Wo keine Vision ist, werden die Menschen wild und wüst. Salomos Sprüche 29, 18
Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Die Linke nach dem Sieg des Westens“, das im Frühjahr bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, erscheint.
Der „Sieg“ des Westens
Die Stunde der Wahrheit kann nicht mehr lange auf sich warten lassen. Europa war ein paar Jahre lang wie in Glück getaucht; voller großer Pläne im Westen, voller verrückter Hoffnungen in der Mitte und im Osten. Am ernüchternden Scheitern der Idee einer Politischen Union Europas in den Regierungskonferenzen von Maastricht und dem mörderischen Kleinkrieg kroatischer und serbischer Nationalisten deutet sich jetzt die Signatur der neunziger Jahre an: weder „neue Weltordnung“ noch gar „Ende der Politik“, sondern Diffusion der Macht, Renaissance des Nationalismus, die Rückkehr der Figur des begrenzten „kleinen“ Krieges und eine eher abnehmende Fähigkeit zu übernationalen Organisations-und Staatsbildungsprozessen Am klarsten hat die Lage der ungarische Publizist Ferenc Miszlivetz geschildert: „Das wunderbare Jahr 1989 und die wenigen Jahre der Hoffnung davor“, so schreibt er, „waren voller Pläne, Gespräche und Erwartungen über den »Anschluß an Europa und die Teilnahme an seinen Integrationsprozessen. Bewegungen oppositioneller Intellektueller kooperierten miteinander über die Grenzen hinweg, mit dem Blick auf künftigen gegenseitigen Austausch unter freien und demokratischen Verhältnissen“. Sein Fazit am Ende des Jahres 1991 war weniger idyllisch: „Nach 1989 fanden sich die beginnenden Demokratien im Stich gelassen.“ 2 So ist die Lage, wenn das auch in der Sprache der späten Bonner Republik nicht recht auszudrücken ist. Diese Sprache, vom „Prinzip Genscher“ geprägt, ist nicht auf Realität, sondern auf „Perspektive“ aus. Die neuen Deutschen wollen die Welt bewegen, indem sie sie und sich selbst hypnotisieren. Aber weit wird man mit dieser Art persuasiver Kommunikation nicht mehr kommen.
Dabei gab es nach dem verketteten Prozeß der mitteleuropäischen Revolutionen durchaus Grund zu Dankbarkeit, Begeisterung und Freude. Erstens hatten Millionen von Menschen ihre Freiheit gewonnen. Inzwischen kann man zwar fragen, was diese Freiheit für die Kinder in Kroatien oder Slowenien bedeutet; das Bruttoinlandsprodukt Jugoslawiens hat sich nahezu halbiert; einer der slowenischen „Führer“ hat kürzlich den schönen Satz gesagt, seine Leute würden lieber „Gras fressen“ als auf ihren Nationalstaat verzichten, und in vielen Regionen der zerfallenden Sowjetunion deuten sich ähnliche Verhältnisse an. Aber die Position, die der späte Bert Brecht eingenommen hätte: Freiheit sei eben doch mehr Luxus für die Mittel-schichten als Lebenselixier für die Mehrheit der Menschen, ist nicht einmal halbrichtig. Zweitens wurde durch die Auflösung der doppelseitigen (bipolaren) Machtstruktur der Welt eine Drohung beseitigt, die mehr als vier Jahrzehnte auf der Menschheit gelastet hatte: die Drohung des nuklearen Holocaust. Auch hier sind nicht alle Rest-risiken beseitigt. Die Weitergabe von Nuklearwaffen, ihre Proliferation, wird leichter sein, nicht schwerer, und es ist ganz und gar nicht auszuschließen, daß irgendein „Waffenstaat“ seinen stolzen Besitz erpresserisch nutzt. Aber die Gefahr aus giftigen Regenwolken ist nicht zu vergleichen mit dem vielbeschworenen Alptraum, der Wirklichkeit hätte werden können, wenn in Moskau oder Washington kurz hintereinander bestimmte rote Telefone bedient worden wären.
Die mitteleuropäische Revolution von 1989 barg für einen kurzen historischen Augenblick die Chance einer Überwindung der europäischen Teilung, ja sogar einer radikal neuen Konstruktion eines föderalistischen Europas unter supranationalen Dächern. Wie war es möglich, daß sich der Horizont so rasch verdunkeln konnte?
Vielleicht lag es an der in den viereinhalb Jahrzehnten seit Jalta geschwundenen Erfahrung der politischen Klassen Europas -das eigentliche Geschäft hatten ja die Amerikaner besorgt. Auch kam die große Chance blitzschnell und verflüchtigte sich rasch auch wieder. Die Umwandlung kommunistischer zentraler Verwaltungswirtschaften in Marktwirtschaften ist ein Vorgang ohne Beispiel und deshalb ganz objektiv schwer zu bewältigen. So kam es, daß die westeuropäische Politik zwar -natürlich -die „Interdependenz“ der Regelkreise im Westen, der Mitte und im Osten Europas erkannte. Es war ja nicht zu übersehen, daß die sozusagen lose herumliegenden Nuklearwaffen in einem Teil der Sowjetunion gefährlich werden konnten. Es konnte sich ja niemand darüber täuschen, daß der Dreck der Braunkohlekraftwerke aus Bitterfeld oder dem Böhmerwald die Bronchien der Westeuropäer genauso schädigt wie die der Osteuropäer. Die berechtigten Warnungen vor einer millionenfachen Flucht hungernder Menschen aus Polen, der Ukraine oder Rumänien ließen ja nicht lange auf sich warten.
Diese Erkenntnis der „Interdependenz“ führte aber zu keinem in irgendeiner Weise realistischen Konzept für eine zukünftige Ordnung des geographischen Europa. Weder ließ man sich auf die vollständig unterschiedliche Geschichte, politische Kultur, die religiösen Traditionen und ökonomischen Formationen von Völkern wie dem polnischen, dem litauischen, dem rumänischen, dem ukrainischen oder dem serbischen ein, noch entwickelte man eine Vision von der Verfassung des künftigen Europa. Man nahm den vermeintlichen „Ostblock“ als Block, der er jedoch nur unter der Drohung sowjetischer Bajonette gewesen war. Viele ergaben sich auf der Stelle dem rohen Mechanismus des ersten Wunsches und verbaten sich „second thoughts“: Die attraktivste Organisation Europas war die Europäische Gemeinschaft, prima vista wollten zuerst einmal alle Betroffenen in diese attraktivste Organisation, also wurde dieser Wunsch zur „Perspektive“ erklärt, in zahllosen Reden verarbeitet und sogar in internationalen Verträgen verankert. Nicht einmal die ordnungspolitische Grundfrage -wie groß und wie komplex kann eigentlich eine multi-ethnische Staatsorganisation sein? -wurde aufgeworfen.
Da man auf nicht ausreichend operationalisierte Ziele zu aber keine meßbaren Schritte tun kann, entstand die Zweideutigkeit der heutigen Situation: jene seltsame Mischung von paneuropäischer Rhetorik und einem immer deutlicher hervortretenden nationalstaatlichen Egoismus bei zwar nicht allen, aber doch vielen Akteuren. Das Ergebnis ist die Wiederkehr jener „europäischen Gewitteratmosphäre“, die Walther Rathenau 5 für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg diagnostizierte. Die anfängliche Euphorie hat sich im Osten Europas zu Wut und Angst, in der Mitte zu Frustration und im Westen zu Nervosität und Ungeduld entwickelt.
Das Jahr 1989 war in einem machtpolitischen Sinn ohne Zweifel ein Sieg des Westens. Die Bündnis-systeme hatten gegeneinander vier Jahrzehnte lang einen (kalten) Krieg (mit einigen heißen Einsprengseln) geführt; das eine Bündnis zerbrach, das andere war nach dem unerwarteten Erfolg vielleicht etwas ratlos, aber es blieb übrig. Das Jahr 1989 hat auch ganz unbestreitbar bewiesen, daß die marktförmige Regulation der Wirtschaft einer rein politischen deutlich überlegen ist. Im übrigen aber erweist sich die mitteleuropäische Revolution von 1989 als ebenso ambivalent wie die Große Revolution von 1789. 1789 waren es einerseits die demokratischen und universalen Prinzipien, andererseits die revolutionäre Logik, die zur Terreur führte, zur Herrschaft der Guillotine. Auch die mitteleuropäische Revolution von 1989 hat zwei Gesichter. Das eine schaut in die Zukunft, auf die Demokratisierung der ost-und mitteleuropäischen Gesellschaften; das andere schaut zurück ins 19. Jahrhundert, auf den wiedererstandenen Nationalismus, ethnischen Radikalismus und Rassismus. Man muß nicht so weit gehen wie der amerikanische Ökonom Immanuel Wallerstein, der behauptet, daß das Jahr 1989 das Ende des Liberalismus markiere und nicht das des Kommunismus (der, wie er sagt, schon viel früher zusammengebrochen sei -Aber es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Revolution von 1989 noch keineswegs ver-daut ist. Sie wird noch gewaltige Rückwirkungen entfalten, und zwar nicht nur im Baskenland, in Korsika und in Irland, wo regionalistische Bewegungen Auftrieb erhalten dürften, sondern auf dem ganzen Kontinent und auf den verschiedensten Handlungsebenen: der ökonomischen, der ökologischen, der kulturellen und der militärischen. Eine gewaltige Dynamik ist in Gang gekommen. Der Westen hat gesiegt. Werden auch die „westlichen Werte“ siegen?
Der Prozeß der Revolution
Wie immer man in späteren Zeiten, wenn man Archive, Memoiren und bisher unzugängliche Dokumente zu Rate ziehen kann, den Prozeß der sich gegenseitig beeinflussenden mitteleuropäischen Revolutionen bewerten wird -eines steht schon heute unumstößlich fest: Die Revolution wurde von „oben“, aus Moskau, ausgelöst, nicht von den tapferen, hochherzigen, aber zumeist isolierten, schwachen und oft unpolitischen Oppositionsbewegungen. Eine Ausnahme macht da nur die polnische Solidarnosz-Bewegung; sie hatte bestimmte Wurzeln in der Arbeiterschaft und dazu einen mächtigen Hintergrund in der katholischen Kirche Polens. Die Charta 77 in der Tschechoslowakei war, ebenso wie die im Schatten der evangelischen Kirche der DDR entstandene deutsche Dissidenz und die ungarische Opposition um Männer wie György Konrad, eine kulturelle Gegenelite. Prägnant hat diesen Tatbestand der „Figaro“ anläßlich des Rücktritts von Gorbatschow ausgedrückt: „Gorbatschow ist es gewesen, der selbst aus dem Inneren des Systems heraus dem Kommunismus die ersten tödlichen Schläge versetzt und es schließlich mit einem Zugeständnis nach dem anderen gesprengt hat. Paradoxerweise ist es also ein Kommunist, der den Totalitarismus vernichtet hat.“
Diese Tatsache sollte nicht zu vorschnellen Beurteilungen führen. Von Sebastian Haffner wird der Satz überliefert, er verachte Gorbatschow mehr als Hitler; Gorbatschow sei es gelungen, im Lauf von wenigen Jahren ein Weltreich aus freien Stücken auf Null zu bringen Immerhin hat dieser Mann der Versuchung widerstanden, gemäß der jämmerlichen Maxime „nach mir die Sintflut“ Gewalt zu gebrauchen. Eine „Persönlichkeit von geschichtlichem Rang“ (Hans-Dietrich Genscher) ist er deswegen noch nicht, denn er hat so ziemlich das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen wollte. „Wir hatten keine Vorstellung, was passieren wird“, charakterisierte sein Außenminister Eduard Schewardnadse seine und Gorbatschows Perspektiv©, „wir kamen einfach zu dem Schluß, daß man so nicht weiterleben kann“ Das genügt auch heute noch nicht für „geschichtlichen Rang“; Gorbatschow ist Alexander Dubcek vergleichbarer als Peter dem Großen, Bismarck, Hamilton, Madison oder John Stuart Mill. Aber er ist, auch wenn er im Westen vor allem deshalb geliebt wird, weil er sein Reich ohne Krieg übergeben hat, keineswegs ein „Verräter“. Es ist mehr als zweifelhaft, ob dieses Reich für Perestroika, für Reformen überhaupt zugänglich war. Gorbatschow mag, als er seinen Weg begann, nicht gewußt haben, wohin ihn dieser Weg führen würde. Aber er hat auf diesem Weg vielen Menschen das Sterben erspart. Das ist sein unglaublicher Vorzug gegenüber all den Lenins, die ein korrupter Begriff von Größe auf die Denkmalssockel befördert hat, von denen sie jetzt mühsam wieder abmontiert werden müssen.
Die wichtigste Konsequenz dieser Revolutionen „von außen“ (nur in Rumänien funktionierte Gorbatschows Versuch, gerontokratische Eliten durch neue, aber eben reformkommunistische abzulösen) liegt in der Tatsache, daß die Gruppen, die die Demokratisierung vorantrieben, nicht die geeigneten Träger der politisch-ökonomischen Modernisierung waren. In Deutschland übernahm die politische Klasse der Bundesrepublik das Regiment, in allen anderen Ländern entstand ein ideologisches Vakuum, in das rasch vorkommunistische Tendenzen einströmten. Die Verhältnisse sind von Gesellschaft zu Gesellschaft ganz verschieden. Die rasche Wendung vom autoritären Sozialismus zum autoritären Nationalismus in Serbien oder der Slowakei ist etwas völlig anderes als die Rückkehr der politischen Clans in Rumänien, der antirussische Konsens in Lettland (wo die „eigentlichen“ Letten nur 52 Prozent der Bevölkerung repräsentieren) oder die erbitterten Auseinandersetzungen populistischer Kommandanten in Georgien. Selbst für die mitteleuropäischen Kemländer Tschechoslowakei, Polen und Ungarn gilt: Sie können zukünftige Politik nicht aus Konzepten und politischen Bewegungen entwickeln, die in der Oppositionsphase entstanden sind. Anders als in Spanien, Portugal oder Griechenland ist der Konnex zu den politischen Traditionen und Kräften Westeuropas dünn. Der Zwang, von heute auf morgen neue politische Eliten aus dem Boden zu stampfen, ist mörderisch; die Versuchung, „blind“ in die große black box der Vergangenheit zu greifen und das herauszuziehen, was man eben zu fassen bekommt, ist gewaltig.
Wie sich Polen, Ungarn, Böhmen und Mähren (die man inzwischen getrennt von der Slowakei analysieren muß) entwickeln werden, kann niemand genau sagen. Folgende gemeinsame Trends stechen hervor: -Ein Parteiensystem nach westlichem Muster hat sich (noch) nicht herausgebildet. Man kann vage -wie Adam Michnik -von einer Polarisierung zwischen konservativ-nationalistisch-autoritären und westlich liberalen offenen Kräften sprechen. Klassische Konfliktlinien westeuropäischer Demokratien (Umfang der Staatsintervention, Bindung als Unternehmer, als soziale Gruppe, Aufbau des Wohlfahrtsstaates) sind noch nicht erkennbar. -Die Parteienlandschaft ist zersplittert; in den meisten Ländern kommt keine Partei über 30 Prozent. Der große Konsens der Oppositionsbewegungen ist zerbrochen; die Protagonisten fallen sich in -oft giftigen -Auseinandersetzungen gegenseitig an. In Polen sind von den über 100 Parteien, die sich zur Wahl stellten, 29 ins Parlament eingezogen; die erfolgreichste, die Demokratische Union (UD) Mazowieckis, erreichte 12, 3 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Wahlbündnis der ehemaligen Kommunisten mit 11, 9 Prozent. Alle übrigen Parteien erhielten weniger als neun Prozent der Stimmen. Wo es klare Ergebnisse gab -wie beim Sieg der konservativen nationalen Parteien (MDF, KDNG, FKggP) in Ungarn -, zeigen sich inzwischen Ermüdungserscheinungen; die liberale Opposition (SZDSZ und FIDESZ) gewinnen deutlich an Boden. Grosso modo kann man sagen: Die sozialliberalen bis christlich/rechten Kräfte liegen in Führung, sind aber zersplittert. Sozialdemokratische Gruppen (null bis zehn Prozent) leiden am prinzipiell schlechten Image der Linken und an der Schwierigkeit, ein politisches Feld zwischen sozialliberalen und reformkommunistischen Positionen zu definieren. Die im Westen selbstverständliche Konkurrenz zwischen Mitte-Rechts-und Mitte-Links-Gruppierungen wird überlagert von Auseinandersetzungen mit (reform-) kommunistischen Gruppierungen zwischen fünf und 15 Prozent und extremen nationalistischen und populistischen Kräften, die zwar noch schwach (unter 15 Prozent), aber potentiell explosiv sind. -Parteienfeindlichkeit und Politikmüdigkeit nehmen zu; die alte Skepsis, die aus der Erfahrung mit der kommunistischen Parteidiktatur herrührt, verbindet sich mit tiefen Enttäuschungen über den Verlauf und die Ergebnisse des Reformprozesses. -Die Arbeitnehmervertretungen sind in den meisten Ländern (Ausnahme: CSFR) zwischen starken, aber politisch diskreditierten alten Gewerkschaften und schwachen und zersplitterten neuen Reform-Gewerkschaften gespalten. Dies bedeutet, daß die politischen Klassen selten in die Betriebe hineinwirken und die Betriebe selten auf die politischen Klassen. Eine arbeitnehmerorientierte „linke“ Politik nach westeuropäischem Muster kann sich auf diese Weise nicht herausbilden.
-Gleichzeitig aber gibt es einen militanten ökonomischen Neoliberalismus, auf den sich die Hoffnungen von Millionen von Menschen richten. Typisch dafür ist die Politik von Leszek Balcerowicz in Polen und Väclav Klaus in der SFR; ihr Gott ist nicht etwa Ludwig Erhard, sondern Friedrich August von Hayek. Wichtigster Berater der polnischen Wirtschaftsreformen ist zum Beispiel der amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs; sein Credo lautet, man solle Arbeitslosigkeit und Krisensituation nicht überdramatisieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei die Arbeitslosigkeit eher zu niedrig als zu hoch. Im Schatten dieser Theorien gedeihen verständlicherweise nicht nur hemdsärmelige Gründer-Unternehmer, sondern auch Schieber-und Mafia-Strukturen. Ob eine Opposition gegen diesen mitteleuropäischen Thatcherismus nach rechts oder links ausschlägt, läßt sich heute noch nicht vorhersagen. -Der Attraktivität des smarten Neoliberalismus entspricht die tiefe Krise der mittel-und osteuropäischen Sozialdemokratie selbst in denjenigen Ländern, in denen es historisch solch eine politische Kraft gegeben hat. Was immer die neu entstandenen Parteien tun -ob sie versuchen, sich an die jeweilige Oppositionsbewegung und deren sozialliberalen Flügel anzulehnen (wie der gerade verstorbene Josef Lipski in Polen oder Rudolf Battek in der SFR), oder ob sie darum kämpfen, das kommunistische Wählerpotential zu absorbieren: Sie geraten in den Mahlstrom einer wilden Auseinandersetzung zwischen den Exilparteien und verschiedenen Oppositionsströmungen. Dazu kommt, daß Reformkommunisten ihren Namen und die traditionelle Programmatik besetzen und daß der Kommunismus nicht nur alles „Sozialistische“, sondern auch alles „Sozialdemokratische“ und sogar den Sozialstaat diskreditiert hat. In Ungarn brachen Sicherheitskräfte der Vorsitzenden der (zeitweise von der Sozialistischen Internationale anerkannten) Sozialdemokratischen Partei, Anna Petrasovits, in das Büro einer Konkurrenzpartei (unter Imre Takacs) ein. In dieser hysterischen Atmosphäre existieren vier sozialdemokratische Miniparteien. Kein Wunder, daß die Chancen gering sind, sozialdemokratische, linksliberale und grüne Tendenzen zu bündeln. -Die früheren Kommunisten befinden sich in Mittel-und Osteuropa auf der Quarantänestation; und das ganz unabhängig von der Tatsache, ob sie ihre dogmatischen Kader in Pension geschickt haben (wie in Ungarn unter Gyula Horn) oder ob sie sie (wie in der deutschen PDS und der böhmischen KP) noch mitlaufen lassen. Das Tragische an der Situation ist, daß frühere Kommunisten wie V. Meciar aus der Slowakei, F. Tudjman aus Kroatien oder S. Milosewicz aus Serbien reüssieren können, wenn sie auf eine radikal-nationalistische Position umschwenken; daß ihnen aber ein vergleichbarer Erfolg verwehrt ist, wenn sie sich -wie Gyula Horn (Ungarn) oder Petr Weiss (Slowakei) -in Richtung auf die westeuropäische Sozialdemokratie entwickeln. Die ungarischen Kommunisten zum Beispiel haben -ganz im Gegensatz zu den tschechischen, polnischen oder deutschen -aus ihrem ZK-Gebäude Reformen vorangetrieben; die ideologischen Positionen von Gyula Horn und Achille Occhetto, dem Führer der Linksdemokraten in Italien, dürften sich kaum voneinander unterscheiden. Dies nützt den ungarischen Sozialisten aber ganz und gar nichts. Sie bleiben -zumindest für die nächsten Jahre -„Unberührbare“. -Rechts vom Zentrum bleiben unberechenbare Kräfte übrig. Niemand weiß, welche Rolle rechtsradikale oder rechtspopulistische Führer wie Paraga in Kroatien, Seselj in Serbien, Moczulski in Polen oder Sladek in der Tschechoslowakei spielen werden. Es gibt viel lose Fracht auf den mitteleuropäischen Schiffen; in Polen hat zum Beispiel eine Partei der Bierfreunde Polens (PPPP) 16 Sitze gewonnen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 43, 2 Prozent. Wenn Teile der Bevölkerung -was bei der Umstellung der Planwirtschaften auf Marktwirtschaften unausweichlich ist -in Not geraten und soziale und ethnische Konflikte sich mischen, könnten die extremistischen Kräfte sowohl Nichtwähler mobilisieren als auch gemäßigte Kräfte für ihre Ziele ausnutzen
In Ostmitteleuropa gab die Hegemonialmacht Sowjetunion, zutiefst erschreckt durch die System-krise des realen Sozialismus, ihr Glacis ohne Vorwarnung frei. Zur Herrschaft kamen unvorbereitete, schwache, zumeist kulturelle Gegeneliten, deren einziger gemeinsamer Nenner der Kampf gegen die marxistisch-leninistische Bürokratie war; Freiheitsrevolutionäre, die sich auf tapferen Widerstand eingestellt hatten, jetzt aber von heute auf morgen vor die Aufgabe gestellt wurden, einen beispiellos schwierigen Prozeß der nachholenden ökonomischen Modernisierung in Gang zu setzen. Der Prozeß dieser Revolution mußte in die Gefahr geraten, in autoritäre Pilsudski-Regime umzukippen, wenn nicht die ersehnte Hilfe aus „dem Westen“ kam. Der Westen wurde zur mythischen Formel, im Guten wie im Bösen.
Das böhmische Beispiel
Wer ermessen will, wieviele Gefühlsstürme die mitteleuropäische Revolution von 1989 wachrief -und welche „ordnungspolitischen“ Probleme sie aufwarf -, muß aus der aktuellen Politik in die Geschichte zurück. Er muß sich klarmachen, daß die Bulgaren durch die Russen vom „türkischen Joch“ befreit worden sind und deshalb zu diesen Russen ein völlig anderes Verhältnis entwickeln konnten als die Polen oder Tschechen. Er muß bedenken, wie eng das katholische Kroatien mit der österreich-ungarischen Monarchie verflochten war und wie alt die Konflikte mit orthodoxen oder muslimischen Serben sind. Die Grenzen, die heute in Slawonien oder der Krajina umkämpft sind, sind seit vielen Jahrhunderten umkämpft. Für einen Teil der Völker in jenem angeblichen „Ostblock“, der eben nur mit Gewalt zusammenzuhalten war, ist die vielberufene „Rückkehr nach Europa“ seit eh und je ein Problem. Aber eben nur für einen Teil.
Ein plastisches Beispiel für die Verknotung der europäischen Probleme ist Böhmen -die traurige Geschichte, wie Deutsche, Tschechen, Juden in den Staatsbildungsprozessen der letzten 100 Jahre durcheinandergeschüttelt wurden und wie sie mit Slowaken, Ruthenen, Sinti und Roma, Österreichern, Ungarn und was für Völkern noch in Verbindung gebracht und wieder auseinandergerissen wurden. Die europäische Teilung ist eben keine Geschichte, die auf die fragwürdige Aufteilung der Welt in Jalta 1944 zurückgeht. Wer es sich nicht klarmacht, wie alt und kompliziert die Probleme sind, hat an den modernen Konferenztischen (heißen sie nun KSZE oder EG) kaum eine Chance.
In Böhmen zum Beispiel lebten für fast 1000 Jahre zwei Völker in einer Nation zusammen. Jeder Tscheche ist ein Böhme, aber nicht jeder Böhme ist ein Tscheche, hieß ein berühmter Spruch. Die deutsche Sprache unterschied nicht zwischen den Böhmen als Sammelname für alle Einwohner des Landes und den Böhmen als Benennung ihres slawischen Teils. Genauso im Tschechischen: Das Eigenschaftswort esky, in der Übersetzung „tschechisch“, wird sowohl auf das Land Böhmen als Ganzes als auch auf den slawischen Volksteil bezogen Es gab einmal einen „böhmischen Patriotismus“, der sich sowohl auf die Böhmen deutscher als auch auf die tschechischer Zunge bezog.
Im Laufe des letzten Jahrhunderts gab es viel nationalistisches Gift auf beiden Seiten; und es ist auch heute, wie manche Debatten um den deutschtschechoslowakischen Freundschaftsvertrag zeigen, keineswegs gänzlich verschwunden. Aber schon FrantiSek Palacky, der Wiederbegründer des fast versunkenen Tschechentums im 19. Jahrhundert, polemisierte in einem berühmten Sendschreiben an die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 gegen so etwas wie „Republikchen", also gegen Kleinstaaten, die ein wunderbares Ziel für den Pangermanismus oder den russischen Absolutismus bieten könnten. Wenn Österreich noch nicht erfunden wäre, schrieb er über den Vielvölkerstaat, dann müßte man es erfinden Rund 17 Jahre später, 1865, im Schatten der sich schon ankündigenden dualistischen, deutsch-madjarischen Lösung des Reichsproblems, widerrief er seine positive Einstellung zum historischen Föderalismus Österreichs und ließ das berühmte, drohende Wort fallen: „Wir“ -er meinte die Tschechen -„waren vor Österreich da, wir werden es auch nach ihm sein.“
Diese Grundhaltung zieht sich über viele Zwischenglieder -zum Beispiel über einen der Begründer der Kommunistischen Partei, Bohumir Smeral, der nach 1918 für den Vielvölkerstaat kämpfte -bis zum heutigen Außenminister der Tschechoslowakei, Jii Dienstbier, der in einem inzwischen berühmt gewordenen Essay von 1984, „Pax Europeana“ zum nicht geringen Erstaunen seiner deutschen Freunde die deutsche Einheit propagierte. Warum? Natürlich weil er die europäische Einheit wollte, genauer gesagt: die Rückkehr seines Landes nach „Europa“. Palackys Eintreten für den österreichischen Vielvölkerstaat war dasselbe wie Dienstbiers Kampf für die europäische Einheit, sprich eine Europäische Gemeinschaft, mit einem Mitglied Tschechoslowakei. Es war sozusagen historischer Föderalismus, der Kampf gegen das Schicksal, ein „Republikchen“ zu werden.
Und doch könnte das das Schicksal der Böhmen sein. Einst waren sie Teil eines großen Vielvölkerstaates, in dem Deutsche, Tschechoslowaken, Ungarn und viele andere Völker zusammenlebten. Nun mißachtete dieser Vielvölkerstaat -nach der deutsch-ungarischen Machtteilung von 1867 -die kleinen slawischen Völker. Sie begannen, den Zusammenhang als Kerker („Völkerkerker“) zu schmähen. Das Ergebnis dieses Kampfes war ein kleinerer Vielvölkerstaat, der Böhmen, Mähren und Oberungarn -die Slowakei -kombinierte und in dem man durch die Zusammenwürfelung von Tschechen und Slowaken ein staatsführendes Volk zu konstruieren versuchte. Dieser „Tschechoslowakismus“ düpierte wiederum die Deutschen; sie vergaßen nicht so schnell, daß am 4. März 1919, dem Tag des Zusammentritts der Nationalversammlung Deutsch-Österreichs in Wien, tschechisches Militär wahllos in die Demonstrationen der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratischen Partei hineingeschossen hatte. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Das von Hitler erpreßte Münchener Abkommen, der von Hitlers Gnaden errichtete klerikal-faschistische Staat in der Slowakei, die Zerschlagung der ersten tschechoslowakischen Republik und die deutschen Morde an Tschechen und Juden, die brutale Vertreibung der deutschen Volksgruppe nach 1945 und die tschechischen Morde an Deutschen.
Sollte es Präsident Väclav Havel, der sich in einer alle nationalistischen Instinkte mißachtenden Botschaft an den deutschen Bundespräsidenten für die Vertreibung der Deutschen entschuldigt hat, gelingen, den Teufelskreis zu durchbrechen? Oder scheitert er einerseits an den slowakischen Nationalisten, die gegen den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag polemisieren, weil er die Kontinui-tat des slowakischen Nationalstaats von 1940 bis 1944 verneint, und andererseits an hardlinern unter den Sudetendeutschen, die aus dem ausgepowerten Land Entschädigungen herausholen möchten? Was werden die neunziger Jahre bringen? Ein slowakisches und ein tschechisches „Republikchen" oder eine europäische Ordnung, in der das tschechische und das slowakische Volk ihre kulturelle Identität erhalten und trotzdem in einem europäischen Zusammenhang stehen?
Die Sieger antworten rhetorisch
Der Osten und die Mitte schrien sozusagen nach einem europäischen Zusammenhang. Aber die Antwort des Westens blieb vieldeutig, rhetorisch zwar glanzvoll und tröstlich, aber konzeptionell dünn, ohne Bestandsaufnahme der Ressourcen und Ambitionen, mit schmaler Substanz.
Man kann sich diese schwächliche Antwort gut erklären. Die Führungsmacht des Westens, die Vereinigten Staaten, waren in dem Moment, als der Eiserne Vorhang rasselnd nach oben rumpelte, in einer ernsten ökonomischen und geistigen Krise. Die stärkste Gläubigemation der Welt war zur größten Schuldnernation geworden; Ende 1989 mit externen Schulden von fast 600 Milliarden Dollar -die Wertsicherheit von Geldforderungen in US-Dollar war fragwürdig geworden. Die Dollar-Abwertung betrug von 1980 bis 1988 real 14 Prozent Während die durchschnittliche Steigerung der Produktivität im verarbeitenden Gewerbe Japans in den siebziger Jahren 7, 4 Prozent betragen hatte, betrug die der USA 3, 5 Prozent. Das Schulwesen der großen Nation war schwer angeschlagen, 30 Millionen Amerikaner waren ohne Gesundheitsvorsorge, zehn Millionen obdachlos -die Bereitschaft, komplizierte europäische Probleme zu lösen, war verständlicherweise gering.
Gleichzeitig war die EG an einem prekären Punkt ihrer Entwicklung angekommen. Sie hatte sich um einige südeuropäische Staaten -Spanien, Portugal, Griechenland -erweitert, was, besonders im griechischen Fall, nicht ohne schwere Belastungen abging. Gleichzeitig mußte man -sollte die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft nicht ernstlich gefährdet werden -die Strukturen verdichten. Man bereitete einen großen Binnenmarkt, eine Wirtschafts-und Währungsunion und die Grundstrukturen einer politischen Union mit der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen vor. Da fühlte man sich durch die vielfältigen Forderungen der plötzlich frei gewordenen „osteuropäischen“ Völker eher überfordert. Es entstand das, was man das „Infinitesimalproblem“ nennen könnte. Kaum hatte man sich einer komplizierten Frage -zum Beispiel der Assoziation mitteleuropäischer Länder wie Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn-zugewandt, rief jemand: Und was ist mit Bulgarien? Was mit Rumänien? Griff man die neuen Stichworte auf, ertönte schrill der Hinweis auf die baltischen Staaten, kurz danach der auf die Ukraine und andere Völker der Sowjetunion. Bald konnte niemand mehr sagen, was eigentlich das Integral der lautstark geforderten gesamteuropäischen Gemeinschaft sein sollte. Man verhedderte sich.
Hinzu kamen politische Probleme: Die europäische Rechte war, nach langer Hegemonie, im Abstieg, die Sozialdemokratie aber immer noch in einer -durch die mitteleuropäische Revolution noch verstärkten -Krise Es ist also problemlos zu erklären, warum „der Westen“ auf die gewaltige Herausforderung des Jahres 1989 schwächlich reagierte. Nur bleibt Bismarcks Bemerkung richtig, daß die Weltgeschichte mit ihren großen Ereignissen nicht dahergefahren kommt „wie ein Eisenbahnzug in gleichmäßiger Geschwindigkeit. Nein, es geht ruckweise vorwärts, aber dann mit unwiderstehlicher Gewalt.“ Entweder man springt zu, oder der Mantel der Geschichte weht vorbei.
Was sind die Fakten? In den Jahren 1948 bis 1951, in einer vergleichbaren Situation, hatten die Vereinigten Staaten jedes Jahr ein Prozent ihres Bruttosozialproduktes für den Marshallplan ausgegeben. Das waren zu jener Zeit 16 Milliarden Dollar jährlich. Nähme man heute das Sozialprodukt der Vereinigten Staaten, der EG und Japans, dann wären ein Prozent des Bruttosozialprodukts rund 160 Milliarden Dollar. Gemessen an dieser Summe sind die tatsächlichen Leistungen höchst begrenzt. Dauderstädt schätzt den Umfang der den sechs kleineren mittel-und osteuropäischen Ländern zugesagten Finanzierungen auf 40 Milliarden Dollar Diese Zahlen umfassen freilich vor allem Kreditzusagen des IWF, der Weltbank, der Euro-päischen Investitionsbank und vergleichbarer Einrichtungen. Viele dieser Kreditzusagen haben noch nicht zu Auszahlungen, ganz zu schweigen von Projekten, geführt. Bezeichnend ist, daß private Banken praktisch keine größeren Kredite mehr an Osteuropa vergeben. Man erinnere sich der Tatsache, daß der Nettotransfer der hochverschuldeten Länder an die Gläubigerländer zwischen 1982 und 1989 124, 976 Milliarden US-Dollar betragen hat. Trotzdem sind die Gesamtschulden dieser Länder von 433, 519 Milliarden auf 624, 984 Milliarden gestiegen Für Länder wie Polen und Ungarn sind das erschreckende Zahlen.
Dies kann nicht bedeuten, daß es nicht konkrete Leistungen des Westens für Ostmitteleuropa gegeben hätte. Dazu zählen eine Umschuldungsaktion des Pariser Clubs vom März 1991 zur Verringerung der Schuldenlast Polens, ein gemeinsames Programm der EG mit dem Namen PHARE (Pologne, Hongrie -Assistance ä la Restructuration Economique, später auf die SFR, Bulgarien und Rumänien ausgedehnt) in der Größenordnung von rund zweieinhalb Milliarden ECU für drei Jahre, Nahrungsmittel-und humanitäre Soforthilfen sowie bilaterale Hilfe, insbesondere Deutschlands. Auch wurden Referenzbehandlungen in Form von Zollsenkungen beschlossen. Die nichttarifären Handelshemmnisse (Textilien, Agrarprodukte, Stahl, Kohle) dagegen wurden nur ganz unzureichend beseitigt. Die Gefahr, daß es zu einer neuen Ost-West-Teilung mit einer Kluft von Armut und Hoffnungslosigkeit kommt, ist erheblich
Der reale Kapitaltransfer ist dabei keineswegs das wichtigste Problem. Die Hauptschwierigkeit liegt im bitteren Mangel einer Konzeption für ein geeintes Europa. Denn die Vorstellung, daß man in die Struktur eines europäischen Bundesstaates -wie sie bisher für den Bereich der Europäischen Gemeinschaft geplant war -osteuropäische Völker gießen könne wie Wasser in ein Glas, ist ja nicht realistisch. Je mehr Staaten, Sprachen und Ökonomien in einer integrierten Struktur verbunden werden sollen, desto strikter müßten Vergemeinschaftungen ausfallen. Wer würde solch tiefgehenden Abtretungen von Souveränität zustimmen?
Papierene Träume
Bedauerlicherweise hat es eine europäische „Verfassungsdebatte“ nicht gegeben. Der Streit um eine „Erweiterung oder Vertiefung“ der Europäischen Gemeinschaft wurde -ganz vordergründig -erst einmal in der Zeitachse behandelt. Man stellte nur noch die Frage: Wann nimmt die EG Österreich, Schweden, wann die ÖSFR auf? Ob -von der Konstruktion her -überhaupt ein europäischer Bundesstaat denkbar ist, in dem ein Parlament mit echten Zuständigkeiten 400 Millionen Menschen und 40 oder 50 Sprachen repräsentiert, wurde nicht erörtert. Aufkommende Probleme löste man dadurch, daß man -zum Beispiel in den Regierungskonferenzen von Maastricht -zentrale Begriffe schlicht aus den Dokumenten herausnahm. So erreichte man die Zustimmung Großbritanniens zu einem derartigen Dokument durch die Tilgung des Begriffes Föderalismus. Auf diese Weise wurde ein „Kompromiß“ erreicht; aber keine Konzeption, die den mittel-und osteuropäischen Ländern einen begehbaren Weg nach „Europa“ gezeigt hätte. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und der verschiedenen Verdichtungen wäre ein realistisches Angebot für die Mitteleuropäer Ein derartiges Angebot existiert heutzutage nicht.
Dabei hätte es politische wie ökonomische Gründe gegeben, Europa zu strukturieren. Von Constantin Frantz über Friedrich Naumann, Lajos Kossuth, Oscar Jaszi bis hin zu György Konrad gab es ausgearbeitete Vorschläge für eine mitteleuropäische oder zwischeneuropäische Föderation. Was demokratietheoretisch und historisch Sinn gemacht hätte, hätte auch viele ökonomische Argumente für sich. Es ist ja mehr als zweifelhaft, ob es erfolgversprechend sein kann, Osteuropa durch Verschuldung auf den schmalen Weg der Billigimporte nach Westen zu drängen. Schon jetzt fordern Krisenbereiche Westeuropas, wie zum Beispiel die portugiesische Textilindustrie, nachdrücklich Sonderprogramme gegen die verstärkte Konkurrenz aus dem Osten. Die Idee, innerosteuropäische Wirtschaftskreisläufe (osteuropäische Binnenmärkte, osteuropäische Zahlungsunion, osteuro-päische Freihandelszone) zu stützen und zu erweitern, lag deshalb nahe
Bis heute sind solche Denkansätze immer vom Tisch gewischt worden. Demokratietheoretische Aspekte, wie Jean Monet sie noch erörtert hat, spielen in der derzeitigen Europa-Debatte keine Rolle; ökonomisch dominiert der Marktradikalismus eines Jeffrey Sachs, für den ein gemeinsamer osteuropäischer Markt nichts anderes als ein „Club der Armen“ wäre Im Ergebnis bedeutet das, daß man alle mitteleuropäischen Denkansätze -bis hin zu der vom italienischen Außenminister Gianni de Michelis geforderten „Pentagonale“ beziehungsweise Hexagonale -als „papierene Träume“ abschreiben muß. So nannte Golo Mann die Idee von Constantin Frantz, einen mitteleuropäischen Staatenbund als Alternative zur Welt der Nationalstaaten zu entwickeln. Und er fügte -Ende der fünfziger Jahre -die Bemerkung hinzu, man lese dergleichen heute mit gerührter Zustimmung, denn wünschbar sei es gewesen Vermutlich werden künftige Historiker ähnlich elegische Bemerkungen machen. Das Unglück, das durch eine Fortdauer der europäischen Teilung entsteht, wird durch solche Aperus allerdings nicht aus der Welt geschafft werden.
Zwei europäische Hälften
Wer sich heute fragt, wie Europa am Ende des 20. Jahrhunderts aussehen wird, muß -wenn er realistisch analysiert -von folgenden Entwicklungen ausgehen: -Das riesige Gebiet, das wir bisher Sowjetunion genannt haben, wird in eine Vielfalt konkurrierender und instabiler Nationalstaaten zerfallen. Bürgerkrieg, gewaltsame Erhebungen, nationalistische Exzesse, Hungersnot und Massenflucht sind wahrscheinlich Was diese Entwicklung betrifft, hat sich die EG lediglich vorzuwerfen, daß sie die Wirklichkeit durch illusionäres Reden verdeckt. Die Probleme dieser zusammengebrochenen Supermacht sind von außen auch durch Anstrengungen nach dem Muster von „Marshallplänen“ nicht zu regulieren. -Der eine oder andere mitteleuropäische Staat (vorzugsweise Ungarn, Polen und -falls sie als einheitlicher Staat erhalten bleiben sollte -die Tschechoslowakei) könnte schrittweise in eine Europäische Freihandelszone einbezogen werden. Die Versprechung an mittelosteuropäische Staaten, Vollmitglied einer Europäischen Gemeinschaft zu werden, die sich zur Politischen Union entwickelt, wird sich als leer erweisen. Man muß sich klarmachen: Selbst die westeuropäischen Staaten benötigten Jahrzehnte, um ihre Geld-und Währungspolitik an die zunehmende Flexibilität des Kapitalmarkts und die Erfordernisse der internationalen Wirtschaftsverflechtungen anzupassen. Die Türkei, ein Land mit marktwirtschaftlicher Erfahrung, benötigte sieben Jahre, um die Konvertierbarkeit ihrer Währung zu verwirklichen. Es ist ganz und gar nicht zu erwarten, daß die osteuropäischen Wirtschaften diesen Anpassungsprozeß in gleicher oder gar kürzerer Zeit vollziehen könnten Eine Politik, die den ostmitteleuropäischen Staaten Fleisch-und Textilexporte in den Westen nahezu unmöglich macht, ihnen aber -langfristig natürlich -die volle Integration verspricht, muß scheitern. -Verschärft wird die Problematik dadurch, daß Westeuropa durch die mitteleuropäische Revolution von 1989 auch selbst außer Tritt gebracht wird. Schon die Süd-Erweiterung der EG war ein risikoreicher Schritt, der die weitere Entwicklung zu engerer Vergemeinschaftung einerseits erzwang (weil Entscheidungen im großen Kreis immer komplizierter wurden), andererseits aber (wegen der extremen Unterschiede zwischen Ländern wie Deutschland und Griechenland) erschwerte. Inzwischen zeigt sich, daß der von Jacques Delors versuchte Dreisprung -Binnenmarkt, Währungsunion, Politische Union -scheitert. Der Binnenmarkt wird Zustandekommen, die Wirtschafts-und Währungsunion hat eine Chance (obwohl es auf die Dauer für die Einhaltung von Währungsdisziplin keine Sanktionen gibt), der Versuch, zu einer Politischen Union zu kommen, ist in Maastricht gescheitert. Das Europäische Parlament bleibt ein Ornament, die EG ein Verbund kooperierender Nationalstaaten; von Supranationalität keine Rede. Hätte es die mitteleuropäische Revolution von 1989 nicht gegeben, wäre das eine bedauerliche Verzögerung der europäischen Integration, die man in einem halben oder ganzen Jahrzehnt korrigieren könnte. So aber ist die Gefahr groß, daß der alt-neue Nationalismus des europäischen Ostens im Westen eine Renaissance des demokratischen, aber egoistischen Nationalstaats herbeiführt. -Dieses prinzipielle Dilemma wird durch die deutsche Frage erheblich verschärft. Die Etikette der Eurokratie verbietet es, offen darüber zu sprechen -aber jeder Kundige weiß es natürlich: Das vereinigte Deutschland dürfte nach einem Jahrzehnt ernster Beanspruchung durch die Integration seiner östlichen Länder als stärkste ökonomische Macht Europas wieder handlungsfähig sein. Entweder ist es dann als separierbare historische Gestaltung, sozusagen als „Staatskerl“, der sich mit anderen „Staatskerlen“ mißt, verschwunden, weil integriert. Oder es wird zur regionalen Vormacht Europas, was auf dem Hintergrund deutscher Schuld selbst beim besten Willen aller Beteiligten -der kaum vorauszusetzen ist -zu endlosen und altvertrauten Entwicklungen (wenn auch in neuen Verkleidungen) führen dürfte.
Selbstverständlich hat die Wiedervereinigung die psychische Disposition der Deutschen zu Europa verändert. Inzwischen bilden sich die ersten nationalen Zirkel in der Intelligenzija; ein aggressiv esoterischer Feuilleton-Nationalismus (um das Feuilleton der FAZ, die Zeitschrift Merkur und versprengte Renegaten der 68er Bewegung) und eine sehr pragmatisch-englisch ausgerichtete national-staatliche Schule, für die der renommierte Historiker Christian Meier („weitreichende Unionspläne verdienen große Skepsis; zuweilen kommt man langsamer schneller voran“) stehen mag. Die (insbesondere innenpolitisch motivierte) Sonderrolle, die sich Deutschland im serbisch-kroatischen Konflikt zugemutet hat, deutet zwar keineswegs (wie die serbische Propaganda insinuiert) auf eine Entwicklung zu einem „Vierten Reich“ hin; wohl aber zeigt sich ein wachsender, trotzig nationalliberaler Pragmatismus. Die Kriegserfahrung vom blutigen Scheitern der nationalstaatlichen Idee wird immer stärker verdrängt; viele Wortführer der politischen Klasse sehnen sich nach „Normalität“ und beginnen, die „Machtvergessenheit“ der Bonner Vergangenheit zu bekritteln. Es wäre ein Wunder, wenn diese Haltung nicht über kurz oder lang zu allen möglichen Querelles Allemandes führen würde -Gleichzeitig deutet sich ein Zurückfallen Westeuropas bei fast allen strategischen Hochtechnologiemärkten gegenüber den Vereinigten Staaten, vor allem aber Japan an. Defizite in der Querschnittstechnologie und Mikroelektronik gefährden den Maschinenbau, den Automobilbau, die Elektrotechnik und sogar die traditionelle Chemie Diese objektive Schwierigkeit wird die Bereitschaft Westeuropas, sich in Ost-und Mitteleuropa zu engagieren, weiter vermindern.
Das wahrscheinlichste Szenario für die Zukunft Europas am Ende des 20. Jahrhunderts ist deshalb die Aufteilung in eine Zone relativen, aber sinkenden Wohlstands im Westen, eine Zone prekärer, da und dort autoritär geführter Entwicklungsgesellschaften in der Mitte und einer Zone von Armut, Unterentwicklung und nationalistischen Konflikten im Osten. Die politische Grundfigur der europäischen Welt wäre nach wie vor der Nationalstaat. Die Europäische Gemeinschaft wäre eine Freihandelszone mit ökonomisch engen, politisch eher losen, immer aber intergouvernementalen Verbindungen, die KSZE eine nützliche Gesprächsplattform ohne operative Bedeutung, die UNO ein zu durchgreifender Reform unfähiger Völkerbund. Ein militanter Regionalismus würde größere Bedeutung bekommen, hin und wieder würde ein nach einiger Zeit mühsam erstickter „kleiner Krieg“ dieses Europa beunruhigen, aber nicht erschüttern. Die Hoffnungen der späten achtziger Jahre wären dann eine glückliche, aber ein wenig bittere Erinnerung -im Sinne Timothy Garton Ashs: „Das Jahr 1989 könnte den Augenzeugen und Historikern dann wie ein Augenblick des kurzen Aufleuchtens zwischen den Leiden von gestern und den Leiden von morgen erscheinen“
Die Aufgabe der doppelten Modernisierung
Natürlich muß das alles nicht so kommen. Das düstere Szenario ist nur wahrscheinlicher als das idyllische, das die politische Klasse Deutschlands in ihrer „perspektivischen“ Sprache bevorzugt. Noch könnte man so manche Weiche umstellen. Aber wer wird das tun? Der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, scheint einen ziemlich einsamen Kampf zu kämpfen. Die große Anstrengung des Westens, die Marshallplan-Anstrengung, wird nicht mehr unternommen werden. Die Vereinigten Staaten sind dazu schon zu schwach, Japan wittert seinen Erfolg auch ohne Aufpäppelung osteuropäischer Märkte, und die Europäische Gemeinschaft ist zu uneinig. Also muß man überlegen, was unterhalb eines grand design möglich wäre. Zum Beispiel folgende miteinander verzahnte Maßnahmen: -Die Europäische Gemeinschaft ist völlig außerstande, die Patronage über den in Osteuropa entstehenden archaischen Klein-Nationalismus -von Slowenien über Kroatien bis zur Slowakei und das Baltikum -zu übernehmen. Es ist auch mehr als fraglich, ob sie einen „Floß-Kannibalismus“ betreiben sollte; einige werden auf die Planken gezogen, die anderen ins Meer zurückgestoßen. Deswegen wäre zu prüfen, ob man einen gemeinsamen osteuropäischen Markt mit bestimmten Zwischenschritten -osteuropäische Zollunion, Zahlungsunion, Freihandelszone -zustandebringen kann. Erste Kristallisationskerne könnten die Hexagonale und die dreiseitige Zusammenarbeit Polen-Tschechoslowakei-Ungarn sein. -Die legitimen Sicherheitsinteressen Ostmitteleuropas müssen befriedigt werden. Die NATO hat durch ihr Liaison-Konzept einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Jetzt ist es dringend, die Europäische Gemeinschaft zur „Single Community“ auszubauen, auf dem Weg dorthin aber die NATO nicht zu beschädigen, solange man sie braucht. -Wer Ostmitteleuropa helfen will, sollte sich mit fantastischen Zukunftsversprechungen (zum Beispiel Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft) zurückhalten und für konkrete Maßnahmen kämpfen. Die Schuldenlast Polens beträgt zum Beispiel auch nach der Umschuldung noch Milliarden US-Dollar. Bei Ungarn sind es 20 Milliarden Dollar; das Handelsbilanzdefizit bietet keinerlei Möglichkeit für Schuldendienstzahlungen. Bulgarien ist in einer katastrophalen Situation; seine Auslandsverschuldung (10, 8 Milliarden Dollar) ist neunmal so hoch wie seine Exporteinnahmen 1989. Nach dem selbstzerstörerischen Krieg in Jugoslawien ist auch die dortige Verschuldung (17, 4 Milliarden Dollar) kaum zu bewältigen 30. Falls der Westen nicht beabsichtigen sollte, die ost-mitteleuropäischen Staaten zu Dritte-Welt-Ländem mit hoher Verschuldung zu machen, wäre die dringendste Maßnahme eine großzügige Umschuldungsaktion -und zwar eine, die nicht allein oder vor allem von den Deutschen zu tragen wäre. -Das bei weitem Wichtigste wäre die Öffnung des Marktes der Europäischen Gemeinschaft in den empfindlichen Sektoren Textil und Landwirtschaft. Auch Eisen und Stahl, Brennstoffe, Holz-produkte oder Erzeugnisse der organischen Chemie spielen eine erhebliche Rolle. Wer für das Jahr 2000 das Paradies verspricht, im Jahr 1992 aber vor allem an die eigenen Bauern denkt, darf sich nicht wundern, wenn 1995 in einer Reihe von osteuropäischen Gesellschaften Caudillos regieren. -Die Politik der Europäischen Gemeinschaft mit den Europa-Verträgen -also der schrittweisen Assoziation einzelner osteuropäischer Gesellschaften -sollte fortgesetzt werden. Sie darf allerdings nicht fantasielos dem „Infinitesimal-Problem“ ausgeliefert werden. Der Fürst Potemkin scheint in Westeuropa über eine ganze Reihe von illegitimen Nachkommen zu verfügen. -Westeuropa muß Osteuropa helfen -aus höchst-eigenem Interesse. Aber es wäre ganz falsch, wenn die EG sich durch den Blick nach Osten davon ablenken ließe, alle Kraft darauf zu wenden, eine global wettbewerbsfähige Hochtechnologie-Wirtschaft zu schaffen oder zu erhalten. „Unsere wirtschaftliche Zukunft liegt nicht im Osten, sie muß im erfolgreichen Wettbewerb mit den höchst-entwickelten Nationen der Welt, somit Japan und Amerika, erkämpft und gesichert werden.“ -Es kann nicht nur darum gehen, im Osten Europas eine nachholende Modernisierung zu unterstützen. Wenn wir die ostmitteleuropäischen Gesellschaften heute dazu überreden, die gleichen Entwicklungsschritte zu machen, die die westeuropäischen Gesellschaften in den fünfziger und sechziger Jahren gemacht haben, werden wir die natürlichen Ressourcen des kleinen Kontinents Europa endgültig ruinieren. Es geht darum, die nachholende Modernisierung des Ostens und die inzwischen reflexiv gewordene Modernisierung des Westens miteinander zu koppeln Die Möglichkeit zu einer derartigen Einflußnahme besteht nur, wenn zwischen West-, Mittel-und Osteuropa ein permanenter Diskurs organisiert wird. In jedem anderen Fall wird die industriepolitische Modernisierung Osteuropas die ökologische Modernisierung Westeuropas erschlagen. -Eine demokratische Entwicklung der ostmitteleuropäischen Gesellschaften ist nur sicherzustellen, wenn neben den marktradikalen Führungseli-ten dieser Gesellschaften handlungsfähige Gegen-eliten zur Verfügung stehen. Der politische Kurs eines Leszek Balzarowicz oder Vaclav Klaus muß nach einigen Jahren zwangsläufig auf die scharfe Opposition eines großen Teils der betroffenen Gesellschaften treffen. Wenn dann nur diskreditierte postkommunistische Parteien und rechtspopulistische, rechtsradikale und nationalistische Gruppen zur Ablösung zur Verfügung stehen, muß man mit vielen Pilsudski-Regimen in Osteuropa rechnen. Hier liegt eine gewaltige Verantwortung der westeuropäischen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale. Die schwierige Aufgabe liegt darin, das postkommunistische Wählerpotential zu absorbieren und linksliberale und sozialdemokratische Gruppen schrittweise zu verschmelzen. Am Beispiel Böhmens und Mährens dargestellt: Es muß gelingen, die Bürgerbewegung (OH) um Rychetsky, Pithart und Dienstbier mit den verschiedenen sozialdemokratischen Gruppen um Horak, Komarek und Battek zu einer handlungsfähigen, politischen Kraft zu verschmelzen. Ein schwerer Weg. -Eine derartige Politik kann nur Erfolg haben, wenn sie in der Europäischen Gemeinschaft von einer nicht aufbrechbaren Allianz betrieben wird. Kern dieser Allianz müssen Deutschland und Frankreich sein. Wenn sie sich -wie jetzt in der jugoslawischen Frage -mehr oder weniger auseinanderdividieren lassen, ist alles verloren. In dem Moment, in dem in Westeuropa die Querelles Allemandes erneut begännen, müßte man die Hoffnung auf eine konstruktive gesamteuropäische Entwicklung endgültig begraben.
Ferenc Miszlivetz hat das Jahr 1990 als Jahr der „Halbwahrheit“ bezeichnet; dieses Jahr sei ein Beispiel dafür, „wie die wunderbarsten Hoffnungen in kurzer Zeit in tragische Hoffnungslosigkeit umschlagen können“. Und er fügte hinzu: „Wer die Videoaufnahmen der Pogrome von Bukarest und Tirgu Mures gesehen hat, wer gesehen hat, wie kroatische Polizisten mit aus Ungarn geschmuggelten Kalaschnikows auf Serben und serbische Soldaten geschossen haben, diese wiederum kroatische Zivilisten töteten, wer die Toten unter den sowjetischen Panzern in Wilna gesehen hat und den slowakischen Mob in Bratislawa, der, mit Parolen des früheren faschistischen Kollaborateurs Tiso auf den Lippen, Präsident Havel angriff, wird verstehen, was ich meine.“ Die offene Frage ist nur, ob die westeuropäischen Regierungen und Parlamente verstehen, was Miszlivetz meint. Man kann da nicht sicher sein.