevölkerungsexplosion weiter sinken. In den Maghreb-Ländern hat der Preisverfall für Rohöl und Phosphat seit Ende der siebziger Jahre die Exporterlöse reduziert, die Auslandsverschuldung erhöht, eine Finanzkrise ausgelöst und damit die Möglichkeiten zur Behebung der Strukturprobleme weiter eingeschränkt. Algerien etwa ist seit dem Beginn seiner Wirtschaftsreformen im März 1990 in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt. Die Inflation beträgt über 30 Prozent, der Schuldendienst frißt drei Viertel der Exporterlöse. 63 Prozent der 15-bis 19jährigen und 31 Prozent der 20-bis 24jährigen Jugendlichen sind arbeitslos; in Marokko sind es 36 Prozent und in Tunesien 25 Prozent der 15-bis 24jährigen. Viele dieser Jugendlichen wohnen in den rapide wachsenden Städten, in deren Slums ethnische und religiöse Spannungen und Kriminalität nahezu vorprogrammiert sind. Der Wohnungsmarkt und die Bildungseinrichtungen sind völlig überlastet. Französische Fernsehfilme bringen den Wohlstand von Paris und Dallas in jedes Haus. Ausreisedruck und -bereitschaft dürften damit in den Städten des afrikanischen Nordens sehr ausgeprägt sein.
Die explosive ökonomisch-soziale Lage erhöht die politische Instabilität. Während König Hassan II.seit langem in begrenztem Maße Opposition zuläßt, wurden in Tunesien 1980 und in Algerien 1989 erstmals Oppositionsparteien zugelassen. Die sunnitischen Islamisten -in allen drei Ländern die umfangreichste Oppositionsbewegung, in Tunesien jedoch noch immer verboten -konnten ihre größten Erfolge in Algerien verbuchen. Die dortige Heilsfront (Front Islamique du Salut, FIS) gewann nach den Gemeindewahlen im Juni 1990 im Dezember 1991 auch den ersten Wahlgang der Parlamentswahlen mit einer deutlichen Mehrheit; der zweite Wahlgang wurde durch die Machtübernahme der Militärs verhindert. Die FIS warb mit dem Wahlslogan „Keine Verfassung und keine Gesetze. Die einzige Vorschrift ist der Koran, das Gesetz Gottes“ für eine Islamische Republik. Politiker der FIS forderten „Volksgerichte“ nach iranischem Vorbild, eine neue Kleiderordnung für Frauen sowie ein Verbot von Alkohol und Glücksspiel und stellten wesentliche außenpolitische Bezüge wie die Maghreb-Union, die Anlehnung an Frankreich und die bisherige Erdgas-und Erdöl-Politik in Frage.
Wenn auch der Führer der Heilsfront, Abdelkader Hachani, die Kritiker innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen zu besänftigen versuchte, besteht dennoch zu Besorgnis berechtigter Anlaß. Im Nah-ost-Krieg schickte die Heilsfront Saddam Hussein Freiwillige für seinen „Heiligen Krieg“, forderte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu allen Hussein-Gegnern und veranstaltete große Pro-Saddam-Demonstrationen. Seit Jahren instrumentalisiert sie die Frustration gerade auch der Jugendlichen über ihre miserablen Lebensbedingungen zugunsten einer radikalen, anti-westlichen Islamisierung der Gesellschaft. Die FIS stellt ihr Gesellschaftsmodell mit seinem strikten Moralkodex als Lösung aller Probleme des Landes dar. Bisher hat die Islamisierung noch nicht in größerem Maße auf Tunesien oder Marokko übergegriffen, doch zeigt sich die politische Instabilität auch dort daran, daß Nahost-Korrespondenten einen Front-wechsel beider Länder im Krieg gegen Hussein nur für eine Frage der Zeit hielten.
Die innenpolitische Polarisierung in Islamisten und Gemäßigte erzeugt in den Maghreb-Ländern zusätzlich Migrationsdruck. Dabei flohen schon bisher aus Algerien diejenigen, die eine Islamisierung der Gesellschaft befürchten. In jedem Fall dürfte sich diese Fluchtbewegung verstärken. Welches Ausmaß sie annimmt, hängt davon ab, ob es nach dem erzwungenen Rücktritt des liberalen Präsidenten Schadli Bendschedid und der Machtergreifung des von der Armee dominierten Staatsrates zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der FIS kommt. Aus Marokko und Tunesien werden dagegen auch weiterhin eher die radikaleren, im eigenen Land verfolgten Kräfte auswandern. Damit schwappt das inner-maghrebinische Konfliktpotential zunehmend auf die Staaten Westeuropas über.
Migration aus dem Maghreb hat demnach eine Vielzahl struktureller und aktueller Fluchtursachen. Diesen Menschen eine Lebensperspektive im eigenen Land zu vermitteln, dazu bestehen von außen kaum Einflußmöglichkeiten, da die strukturellen Probleme -vor allem die demographischen, die in Osteuropa nicht existieren -von einer frustrierenden Größenordnung sind. Und diesen Menschen den Weg nach Europa zu versperren, dürfte kaum möglich sein, da sie vorzugsweise über die „grüne Grenze“ einwandern. Die Integration dieser Flüchtlinge wird für die europäischen Staaten eine völlig andersartige Herausforderung darstellen als die der Flüchtlinge aus Osteuropa, da die kulturelle Prägung der Nordafrikaner eine Assimilierung vielfach unmöglich macht. Francois Heisbourg mutmaßt nicht zu Unrecht, daß der Maghreb „für Europa ein funktionales Äquivalent zu dem wird, was Mexiko für die Vereinigten Staaten ist“ 15.
V, Perspektiven deutscher Flüchtlingspolitik
Ziel deutscher Politik muß es künftig sein, die Elemente Früherkennung, Vorbeugung und Krisenmanagement sinnvoll miteinander zu verbinden, um ein Maximum an Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit zu gewährleisten und Fluchtbewegungen schon in ihrer Entstehungsphase einzudämmen. Früherkennung könnte durch ein nationales Beobachtungszentrum erfolgen, das kritische Migrationspotentiale über längere Zeit beobachtet, regelmäßig Migrationsberichte vorlegt und bei akuten Fluchtfällen die Regierung berät. Dabei ist auf multinationaler Ebene -sinnvollerweise gesamteuropäisch, um Herkunfts-und Zielländer gleichermaßen zu erfassen (KSZE, Europarat) -eine Koordinierung der nationalen Bemühungen dringend geraten.
Vorbeugung verlangt die gezielte Ausrichtung vieler Instrumente der auswärtigen Politik auf ihre Migrationsrelevanz. Der weitgehende Schuldenerlaß für Polen, die Assoziierungsabkommen der EG mit den mittelosteuropäischen Staaten und die Gründung des NATO-Kooperationsrates sind Maßnahmen, die sicherlich zum Abbau von Migrationspotential beitragen. Zur Begrenzung der Flüchtlingszahl aus der GUS werden der Minderheitenschutz und die Einhaltung der Menschenrechte von herausragender Bedeutung sein. Für die anderen osteuropäischen Staaten geht es sicherlich um Finanzhilfe, mehr jedoch noch um die weitergehende Öffnung der westeuropäischen Märkte für ihre Produkte. Die Erweiterung der KSZE-Instrumentarien zur Inspektion und Konfliktverhütung (mit Sanktionsmöglichkeiten) ist ebenso notwendig wie eine EG-Eingreiftruppe.
Für die Staaten (Nord-) Afrikas wäre eine Erhöhung der deutschen Entwicklungshilfe auf ein Prozent des BSP (derzeit 0, 36 Prozent) eine Maßnahme auch zur Reduzierung des Migrationspotentials, wenn etwa verstärkt in Projekte der Geburtenkontrolle, in Bildungseinrichtungen und Existenzgründungen investiert würde. Dabei erscheint eine Konzentration auf wenige Regionen und Projekte, die für Deutschland von größter Migrationsrelevanz sind, sinnvoller als eine Vergabe von Geldern nach dem Gießkannenprinzip.
Krisenmanagement, das heißt die Kontrolle akut auftretender Flüchtlingsströme, wird auch künftig vonnöten sein. In der Jugoslawien-Krise fehlte Europa sowohl der gemeinsame politische Wille als auch das Instrumentarium für ein erfolgreiches Krisenmanagement. Zukünftig wird die EG in europäischen Konflikten weitaus deutlicher ihre Stimme erheben müssen. Der letztlich doch noch erfolgte Beschluß zur Anerkennung aller sezessionswilligen Staaten Jugoslawiens, die Aufstellung des Kriterienkatalogs und seine Anwendung sowohl auf Jugoslawien als auch auf die GUS lassen hoffen, daß die EG auf die nächste Krise besser vorbereitet ist, so daß Migrationen schon im Frühstadium wirkungsvoller eingedämmt werden können.