Das Publikum rieb sich verwundert die Augen, als der neue Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Ulrich Klose, Ende vergangenen Jahres in einem Interview bekannte, er verspüre durchaus Lust, gegen den Bundeskanzler anzutreten. Man hatte sich schon daran gewöhnt, daß es führende Sozialdemokraten offenbar für unschicklich hielten, Machtwillen zu bekunden oder es mindestens unbequem und belastend fanden, nach dem Maßstab eines möglichen künftigen Regierungschefs beurteilt zu werden. In frischer Erinnerung war noch das „Kandidatentheater“, das Oskar Lafontaine aufführte, dem die Parteiführung in Bittprozessionen die Kanzlerkandidatur antragen mußte. Und auch der Parteivorsitzende Engholm läßt überdeutlich erkennen, welches Opfer es für ihn bedeutete, seine Rolle als kunstsinniger Landesfürst Schleswig-Holsteins gegen die des (potentiellen) Regierungschefs im vereinigten Deutschland einzutauschen.
Klose war in der Konkurrenz um den Fraktionsvorsitz als Außenseiter angetreten. Im fernen Mexiko hatte er die Kunde von Hans-Joachim Vogels überraschendem Verzicht auf eine Wiederwahl vernommen. Nach Vogels Willen sollte der Generationswechsel, der Ende Mai mit der Wahl Eng-holms zum Vorsitzenden in der Parteiführung schon stattgefunden hatte, jetzt auch unverzüglich in der Fraktion vollzogen werden. Zunächst hatten sich nur Hertha Däubler-Gmelin und Rudolf Dreßler als Kandidaten gemeldet. Weder die eine noch der andere konnte auf eine „natürliche“ Mehrheit rechnen, auch wenn Vogel die Kandidatin mehr oder weniger offen favorisierte. Die Situation war also offen und bot Klose die Chance eines Ausweges aus einer politischen Lebenslage, die für ihn Gefahr barg, als Bundesschatzmeister der SPD zu versauern. Er ergriff die Chance, gewann und erlebte eine Art politischer Wiedergeburt. Er hat nichts zu verlieren und kann deshalb unbefangen sein. Ein ausgekochter politischer Profi ist er außerdem.
Wer Politik als Theater goutiert und an ihrem Unterhaltungswert mißt, den hat die SPD in letzter Zeit gut bedient. Weniger gut sind jene schwerblütigen Naturen dran, denen es auf Inhalte ankommt, die wissen wollen, wofür die Partei politisch steht. Klose läßt sich als Typus nicht einer bestimmten Parteiströmung zuordnen. Er verkörpert weder wie Lafontaine die „neue“ SPD, noch ist er ein Traditionalist. Eher kultiviert er eine gewisse dickköpfige Eigenständigkeit und einen politischen Realismus, der auf Bedürfnisse des sozialdemokratischen Gemüts wenig Rücksicht nimmt. Deutlich zeigte sich das in der Position, die er zum Golfkrieg einnahm, den er, gegen den sozialdemokratischen Mainstream eines weltfremden Pazifismus, als notwendig bezeichnete. Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was in diesen Wochen des vergangenen Jahres für einen Sozialdemokraten das Bekenntnis bedeutete, den militärischen Sieg der westlichen Allianz über Saddam Hussein zu wünschen. Daß die Fraktion Klose zu ihrem Vorsitzenden wählte, ist vielleicht ein Zeichen dafür, daß man dort gewisse Borniertheiten der sozialdemokratischen Basis inzwischen schmerzhaft empfindet; zu glauben, das zeige schon einen Wandel in der Sozialdemokratie insgesamt an, wäre verwegen. Klose ist ein eigenständiger Kopf. Das ist ein Vorteil vor allem aus der Sicht von Nicht-Sozialdemokraten.
Und Engholm, der Parteivorsitzende? Er bemüht sich redlich um das, was des Parteivorsitzenden zunächst einmal ist: den Laden Zusammenhalten, wie Willy Brandt das nannte. Er tut das mit großer politischer Professionalität. Den Delegierten des Bremer Parteitages, die ihn zum neuen Vorsitzenden wählten, vermittelte er geradezu das Gefühl eines neuen Aufbruchs, obwohl er Visionen nicht zu bieten hatte. Was er bot, war die Revision erstarrter und obsolet gewordener sozialdemokratischer Positionen vor allem in der Deutschland-und Außenpolitik. Engholm löste den Starrkrampf, der die Partei befallen hatte, nachdem Lafontaine sie mit seinem trotzigen Anrennen gegen den Lauf der Geschichte und seinen gar nicht erhebenden Unzeitgemäßheiten in den Dreißig-Prozent-Turm der fünfziger Jahre zurückgeführt hatte. Engholm bot nicht Visionen, sondern einen Rückblick auf die gerade erst erlebte Geschichte, mit dem er die Kluft zwischen den Empfindungen der Mehrheit der Deutschen und dem Weltbild des Kanzlerkandidaten zu überbrücken suchte: „Nach so langen Jahren der Teilung und nach fast sechs Jahrzehnten der Unfreiheit im Osten Deutschlands die Einheit in Frieden und Freiheit zu erleben ist ein großes Glück, ein geschichtliches Glück, wie es Völkern nur selten zuteil wird. Wir sind jetzt ein Staat geworden. Jetzt müssen und wollen wir auch ein Volk, eine Gesellschaft werden. ... Wir im Westen waren nicht die besseren Deutschen, wir hatten mehr Glück und bessere Chancen und sind verpflichtet, dieses Glück nun zu teilen.“ Viele haben in Bremen gespürt, daß den Sozialdemokrateneine Katastrophe vom Ausmaß des 2. Dezember 1990 erspart geblieben wäre, wenn dem Kanzler-kandidaten Lafontaine im Wahlkampf solche Sätze über die Lippen gekommen wären. Mit wieviel größerer Glaubwürdigkeit hätte er als Anwalt der sozialen Interessen der Ostdeutschen auftreten können, wenn er nicht unfähig gewesen wäre, dieses Glück als Ausgangspunkt aller sozialpolitischen Herausforderungen zu artikulieren, die er zum Thema seines Wahlkampfes machte. Engholms Sprache eines sozialdemokratischen Patriotismus ist ein deutlicher neuer Akzent im Erscheinungsbild der SPD, ebenso wie seine Abkehr vom alten Status quo-und Gleichgewichtsdenken. Deutlich wurde diese Revision sozialdemokratischer Politik in seiner Erwiderung auf die Regierungserklärung des Kanzlers zu den Umwälzungen in Osteuropa und der Sowjetunion kurz nach dem gescheiterten Putsch in Moskau. In gewisser Weise hielt Kohl damals die „sozialdemokratischere“ Rede. Der Kanzler betonte Stabilität und Kontinuität und plädierte für ein möglichst enges Bündnis der Republiken der zerfallenden Sowjetunion. Engholm dagegen stellte den Epochenwechsel in den Vordergrund: Das Zeitalter der „Politik der kleinen Schritte“ -eine alte sozialdemokratische Formel der Ostpolitik -sei zu Ende. Engholm drängte die Regierung, staatliche Selbständigkeit, die aus dem Selbstbestimmungsrecht hervorgehe, schneller anzuerkennen. Und wenn er kritisch von der „heimlichen Sehnsucht nach der guten alten bipolaren Welt“ sprach, dann dachte er sicher auch an manchen aus seiner Partei, an Egon Bahr etwa, der am Tage des Moskauer Putsches reflexhaft seine alte Sprache wiedergefunden hatte. Engholm erinnerte geradezu höhnisch an jene, die früher für das Selbstbestimmungsrecht des nicaraguanischen Volkes auf die Straße gegangen seien und jetzt zum Unabhängigkeitskampf der Kroaten und Slowenen schwiegen. Es ist offenkundig, daß auch diese Kritik vor allem an die Adresse der eigenen Partei gerichtet war. Engholm und Klose stimmen in diesem außenpolitischen Revisionismus überein. Doch so entschieden sie auf diesem Feld ein neues Profil der Sozialdemokratie prägen sollen, so unbestimmt bleiben sie in der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Parteivorsitzende gibt sich einmal als wirtschaftlicher Modernisierer, dem die Behauptung der deutschen Wirtschaft gegen die ostasiatische Konkurrenz so wichtig ist, daß er um dieses Zieles willen gar auf einen weiteren Ausbau des Sozialstaates verzichten will. Der Sozialstaat sei „fertig“, hat Engholm immer wieder gesagt und deutlich gemacht, daß er die Sozialdemokratie nicht als Betriebsrat der Gesellschaft verstehe. Das hindert ihn nicht daran, bei Bedarf als Anwalt der Schwachen aufzutreten. Es habe ihn, sagte er einmal, seit er Politik betreibe, der „Begriff der kleinen Leute“ beschäftigt, der „unausrottbar in unserem Bewußtsein und Sprachgebrauch vorhanden ist“. Die wirtschaftliche Modernisierung kenne viele Gewinner, doch eben auch Verlierer, die dem Tempo des Fortschritts nicht gewachsen seien. Die SPD sei die einzige Partei, die nie vergessen werde, daß die „kleinen Leute“ es gewesen seien, „die nicht nur die Sozialdemokratie, sondern die diesen Staat groß gemacht haben“. So gibt Engholm jedem das Seine, und die verschiedenen Strömungen und Milieus der Sozialdemokratie können ihn als einen der Ihren akzeptieren. Er ist nicht rechts, er ist nicht links, er steht für Modernisierung, aber mit „Bodenhaftung“, er ist Schriftsetzerlehrling, technokratischer Manager, Bildungsbürger. Nimmt man das Norddeutsche noch hinzu, verschwimmen die politischen Physiognomien des Parteivorsitzenden und des Fraktionsvorsitzenden ineinander.
Es fehlt in dieser Physiognomie eines auf überdeutliche Weise: jenes grünlich-alternative Lebens-reform-Pathos, das aus jedem Satz des Ende 1989 verabschiedeten Grundsatzprogramms trieft und das großen Teilen der Parteibasis schon zur zweiten Natur geworden ist. Oskar Lafontaine verkörpert die „neue SPD“ geradezu idealtypisch. Engholm und Klose halten zu ihr Distanz. Die Führer von Partei und Fraktion pflegen eine neue Bescheidenheit was den Anspruch angeht, die Welt zu verändern und Menschheitsprobleme zu lösen.
Willy Brandt hatte seiner Partei nach dem Macht-verlust von 1982 die Aufgabe der programmatischen Erneuerung gestellt. Die Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm, das nach dreißig Jahren das Godesberger Programm ersetzen sollte, war als eine Therapie der Selbstbesinnung gedacht, hatte aber auch schon die strategische Perspektive, Mehrheiten „links von der Mitte“ zu suchen. Die Partei sollte sich den „neuen sozialen Bewegungen“ öffnen. Die aus ihnen hervorgegangene Partei der Grünen begann, die parteipolitische Landschaft der Bundesrepublik zu verändern. Es gibt einige deutliche Zäsuren, die die Schritte des Wandels der SPD in den achtziger Jahren markieren. Zunächst stand der Streit um die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen, um den soge-nannten NATO-Doppelbeschluß, im Vordergrund. Auf einem Sonderparteitag im November 1983 beschloß die SPD bei nur 14 Gegenstimmen, die Nachrüstung abzulehnen. Die Positionen der Friedensbewegung hatten sich in der SPD auf breiter Front durchgesetzt. Helmut Schmidt, der letzte sozialdemokratische Kanzler, blieb mit einigen wenigen Getreuen isoliert. Er wurde von seiner Partei geradezu verstoßen.
Der Parteitag im August 1986 in Nürnberg stand im Zeichen des Themas Ökologie. Die Sozialdemokraten beschlossen dort den „Ausstieg“ aus der Kernenergie. Es war der Abschied vom alten, technikgläubigen Fortschrittsbegriff. Die SPD wurde grünlich. Die alte Formel, daß sozialdemokratische Politik vor allem für eine gerechte Verteilung der Früchte eines grenzenlos gedachten ökonomischen Wachstums zu sorgen habe, war hinfällig geworden. Nach grün kam lila: 1988 in Münster erlegten sich die Sozialdemokraten eine Frauenquote für alle Parteiämter und Mandate auf.
Frucht dieser Jahre des Wandels ist das „Berliner Programm“, das Erhard Eppler, einer seiner Hauptautoren, eine „Plattform für eine neue Mehrheit“ nannte. Es wurde am 20. Dezember 1989 in Berlin verabschiedet. Der Parteitag sollte ursprünglich in Bremen stattfinden. Doch dann kam Weltgeschichte dazwischen. Die Mauer fiel, der Status quo in Europa stürzte ein. Angesichts dieser Ereignisse in Bremen über ein Grundsatzprogramm zu beraten, in dem von den gerade stattfindenden dramatischen Umwälzungen noch nicht einmal eine Ahnung zu spüren war, das wäre zurecht als Flucht der SPD aus der Politik in die sozialdemokratische Provinz verstanden worden. So fanden sich die Delegierten also im Berliner Kongreßzentrum zusammen, das einer Raumstation fernab der Welt ähnelt. Von den Erschütterungen, die dort der Zusammenprall des Weltbildes der „neuen SPD“ mit der Wirklichkeit der mitteleuropäischen Revolution verursachte, hat sich die Partei bis heute nicht erholt.
Ein merkwürdiger Rollenwechsel fand statt. Willy Brandt, der Ehrenvorsitzende und Parteipatriarch, der in den Jahren zuvor das unruhige Suchen der SPD nach neuen Ufern immer wieder angestoßen hatte, zeigte jetzt einen zuweilen pathetischen Patriotismus, als seien seit den Zeiten Kurt Schumachers nicht vier Jahrzehnte vergangen. Vielen in der Partei gefiel das nicht, sie sprachen vom „nationalen Taumel“, dem auch ihr früheres Idol Brandt verfallen sei. Es gab in Brandts Reden dieser Zeit Aussagen, die in der Tat gegen Grundmuster sozialdemokratischer Weitsicht am Ende der achtziger Jahre gerichtet waren. Was sollten seine „Enkel“, die sich mit der deutschen Zweistaatlichkeit nicht nur abgefunden hatten, sondern sie auch als „gerechte Strafe“ für Auschwitz begrüßten, mit Sätzen wie dem folgenden aus seiner Parteitags-rede anfangen: „Noch so große Schuld einer Nation kann nicht durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden.“ Und wem in der Außenpolitik die „Rücksicht auf die Nachbarn“ oberste Richtschnur ist, den mußte es verstören, daß Brandt in Berlin kühl feststellte: „Wie wir Deutschen unsere inneren Probleme lösen, dazu brauchen wir -bald ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg -kaum noch auswärtigen Rat.“
Nachdem Brandt versucht hatte, die Delegierten auf „verbotene Gedanken“ zu bringen, trat am darauffolgenden Tag der „Enkel“ Lafontaine als mahnender und strafender Vater vor den Parteitag. Die Bekämpfung des Hungertodes in der Dritten Welt sei wichtiger als „manches, was hier und da die Gemüter beschäftigt“, womit er die plötzlich praktisch gewordene Frage der staatlichen Einheit Deutschlands meinte. Rhetorisch brillant suchte er den Blick der Sozialdemokraten wegzulenken von der Nation und dem Nationalstaat, die er als das schlechthin Böse darstellte. Seine Beschwörungsformel hieß „Region und Europa“. Lafontaine machte sich zum Sprecher einer Generation, der der Nationalstaat nichts mehr bedeutet, die aber auch nicht zur Kenntnis nehmen will, daß die postnationale Attitüde und der Euroregionalismus nur auf dem spezifischen Boden der westdeutschen Mittelschicht gedeihen. Die eingebildete Fortschrittlichkeit wird zur Boniertheit, wenn sie das Wirken älterer und elementarer politisch-historischer Kräfte nicht mehr wahrhaben will. Es wirkte zuweilen rüde und hartherzig, wie Lafontaine die Einheitssehnsucht der Deutschen in der damaligen DDR ignorierte und dabei auch nicht davor zurückscheute, westdeutsche Sozialängste zu schüren.
Wie gereizt die Atmosphäre auf dem Berliner Parteitag war, zeigt eine kleine Episode, die Anke Fuchs, damals Bundesgeschäftsführerin der SPD, in ihrem Buch „Mut zur Macht. Selbsterfahrung in der Politik“, berichtet. Sie wollte mittels Video den Delegierten eine Rede Erich Ollenhauers Vorspielen, die der auf dem Godesberger Programm-parteitag von 1959 gehalten hatte. Die Passage, um die es ging lautete: „Genossinen und Genossen, ich möchte, ehe ich zum Programm selbst komme, noch eine weitere wesentliche Feststellung treffen. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Bundesrepublik. Wir sind uns dieser tragischen Unzulänglichkeit bewußt, und wir möchten unseren Genossen und Freunden in der Zone die selbstverständliche und undiskutierbare Gewißheit geben, daß wir mit ihnen gemeinsam die programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie neu diskutieren werden, wenn die Stunde gekommen ist, in der wir alle als freie Menschen in einem freien und wiedervereinigten Deutschland die Positionen und die Aufgaben des demokratischen Sozialismus neu bestimmen können.“ Daß diese Stunde bevorstehen könnte, war im Dezember 1989 nicht nur ein Traum. Vertreter der in der DDR gegründeten sozialdemokratischen Partei waren im Kongreßzentrum anwesend. Doch das Einspielen der Ollenhauer-Rede, so berichtet Anke Fuchs, wurde von Heidemarie Wieczorek - Zeul als Tagungspräsidentin wegen des Bekenntnisses zur Wiedervereinigung verhindert. Den Preis für solche politische Begriffsstutzigkeit bezahlte die SPD schließlich mit ihrer demütigenden Niederlage bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Anfang Dezember 1990. Schon im Frühjahr dieses Jahres waren alle Hoffnungen zerstoben, die alten sozialdemokratischen Hochburgen in Thüringen und Sachsen könnten Wiedererstehen und der Sozialdemokratie auf lange Zeit die politische Vorherrschaft in Deutschland sichern. Gerade in Sachsen und Thüringen schnitt bei den Volkskammerwahlen die SPD am schlechtesten ab. Im Industrierevier um Chemnitz kam sie gerade auf 15 Prozent, in Cottbus auf 19, in Suhl auf 16 und in Erfurt auf 18. Zwölf Jahre Nationalsozialismus und vierzig Jahre SED-Herrschaft hatten die politische Landschaft in Mitteldeutschland gründlich verändert. Kontinuitätsströme waren versiegt. Auch heute, zwei Jahre später, ist es der SPD noch nicht gelungen, in den neuen Bundesländern wirklich Fuß zu fassen. Zwar zeigen Umfragen, daß sie bei Wahlen jetzt erheblich besser abschneiden würde. Doch die Partei selbst ist in Ostdeutschland schwach. Immer noch liegt ihre Mitgliederzahl dort bei etwa 30000, gegenüber rund 900000 in Westdeutschland. Daß die wieder-erstandene SPD in der DDR aus der Bürgerbewegung hervorgegangen, also nicht mit der Vergangenheit einer Blockpartei belastet war, ist vielleicht eine moralische, jedoch keine politische Stärke. Inzwischen wird in der SPD offen darüber diskutiert, ob nicht ehemalige, persönlich unbelastete SED-Mitglieder das eigentliche Mitgliederreservoir der Sozialdemokratie seien.
Sozialdemokraten regieren in zehn der sechszehn Bundesländer in allen denkbaren Koalitionskombinationen, sie bestimmen die Mehrheit im Bundesrat. Im April vergangenen Jahres wurden sie erstmals Regierungspartei in Rheinland-Pfalz, dem Stammland des Kanzlers. Im Juni errangen sie mit der absoluten Mehrheit der Mandate einen bedeutenden Wahlsieg in Hamburg. Ist in den Ländern das Fundament für einen Machtwechsel im Bund gelegt? Man braucht nicht das Bremer Wahldesaster vom 29. September 1991 anzuführen, um Zweifel daran anzumelden. Allenthalben zeigen sich Ermüdungserscheinungen. Das schließlich doch zurückgenommene Diätengesetz in Hamburg hat die Partei in eine schwere Glaubwürdigkeitskrise gestürzt. In Niedersachsen streitet sich die SPD mit dem grünen Koalitionspartner über Abfallentsorgung und Müllverbrennung; von einem rot-grünen Aufbruch ist in Hannover wenig zu spüren. In Nordrhein-Westfalen wird die Partei nach 25 Jahren Regierungsmacht müde, der bisher nahezu unumstrittene Landesvater Johannes Rau liebäugelt -trotz wiederholten Dementis -mit dem Amt des Bundespräsidenten. Und im Saarland, dessen Wähler Lafontaine einen Triumph beschert haben, mehren sich die Berichte über roten Filz und provinzielles Duodez-Gehabe. Man kann nicht sagen, daß in den Ländern der frische Wind weht, der in Deutschland eine neue sozialdemokratische Ära bringen wird. Für die Bonner Regierungskoalition stehen die Chancen gut, daß 1994 der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Ländern so spürbar ist, daß sie als Schöpferin eines zweiten deutschen Wirtschaftswunders die Wahl-ernte einfahren kann. Viele Sozialdemokraten richten deshalb den Blick schon auf das Jahr 1998.
Die Hauptaufgabe, vor der die SPD heute steht, ist die nicht nur intellektuelle, sondern auch mentale Anpassung an den Epochenwechsel, den das Jahr 1989 markiert. Wie weit vor allem ihre Mitglieder-basis davon entfernt ist, das zu verstehen, konnte man im vergangenen Jahr bei verschiedenen Anlässen sehen. Da war der trotzige, aber weder politisch noch moralisch haltbare Pazifismus weiter Teile der Partei angesichts des Golfkrieges. Gerade jene, die als Argument gegen die deutsche Einheit die angebliche Gefahr eines Abtriftens vom Westen angeführt hatten und ihren angeblichen westeuropäischen Kosmopolitismus bedroht sahen, zeigten sich jetzt zu einem deutschen Sonderweg wild entschlossen. Die Debatten um die künftigen Aufgaben der Bundeswehr, der Blauhelm-Beschluß des Bremer Parteitages, die Hilflosigkeit angesichts des serbischen Krieges gegen Kroatien offenbaren, daß in der SPD das Bewußtsein dafür, daß in Europa härtere Zeiten angebrochen sind, noch nicht sehr weit verbreitet ist. Die Basis befaßt sich noch immer lieber mit „weichen“ Themen und setzt reflexhaft - am Beispiel Asyl ist das abzulesen -noch immer die schöne Gesinnung gegen die bedrohliche Wirklichkeit. Was über multikulturelle Gesellschaft im sozialdemokratischen Milieu geredet wird, hat mit der gegenwärtigen und künftigen Wirklichkeit von Flucht-und Wanderungsbewegungen etwa so viel zu tun wie Sandkastenspiele mit Bergbau.
Innenpolitisch werden die nächsten Jahre noch ganz im Zeichen des Aufbaus in den neuen Ländern stehen. Außenpolitisch scheint es eher stürmisch zu werden. Einen gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruch, wie er in den sechziger Jahren dem Machtwechsel vorausging, gibt es in Deutschland zur Zeit nicht. Es geht eher um eine schwierige Anpassung an neue Verhältnisse. Krisenmanagement wird in Zukunft mehr gefragt sein als Reformeifer. Manche in der SPD beginnen das zu begreifen; Engholm und Klose gehören dazu. Doch der neue Realismus dringt nur langsam vor.