I. Volk und Nation
Der friedliche deutsch-deutsche Einigungsprozeß seit dem Herbst 1989 und Fragen des Umgangs von Deutschen mit Ausländern sind zu beherrschenden Themen nicht nur der Tagespolitik geworden. Sie werden auch dann, wenn sie wieder auf die hinteren Zeitungsseiten verwiesen sind, für den absehbaren Rest dieses Jahrhunderts der deutschen Innenpolitik ihren Stempel aufdrücken. Die weltweiten Flüchtlingsbewegungen werden auch weiterhin vor den deutschen Grenzen nicht haltmachen. Der EG-Binnenmarkt wird für eine weitere Internationalisierung von Ökonomie, Gesellschaft und politischer Kultur sorgen. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Einheit werden hüben wie drüben sowohl die Politik als auch die Alltagsorientierungen prägen.
Die vor allem in der zweiten Jahreshälfte 1991 zutage getretenen, teilweise militanten Protestformen von rechts haben für beträchtliches Aufsehen im In-und Ausland gesorgt. Nicht nur die Wahlerfolge kleiner Rechtsparteien, sondern vor allem die Anschläge auf Asylbewerber-Unterkünfte und offen auftretende kollektive Sympathien dafür in der Bevölkerung provozieren Fragen nach Ursachen, Ausmaß und Gegenstrategien. In den Debatten über die Polizei und das Asylrecht darf freilich nicht übersehen werden, daß rechte Protest-formen nicht von ungefähr gerade jetzt an Zulauf gewinnen: „Nation“ (bzw. Nationalstaat und „Wiedervereinigung“) und „Volk“ (bzw. nationale Identität und Umgang mit Nicht-Deutschen) waren und sind von jeher die zentralen Themen der radikalen Rechten. Es konnte von daher nicht ausbleiben, daß bei den neueren politischen Entwicklungen in diesen Bereichen mit den Themen auch diese radikale Rechte selbst in vielfältigen Ausprägungen wieder an die Oberfläche einer weithin unvorbereiteten und naiven Öffentlichkeit gespült werden würde.
Politische Themen entladen sich nicht von selbst in Aktionen. Sie werden in publizistischen Deutungen und Alltags-Diskussionen erst zu „Themen“ gemacht. Die Militanz von rechts hat keine direkten geistigen Urheber, wohl aber wird sie auf geistig-politische Umfelder sich beziehen können, wo der autoritäre Staat und die rassische Einheit der Völker zu den obersten Leitlinien gehören, wo das Ziel „Ausländer raus“ gleichwohl mit anderen Mitteln verfolgt wird: mit geistigen, publizistischen. Ein Gesichtspunkt ist dabei häufig übersehen worden, nämlich die Struktur und Wirkungsweise kleiner rechtskonservativer, nationalrevolutionärer Zeitschriftenzirkel, Verlage und rechter Intellektueller, die seit Jahren schon bemüht sind, mit den Themen Nation und Volk, nationaler und völkischer Identität eine Wende des Zeitgeistes nach rechts herbeizuführen. Die politischen Ideen dieser „neuen Rechten“ sind die der „Konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik, jener geistigen Zuarbeiter des Nationalsozialismus, deren Epigonen bis heute betonen, Oswald Spengler, Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Hans Freyer, Edgar Julius Jung, Othmar Spann und andere seien von den Nazis bloß mißbraucht worden.
Nun läßt sich gewiß darüber streiten, ob und inwiefern diese Autoren tatsächlich geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus waren. Moeller van den Bruck starb 1925, Spann wurde 1938 seiner Professur enthoben und verhaftet, Jung wurde 1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ von den Nazis ermordet. Carl Schmitt hat die Morde an der SA-Führung und anderen bekanntlich in seinem am August 1934 in der „Deutschen Juristen-Zeitung“ veröffentlichten Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ mehr als gerechtfertigt, wurde aber wenig später nach publizistischen Angriffen aus dem Umfeld der SS politisch kaltgestellt. Spengler hingegen hat 1933, drei Jahre vor seinem Tod, Hitlers Machtübernahme emphatisch begrüßt 1. Unbestritten ist, daß sie das rechte antidemokratische Denken in der Weimarer Republik geprägt und zu ihrer Auflösung beigetragen haben.
Heute sind es kleine, sich elitär verstehende Zeitungen und Zeitschriften in der Grauzone zwischen dem konservativen und dem rechtsextremen Spektrum, darunter „Staatsbriefe“, „crition", „Junge Freiheit“, „Nation Europa“ und Diskussionszirkel wie das „Thule-Seminar“, die bemüht sind, diese Ideen aufzugreifen, zu diskutieren und zu verbreiten. Der Erfolg der kulturkämpferischen französischen Nouvelle Droite dient dabei gleichermaßen als Vor-und auch als Leitbild. Ihr Credo lautet: Der politischen Machtergreifung geht die geistig-kulturelle voraus, der Zeitgeist muß nach rechts gewendet werden, um der künftigen politischen Rechten ein unverfängliches, NS-unbelastetes Programm zu geben. Gewiß -die genannten Zeitschriften und Diskussionszirkel sind zahlenmäßig klein, ihr Einfluß ist schwer zu bestimmen, und sie sollten nicht überbewertet werden. Ob diese „Neue Rechte“ wirklich gefährlicher ist als die alte um NPD, DVU und „Republikaner“, wie Peter Glotz meint sei dahingestellt. Dennoch scheint es ratsam, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, denn sie stehen in einer oft verkannten, aber historisch bedeutenden ideengeschichtlichen Tradition, die wesentlich zur Beseitigung der Weimarer Republik beigetragen hat.
II. Geistesgeschichtlicher Hintergrund: Die „Konservative Revolution“
1934, ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme, beschreibt Herbert Marcuse in der vom Frankfurter Institut für Sozialforschung im Pariser Exil herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialforschung“ die „neue Weltanschauung“ als ein großes „Sammelbecken all der Strömungen, die seit dem Weltkrieg gegen die , liberalistische‘ Staats-und Gesellschaftstheorie vorgetrieben wurde“ Dazu zählt er das Denken in Führer-Gefolgschafts-Kategorien, Lebensphilosophie, Irrationalismus und völkische Theorien. Marcuse hat als einer der ersten schon frühzeitig darauf hingewiesen, daß der Prozeß der Machteinsetzung des Nationalsozialismus von geistigen Wegbereitern geebnet wurde. Nicht nur die plakative Blut-und Boden-Propaganda der Hitler-Reden und die massenwirksame Faszination der nationalsozialistischen politischen Ästhetik, nicht nur das Büadnis der NSDAP mit maßgeblichen Teilen der konservativen Eliten, sondern auch intellektuelle, philosophisch-politische Steigbügelhalter haben an der Zerstörung der Republik mitgewirkt. Zu ihnen zählt das Umfeld der „Konservativen Revolution“.
Edgar Julius Jung (1894 -1934), Berater und Reden-Schreiber des Reichskanzlers von Papen und einer der führenden Köpfe der Weimarer Rechts-intellektuellen, hat die Konzeption einer „konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik so beschrieben: „Konservative Revolution nennen wir die Wiederinachtsetzung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An die Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an die Stelle der mechanischen Wahl das organische Führerwachstum, an Stelle bürokratischen Zwangs die innere Verantwortung echter Selbstverwaltung, an die Stelle des Massenglücks das Recht der Volksgemeinschaft.“ Nachdem die Strukturen der alten wilhelminischen Gesellschaft erschüttert waren, republikanisches Denken und demokratisches Verfassungsverständnis die soziale Herrschaft von ostelbischen Junkern, Militär und Adel bedrohten, war dieses konservative Denken kaum mehr dem älteren verbunden. Es verstand sich, entsprechend den radikal veränderten Gegebenheiten nach 1918, als etwas Neues, als „revolutionär“. Martin Greiffenhagen hat diesen „Schritt vom restaurativen zum revolutionären Denken“ als „Verzweiflungstat“ beschrieben, bei der es darum gehe, „die bestehenden Verhältnisse völlig umzustürzen, reinen Tisch zu machen und den Boden zu säubern, auf dem dann das Neue, d. h. aber das Alte,, wachsen kann“
Die Suche nach deutschen, ursprünglichen Werten, nach Ordnungsprinzipien und solchen der „Volksgemeinschaft“ war das Anliegen nicht weniger Rechtsintellektueller in der Zwischenkriegszeit, die den Versailler Vertrag als Erniedrigung und die parlamentarische Demokratie als Ausgeburt der „Herrschaft der Minderwertigen“ (so ein weiterer Buchtitel Jungs) empfanden In ihren Werken verherrlichen sie die nationale Aufbruchstimmung des Kriegsjahres 1914 und das Kriegserlebnis selbst -am wirkungsvollsten wohl Ernst Jünger in den „Stahlgewittern" Für viele von ihnen war -wie auch für die hündische Jugend, die Freikorps und andere militaristische Kreise -der Krieg die „Volksgemeinschaft des Schützengrabens“ und die Geburtsstunde einer neuen Nation Wie die Mehrheit der gesamten Weimarer Rechten betrachteten sie den Friedensschluß als aufgezwungenes, nicht akzeptables Diktat. Spengler etwa sah „die schmutzige Revolution von 1918 vom ersten Tage an ... als den Verrat des min-derwertigen Teils unseres Volkes an dem starken, unverbrauchten, der 1914 aufgestanden war“
Liberale Demokratie ist in ihren Augen, wie Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) in seinem 1923 erschienenen Buch „Das dritte Reich“ schrieb, das Carl v. Ossietzky einmal ein „politikfremdes Lamento von monotoner Melancholie“ genannt hat Selbstbetrug und Versklavung des deutschen Volkes: „Der Liberalismus ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die nicht mehr Gemeinschaft ist.“ Nur in der „Gemeinschaft“ kann, der ständestaatlichen Konzeption Othmar Spanns (1878-1950) zufolge, der „mechanische Grundsatz der Mehrheit“ überwunden werden zugunsten einer organisch gegliederten Staatsform. In der demokratisch-republikanischen Gesellschaft hingegen werde jeder in die gleiche Waagschale geworfen und mitgewogen, „jeder Einzelne ist ein gleichwertiges Atom, Nietzsche und sein Stiefelputzer haben dieselbe Stimme“ „Die Mehrheit in den Sattel setzen“, so Spann weiter, „heißt das Niedere herrschend machen über das Höhere. Demokratie heißt also: Mechanisierung der Organisation unseres Lebens (des Staates) und Ausschaltung jedes Wertgrundsatzes aus dem Bau-gesetz dieser Organisation durch Abstimmung, durch Herrschaft der Mehrheit.“
Die hier zutage tretende Kritik des Liberalismus bezieht sich weniger auf die kompromißbereiten Weimarer Liberalen um DVP (Deutsche Volkspartei) und DDP (Deutsche Demokratische Partei). Sie reicht tiefer: Hauptgegner sind, wie Jung 1932 hervorhebt, die „Wertungsweisen und sozialen Formen der 1789 durchgebrochenen liberalen Welt“ Ein Jahr später schreibt er, die deutsche konservative Revolution könne „ihren Charakter als Gegenrevolution nur bewähren in der Abkehr von den geistigen Gesetzen, welche die liberale Revolution von 1789 beherrschten“ Dieses Selbstverständnis ist ein zentrales Leitmotiv: Die Rechtsintellektuellen der „Konservativen Revolution“ stehen in der Tradition der gegen die Folgen der Französischen Revolution aufbegehrenden Gegen-Revolution und lehnen jedes politische Arrangement mit den gegebenen Verhältnissen ab.
Dazu gehört auch die Kritik des „seelenlosen“ Kapitalismus von rechts, wie sie etwa im Werk des Soziologen Hans Freyer und des Dichters Emst Jünger besonders deutlich zutage tritt Revolutionär-konservatives Denken sollte nicht mehr nur als gut erkannte Verhältnisse bewahren, sondern durch Zerstörung des Schlechten, Dekadenten herstellen, was der Bewahrung lohnt. Die Folgewirkungen von Aufklärung und Französischer Revolution -das Denken in Bildern von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, seine Ausformungen in sowjetischem Bolschewismus und westlichem Liberalismus -galt es, mit den Mitteln der Kulturkritik und der Publizistik zu attackieren.
Gegen Ende der Weimarer Republik verschärften sich Tonart und Diktion der Rechtsintellektuellen, wie etwa das Beispiel eines ihrer wichtigsten publizistischen Sprachrohre, die Geschichte des „Tat" -Kreises zeigt. Doch sie konnten auf Vorläufer zurückblicken, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg theoretische Bahnen gelegt hatten. Oswald Spengler (1880-1936) hatte in seinem 1918 zuerst erschienenen, aber im wesentlichen schon vor dem Ersten Weltkrieg verfaßten, von der Weimarer Rechten breit rezipierten Werk „Der Untergang des Abendlandes“ das Ende der europäischen und der deutschen Kultur vorausgesagt.
Spengler begründet seine kulturpessimistische Prognose mit einem organisch-zyklischen Bild vom Aufstieg und Fall der Kulturen. Die europäische Zivilisation ist für ihn das Endstadium im Spannungsbogen von Wachstum und Verfall. Sie sei gekennzeichnet durch stumpfe, seelenlose Kultur unter dem Diktat des Materialismus, des Geldes und der Bürokratie. „Das parlamentarische Zeitalter“, notiert er 1924, „ist unwiderruflich zu Ende. Seine Formen leisten nichts mehr, sie belasten uns nur. ... Wer auf der Höhe seiner Zeit steht, mußte 1830 Demokrat sein und 1930 das Gegenteil davon.“ Menschenrechte als gleiche Rechte für alle Menschen und Kern des liberalen, demokratischen Denkens sind für Spengler, ebenso wie später für Jung und Spann, widernatürlich und dekadent.
III. Der Patron: Carl Schmitt
Der Staatsrechtler Carl Schmitt (18881985) ist der heute in Kreisen der Neuen Rechten meistdiskutierte, aber schon in der Weimarer Republik für die Rechtsintellektuellen im Umfeld der „Konservativen Revolution“ wegweisende Kritiker der Verfassung, von Liberalismus, Pluralismus und Parlamentarismus. Schmitt hält, den „totalen Staat“ des italienischen Faschismus als leuchtendes Beispiel vor Augen, den Weimarer Parlamentarismus für unzeitgemäß, ineffektiv und heuchlerisch. Das Parlament sei bloße Abstimmungsmaschine für zuvor in Interessenhändeln abgestimmte Entscheidungen Es bringe nicht den Willen des Volkes, sondern jenen der jeweils herrschenden Gruppen zum Ausdruck. Er sieht das Verbandswesen und das Konkurrieren verschiedener, teils unvereinbarer Weltanschauungen als Ausdruck eines ziellosen, den Staat und dessen Autorität unterminierenden Pluralismus. Insbesondere werde die Fähigkeit des starken Staates, über den Ausnahmefall zu entscheiden und innenpolitische Widerstände und Feinde entschieden zu bekämpfen, durch Pluralismus und Parlamentarismus zerstört.
Schmitt betrachtet die Kampfbereitschaft voraussetzende Unterscheidung zwischen Freund und Feind als konstitutiv für Politik schlechthin. „Feind ist“, heißt es in seinem 1932 erschienenen Buch „Der Begriff des Politischen“, „nur eine wenigstens eventuell, d. h.der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird.“ Zum Staat gehöre das Recht des jus belli, „d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen“ Schon einige Jahre zuvor, in den Betrachtungen zur „geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus“, hatte Schmitt geschrieben, zur Demokratie gehöre innere Homogenität und gegebenenfalls die Ausschaltung des Heterogenen: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“ Während Schmitts Parlamentarismus-Kritik nicht die Reform anvisiert, sondern die grundsätzliche Abschaffung des Parlamentarismus selbst nahe-legt, ist sein „Begriff des Politischen“ die Absage an den Pluralismus und Liberalismus und der Lobgesang auf den starken, nach innen und außen wehrhaften Staat, der mit seinen Gegnern nicht viel Federlesens macht. Schmitts politische Theorie braucht nicht die Romantik der Kriegsbegeisterung von 1914 und die Poetik der „Stahlgewitter“ (Jünger), um den Krieg als höchste staatliche Tat zu verklären: Verzichtet der Staat auf das jus belli nach innen und außen, wird er wehrlos und verfällt in pluralistische Anarchie.
Daß Schmitts Theorie sich nahtlos in die Aufbrüche der antidemokratischen und antirepublikanischen Weimarer Rechtsintellektuellen um die „Konservative Revolution“, den „Tat-Kreis“ das politische Kolleg an der Berliner Hochschule für Politik und andere Strömungen einfügt, muß hier nicht betont werden. Schmitts Theorie, insbesondere seine Parlamentarismus-Kritik, hat auch, wie die linke Auseinandersetzung mit dem Staat und dem Parlamentarismus Ende der sechziger Jahre zeigt Einflüsse weit über die Rechte hinaus gehabt. Mit ihr lassen sich rechte wie auch linke Diktaturen begründen. Doch erst die Folgewirkungen einer Renaissance des neu-rechten Denkens in Frankreich haben es vermocht, die Ansätze der „Konservativen Revolution“ insgesamt wieder zu neuem -antidemokratischem -Leben zu erwecken.
IV. Das Vorbild: Die Neue Rechte in Frankreich
Seit 1990 gibt Alain de Benoist, Cheftheoretiker der französischen Neuen Rechten, eine Buchreihe mit dem Titel „Konservative Revolution“ heraus, der er sich nach eigenen Worten geistig verbunden fühlt Dort werden u. a. Werke von Carl Schmitt und Moeller van den Bruck in französischer Über-setzung verlegt. Seit Ende der sechziger Jahre propagiert und diskutiert die Neue Rechte um de Benoist in den Zeitschriften „lments" und „Nou-veile Ecole“ die Ideen der rechtsintellektuellen Vorläufer Ziel ist es, einen umfassenden ideen-geschichtlichen und metapolitischen Bezugsrahmen für eine moderne rechte Programmatik zu erarbeiten.
Die Neue Rechte entstand im Verlauf der sechziger Jahre, als junge Intellektuelle gegen die Verkrustungen der alten Rechten und ihre anhaltende Fixierung auf das Algerien-Dilemma de Gaulles aufbegehrten und eine zeitgemäße, moderne, intellektuelle Programmatik verlangten. Benoist und seine Anhänger suchten die Auseinandersetzung mit den Theorien der Neuen Linken. Von Antonio Gramsci übernahmen sie die Vorstellung eines Kulturkampfes, in dem es darum gehe, vor der politischen die kulturelle Hegemonie zu gewinnen. Die Auseinandersetzung mit den Autoren der konservativen Revolution, mit Nietzsche, Pareto und Evola, aber auch zeitgenössischer Verhaltensforschung (Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeld) sowie Eugenik und Soziobiologie dient dazu, den vom Christentum, Marxismus und Liberalismus angeblich in der Tradition der Aufklärung herbeigeführten „Egalitarismus“ zu bekämpfen und die Besinnung auf die europäischen Werte vor 1789 voranzutreiben. Gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit setzt die Neue Rechte die Bindung an die (Volks-) Gemeinschaft, die natürliche Ungleichheit der Menschen und Rassen sowie den Gedanken sich selbst bildender heroischer Eliten.
Gegen die vorgebliche politische, militärische und kulturelle Hegemonie der USA, die als Endpunkt des liberalkapitalistischen Individualismus betrachtet wird, setzt die Neue Rechte auf die Identität der europäischen Völker, gegen den kapitalistischen Krämergeist den Primat der Politik im Sinne von Carl Schmitt. Demokratie ist demzufolge ein dem Liberalismus folgendes politisches Ordnungsprinzip, das die Neue Rechte ablehnt aufgrund seiner egalitären Basis, seiner kompromißgerichteten Entscheidungsfindung und den verfahrenszentrierten Legitimationsgrundlagen. Hier liegt -neben der unterschiedlichen Beurteilung des Christentums und dem Anti-Amerikanismus der Neuen Rechten -der wohl entscheidende Unterschied zum etablierten westeuropäischen Konservatismus: Während dieser nach 1945 die demokratischen und republikanischen Spielregeln gelernt hat und akzeptiert, bekämpft die Neue Rechte die Demokratie als solche -ganz in der Tradition der Konservativen Revolution. Auch in der Behandlung der Menschenrechtsfrage zeigt sich die antidemokratische Stoßrichtung: Sie stellt die „Sache der Völker“, ihre kulturellen Eigenarten und rassischen Besonderheiten über das demokratische Essential der universalistischen Menschenrechte
Die Neue Rechte in Frankreich ist keineswegs politisch und gesellschaftlich isoliert. Ihr Vordenker Alain de Benoist erhielt 1977 den Essayisten-Preis der Academie Franaise für sein Werk „Vue de droite“ (Aus rechter Sicht) Im Sommer 1979 sorgte eine Pressekampagne ihrer Gegner für große öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem das angesehene „Figaro-Magazine“ den Autoren der Neuen Rechten Gelegenheit gegeben hatte, dort regelmäßig zu publizieren. Über den „Club de l’horloge" („Uhren-Klub") sucht die sich aus der Tagespolitik heraushaltende Neue Rechte auch politischen Einfluß zu gewinnen. Mitbegründer Yvan Blot ist mittlerweile Europa-Abgeordneter des Front National und Berater der deutschen „Republikaner“
Der Front National und die Neue Rechte praktizieren eine uneingestandene Arbeitsteilung. Obwohl die Neue Rechte offiziell den Front National nicht unterstützt, ist doch ihr Einfluß auf diese Rechtsaußen und die gesamte rechtsextreme Szene spürbar: Sie hat zu einer Modernisierung und Intellektualisierung der Programme beigetragen. Innerhalb der rechtsextremen Publizistik, auch außerhalb Frankreichs, gelten rassistische Aussagen nicht mehr als Produkt autoritärer Vorurteile, sondern als Ergebnis „wissenschaftlicher“ Einsichten. Es ist der Neuen Rechten gelungen, darüber hinaus auch andere Themen und Begründungszusammenhänge aus dem Dunstkreis der Stammtische herauszuholen und auf eine quasi-rationale Argumentationsstufe zu heben. Das Plädoyer zur Besinnung auf das kulturelle Erbe Europas und des Abendlandes ist eine Form des Nationalismus, die ohne dezidierte Fremdenfeindlichkeit auskommt, aber gleichwohl Europa zur Festung gegen die Invasion von Flüchtlingen aus der Dritten Welt erklärt. Der Begriff „Ethnopluralismus“ behauptet die anthropologisch angeblich erwiesene Homogenität der Völker und die Unverantwortlichkeit der ethnischen „melting pots“,. wie etwa in den USA, ohne auf plumpe ausländerfeindliche Parolen zurückgreifen zu müssen.
V. Die Neue Rechte in der Bundesrepublik
Die französische Neue Rechte hat inzwischen Ableger hervorgebracht in Belgien, Italien, Spanien und anderswo In der Bundesrepublik ist sie von zwei Seiten bereitwillig aufgenommen worden: Im Umfeld der von CDU/CSU enttäuschten Konservativen und bei jenen Richtungen weiter rechts, die im NS-fixierten Denken der alten Rechten keine Zukunft sehen. Strenggenommen gibt es in der Bundesrepublik keine einheitliche „neue Rechte“, sondern, wie es Wolfgang Gessenharter formuliert hat, „sowohl vom Ideenpotential als auch organisatorisch eine Gruppierung zwischen dem deutschen Konservatismus und dem deutschen Rechtsextremismus, die eine Scharnierfunktion, also Verbindung und Begrenzung gleichermaßen, zwischen beiden bildet“
Das Fortleben von Ideen der „Konservativen Revolution“ hierzulande unterscheidet sich von Frankreich vor allem durch eine kaum mehr überschaubare organisatorische und auch weltanschauliche Zersplitterung Konservative Vordenker wie der Erlanger Historiker Hellmut Diwald, der ehemalige Ernst-Jünger-Sekretär Armin Mohler, der Osnabrücker Soziologe Robert Hepp, der Stuttgarter Sozialphilosoph Günter Rohrmoser oder der jüngst verstorbene Bochumer Politologe Bernard Willms und andere, weniger bekannte Publizisten, haben bei aller Individualität und Rivalität mit ihrem akademischen Anhang in Zeitschriften und bei Kongressen die Botschaften der „neuen Rechten“ mit unterschiedlicher Akzentuierung propagiert und auch eine jüngere Generation des konservativ-nationalistischen Spektrums beeindrucken können: Zwischen dem rechten Unionsrand und den Vertriebenenverbänden, zwischen den „Republikanern“ und den rechten „Denkfabriken der Wende“ zwischen der vordem rechtsextremen und mittlerweile zur christlich-konservativen Seite gewechselten Zeitschrift „Mut“ und der Tageszeitung „Die Welt“ ist ihr Einfluß spürbar. Die seinerzeit von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegebene Buchreihe „Hero derbücherei Initiative“ wie auch kleinere, weniger bekannte Zeitschriften für ein überwiegend akademisches Publikum (Nation Europa, Elemente) leben vom Geist der „Konservativen Revolution“. Im Angebot sind unter anderem politisch-philosophische Begründungen der „Nation“ als zentraler Kategorie eines Volkes (Willms), Forderungen nach „geistig-politischer Wende“ (Rohrmoser) und Beendigung der zerstörerischen „Vergangenheitsbewältigung“ (Mohler), das Herunterspielen der deutschen Kriegsschuld (Diwald), Plädoyers für die rassische Reinheit der Deutschen (Hepp) und neue Eliten (Kaltenbrunner). Strömungen der „neuen Rechten“ waren in den Gründungsprozeß der Partei „Die Grünen“ und ihrer Vorläufer ebenso involviert wie bei der Programmentwicklung der „Republikaner“
Was vor zehn Jahren noch als politische Skurrilität hätte bezeichnet werden können, beginnt heute vor dem Hintergrund offen aufbrechender Fremdenfeindlichkeit aus dem Schatten von Randzirkeln herauszutreten: „Wissenschaftliche“ Begründungen der Fremdenfeindlichkeit, vorgetragen nicht von sozialen Außenseitern oder Randbereichen jugendlicher Subkulturen, sondern von honorigen Hochschulehrem. Im Juni 1981 erschien das von elf deutschen Universitätsprofessoren unterzeichnete „Heidelberger Manifest“ Dort ist von der „Unterwanderung“ des deutschen Volkes durch Ausländer die Rede, von der Überfremdung des „Volkstums“ und der Notwendigkeit, den europäischen „Organismus aus erhaltenswerten Völkern“ frei von Ausländern zu halten. Dieses Dokument eines neuen akademischen Rassismus beginnt, so scheint es, Früchte zu tragen. Was heute im Ergebnis „Hoyerswerda ist ausländer-frei“ militant kulminiert, wird in Kreisen der „neuen Rechten“ schon länger vorgedacht, „wissenschaftlich“ bewiesen und in Randzonen konservativ-nationalistischer Öffentlichkeit gehandelt. Was hier mit Parolen („Ausländer raus“) zum Ausdruck kommt, findet dort als feinsinnige Sprachschöpfung sich wieder: „Ethnopluralismus“ steht als Sammelbegriff für die Trennung der Ethnien. So unterschiedlich die Methoden, so ähnlich sind doch die Ziele: Das rassisch reine, das kulturell homogene Deutschland soll es sein, von keiner „Vergangenheitsbewältigung“ in seiner macht-staatlichen Fülle getrübt, nach innen homogen, nach außen als starke europäische Zentralmacht.
Eine beachtenswerte Sonderrolle im weiten Umfeld der Neuen Rechten spielen linksnationalistisch-antikapitalistische Strömungen in der nationalrevolutionären Tradition eines Ernst Niekisch oder Otto Strasser. Die „linken Leute von rechts“ sammeln sich heute um das Koblenzer Magazin „wir selbst“ und ihren Vordenker Henning Eichberg. Sein Konzept des „Ethnopluralismus“ richtet sich gegen universalistische politische Philosophien und besteht auf der unaufhebbaren Differenz der Menschen, Kulturen und Traditionen. Demnach sind „nationale Identität“ in kleinen, ethnisch homogenen Einheiten und Entfremdung in der universalistischen, kapitalistischen und multikulturellen Einheitswelt die Alternativen unserer Zeit Eichberg sieht in Strategien des „Befreiungsnationalismus“ von unten die einzige Chance der Völker, sich aus der Knechtschaft des Imperialismus zu emanzipieren und ihre kulturelle Identität zu bewahren. Die Sonderstellung dieser auch in das Spektrum der grünen Bewegungen hineinreichenden Strömung besteht darin, daß hier Nationalismus von unten her gedacht wird, nicht vom Staat, sondern von den europäischen Völkern her.
Fragen wir -bei allen Unterschieden -nach dem Gemeinsamen, dem Verbindenden des neu-rechten Spektrums, so muß auf die Besonderheiten der deutschen Entwicklung hingewiesen werden. Der Anti-Liberalismus der sehr heterogenen deutschen „neuen Rechten“ bezieht sich immer wieder auf die zwölf Jahre sozialliberaler Koalition (1969-1981), deren vermeintlich verhängnisvolle und geistig nachwirkende Folgen es zu überwinden gelte. Aufgrund des Ost-West-Konflikts ist der Antikommunismus eine im Vergleich zur Weimarer Rechten weitaus stärker ausgeprägte Denkfigur und schließlich ist, anders als etwa bei der französischen Nouvelle Droite, der Geschichtsrevisionismus eine bedeutende Grundhaltung: Es gelte, endlich mit der „Vergangenheitsbewältigung“ Schluß zu machen, der unterstellt wird, sie habe zur Knechtung des deutschen Volkes beigetragen und durch „Umerziehung“ die Geister vernebelt.
VI. Wider das antidemokratische Denken
1932 notiert Edgar Julius Jung mit Genugtuung und nicht ohne Pathos, die Gedanken der „Konservativen Revolution“ seien in den Jahren 1919 bis 1927 „fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit von einzelnen Kreisen und schöpferischen Mensehen geformt und gegen den Widerstand einer hohnlachenden Umwelt durchgefochten worden ... Die geistigen Voraussetzungen für die deutsche Revolution wurden außerhalb des Nationalsozialismus geschaffen.“ Wenn sich die Geschichte nicht wiederholt, so sollte auch die Mißachtung und Ignoranz der Weimarer demokratischen Öffentlichkeit gegenüber Jung und seinen Anhängern sich nicht wiederholen
Die „Neue Rechte“ in der Bundesrepublik ist bislang ein Phänomen sich elitär verstehender politisch-intellektueller Zirkel und Kleingruppen. Sie blüht eher im Verborgenen, abseits des politischen Getriebes. Aufmerksamkeit verdient sie im Hinblick auf eine poröser werdende allgemeine Bindung an demokratische Normen und Verfahren. Das „Ende der Ideologien“, die geringe Attraktivität der „ismen“, das Mißtrauen in die politische Klasse und die Suche nach künftigen Orientierungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eröffnen freilich eine geistige tabula rasa, auf der auch, so scheint es, antidemokratische Ideen von rechts Platz finden könnten.
Die bisherigen Bezüge im politischen Denken auf Carl Schmitt, Ernst Jünger und andere Konservative waren immer partikulär, rudimentär, bedienten sich eines geistigen Steinbruchs, der aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus als solcher verpönt war. Hier setzt die Neue Rechte an: Sie versucht, am weitesten in Frankreich, aus dem geistesgeschichtlichen Erbe der „Konservativen Revolution“ eine in sich geschlossene rechte politische Theorie zu entwickeln -gegen Liberalismus und Demokratie, für den starken Staat und für eine Festung Europa.
Kern einer solchen Theorie ist der Begriff der „Gemeinschaft“, den es, so die Neue Rechte, gegen die „Gesellschaft“ vorzubringen gelte. Das Wiederaufleben von Ideen der „Konservativen Revolution“ ist eine offenbar breiter werdende elitär-intellektuelle Ausdrucksform des Protests gegen Verwerfungen der modernen Gesellschaft. Die Vision eines ethnisch und kulturell homogenen, organisch gegliederten Volkes im starken, den Volkswillen verkörpernden Staat und, umgekehrt, die Konzeption eines „Befreiungsnationalismus“ von unten werden ausgespielt gegen die Vorstellung einer pluralistischen, individualistischen, sich in Interessen-Kämpfen aufzehrenden, nach innen und außen offenen Gesellschaft.
Die Realisierung dieser Vision kann, darauf wäre nachhaltig zu bestehen, nur um den Preis der Demokratie, der Toleranz und der Liberalität erkauft werden. Die geistige Herausforderung der Neuen Rechten liegt darin, daß das Verhältnis von Ge-meinschaft und Gesellschaft angesichts vielfältiger Erosionsprozesse neu zu bestimmen wäre. Was „Gemeinschaft“, Solidarität, Miteinander in der Demokratie und in der Gesellschaft heute und künftig bedeuten können, das bedarf in der Tat einer längerfristigen und intensiveren Klärung. Die Neue Rechte sollte weder überschätzt noch unterschätzt werden. Sie sollte als Warnsignal und als Herausforderung zugleich verstanden werden.