I. Terrorismus als Wahrnehmungsproblem
Der Linksterrorismus entstand im westlichen Deutschland als radikales Zerfallsprodukt des studentischen Protestes Ende der sechziger Jahre. Als die Dynamik der Bewegung erlahmte und wirkungslos zu verpuffen schien, bewies eine kleine Minderheit unerbittliche Konsequenz: dem „langen Marsch durch die Institutionen“ zog sie das Abtauchen in den Untergrund vor. Der „bewaffnete Kampf“ begann
Der Terror hat seither die Geschichte der Bundesrepublik begleitet. Kein Jahr verging ohne Anschläge. Die Zahl der schweren linksterroristischen Delikte beläuft sich für den Zeitraum von 1968 bis 1990 auf nahezu 3OOO Der Höhepunkt des Terrors lag quantitativ nicht in den siebziger, sondern erst in den achtziger Jahren: 1986 wurde die bisherige Höchstzahl linksterroristischer Attentate (460) erreicht. Wenn sich im öffentlichen Bewußtsein die „Schleyer-Krise“ von 1977 als Gipfel terroristischer Bedrohung festgesetzt hat, so unterstreicht dies nur die große psychologische Wirkung, die eine sich über Wochen hinziehende Geiselentführung erzielt. Trotzdem blieben ähnliche Aktionen in der Folgezeit aus. Die Bundesregierung hatte mit ihrer Entschlossenheit, den Forderungen der Entführer nicht nachzugeben, die Aussichtslosigkeit eines derartigen Unternehmens demonstriert.
Die Gesamtzahl der Todesopfer terroristischer Gewaltakte blieb bis 1990 unter 50. So bedrückend jede heimtückische Mordtat auch ist: Im Vergleich zu anderen europäischen Demokratien hat der deutsche Terrorismus einen eher geringen Blutzoll gefordert. Ein extremes Beispiel sind die Anschläge der baskischen ETA, die ihre Aktivitäten nach dem Ende der Franco-Diktatur vervielfachte. Allein im Jahre 1987 fielen 51 Menschen dem ETA-Terror zum Opfer
Wenn der Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF), der Revolutionären Zellen (RZ) und anderer Formationen auch weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht einen Spitzenplatz in der Hierarchie europäischer Staaten erreicht hat, so zählt die Bundesrepublik doch auch nicht zu jenen Staaten, die -wie etwa Dänemark, die Niederlande, Norwegen, Österreich und Schweden -weitgehend von massiven Terroraktionen verschont geblieben sind. In der vom Jaffee Center for Strategie Studies der Universität Tel Aviv erstellten Rangskala des Terrorismus wurde das westliche Deutschland für 1989 sogar in eine internationale Problemgruppe von 12 Ländern mit überdurchschnittlichen Terroraktivitäten eingeordnet, darunter nur ein weiteres europäisches Land -nämlich Spanien
Die Kette massiver terroristischer Gewalttaten seit Ende der sechziger Jahre kann das Selbstverständnis des demokratischen Staates und seiner politischen Führungsgruppen nicht unberührt lassen. Terrorismus als extreme Form politischen Protests gilt vielfach als Symptom für das Vorhandensein gravierender politischer, sozialer und ökonomischer Mißstände. Soziologische Modelle bestimmen abweichendes politisches Verhalten (Aggression) als Folge enttäuschter Erwartungen (Frustration) und stellen einen Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit des politischen Systems und dem Ausmaß der systemfeindlichen Aktivitäten her Die Frage nach den Ursachen des Terrorismus ist eng mit derjenigen nach seiner moralischen Beurteilung verknüpft. Es macht einen großen Unterschied, ob die Entstehung linksterroristischer Zellen als äußerste Form der Auflehnung gegen massive Ungerechtigkeit anzusehen ist oder ob sie in erster Linie als Affront gegen eine von der breiten Bevölkerungsmehrheit getragene und gebilligte demokratische Ordnung gilt.
Das Verhältnis zwischen Terrorismus, staatlicher Repression und Liberalität ist kompliziert. In totalitären Systemen fehlt das Mindestmaß an Entfaltungsfreiheit, das für die Entstehung terroristi-scher Zellen erforderlich ist -man denke nur an das vom Terrorismus dieser Art verschont gebliebene östliche Deutschland. Nicht weniger verwikkelt erscheint das Verhältnis zwischen dem Terrorismus und der Leistungsfähigkeit politischer Systeme. Mißstände, an die terroristische Gewalttäter anknüpfen können, fehlen in keinem Staat der Erde. Paradoxerweise sind aber auch solche Staaten betroffen, die aufgrund ihrer politischen Stabilität, ihrer demokratischen Legitimation und ihrer außerordentlichen ökonomischen Leistungskraft international Maßstäbe setzen.
Was ein selbstkritischer Beobachter auf die Generation der „ 68er“ münzte, gilt auch für den Terrorismus in der Bundesrepublik: Er gleicht einem „Aufstand im Schlaraffenland“ Das westliche Deutschland war nicht die beste aller Welten, konnte im internationalen Vergleich jedoch einen respektablen Platz unter den wohlhabenden und demokratisch regierten Industrienationen beanspruchen. Weder schweres soziales Unrecht noch gnadenlose politische Unterdrückung waren die objektiven Ursachen des Terrorismus. Die große Masse der Bevölkerung zeigte nicht die geringste Neigung, den Revolutionsaufrufen von kleinen Gruppen linksextremer Desperados zu folgen. Selbst in den engeren Unterstützermilieus nahm die Isolation der selbsternannten Stadtguerilleros im Laufe der Jahre zu. Im Zeitraum zwischen 1974 und 1989 lehnten um die 95 Prozent der Bevölkerung jede Form der Gewaltanwendung als Mittel politischer Veränderung grundsätzlich ab -nahezu unverändert
Die Wahrnehmung einer kleinen rebellierenden Minderheit mußte sich um Galaxien von derjenigen des „Normalbürgers“ entfernt haben, wenn folgende Worte, die im April 1971 an die Öffentlichkeit gelangten, mit vollem Ernst zu Papier gebracht worden waren: „Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als die höchste Form des Marxismus-Leninismus’ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es ohne dem [! ] keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.“
Folgende These drängt sich auf: Der Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland war und ist weit weniger ein Wirklichkeits-als ein Wahrnehmungsproblem Nicht so sehr die realen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, sondern deren spezifische Perzeption durch eine kleine Minderheit bilden den Hintergrund der Entstehung terroristischer Gruppen. Die detaillierte Ausarbeitung der strategischen Konzepte bildet einen eigentümlichen Kontrast zur mangelnden Fundiertheit der gedanklichen Prämissen. In den Mustern der Wirklichkeitsdeutung leben in gewandelter Form Traditionen fort, die sich in ihren politisch-praktischen Auswirkungen mit den unheilvollsten Kapiteln deutscher Geschichte verbinden. Eine Renaissance anarchistischer und kommunistischer Ideologien lieferte die geistigen Grundmuster für jene spezifische Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Terrorismus erst ermöglichte. Auch wenn das Konzept der „Stadtguerilla“ nur eine unter mehreren möglichen Schlußfolgerungen aus der Totalnegation des Status quo darstellt, bliebe das Handeln der Terroristen ohne Kenntnisnahme ihrer geistigen Prägung vollends unverständlich.
II. Der geistige Inkubationsherd
Die Entstehung terroristischer Zirkel im westlichen Deutschland ist nicht losgelöst von der Geschichte der studentischen Protestbewegung Ende der sechziger Jahre zu begreifen. Selbst ehemalige Aktivisten wie Daniel Cohn-Bendit leugnen heute nicht mehr die Mitverantwortung der „ 68er“: „Die antiautoritäre Bewegung, die 1968 ihren Höhepunkt hatte, besaß einen sehr undifferenzierten Begriff von Widerstand und Widerstandsrecht. Sie hat versucht, sämtliches mögliche politische Handeln mit den Mißständen in aller Welt zu legitimieren. Der Vietnamkrieg, die Diktaturen in Persien und Griechenland oder auch die Notstandsgesetze mußten herhalten, um ein genuines Widerstandsrecht gegen den westdeutschen Staat zu formulieren. Das war ein Ambiente, in dem sich alles entwickeln konnte. Einerseits eine radikaldemokratische Bewegung, die dem zivilen Ungehorsam verpflichtet war, andererseits radikale Gruppen, die die antiimperialistische Widerstandsphraseologie für bare Münze nahmen und diese nach persönlichen Erfahrungen von Repression in konkreten bewaffneten Widerstand umgesetzt hat. Wir haben nicht auseinandergehalten -was heißt Widerstand in einem faschistischen Staat, was ist Widerstand in einer Diktatur? Mit dem Begriff des autoritären Staates suggerierten wir den kontinu-ierlichen Übergang vom Kapitalismus zum Faschismus.“
Der Aufruhr an den Universitäten hatte mit hochschulpolitischen Forderungen begonnen, sich thematisch dann aber mehr und mehr ausgeweitet. Unter dem Einfluß von Theorien der marxistischen und anarchistischen Tradition wurde nun Fundamentalkritik am Status quo geübt und die Beseitigung „autoritärer“ Strukturen gefordert Teile der in der Wirtschaftswunderwelt des Nachkriegsdeutschlands aufgewachsenen Generation wandten sich „höheren“ ideellen Werten zu und konfrontierten das „bürgerlich-kapitalistische“ System mit vielfach utopischen Forderungen nach umfassender Teilhabe aller an den politischen Entscheidungsprozessen.
Die Freie Universität in Berlin bildete das Zentrum der Bewegung. Ließen sich anfängliche Resolutionen zum „Abbau oligarchischer Herrschaft“ und zur „Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen“ noch im Sinne eines umfassenden Reformprogramms verstehen, übernahmen bald Kräfte mit unzweideutig revolutionären Zielen die Wortführerschaft. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), die nach links abgedriftete ehemalige SPD-Studentenorganisation, entwickelte sich zum Theoriezentrum der Protestbewegung. Richtungskämpfe zwischen einer antiautoritär-anarchistischen und einer marxistisch-dogmatischen Strömung bestimmten sein Innenleben Als Mitglied der Subversiven Aktion war Rudi Dutschke 1964 zum SDS gestoßen, ein aus der DDR stammender, mit Charisma begabter, überaus redegewandter Student. Unter dem Einfluß der Medienberichterstattung wuchs er in die Rolle einer Leitfigur des Protests hinein, t Nach dem 2. Juni 1967 griff die Bewegung auf viele westdeutsche Städte über. Ein harmloser Student, Benno Ohnesorg, war bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien Opfer einer unkontrollierten Polizeiaktion geworden. Die Überforderung der Sicherheitskräfte, die sich ohne ausreichende Vorbereitung mit „provokativ“ auftretenden Protestlern konfrontiert sahen, war nicht zu leugnen. Dennoch entwirft ein Zerrbild, wer die Zunahme gewaltsamer Ausschreitungen nach dem 2. Juni 1967 als Folge des „repressiven“ Handelns der Staatsmacht deutet. Nicht wenige Demonstranten suchten die militante Auseinandersetzung mit der Polizei. Führenden Agitatoren wie Rudi Dutschke galt die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel im „revolutionären Kampf“. Nach der Trauerfeier für Benno Ohnesorg hatte der Studentenführer auf einem Kongreß in Hannover ein politisches Szenario entwickelt, das den anwesenden Professor Jürgen Habermas zum Vorwurf des Linksfaschismus herausforderte.
Dutschke schwebte die Gründung eines „Internationalen Nachrichten-und Forschungsinstituts“ vor, das er mit finanzieller Unterstützung des reichen Mailänder Verlegers Feltrinelli (dieser starb wenige Jahre später bei der vorzeitigen Explosion eines selbstgelegten Sprengkörpers) zu errichten gedachte. Die Bildung illegal operierender Untergrundgruppen sollte zu den Aufgaben des Instituts gehören: „Je mehr alte Freunde und Gruppierungen skeptisch über eine derartige Stufe von Politik wurden, desto stärker verfolgte Dutschke diesen Plan. Abmachungen, Besprechungen, Kontakte mit unterschiedlichen revolutionären Gruppen und Persönlichkeiten wiesen auf die Möglichkeit, sehr bald auch in Westeuropa die amerikanische Kriegsmaschine anzugreifen.“
Wenige Monate darauf erlitt Dutschke durch das Attentat eines jungen Münchener Arbeiters eine schwere Kopfverletzung, an deren Spätfolgen er Ende 1979 starb. Die Bewegung war gleichsam enthauptet worden. Der Zorn der radikalen Studenten richtete sich vor allem gegen die konservative Sensationspresse, die ein „Pogromklima“ erzeugt habe. In Berlin kam es beim Marsch auf das Springer-Haus zu schweren Ausschreitungen. Die Aufruhrstimmung breitete sich auf andere deutsche Städte aus („Osterunruhen“). Randalierer hielten angestaute Aggressionen nicht länger zurück. Molotow-Cocktails, brennende Fahrzeuge und zerstochene Reifen zeugten vielfach von der schieren Lust an der Zerstörung.
Bruchstücke linksradikaler Theorien geisterten in den Köpfen vieler Protestler umher, nahmen Einfluß auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit und lieferten die Rechtfertigung für unkonventionelle politische Verhaltensformen. Großen Einfluß übten die Schriften des deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Herbert Marcuse aus, der den „totalitären Charakter der entwickelten kapitalisti-sehen Gesellschaft“ geißelte. Die Entstehung eines breitenwirksamen revolutionären Bewußtseins werde in der Überflußgesellschaft nur durch die „massive wissenschaftliche Manipulation und Administrierung der Bedürfnisse“ verhindert. Unterdrückte menschliche Anlagen müsse man erst wieder zur Entfaltung bringen. Die Rolle der Wegbereiterin gesellschaftlicher Befreiung war der „Intelligenz“ zugedacht. Mit ihrer Hilfe gelte es, „einen neuen Typ des Menschen“ zu entwickeln, „der das Leistungsprinzip der etablierten Gesellschaften ablehnt -einen Menschentyp, der sich von der Aggressivität und Brutalität, die der Organisation der bestehenden Gesellschaft innewohnen, und ihrer heuchlerischen, puritanischen Moral freigemacht hat, einen Menschentyp, der biologisch unfähig ist, Kriege zu führen und Leiden zu schaffen, der eine klare Vorstellung hat von Freude und Lust und der als einzelner wie zusammen mit anderen daran arbeitet, eine soziale und natürliche Umwelt zu schaffen, in der eine solche Existenz möglich wird“ Angesichts so verführerischer Zukunftsverheißungen mußte der Kampf gegen das Bestehende lohnend und gerechtfertigt erscheinen. Viele Protestler nahmen Ideen dieser Art auf, ohne wirklich an deren praktische Umsetzung zu denken. Andere waren konsequenter und ließen den Gedanken Taten folgen.
Der Handlungsdruck erhöhte sich zu einem Zeitpunkt, als die Bewegung an Dynamik verlor, Reformprojekte der „Etablierten“ den Protestlern Wind aus den Segeln nahmen, die Zahl der Demonstrationsteilnehmer sank und die Hoffnungen auf eine grundlegende Umwälzung der Verhältnisse schwanden. Während die große Mehrheit resignierte, sich in das vorgegebene System politischer Willensbildung einordnete oder die marxistisch-leninistische Kaderpartei als Motor revolutionärer Entwicklung entdeckte, wählte eine Minderheit den Weg des „bewaffneten Kampfes“
Die strategischen Konzepte, die nun zur Anwendung kamen, waren ein uneingelöster Ideenbestandteil maßgeblicher Kräfte der Studentenbewegung gewesen. Rudi Dutschke selbst hatte auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS (5. September 1967) bei seinem Plädoyer für eine „Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit“ an Marcuses Schrekkensbild vom „eindimensionalen Menschen“ angeknüpft. Um die „passiven und leidenden Massen“ aus ihrer Lethargie aufzurütteln, müsse die „, Propaganda der Schüsse (Che) in der , Dritten Welt ... durch die »Propaganda der Tat in den Metropolen vervollständigt werden“
Dutschkes Ausführungen ließen unterschiedliche Ausdeutungen zu. Die Idee spektakulärer Gewalt-aktionen faszinierte jedoch viele Aktivisten der Studentenbewegung. „Schon zu Beginn des Jahres 1968 hatte Holger Meins, der an der Berliner Film-und Fernsehakademie studiert hatte, einen Lehrfilm über die Herstellung von Molotow-Cocktails gezeigt und damit einige Aufregung hervorgerufen. Als im April 1968 die Kaufhausbrandstiftung bundesweite Publizität fand, hatte sich der SDS zwar schleunigst von der Aktion distanziert, doch waren Andreas Baader und Gudrun Ensslin von einem Tag auf den anderen , prominent geworden. Bei der , Schlacht am Tegeler Weg wurde dann erstmals (im November 1968) kollektive Militanz der Pariser Art erprobt. Die Demonstranten eroberten einen polizeieigenen Wasserwerfer und richteten den scharfen Strahl auf die zurückweichenden Polizisten, die mit ihren Gummiknüppeln kaum noch etwas ausrichten konnten. Als den Demonstranten die Straßenmunition ausgegangen war, kam ihnen ein Zufall zu Hilfe. Sie stoppten einen mit Ziegelbruch beladenen Lastwagen und bedienten sich. Christian Semler und Hans-Jürgen Krahl hatten diese Form der Militanz verteidigt, sie als , nötig (Krahl) bezeichnet und daraus die Erkenntnis abgeleitet, daß wir tatsächlich in einem viel stärkeren Maße, als wir jemals angenommen hatten, solche Aktionen und Demonstrationen planen können und daß wir auch den Einsatz der Gewalt planen können. “
Theorien des Partisanenkampfes und der Stadtguerilla gehörten zum Ideenarsenal der Studenten-bewegung. Und erste Ansätze zur praktischen Ausführung blieben nicht auf jene Zirkel beschränkt, aus denen sich später Untergrund-gruppen wie die Bewegung 2. Juni oder die RAF rekrutierten. So faßten 1969 die Berliner SDS-Führungsgremien den Entschluß zur Entführung des Oberstaatsanwalts Blaesing. „Ziel war es, die [universitäre] Hausordnung abzuschaffen. Eine derartige Entführung besaß verschiedene Funktionen. Sie sollte die Resignation und die Ohnmacht der Studenten überwinden, die den Eindruck gewonnen hatten, daß die Opposition die Universitäts-und Staatsgewalt nicht beeindrucken konnte. Sie forderte die Staatsexekutive heraus, die sofort mit ihrem gesamten Gewaltapparat die diktatorische Potenz des Staates demonstrieren würde. In der Verfolgung würde der Staat die Rechtsauflagen des Rechtsstaates übertreten und verdeutlichen, daß das Recht lediglich die Opposition einschränke, jedoch offen für die Macht des Staates war. Willkür und Mißerfolge des Staates würden die Opposition stärken und die Politiker einschüchtern.“ Die Aktion wurde sorgfältig geplant und vorbereitet. Man stellte ein „Kommando“ aus den Reihen des SDS zusammen, kundschaftete ein geeignetes Versteck aus und besorgte Medikamente für den zuckerkranken Oberstaatsanwalt. Schließlich fehlte es doch an der letzten Entschlossenheit: „Einer der Teilnehmer äußerte Bedenken, und wie in einem , Märchen'lösten sich die anderen Beteiligten aus dem Zauber der Militanz und der Entführung.“
Was der SDS in Berlin unterließ, setzten andere in die Tat um. Aus den militanten „Szenen“ Berlins und anderer westdeutscher Großstädte rekrutierten sich erste terroristische Zirkel. Auch wenn die Motive der Untergrund-„Kämpfer“ im einzelnen sehr unterschiedlich waren, bildeten die Ideen der Studentenbewegung doch den geistigen Nährboden für die Kriegserklärung an die bestehende Ordnung, ihre Träger und Repräsentanten.
III. Grundelemente des linksterroristischen Weltbildes
Die Gründergeneration des Linksterrorismus entstammte fast ausnahmslos den Reihen der studentischen Protestbewegung. Deren Vorstellungswelt übte einen prägenden Einfluß aus. Allerdings entsprach der Heterogenität der an der Studentenbewegung beteiligten Gruppen eine Vielfalt geistiger Quellen und Strömungen. Bedeutender als die marxistisch-leninistischen Orthodoxien, die sich an verschiedenen Zentren der Weltrevolution wie Moskau, Peking oder auch Tirana ausrichteten, waren intellektuelle Weiterentwicklungen des Marxismus, wie sie von den Vertretern der Frankfurter Schule um Theodor Adorno, Max Horkheimer und vor allem Herbert Marcuse vorgetragen wurden. Führende Verfechter des Anarchismus wie Bakunin und Kropotkin sowie die Schriften von Guerillakriegs-Strategen wie Frantz Fanon, Ernesto „Che“ Guevara, Carlos Marighella und Mao Tse-tung wirkten auf das Denken über den aussichtsreichsten Weg zur Revolution.
Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin und Mao Tsetung tauchten als geistige Ahnherren in den ersten Rechtfertigungsschreiben der RAF auf Andere Gruppen wie die Bewegung 2. Juni waren in ihrem Selbstverständnis stärker von einer anarchistischen Temperamentslage geprägt. Die politischen Konzepte der Terroristen unterschieden sich allerdings in wesentlichen Punkten von den ideologischen Vorgaben ihrer geistigen Väter. Treffend ist das Konzept der RAF als „Theorie des Theorieverzichts“ charakterisiert worden, war die Praxis doch eher von Aktionismus als von strategischen Kalkülen geprägt. Bemühungen ideologischer Art, wie sie Ulrike Meinhof und Horst Mahler unternahmen, zielten auf nachträgliche Rechtfertigung und Rationalisierung.
Jedoch ist die Frage nach der geistigen Authentizität für die Wirkung von Weltbildern allenfalls von sekundärer Bedeutung. Das politische Wahrnehmungsvermögen der Linksterroristen wurde und wird von einem Syndrom gedanklicher Elemente geprägt, die kommunistischen und anarchistischen Theorietraditionen eigen sind. Wenn sie auch verfremdet, variiert und vielfältig miteinander verbunden werden, bleibt ihre politische Sprengkraft doch unvermindert bestehen.
Terrorismus hat die vehemente Ablehnung des Status quo zur zwingenden Voraussetzung. Seine Praxis in konstitutionellen Demokratien sozial-staatlicher Prägung zeugt vom weitgehenden Verlust politischer Urteilskraft. Politisches Urteilen setzt Vergleichen, Wägen und Differenzieren voraus. Kommunistische und anarchistische Doktrinen liefern Maßstäbe, die eine facettenreiche Wahrnehmung der Wirklichkeit eher blockieren als fördern
Geistiger Ausgangspunkt ist die Totalnegation alles Bestehenden und der feste Glaube an die Realisierbarkeit idealer Zustände auf Erden. Die „herrschaftsfreie“ oder „klassenlose Gesellschaft“ setzt einen Bruch mit der gesamten bisherigen Geschichte voraus und kann daher nur aus den Trümmern der alten Ordnungen hervorgehen. Das Denkmodell läßt die Frage nach unterschiedlichen Ausgangspunkten in verschiedenen Regimen allenfalls im Rahmen strategischer Überlegungen zu. Veränderungen setzen eine Tabula-rasa-Situation und die grundlegende Umwälzung der Verhältnisse voraus. Angesichts der utopischen Visionen muß jeder Versuch tastender, schrittweiser Veränderung als Verrat an den revolutionären Zielen erscheinen. Die Hinwendung zu realitätsfernen Utopien und die Pauschalanklage der bestehenden Ordnung stand seit Ende der sechziger Jahre in engem Zusammenhang mit sozialwissenschaftlichen Mode-strömungen, die bis dato gültige Maßstäbe für die Unterscheidung politischer Systemtypen entwerteten. Das von dem norwegischen Politikwissenschaftler Johan Galtung in die Diskussion entlassene Konzept der „strukturellen Gewalt“ läßt Gewalt als ein allgegenwärtiges Phänomen erscheinen, dem die Menschen in konstitutionellen Demokratien ebenso unterliegen wie in Diktaturen -nur in einer weitaus subtileren Form. „Repressive Strukturen“ und „Manipulationsmechanismen“ treten demnach in den westlichen Demokratien an die Stelle der weit umfassenderen staatlichen Zugriffsgewalt diktatorischer Regime. Die Verwischung der Systemgrenzen mündete mit einiger Folgerichtigkeit in die von Karl Dietrich Bracher zu Recht beklagte Verdrängung und Relativierung des Totalitarismusbegriffs
Der in der Studentenbewegung dominierende idealistische Demokratiebegriff mit seiner Betonung von Selbstbestimmung und politischer Gleichheit hatte die Tendenz, „die Rechtmäßigkeit jeder möglichen politischen Ordnung in Frage zu stellen“ Ähnlich wie der Begriff der „strukturellen Gewalt“ konfrontierte das radikale Demokratiekonzept die Wirklichkeit mit Maßstäben, an denen jede existierende Ordnung scheitern muß. Auf diese Weise entstand eine Rechtfertigungsgrundlage für den Kampf gegen das als illegitim geltende System.
Die extensive Interpretation des Demokratiebegriffs war die eine Seite der Medaille, die Verachtung und die Ignoranz gegenüber der abendländischen Tradition des Konstitutionalismus die andere. Dem Konstitutionalismus liegt die Überzeugung von der Imperfektibilität des Menschen wie der Gesellschaft zugrunde. Nicht die -als unerreichbar geltende -Verwirklichung menschlichen Glücks, sondern das Streben nach Linderung und Verringerung von Leid bestimmt die politische Grundüberzeugung. Die Bindung der staatlichen Gewalt an vorab definierte Regeln, die Sicherung grundlegender Rechte des Individuums, die Teilung der Herrschaftssphären in verschiedene, einander kontrollierende Bereiche, die befristete Übertragung von Herrschaftsbefugnissen an periodisch zu wählende Repräsentanten -all dies sind wesentliche Resultate eines historischen Erfahrungsprozesses in der Auseinandersetzung mit vielfältigen Formen von Fremdbestimmung und Autokratie. Der Glaube an die Realisierbarkeit einer idealen Zukunftsgesellschaft der Freien und Gleichen zieht die Geringschätzung des komplizierten konstitutionellen Regelwerkes nach sich, das den Anspruch der Letztgültigkeit nicht erhebt, den Konfliktaustrag zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Meinungen, Anschauungen und Interessen jedoch Verfahren unterwirft, die dem Entfaltungsdrang von Einzelnen oder Gruppen im Interesse einer friedsamen Gesellschaftsentwicklung Grenzen setzen.
Die aus der Studentenbewegung stammende trotzige Parole: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ bringt in kaum überbietbarer Weise Verachtung und Ignoranz gegenüber dem System des demokratischen Verfassungsstaates zum Ausdruck. Sie entspricht nicht nur dem Selbstverständnis jener Terroristengeneration, die biographisch noch mit , 1968" verbunden ist, sondern fängt auch das Lebensgefühl der Nachwuchs„Kämpfer“ treffend ein. Totalnegation und egalitär-utopische Gesellschaftskonzeption verbinden alle linksterroristischen Gruppen, auch wenn sich -wie im Falle der „Revolutionären Zellen“ oder sogenannter „autonomer“ Gruppen -die geistigen Bindungen an Theoretiker anarchistischer und kommunistischer Prägung längst gelockert haben.
Charakteristischerweise spielt in den Rechtfertigungsschreiben der heutigen Terrorgruppen mit linksextremer Ausrichtung das Imperialismuskon-, zept eine zentrale Rolle Es hat den unschätzbaren Vorzug, von den bei der Legitimierung terroristischen Handelns eher unergiebigen Mißständen im eigenen Land abzulenken. Die Verantwortung für das Elend in der ganzen Welt wird den reichen Industrienationen aufgebürdet. Dies rechtfertigt den „Widerstand“ gegen das für die Leiden der Menschheit verantwortliche „System“, umgibt die Untergrund-„Kämpfer“ mit der Gloriole kompromißlosen Eintretens für „humanistische“ Ziele und begründet strategische Hoffnungen auf Stärkung der Kampfeskraft durch die Solidarität mit den „Befreiungsbewegungen der Dritten Welt“. Horst Mahler bekannte im Rückblick: „Die Leute haben sich ihre eigene -sozusagen ihre private -Moral konstruiert. Weil ich drin war, weiß ich das. Die Welt ist schlecht, tagtäglich unendliches Leid, Mord und Totschlag. Das müssen wir ändern. Das geht nur mit Gewalt, das erfordert Opfer; aber unterm Strich weniger Opfer als die Fortdauer des bestehenden Zustands.“ Hier wird deutlich, daß absolut gesetzte Moral blind und unerbittlich wird, wenn -nach Mahler und in Anlehnung an Hegel -„das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit“ umschlägt „in die Raserei des Eigendünkels“
IV. Fazit
In totalitären Diktaturen fehlt das Mindestmaß politischer Entfaltungsfreiheit, das Terrorismus erst ermöglicht. Dort übt der Staat den Terror selber aus. Demokratische Verfassungsstaaten hingegen bieten gewalttätigen Minderheiten ein günstiges Exerzierfeld. Die restlose Zerschlagung terroristischer Untergrund-Strukturen erforderte ein Ausmaß polizeistaatlicher Reptession, das mit hoher Wahrscheinlichkeit die autoritäre Transformation des Staates nach sich zöge. Der Terrorismus ist demnach eine der Kehrseiten politischer Freiheit.
Wenn die Ursachen des Linksterrorismus in der Bundesrepublik in erster Linie nicht auf Wirklichkeits-, sondern auf Wahrnehmungsproblemen beruhen, kommt der geistigen Auseinandersetzung eine vorrangige Bedeutung zu. Gefordert ist eine schonungslose Kritik politischer Heilslehren. Die Infiltrierung des politischen Denkens mit marxistischen Denkkategorien ist weit fortgeschritten -man denke nur an die unkritische Übernahme der Kapitalismus-Vokabel. Auch nach dem Ende des „realen Sozialismus“ bleibt die Sehnsucht nach umfassender Welterklärung, letzter Orientierungsgewißheit, völliger Hingabe an ein „großes“ Ziel. Erneuerte Formen egalitärer Utopien könnten an die Stelle gescheiterter Lehren treten. Hier gilt es, bereits den Anfängen zu wehren.
Ebenso wichtig ist die Stärkung der geistigen Fundamente demokratischer Verfassungsstaaten. Besonders in der jüngeren Generation fehlt es oft an Verständnis für das Funktionieren jenes komplizierten Regelwerkes, das die in jeder Gesellschaft vorhandenen Gegensätze der Interessen und Anschauungen in friedliche Bahnen lenkt. Tugenden wie Kompromißfähigkeit, Reformbereitschaft, Toleranz und Offenheit könnten ebenso wie der Glaube an das Selbstbestimmungsrecht des Individuums Grundlage eines „Verfassungspatriotismus“ sein -und damit ein geistiges Bollwerk gegen die Machteroberungsstrategien politischer Extremismen bilden.