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Die Folgen des Holocaust für die israelische Gesellschaft | APuZ 1-2/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1-2/1992 Zur deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert „Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.“ Zum 50. Jahrestag der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942 Artikel 1 Reaktionen auf die Verfolgung der Juden und den Holocaust in Deutschland vor und nach 1945 Die Folgen des Holocaust für die israelische Gesellschaft „Vergangenheitsbewältigung“ Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs

Die Folgen des Holocaust für die israelische Gesellschaft

Moshe Zimmermann

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Bewußtsein der Israelis ist -seit 1948 mit zunehmender Tendenz -der Holocaust zum zentralen Grundpfeiler des Selbstverständnisses geworden. Der Verlauf dieser Entwicklung ist in der Tat paradox: Je weiter der Holocaust zurückliegt, desto stärker prägt er das historische und politische Bewußtsein der Israelis. Diese Einstellung entwickelte sich in drei Phasen: Verdrängung, Information, Mythologisierung. Nicht die historischen Fakten selbst haben diese Entwicklung bestimmt, sondern der zum Mythos gewordenbe Holocaust, der dieses Ereignis stets vergegenwärtigt. Bei der Prägung des Holocaust-Bewußtseins wirken vor allem zwei zentrale Kräfte ein -Zionismus und Religion -, die daraus in unterschiedlicher Weise ihre Legitimität beziehen. Auch für die Medien und das Erziehungssystem ist die Holocaust-Rezeption von großer Bedeutung. Problematisch ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust-Bewußtsein allerdings nicht allein für die jüdische Minderheitsgesellschaft, sondern zumal für spezifische Gruppen: ultraorthodoxe Juden, orientalisehe Juden sowie israelische Araber. Einen starken Aufschwung erhielt das ausgeprägte Holocaust-Bewußtsein dadurch, daß die konservative Wende 1977 das Holocaust-Erlebnis zum zentralen kollektiven Mythos gemacht und damit zu seiner politischen Instrumentalisierung beigetragen hat. Nach dem Golfkrieg ist die Neigung, die Mythologisierung des Holocaust -nicht nur in bezug auf Deutschland -zum Fundament des israelischen Selbstverständnisses zu machen, besonders groß geworden.

I. Die Vergangenheit im Prisma der Gegenwart

Die Erwähnung des Holocaust durch den israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Shamir bei der Eröffnungsrunde der israelisch-arabischen Friedenskonferenz in Madrid am 30. Oktober 1991 war unvermeidbar. Ebenso wie der Holocaust in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948 als Baustein auf dem Weg zur Staatsgründung erwähnt werden mußte, gehörte seine Erwähnung zur Argumentation und Erklärung der israelischen Position in den Friedensverhandlungen mit den arabischen Nachbarstaaten.

Schon in der Unabhängigkeitserklärung vom 15. Mai 1948 hieß es: „Die Sho’ah (Holocaust-„Kätastrophe“), die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach, und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs neue, daß das Problem der Heimatlosigkeit und des Mangels an Selbständigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muß ... Die Überlebenden des schrecklichen Nazi-Gemetzels in Europa sowie Juden anderer Länder scheuten weder Mühe noch Gefahren, um nach dem Lande Israel aufzubrechen .. ." In Shamirs Rede 43 Jahre später hörte man nun: „Dieses Jahrhundert erlebte das NaziRegime, das uns vernichten wollte. Die Sho’ah, ein im Ausmaß präzedenzloser Völkermord, der einen gewaltigen Teil unseres Volkes zerstört hat, war möglich, weil niemand uns geschützt hat; denn wir hatten keine Heimat. Und weil wir heimatlos waren, waren wir wehrlos.“

Die Differenz zwischen Ben Gurion und Shamir, zwischen 1948 und 1991, liegt nicht allein im unterschiedlichen Pathos. Die Fortsetzung von Shamirs Rede weist auf eine Entwicklung hin, die zu einem essentiellen Unterschied geführt hat: „Aber nicht nur die Sho’ah hat die Notwendigkeit, uns als Staat in Erez (Land) Israel anzuerkennen, hervorgerufen. Die Wiederauferstehung des Staates Israel, unmittelbar nach der Sho’ah, hat die Welt vergessen lassen, daß unser Anspruch auf Erez Israel sehr alt ist ...“ Die Worte „nicht nur die Sho’ah“ implizieren, wenn auch unbewußt, daß der Holocaust inzwischen für viele zum einzigen historischen Grund der Existenz des Staates Israel geworden ist.

Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1948 gingen davon aus, daß die Staatsgründung auf sechs gleichwertigen Elementen in einem kausalen Zusammenhang beruht: 1. Erez Israel ist der Geburtsort der jüdischen Staatlichkeit; 2. trotz des Lebens in der Diaspora blieb das jüdische Volk dem Lande Israel in Treue verbunden; 3. die zionistische Organisation hat das Recht des jüdischen Volkes auf Wiederherstellung der jüdischen Staatlichkeit in seinem Lande proklamiert; 4. die Balfour-Deklaration (1917) und die Mandatsurkunde (1922) haben dieses Recht bestätigt; 5. die Sho’ah; 6.der UN-Beschluß von 1947 hat die Gründung des jüdischen Staates sanktioniert.

Shamirs Rede im Oktober 1991 weist darauf hin, daß zwischen 1948 und 1991 die ersten drei Argumente entweder tatsächlich von der Weltöffentlichkeit vergessen wurden, ihre Gültigkeit vor der Welt verloren haben oder daß dies mindestens aus der Perspektive der Israelis so aussieht. Mehr noch: Obwohl die Rede in Madrid vielleicht eher die persönliche Überzeugung Shamirs und seiner Anhänger als die objektiven Fakten oder Beobachtungen wiedergibt -wobei die Vertreter dieser Überzeugung dem vierten und sechsten Punkt der Unabhängigkeitserklärung keine große Bedeutung zumessen -, bleibt im Bewußtsein der Israelis, im Gegensatz zu 1948, die Sho’ah das einzige gewichtige Argument für die Weltöffentlichkeit in der Diskussion um die Existenz Israels und die zukünftigen Beziehungen zur arabischen Umwelt. Ob tatsächlich oder vermeintlich -die Aussage impliziert in jedem Fall eine entscheidende Entwicklung im israelischen Bewußtsein seit 1948: Der Holocaust ist 1991 zum zentralen Grundpfeiler der israelischen Selbstbestimmung geworden.

Die Zusammenhänge weisen auf einen paradoxen Verlauf der Entwicklung: Je weiter der Holocaust zurückliegt, desto stärker prägt er das Bewußtsein der Israelis und den Sozialisationsprozeß in Israel. Es ist bezeichnend, daß erst jetzt, im Oktober 1991, die erste umfassende Darstellung zum Thema „israelische Gesellschaft und Holocaust-Rezeption“ veröffentlicht wurde Der Verfasser, ein Journalist, der sich in seiner Dissertation mit Biographien von KZ-Kommandanten befaßt hat, beschreibt die Vorwehen des Holocaust in Palästina-Erez-Israel (die Einwanderung der „Jeckes“), die Reaktion während des Zweiten Weltkrieges und die Nachwehen -Staatsgründung, Wiedergutmachung, Kastner-Prozeß und Eichmann-Prozeß, Krieg (1967 und 1973) und Politik. Diese Darstellung umfaßt und unterstreicht zu Recht die ubiquitäre Gegenwärtigkeit des Holocaust in der israelischen Gesellschaft. Sie faßt die Entwicklung zusammen, hält dem israelischen Leser einen Spiegel vor und betont, wie untrennbar Gesellschaft, Selbstbewußtsein und Auseinandersetzung mit dem Thema „Holocaust“ geworden sind.

Es darf hier jedoch nicht der Eindruck entstehen, Segevs Buch sei die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema überhaupt. Historiker, Pädagogen und Psychologen haben lange vor Segev mit dem Thema der Relevanz des Holocaust für Israel und die Israelis, der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Erinnerung gerungen Segevs Arbeit ist jedoch nicht nur die umfassendste, sondern auch die populärste und meist diskutierte Darstellung des Themas in Israel.

Es waren aber nicht allein die Fakten, die allmählich bekannt wurden, die die oben aufgezeigte Entwicklung bestimmt haben, sondern auch der Mythos des Holocaust, der durch die Besonderheit dieses Geschichtsabschnitts und seine Betonung in der Historiographie geformt wurde. Anders als bei den meisten historischen Ereignissen wird die Präsenz dieser historischen Epoche zunehmend markanter -unabhängig vom Forschungsstand selbst.

Wenn ein Hindernis auf dem Weg zur Normalisierung nicht allein der israelisch-deutschen, sondern auch der israelisch-arabischen und innerisraelischen Beziehungen steht, so ist es diese Mythologisierung des Holocaust Schärfer formuliert: Die zeitliche Entfernung zur Wannsee-Konferenz oder zum Dritten Reich schafft keine normale historische Distanz oder sachliche Betrachtungsweise; je weiter der Holocaust in die Vergangenheit rückt, desto größer und stärker ist seine mythische Wirkung. Wohlgemerkt: Dies gilt nicht nur für die israelische, sondern auch für die deutsche und allgemeine Holocaust-Perspektive. Während sich jedoch dieser paradoxe Mythologisierungsprozeß bei Deutschen bzw. Nicht-Juden eher im Unterbewußtsein vollzieht, wird er bei den Israelis bewußt gepflegt und genutzt.

Die Einstellung zum Holocaust entwickelte sich in Israel in drei Phasen. Unmittelbar nach dem Krieg, etwa bis zum Eichmann-Prozeß 1961, stand der Holocaust eher im Zeichen der Verdrängung aus der kollektiven Erinnerung: Die Geschichte des Holocaust zusammen mit der Geschichte der Diaspora schien im krassen Gegensatz zum israelischen Wesen bzw. Mythos zu stehen -dort die „Schafe, die zur Schlachtbank“ gingen, hier die Kriegshelden; dort die realitätsfernen „Luftmenschen“, hier die produktiven Pioniere. Erst als die Kriegsgeneration älter geworden und die Selbstsicherheit der Israelis als Bürger eines normalen Staates gewachsen war, wurde die Behandlung des Holocaust ein „legitimes“ Thema, das man erforschen und kennenlernen konnte und durfte. Die Aktivität der Hüter der Holocausterinnerung -z. B. die Gedenkstätte Yad Va’Shem und andere Institutionen -erhielt mit dem Eichmann-Prozeß Auftrieb; Publikum und Erziehungssystem konnten sich über diesen Abschnitt der Geschichte nun ohne Verdrängungszwänge informieren.

Diese neue Einstellung zum Thema „Holocaust“, kombiniert mit der Revolutionierung der politischen Situation Israels nach dem 67er und 73er Krieg und dem Generationswechsel, führte zur dritten Phase -der Phase der Mythologisierung.

Die Informationen über den Holocaust, die nun umfangreicher und detaillierter wurden, konnten mehr und mehr als Rechtfertigung für die Existenz Israels, für seine Politik, mobilisiert werden. Da die ursprünglichen Ziele des Zionismus entweder erreicht worden waren (Staatlichkeit), an Kraft verloren hatten oder unerreichbar geworden waren (Sozialismus, Kulturrenaissance, Mustergesellschaft), trat der Holocaust immer mehr als raison d’etre des Zionismus und des Staates Israel hervor. Da die Informationen über diese Zeit ihre Unmittelbarkeit verloren hatten -bei der zweiten Nachkriegsgeneration oder bei den meisten Einwanderern aus den moslemischen Ländern gibt es keine persönlichen Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges mehr -konnte sich die Mythologisierung dieser Epoche durchsetzen.

Der übliche Prozeß der mythologisierenden Historisierung hatte in diesem Fall eine so außergewöhnliche Wirkung, weil die Epoche nicht nur objektiv singulär war, sondern auch weil sie im Sozialisationsprozeß der Israelis eine derartig zentrale Rolle erhielt. Die Mythologisierung untermauert die Relevanz dieser vergangenen Epoche und ver-gegenwärtigt sie in jedem Augenblick. Es ist kaum möglich, in irgendwelchen Diskussionen in Israel am Holocaust vorbeizukommen -sei es in Diskussionen um die innere Politik oder um die Frage der besetzten Gebiete, und selbstverständlich ist das Thema „Holocaust“ unvermeidbar, wenn es um das Deutschland der Gegenwart oder um die deutsch-israelischen Beziehungen geht.

Die schematische Periodisierung in drei Phasen darf selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in jeder Phase genügend Ausnahmen fanden: Auch vor dem Eichmann-Prozeß gab es Versuche, sich vor allem wissenschaftlich und historisch mit dem Thema zu befassen. Und nach dem Eichmann-Prozeß gab es starke Tendenzen, vor allem der Überlebenden selbst, das Verdrängte nicht aufarbeiten zu müssen In der dritten Phase schließlich sind sowohl die Fortsetzung der unmittelbaren Beziehungen zum Holocaust als auch die entmythologisierenden Versuche im Bereich der Wissenschaft zu bemerken. Das Schema behält jedoch seine Richtigkeit, und ist für die systematische Behandlung des Themas erforderlich und nützlich.

Die Drei-Phasen-Entwicklung ist weder erstaunlich noch singulär: Auch in Deutschland, in Europa oder in Amerika gab es eine ähnliche Entwicklung. Dort hatte die Mythologisierung des Dritten Reichs ebenfalls politische und psychologische Folgen. Die große Aufmerksamkeit der Welt in Sachen Israel bzw. Palästina, die oberflächlichen Analogien zwischen damals und heute, dort und hier, sind nicht durch das spezifische Gewicht der Sache selbst, sondern durch die psychologische Funktion des Mythos entstanden.

Der Prozeß der Mythologisierung zeigt, daß nicht die Vergangenheit als solche („wie es eigentlich gewesen“), sondern der Verlauf der Vergangenheit im Prisma der Gegenwart und der gegenwartsbezogenen Überlegungen das Entscheidende ist.

II. Die Herausforderung des Zionismus und der jüdischen Religion

Die schematische Darstellung der Holocaust-Rezeption in Israel bedarf hier nun einer Differenzierung und Spezifizierung. Es geht in diesem Zusammenhang vor allem um die Einstellung der zwei zentralen Kräfte im israelischen Judentum -Zionismus und Religion.

Wie bereits aus den einleitenden Zitaten hervorgeht, wird der Holocaust als Bestätigung des Zionismus verstanden. Der Sinn des Zionismus, so heißt es im nachhinein, war die Schaffung eines Staates für die verfolgten oder sich in Gefahr befindenden Juden. Diese Betrachtungsweise begleitet den Zionismus seit der Gründung der zionistischen Organisation 1897 bis heute und hat seit 1933 an Gewicht gewonnen. Der führende israelische Soziologe S. N. Eisenstadt hat dies in folgenden Worten zusammengefaßt: „Die Schrecken des Holocausts, die Ermordung der wehrlosen Diaspora-Juden, haben den grundsätzlichen Prinzipien des Zionismus Validität verschafft und vermutlich bei der jüngeren Generation eine noch stärkere Abneigung gegenüber der Diaspora erzeugt. Andererseits wurden die Elemente des Heroismus im Holocaust ... zum Bestandteil der jüdischen Identität, die den Zusammenhang zwischen der jüdischen Geschichte und dem Zionismus und Erez Israel herstellt ... Das gesamte Holocausterlebnis wird als Grundaspekt begriffen, der den Zionismus und den Staat Israel legitimiert.“ Eine detaillierte Wiederholung der zahlreichen Zitate ist also in diesem Rahmen überflüssig -niemand wird die Schlußfolgerung bestreiten. Nicht einmal marxistische Zionisten werden eine alternative Schlußfolgerung vorziehen

Ein Streitpunkt erhebt sich aber auf der Basis dieser selbstverständlichen Schlußfolgerung: Wäre der Staat Israel, wenn er bereits 1933 existiert hätte, tatsächlich in der Lage gewesen, die europäischen Juden zu retten? Diese hypothetische Frage kann man zwar nicht mit Gewißheit beantworten; zwei andere Fragen aber: Was haben die Juden in Palästina zwischen 1933 und 1945 zur Rettung der europäischen Juden getan?, und: Welche Strömung im Zionismus hat den Holocaust vorausgesehen? kann man wohl historisch beantworten. Die Antworten können zur Rekonstruktion einer Antwort auf die hypothetische Frage beitragen.

Als Dina Porat im Jahr 1986 das Buch „Führung in der Falle“ veröffentlichte, war sie nicht die erste Historikerin, die sich mit dieser Frage befaßt hatte Doch machte sie das Thema zum öffentlichen Diskussionsgegenstand, der seitdem heftig erörtert und dem in der Forschung wiederholt aufgrund der verschiedensten Quellen nachgegangen wird. Die meisten Diskussionsteilnehmer, bei denen es sich in den wenigsten Fällen um Historiker handelt, zeigen wenig Einfühlung und Verständnis für die damalige Situation (ähnlich wie viele, die sich mit der Frage der Ha’avara befaßt haben)

und neigen dazu, den Unterschied zwischen Zionismus unter britischer Herrschaft und Zionismus im eigenen, souveränen Staat zu ignorieren, wenn sie behaupten: Die Zionisten im Lande Israel 1939-1945 haben nicht nur die europäischen Juden nicht gerettet, sie haben auch als Zionisten versagt! Diese Einstellung wäre eine Diskreditierung des gesamten Zionismus und der Schlußfolgerung aus seiner Aufgabe -der Zionismus im eigenen Land und Staat ist die Antwort auf die Judenfrage -, wenn die Kritik an der damaligen zionistischen Führung nicht vor allem aus der Ecke der heutigen Regierungskreise und damaligen Oppositionsgruppen käme. So aber wird nicht der Zionismus oder die genannte Schlußfolgerung aus dem Holocaust Ziel des Angriffs, sondern die Arbeiterpartei, die stärkste zionistische Partei in Palästina zur Zeit des Dritten Reiches.

Typisch hierfür ist die Erklärung Yoram Shefteis, des Verteidigers des Nazi-Kollaborateurs Demianiuk, daß die kriminelle Unterlassung (die Preis-gabe der europäischen Juden) ein Produkt der Herrschaft der Arbeiterpartei 1933-1977 [sic! ] in Israel gewesen sei und daß man die israelischen Quislings [sic! ] auch vor Gericht hätte stellen sollen Dies ist ein Beispiel nicht nur für mangelnde historische Kenntnis, sondern auch für die Instrumentalisierung des Holocaust in der aktuellen politischen Auseinandersetzung in Israel.

Die Instrumentalisierung wird auch bei der Beantwortung der zweiten Frage deutlich: Auf die Frage, wer den Holocaust vorausgesehen hat, erhält man selten die Antwort, der gesamte Zionismus habe versagt (der, wie alle anderen politischen und ideologischen Strömungen, versagen mußte). Ein Versagen wird hingegen meistens einer bestimmten Gruppierung oder politischen Partei im Zionismus vorgeworfen. Meistens wird auch in diesem Zusammenhang die Arbeiterpartei bzw. Arbeiterführung mangelnder Voraussicht angeklagt. Wiederholt wird der Satz des Führers der revisionistischen Zionisten (d. h.der damaligen Opposition zur sozialistischen Führung des Zionismus, also der heutigen Regierung) Wladimir Jabotinsky: „Liquidiert die Diaspora, bevor der Zustand der Diaspora euch liquidiert“ als Beweis dafür zitiert daß Jabotinsky und die revisionistische Partei die Aufgabe des Zionismus -den Juden eine sichere Heimstätte zu geben -hätten erfüllen können, wenn sie an der Macht gewesen wären. Daß die Prognose Jabotinskys nicht mit dem Holocaust, sondern „nur“ mit einer „normalen“ Verfolgung der Juden gerechnet hatte, wird aus der historischen Retrospektive deutlich Doch diese Retrospektive hat für die politische Diskussion um den Holocaust und den Zionismus keine Relevanz. Jabotinsky und andere Zeitzeugen werden weiterhin für aktuelle politische Zwecke instrumentalisiert. Typisch dafür ist die Meinung des Propagandachefs der Regierung Begin, Shmuel Katz, am Holocaust könne der Unterschied zwischen Weizmans (angeblichem) Versagen und Jabotinskys (angeblicher) Umsicht deutlich gemacht werden

Sowohl die wissenschaftliche Diskussion als auch die Instrumentalisierung des Themas „Zionismus und Holocaust“ sind der Ausdruck einer tiefen Frustration. Letztendlich hatte der Zionismus den Holocaust nicht verhindern und im Prozeß des Massenmords nicht effektiv intervenieren können. Auch in diesem Zusammenhang trifft die Zusammenfassung Eisenstadts das Wesentliche: „Der Holocaust hat Israel nicht nur großer Reserven an Menschen und Eliten beraubt, sondern er hat das Zentrum des jüdischen Lebens zerstört, in dessen Rahmen sich ein wesentlicher Teil der kulturellen und sozialen Schöpferkraft der zionistischen Bewegungen abspielte ... Das Verschwinden des jüdischen Zentrums in Ost-und Mitteleuropa auf so grausame Weise hat zwar die Richtigkeit der zionistischen Prinzipien bewiesen ..., aber gleichzeitig das zentrale Diskussionsobjekt der zionistischen Bewegung, den Hauptgrund ihres revolutionären Elans, ihrer Orientierung und Aktivität ausgemerzt.“ Der Holocaust und seine Moral waren und bleiben seither für den Zionismus, vor allem in Israel, eine widersprüchliche Problematik, die im Endeffekt die Mythologisierung hervorruft. Daß dieser innere Konflikt bereits in der zweiten Phase der israelischen Gesellschaft zu einer Rückbesinnung auf die jüdische Diaspora führte, ist eine weitere Schlußfolgerung des Soziologen. Sie unterstreicht, wenn auch indirekt, die Bedeutung der Auseinandersetzung der jüdischen Religion mit den Folgen des Holocaust. Mit wachsender „Klerikalisierung" des israelischen, staatlichen Zionismus -ursprünglich eine säkulare Bewegung -und zunehmender Verstärkung der national-religiösen Ideologie wurde auch die Auseinandersetzung mit der Haltung der jüdischen Religion während und nach dem Holocaust für die israelische Gesellschaft immer relevanter. Die einfachen Auswege -die Absage an die Religion, die Negierung der Diaspora mit ihrer Religiosität oder die Haltung des wichtigsten israelischen Philosophen J. Leibovitz, der meinte, „der Holocaust hat keinerlei religiöse Bedeutung“ -wurden für die Mehrheit der Bevölkerung unakzeptabel.

Der Wunsch nach einer Antwort der jüdischen Religion zum Holocaust ist auch eine Sache der angeblich säkularisierten Mehrheit in Israel geworden. Das Thema wird nicht nur in rabbinischen Kreisen erörtert -auch in der akademischen Welt wird es inzwischen zunehmend diskutiert: In der modern-orthodoxen Universität Bar-Ilan befaßt sich das Institut für Holocaust-Forschung intensiv mit der Rolle der Religion während des Krieges und ihrem Stellenwert in der Nachkriegsdiskussion. Religiöses Leben während des Krieges oder rabbinische Aufrufe und Mahnrufe aus der Zeit des Holocaust sind typische Forschungsthemen in den letzten Jahren -also in der dritten Phase dec Holocaust-Rezeption in Israel -geworden

Wichtiger ist jedoch die nicht-akademische Diskussion: Nach dem Krieg hatte die radikale jüdische Orthodoxie den Zionismus für den Holocaust verantwortlich gemacht. Der Zionismus, so hieß es, sei der Versuch, „die Mauer zu stürmen“, d. h. auf eigene Faust die messianische Zeit herbeizuführen -ein Versuch, der Gott von seiner Verpflichtung befreit habe, sein Volk, die Juden, vor der Ausrottung zu schützen Die säkularen Zionisten hielten demgegenüber gerade die religiöse Führung, die die Juden davon abgehalten hätte, Zionisten zu werden und nach Palästina auszuwandern, für mitschuldig Holocaust.

Solange der israelische Zionismus im wesentlichen säkular war, und die Ultraorthodoxie eher als Außenseiter in der israelischen Gesellschaft galt, war die Diskussion über die Religion als Erklärungsmuster eher marginal. Auch der „dritte Weg“ einiger gemäßigt-orthodoxer Zionisten, wonach der Holocaust der Preis für die Wiederauferstehung der jüdischen Staatlichkeit wäre, hat kaum Widerhall finden können Als aber der Zionismus in Israel religiöser oder „jüdischer“ wurde und die Ultraorthodoxie seit 1977 ihre Außenseiterposition zunehmend aufgab, wurde diese Diskussion so rege und relevant, wie sie es bereits in der amerikanischen Diaspora seit langem war.

Typisch für diese dritte Phase der Auseinandersetzung ist die zionistisch-orthodoxe Interpretation des Holocaust: Einerseits wird der Begriff „Holocaust“ (Sho’ah) akzeptiert, andererseits seine Singularität bestritten: Der Holocaust sei „nur“ ein Glied in der langen Kette von Exil und Verfolgung Der Holocaust habe die Juden zu stärkerem Glauben führen sollen anstatt zu der sich nach dem Krieg ausbreitenden Glaubenslosigkeit. Das Verhalten Gottes während des Holocaust sei nur „Hester Panim“ (Verbergen des göttlichen Angesichts) gewesen -eine Verhaltensweise, die bereits in der Bibel für Zeiten der Sünde angekündigt wird. Hier wird nun aber nicht mehr der Zionismus als Sündenursache genannt -worin die Juden gesündigt haben, sei nur Gott bekannt. Die Vertreter dieser Interpretation versuchen jedoch, die Gedanken des jüdischen Gottes zu entschlüsseln und vermuten, daß die Assimilation (d. h. die Anpassung an die Nicht-Juden) die eigentliche Sünde war und bleibt. So wird die Katastrophe der assimilierten (d. h. aller) Juden in Europa als Strafe Gottes erklärt und zugleich vor der Assimilation -eigentlich Säkularisierung -des Zionismus in Israel gewarnt

Dadurch gelangt man zu einer kompromißartigen Lehre aus dem Holocaust: Zion -aber nur unter der Ägide der jüdischen Orthodoxie -ist die Lösung der Judenfrage und der Sinn des Holocaust. Der Glaube ist die Rettung. Die Angst vor der Säkularität ist im religiösen Zionismus so stark verbreitet, daß man sogar die Wiederkehr der Reli-giosität bei Christen begrüßt: „Wir lernen, daß auf beiden Seiten -der Täter und der Opfer -der Verrat an der Religion einer der Hauptgründe des Holocaust war.“ Die Auseinandersetzung um die Bewertung des Holocaust vom religiösen Standpunkt aus ist also ein zusätzlicher Versuch, den Holocaust zu instrumentalisieren, und zwar hier im Rahmen des Ringens innerhalb der Orthodoxie sowie zwischen Orthodoxie und Zionismus. Dieser Versuch ist zwar noch immer weniger relevant für die israelische Gesellschaft als der Versuch, den Zionismus zu bestätigen oder zu kritisieren, aber die fortschreitende Verquickung von Religion und Zionismus erlaubt es nicht mehr, diesen Versuch als marginal zu bezeichnen.

III. Die Vermittler des Holocaust-Bewußtseins: die Medien und die Erziehung

Vor allem die Medien und das Erziehungssystem haben einen bedeutenden Einfluß auf das Holocaust-Bewußtsein und die Holocaust-Rezeption in Israel; sie spiegeln daher die erwähnte Drei-Phasen-Entwicklung am deutlichsten wider.

Das biblische Gebot „Erinnert Euch!“ (Deuteronomium) ist im Fall des Holocaust gesetzlich verankert worden: Ein Holocaust-Gedenktag wurde 1951 verordnet, und das „Yad Va'shem Gesetz 1953“ zur Errichtung einer Forschungs-und Gedenkstätte gründete eine Institution, die mit der Bearbeitung des Themas in wissenschaftlicher und öffentlicher Weise beauftragt wurde, um „das Volk in den Lehren des Holocaust zu unterweisen“ Diese Institution, die über Museum, Archiv, Bibliothek, Kurse etc. verfügt, ist die einzige, die durch ein Gesetz ins Leben gerufen wurde. Ihr zu Seite stehen bei der Erfüllung dieser Aufgabe freiwillige Institutionen: Der Kibbuz „Lochamei Hagetaot“ („Ghetto-Widerständler“) widmet sich seit seiner Gründung dem gleichen Zweck mit ähnlichen Mitteln. Zwei neuere Institutionen, „Massua“ („Gedenkfeuer“) seit 1973 und „Lapid“ („Fackel“) seit 1986 haben sich die Aufgabe gestellt, das israelische und ausländische Publikum, vor allem die Jugend, über den Holocaust aufzuklären. Die allgemeine Aufklärungsarbeit begann zwar schon in der ersten Phase und hat in der zweiten Phase an Dynamik gewonnen, ist aber dann in der dritten Phase ad absurdum geführt worden: Im Jahr 1980 ist das Pflichterziehungsgesetz von 1953 geändert worden, wonach die Holocaust-Geschichte für alle Schüler zur Pflichtlektüre wurde und im Umfang nunmehr etwa ein Drittel des Jahrescurriculums in Geschichte für die Schüler der Sekundarstufe II in den Gymnasien ausmacht

Die Gesetze und Verordnungen, die sich mit der Erinnerungsarbeit über den Holocaust befassen, waren in der ersten Phase eine Reaktion auf die Initiative der maßgeblichen politischen Gruppierungen (d. h.der Überlebenden), in der zweiten Phase eher eine Reaktion auf die sich entfaltende historische Information und schließlich in der dritten Phase eine Reaktion auf die Anregung der Regierung und der Medien, vor allem des Fernsehens, das in Israel erst gegen Ende der sechziger Jahre seine Arbeit aufnahm und seitdem die öffentliche Meinung entscheidend beeinflußt. Der Yom-Kippur-Krieg (1973), die Flugzeugentführung nach Entebbe (1977) und die von Palästinensern an hilflosen Israelis verübten Massaker (Naharia und Country-Club-Überfälle 1979/80) waren Ereignisse, die mit Hilfe der Medien das Holocaust-Trauma heraufbeschworen und zur Mythologisierung des Holocaust und seiner Lehren erheblich beigetragen haben. Nicht unwichtig in diesem Zusammenhang war die Ausstrahlung der amerikanischen Serie „Holocaust“ im September 1978.

Einen starken Aufschwung erhielt das Holocaust-Trauma und seine Präsenz in den Medien dadurch, daß die politische Wende 1977, die mit der Bildung vieler anderer historischer Mythen verbunden war, das Holocaust-Erlebnis zum zentralen kollektiven Mythos gemacht hat Für Ministerpräsident Begin und seinen Nachfolger Schamir war und ist der Holocaust allgegenwärtig -wie die Begin-Schmidt-Auseinandersetzung 1981, Begins Libanon-und Anti-PLO-Politik oder Schamirs Reaktion zum Fall der Berliner Mauer deutlich zeigten. Die Wechselwirkung zwischen Politik und Medien war für die Meinungsbildung während dieser dritten Phase von entscheidender Bedeutung.

Alle Forscher, die sich mit dem Zusammenhang Holocaust-Medien-Erziehung beschäftigen, sind sich darüber einig, daß die Zäsur zwischen der ersten und zweiten Phase um 1960 (Medienereignis Eichmann-Prozeß) und zwischen der zweiten und dritten Phase etwa 20 Jahre später (obengenannte Medienereignisse) eintrat. Erst seit Anfang der achtziger Jahre aber ist deutlich daß das Thema „Holocaust“ nicht mehr von der öffentlichen Tagesordnung -d. h. aus den Medien und der Alltagspolitik -verschwindet, im Gegensatz zur ge-samten vorherigen Periode. Die Medien zeigten in den letzten 15 Jahren eine besondere Reizbarkeit beim Thema „Antisemitismus und Holocaust“, die stärker ist als in der Politik und der öffentlichen Meinung und dadurch zur Verstärkung des Holocaust-Bewußtseins, vielleicht sogar zu einer gewissen Paranoia bei Politikern und Publikum beiträgt. Daß die Medien im großen und ganzen diesbezüglich radikaler sind, zeigte die Reaktion zur deutschen „Wiedervereinigung“.

Der Zusammenhang Medien-Politik-Publikum wurde von einem weiteren Element bestimmt, das meistens, wenn auch nicht immer, von der Politik unabhängig blieb -gemeint ist die historische Forschung in Israel und außerhalb. Seit 1976 gibt es keine Universität in Israel ohne einen Lehrstuhl für Holocaust-Studien. Doch hat die Forschung allein nicht zur Wende im kollektiven Bewußtsein geführt und meistens nicht das stereotype und populäre Bild ändern können -weder in den sechziger Jahren, als noch das Bild der „Schafe, die zur Schlachtbank gehen,“ dominierte noch in den achtziger Jahren, als der Kontext des Holocaust sich in den Augen der Öffentlichkeit auf den Antisemitismus reduzierte. Der Beitrag der Forschung ist ein indirekter und geringer geblieben.

Der Holocaust wird im Erziehungssystem hauptsächlich im Rahmen des Fachs Geschichte behandelt, erscheint aber auch im Rahmen des Fachs Literatur und als Sonderthema zur Zeit des Holocaust-Gedenktags im Frühling. Gedenktage sind stets der Hintergrund für schablonenhafte Betrachtungen und Bilder, während literarische Darstellungen selbstverständlich die licentia poetica nutzen. Beide haben eine effektive Wirkung, besonders wenn der Rahmen durch die bereits dargestellten gesetzlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt ist. Aber auch die Geschichtsstunde -die ja faktische und wissenschaftliche Kenntnisse vermitteln sollte -kann leicht einen un-wissenschaftlichen Charakter erhalten: In den Jahren der ersten Phase bis ca. 1967 herrschten bei der Schilderung von Antisemitismus und Holocaust affektive Stereotypen vor In der zweiten Phase versuchten die neuen Curricula, die im Erziehungsministerium seit Ende der sechziger Jahre entwickelt wurden, in der Geschichte der 2000jährigen Diaspora eher die strukturellen und konstruktiven Elemente zu verdeutlichen, so daß die Leidensgeschichte -einschließlich des Holocaust -eher im Hintergrund blieb Erst in der dritten Phase, vor allem seit Beginn der achtziger Jahre, „haben die Schulbücher den Holocaust wieder eingeführt“

Ein Schulbuch für die Sekundarstufe I und zwei Bücher für die Sekundarstufe II sollen als Beispiele angeführt werden: „Von Krieg zu Krieg“ ist ein Buch für die neunte Klasse, in dem die Geschichte des Holocaust im Kapitel 11 von insgesamt 218 Seiten) dargestellt wird, nachdem die Kapitel 1-10 die Geschichte Europas seit 1918, den Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus, den Antisemitismus und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs beschrieben und analysiert haben. Der Holocaust erscheint hier also vom breiteren Kontext ungetrennt und ist aufgrund der neuesten Forschung dargestellt. Für die Sekundarstufe II hat Arie Karmon, Historiker und Dozent an der Universität Beer-Sheba, im Jahr 1980 ein zweibändiges Werk über den Holocaust verfaßt 33). Auch dieses Schulbuch versucht vor allem, den zeitgeschichtlichen Kontext herzustellen, über Probleme der autoritären Persönlichkeit etc. nachzudenken und vereinfachte Antworten zu vermeiden. Das Buch stieß deswegen (und wegen seiner Ausführlichkeit) auf Opposition und ist dann praktisch aus dem Verkehr gezogen worden. Das erfolgreichste Buch für die Sekundarstufe II, von Gutman und Schatzker verfaßt -beide anerkannte Holocaust-Historiker der Universität Jerusalem -, erschien im Jahr 1983. In diesem Buch mit dem Titel „Der Holocaust und seine Bedeutung“ sind sieben der 16 Kapitel dem Kontext des Holocaust gewidmet. Die Darstellung ist sachlich und präzise: „Die Verfasser versuchten, die neuesten Forschungsergebnisse in das Buch zu integrieren und diese entsprechend ihrer Vorstellung von den pädagogischen Zielen zu präsentieren“, so die Zielsetzung in der Einleitung. Dieses Buch erreicht etwa ein Fünftel der Schüler

Welchen Effekt erzeugten diese Bücher? Die Schlußfrage für den Schüler in Gutman-Schatzkers Buch heißt: „Oft wird vom universalen’ vs. jüdischen 4 Aspekt des Holocaust gesprochen. Was bedeutet diese Unterscheidung?“ Was hier erfragt wird, hat Schatzker (heute Universität Haifa) wiederholt betont: Die Kinder, wie auch die gesamte Gesellschaft, müssen bestrebt sein, die Ereignisse im breiteren Kontext zu verstehen und zu begreifen, daß der vergangene Holocaust nicht von Dämonen, sondern von Menschen ausging, daß keine Gesellschaft gegen einen künftigen Holocaust, als Täter oder als Opfer, immun ist, daß nicht nur das jüdische Volk betroffen ist. Kurz: Hier werden keine ausschließlich vergangenheitsbezogenen und spezifisch jüdischen Lehren aus dem Holocaust gezogen. Die wissenschaftliche Qualität der Lehrbücher und ihre pädagogischen Ziele haben gleichwohl die Mythologisierung und das vereinfacht-stereotype Bild des Holocaust wie des Antisemitismus nicht überwinden können. Die Medien, die Stimmung, die Politik und die Darstellung des Holocaust in anderen Zusammenhängen beherrschen die Szene. So darf es z. B. nicht verwundern, daß mit der Wende in Osteuropa Studienreisen für Schulkinder nach Auschwitz populär geworden sind: Diese Reisen fungieren -so Schatzker -als „Tankstellen für Haß, für das Gefühl, daß „alle Welt gegen uns ist 4, daß man auf keinen Fall besetzte Gebiete aufgeben darf“ etc.

Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem extra-curricularen Programm: Der Verein „Lapid“, der sich um die Aufklärung der Israelis über die Bedeutung des Holocaust bemüht, hat die folgenden Lehren des Holocaust in den Mittelpunkt gerückt: Jüdische Schicksalsgemeinschaft, Vorteile der zionistischen Lösung, das facettenreiche Gesicht des Muts, die Vorteile der Demokratie, die Pflicht der Demokratie, sich gegen antidemokratische Strömungen zu schützen, Toleranz als Grundnorm Dementsprechend hat „Lapid“ z. B. gegen den extrem rechten israelischen Politiker Kahane und seine Partei protestiert. Als aber der Verein seine Ziele dem Präsidenten der Knesset, Shilansky -einem Holocaust-Überlebenden -, vortrug, erwiderte dieser mit dem Resümee: Die Weitergabe der Lehren des Holocaust ist so wichtig, „weil es die Garantie ist, daß das, was uns im Holocaust geschehen ist, nicht wiederkehrt“ Hier zeigt sich, wie das Erziehungssystem -der Forschung und den pädagogischen Überlegungen zum Trotz -von der Politik (und zumal der Parteipolitik) mobilisiert und instrumentalisiert werden kann

Die Tatsache, daß die erzieherische Erinnerungsarbeit, die mit dem Holocaust-Bewußtsein verbunden ist, auch falschen Zielen dienen kann, hat in den letzten Jahren scharfe Reaktionen hervorgerufen. Es ist kein Zufall, daß diese Kritik nach Beginn der Intifada besonders erbittert wurde. Yehuda Elkana, Professor an der Universität Tel Aviv, veröffentlichte einen Aufsatz mit dem Titel „Für die Vergessenheit“ Er bezeichnete hier den Versuch, den Holocaust mit Gewalt in das Bewußtsein aller Israelis einzuprägen, als die größte Gefahr für die Zukunft Israels. Sich stets an den Holocaust erinnern zu müssen, könne zu einem Aufruf zum ewigen Hass gegen „andere“ uminterpretiert werden. Noch sarkastischer äußerte sich Yaakov Sharett, der frühere Diplomat und Sohn des ersten israelischen Außenministers. Die obsessive Befassung mit dem Holocaust führe zur Abstumpfung gegenüber den eigenen Taten: „Wir dürfen , verrückt 4 spielen ..., denn nach dem Holocaust können wir nicht anders als verrückt seindies scheine die geläufige Schlußfolgerung zu sein. Aus dem Holocaust hätte man aber ein anderes „Nie wieder“ lernen müssen, als es die meisten Israelis gelernt haben: „Israel soll nie wieder sein Leben in einem Krieg riskieren.“ Daß diese Kritik auf eine heftige Gegenkritik in Israel stoßen mußte und gerade in der Phase der Mythologisierung beim israelischen Publikum keine breite Unterstützung finden konnte, verwundert nicht. Hierzu ein Beispiel: Als eine kommunistische Knessetabgeordnete 1991 demonstrativ den gelben Stern als Protest gegen eine diskriminierende Regelung für israelische Araber trug, wurde sie vom Knessetpräsidenten Shilansky wegen Schmähung des Holocaust-Zeichens aus dem Saal gewiesen! Die universale Übertragung des Symbols konnte er, wie viele in der Bevölkerung, nicht akzeptieren.

Hiermit wird ein Thema angeschnitten, daß einer separaten Erörterung bedürfte: 17 Prozent der israelischen Staatsbürger sind Araber, die auch mit dem Thema „Holocaust“ ständig konfrontiert werden -im Erziehungssystem, in den Medien und der Politik. Systematische Daten über die Einstellung der israelischen Araber (nicht mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten zu verwechseln) zum Holocaust liegen nicht vor. Das Thema „Holocaust“ wird auch hier im Rahmen des Geschichtsunterrichts gelehrt. Die Konsequenzen, die die israelischen Araber nach dem Wunsch des jüdischen Establishments ziehen sollten, ist die Akzeptanz der Juden und des jüdischen Staates in Israel/Palästina. Daß viele Araber andere Schlüsse aus dieser Lektüre ziehen, ist nicht verwunderlich.

Fremd war die Erfahrung des Holocaust auch einem Teil der jüdischen Gesellschaft in Israel -den sogenannten orientalischen Juden. Weil aber der Holocaust zum zentralen Integrationsfaktor der israelischen Gesellschaft gemacht wurde, entstand das Bedürfnis, das Erlebnis des Holocaust auch zum Erlebnis der Israelis orientalischer Herkunft zu machen. Da aber die historische Erfahrung dieser Gruppe eher am Rande mit dem Holocaust verbunden war, war dieses Ziel nur schwer zu erreichen. Doch vor allem in der Phase der Mythologisierung, als die direkten Beziehungen zur Kriegszeit und zum Holocaust sich abschwächten, verringerte sich der Unterschied zwischen „Askenasim“ (europäischen Juden) und „Sefardim“ (orientalischen Juden) in bezug auf das Holocaust-Bewußtsein stark. Die Umfragen zum Thema „Holocaust“ oder zum Thema „Deutsche und Juden“ weisen deutlich auf dieses Ergebnis hin

IV. Israels Beziehung zu Deutschland

Die Wechselwirkung von Vergangenheit und Gegenwart, die Präsenz des Holocaust, aber auch dessen Instrumentalisierung, sind selbstverständlich auch für die Einstellung der Israelis zu Deutschland entscheidend Das Wort „deutsch“ rief seit 1933 Assoziationen hervor, die hauptsächlich mit dem Dritten Reich in Verbindung stehen. Doch haben sich mit der Zeit die Assoziationen geändert: Die Gegenwart spielt seit Ende der ersten Phase (vielleicht bereits seit dem Wiedergutmachungsabkommen 1952) eine größere Rolle: Die Qualität der deutschen Wirtschaftsleistungen überdeckt oft die Assoziationen und Symbole, die die Vergangenheit hervorruft, (ein Beispiel: Noch vor 20 Jahren durften Mercedes-Busse in Israel den Mercedes-Stern nicht tragen -heute ist er ein Statussymbol wie überall in der Welt).

Auch ein Vergleich der Einstellungen der Israelis zur Bundesrepublik und zur DDR bis 1989 zeigt eindeutig, wie gegenwartsbezogen bzw. zeitgeschichtlich orientiert die Assoziationen geworden sind. Bei Befragungen unter Studenten Ende der siebziger Jahre kam die negative Einstellung zur DDR im Vergleich zur positiven Einstellung zur Bundesrepublik deutlich zum Ausdruck -nicht aufgrund von objektiven Kenntnissen, sondern aus gefühlsmäßigen Überlegungen heraus Man hielt die Bürger der DDR z. B. für wesentlich antisemitischer als die Bürger der Bundesrepublik, obwohl es hierzu keine vergleichenden Analysen gegeben hatte. Die DDR mußte bei den Israelis in jeder Hinsicht negativ, die Bundesrepublik eher positiv abschneiden, weil die DDR Israel politisch feindlich gegenüberstand, während sich die Bundesrepublik Israel gegenüber politisch freundlich verhielt.

Da jedoch die DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik keinerlei Beziehungen zu Israel unterhielt, richteten sich die kritischen Äußerungen Israels in bezug auf historische Themen (d. h. vor allem in bezug auf den Holocaust) fast ausschließlich gegen die Bundesrepublik. Hinter dieser Kritik verbarg sich oft -gerechtfertigt oder nicht -Unbehagen über eine unzureichende Aufarbeitung der Vergangenheit. Dieses Unbehagen wurde zum Teil dadurch kompensiert, daß man die Teilung Deutschlands als Resultat oder sogar als Strafe für den Holocaust verstand. Auch ein religiöses Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Rache konnte diese Haltung begründen: Deutschland -so ein religiöser Kommentar -habe schon vor Hitler in dem Verdacht gestanden, Erzfeind des jüdischen Volkes („Safek Amalek“) zu sein. Die Teilung Deutschlands, die Unterjochung eines Teils unter kommunistischer Herrschaft sowie die Massenvertreibungen nach dem Krieg seien ein Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit bzw. Rache. Diese Haltung konnte aber gegenüber der nüchternen, gegenwartsbezogenen Einstellung zur Bundesrepublik nur eine psychotherapeutische Funktion haben.

Diese ambivalente Haltung erklärt auch die Reaktion der Israelis zum Fall der Berliner Mauer und zur Wiedervereinigung. Daß die Folge eine größere Bundesrepublik sein würde, konnte man akzeptieren. Zwar reagierte Ministerpräsident Shamir im November 1989 -an die Teilung als göttliche Rache glaubend -impulsiv negativ zum Fall der Mauer, aber die öffentliche Meinung hat er damals nicht vertreten: Meinungsumfragen im März-April 1990 zeigten, daß sich nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung gegen die deutsche Einheit aussprach. Begrüßt wurde der Vereinigungsprozeß zwar nur von etwa einem Viertel der israelischen Bevölkerung, aber beinahe die Hälfte betrachtete die Entwicklung neutral und gelassen: Sie sei die Angelegenheit der Deutschen, nicht der Israelis oder der israelischen Regierung. In diesem Fall war es gelungen, zwischen dem Mythos des Holocaust und dem Prozeß der Vereinigung zu unterscheiden und somit eine gegenwartsbezogene, politische Reaktion zu schaffen. Überraschend war, daß die Wähler der Regierungspartei und der rechten Parteien unter den Neinsagern zur Vereinigung insgesamt nur 30 Prozent ausmachten, d. h. dieser Anteil lag weit unter ihrem Anteil an der Wählerschaft. Shamir hatte also zu diesem Zeitpunkt nicht einmal seine eigenen Wähler richtig eingeschätzt. Nicht überraschend war, daß die ablehnende Haltung unter den Älteren über 60 Jahre stärker vertreten war als bei den 30-40jährigen. Dennoch bestätigte sich der Effekt der Mythologisierung, da die jüngere Generation wiederum eine stärkere Ablehnung zeigte als jene Altersgruppe. Immerhin hat im Prinzip die positive Erfahrung mit der Politik der Bundesrepublik im israelischen Außenministerium wie in der Gesellschaft die Hoffnung auf ihre Fortsetzung in der erweiterten Bundesrepublik erweckt, wenngleich die Medien hier zurückhaltender sind.

Vor diesem Hintergrund muß man die verbitterte Reaktion in Israel zur Haltung der Bundesrepublik während der Golfkrise sehen. Die Kombination von Giftgaslieferungen an den Irak und Friedensdemonstrationen angesichts der Bedrohung Israels durch den Irak war verheerend. Nun war plötzlich die Vergangenheit des Dritten Reichs und des Holocaust wieder präsent; auch die „neue“ Bundesrepublik betrieb wieder einmal in den Augen vieler Israelis eine Fortsetzung der „alten“ Geschichte. Man fühlte sich betrogen: Anfang Juli 1990 hatten Politiker und Öffentlichkeit in Israel noch die beiden Parlamentspräsidentinnen aus Ost-und WestDeutschland begrüßt und damit ihre Unterstützung für die Vereinigung proklamiert. Ein halbes Jahr später reagierte das vereinigte Deutschland angesichts einer Aggression, die für den Westen und vor allem für Israel eine echte Gefahr war, nicht. Die Nachrichten, die aus der deutschen Presse kamen, wonach deutsche Firmen dem Irak -auch nach Sadams Drohung, halb Israel zu zerstören -„Know-how“ und Material für kriegerische Zwecke geliefert haben, während die Regierung wegschaute, hatten bereits Alarm ausgelöst.

Als der Krieg näherrückte, die irakischen verbalen Angriffe gegen Israel sich häuften und in Deutschland sich eine illusionäre Friedensstimmung verbreitete, war die israelische Öffentlichkeit gereizt und entsetzt wie seit langem nicht mehr. Die Mythologisierung der Geschichte des Holocaust wurde unter diesen Umständen zum Vehikel einer kollektiven Angst: Deutschland ist zwar keine Militärmacht, hieß es, aber es unterstützt erneut die Widersacher des Friedens (Irak, nicht die USA!) und läßt zu, daß ein Regime, das darauf bedacht ist, Juden sowie seine Nachbarn zu vernichten, fortexistiert. Die Skud-Raketen, die Tel Aviv trafen, waren für viele Israelis eine Bestätigung der Schlußfolgerung aus der Mythologisierung der Geschichte des Holocaust, nämlich daß der Wille, Juden zu vernichten, nach Auschwitz nicht verschwunden sei und nicht verschwinden wird. Eine im israelischen Fernsehen ausgestrahlte ARD-Reportage über die Bereitschaft von Neo-Nazis, Sadam in seinem Krieg gegen Israel zu unterstützen, war für viele eine eindeutige Bestätigung ihrer Befürchtungen. Daß Deutschland wieder auf der Seite des Bösen stand, schien nur logisch zu sein.

In Deutschland war man über diese Haltung erstaunt -die Friedensdemonstrationen würden mißverstanden, hieß es, Waffenlieferanten würden ja von der Regierung angeklagt; eine Bereitschaft, israelische Kinder während des Krieges bei deutschen Familien zu beherbergen, wäre vorhanden; andere Nationen in Europa hätten nicht positiver als Deutschland reagiert; weshalb also die gereizte Reaktion der Israelis? Die Antwort liegt zum Teil in der Rolle des kritischen Geschichtsbewußtseins und der historischen Mythen, die zu einem Warnsignal wurden: „Es kommt wieder, es kommt aus Deutschland“.

Zweifellos befinden sich die Deutschen in einer schwierigen Situation -sogar die erwünschte und außerordentlich positive Schlußfolgerung aus dem Zweiten Weltkrieg, nie wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt sein zu wollen, kann sich als schädlich und unmenschlich erweisen. Tragisch, aber wahr. Darüber hinaus haben tatsächlich die deutsche Öffentlichkeit wie auch die deutsche Politik 1990 grobe Fehler gemacht -da sich alles zugunsten Deutschlands zu entwickeln schien, nahm man zu wenig Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der anderen. Hierzu ein Beispiel: Als die Hebräische Universität Jerusalem im November 1990 ein Symposium zum Thema „ 25 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und der” Bundesrepublik“ organisierte, fanden fast alle aus Deutschland eingeladenen Politiker Ausreden, um daran nicht teilnehmen zu müssen. Einige Jahre früher hätten deutsche Politiker es nicht versäumt, diese Bühne zu benutzen, um das „andere Deutschland“ zu präsentieren. Jetzt, als die Vereinigung ein Fait accomplit war, schien der Auftritt in Israel unnötig und unwichtig geworden zu sein.

Tatsache ist, daß die „deutsche Haltung“ vor und nach dem Beginn des Golf-Krieges eine anti-deutsche Welle erzeugt hat, die das Bild der Deutschen in eine präzedenzlose Tiefe zurückgeworfen hat. Die Besuche der deutschen Politiker-Prominenz in Israel kurz nach Beginn des Krieges sowie die Scheckbuchpolitik haben diese Welle zwar etwas gedämpft, aber nicht aufgehoben oder vergessen gemacht. Eine Umfrage, die die ADL (Anti-Defamation League) während des Krieges in Israel durchgeführt hat, zeigte, daß die Hälfte der Befragten ihre negative Meinung über Deutschland bestätigt fand, während ein Fünftel seine bisherige positive Meinung geändert hatte, d. h.: Insgesamt ergab sich eine negative Einstellung gegenüber Deutschland von zwei Dritteln der Bevölkerung! Zwar kann man einwenden, daß eine Umfrage, die während des Krieges durchgeführt wurde, nicht wissenschaftlich zuverlässig ist, aber die Tendenz ist durch andere Umfragen bestätigt worden. Die Frage, die im Rahmen der jährlichen Umfragen des Zentrums für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität gestellt wurde, ob die Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik normal seien, beantworteten Anfang März 1991 nur 52 Prozent mit Ja und 36 Prozent mit Nein, während noch ein Jahr zuvor, im Laufe des Vereinigungsprozesses, 62 Prozent positiv und nur 22 Prozent negativ geantwortet hatten. Noch entscheidender: Zur Frage, ob das Deutschland von heute ein „anderes Deutschland“ ist, gaben nur 55 Prozent (im Vergleich zu 63 Prozent 1990 und 64 Prozent 1982) eine positive Antwort. 35 Prozent antworteten entschieden mit Nein, im Vergleich zu 23 Prozent im Vorjahr.

Ein weiteres kommt hinzu: Bis 1990 waren die höheren Altersgruppen gegenüber Deutschland reservierter als die jeweils jüngere Gruppe -die zeitliche Distanz zum Zweiten Weltkrieg hatte vermutlich die Animosität geschwächt. 1990, und ganz deutlich im Jahr 1991, zeichnete sich die entgegengesetzte Tendenz ab, die meine These über die Macht der Mythologisierung untermauert: Je jünger die Altersgruppe, desto reservierter ist sie. Als der historische Mythos aus verständlichen Gründen mobilisiert wurde, verschwand die mit viel Mühe aufgebaute sachliche, gegenwartsbezogene Haltung immer mehr. Daß die Beziehungen zu Deutschland nicht mehr oder noch nicht normal sind, behaupteten 23 Prozent der über 60jährigen, 32 Prozent der im Alter zwischen 50 und 59, 37 Prozent der im Alter zwischen 40-49, 39 Prozent der 30-39jährigen und 44 Prozent der jungen Generation zwischen 18-29 Jahren. Ähnlich verteilen sich die Antworten auf die Frage, ob es ein „anderes Deutschland“ gibt. Schon im Jahr 1990 zeigten die Umfragen eine Tendenzwende in der jüngeren Gruppe; die Ereignisse von 1991 haben diese Tendenz verdeutlicht und bekräftigt.

Diese negative Tendenz hat im weiteren jüdischen Kontext eine zusätzliche Bedeutung. Bisher hat die Holocaust-Paranoia im Judentum der Diaspora eine größere Rolle gespielt als im israelischen Judentum selbst. Heinz Galinski in Berlin und Israel Singer oder Rabbi Weiß in New York vermuten den realen oder vermeintlichen Antisemitismus auch dort, wo die Israelis gelassen oder indifferent zuschauen. Sie sind auch eher bereit, die Erinnerung des Holocaust als Argument in der Auseinandersetzung mit dem heutigen Deutschland (z. B. in Sachen Ausländerfeindlichkeit) oder mit der nicht-jüdischen Welt überhaupt heraufzubeschwören und zu instrumentalisieren. Israelis sind, trotz Holocaust-Trauma, weniger als die Juden in der Diaspora „deutschland-oder holocaustempfindlich“, vielleicht, weil die jüdische Staatlichkeit und der Zionismus ihnen über alle Zweifel hinweg eine gewisse Garantie zu geben scheinen. Nach dem GolfKrieg jedoch, in dem sich die Hilflosigkeit und Manipulierbarkeit dieser staatlichen Existenz zeigte, ist die Neigung, die Mythologisierung der Erfahrungen des Holocaust -nicht nur in bezug auf Deutschland -zum Fundament des Selbstverständnisses zu machen, besonders groß geworden.

Zwei akute Themen verdeutlichen diese Tendenz: die Frage der Auswanderung der Juden aus Ruß-land nach Deutschland und der Demianiuk-Prozeß in Jerusalem. In Sachen Auswanderung ist die mit der Erinnerung an den Holocaust belastete zionistische Ideologie vor ein Dilemma gestellt: Soll ausgerechnet Deutschland -„Erbe der Täter“ -jüdische Einwanderer aufnehmen? Oder soll Deutschland seine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg in diesem Fall nicht ziehen, d. h. keine großzügige Asylanten-und Einwanderungspolitik betreiben, um die zionistische Lehre zu unterstützen, also um russische Juden nach Israel zu lenken? Im Fall Demianiuk ist das Problem nicht weniger kompliziert. Soll man, um das Holocaust-Bewußtsein wachzuhalten, gegen einen ukrainischen Nazi-Helfer einen Prozeß führen mit dem Wunsch, den erzieherischen Erfolg des Eichmann-Prozesses zu wiederholen?

Der Versuch, das Holocaust-Bewußtsein um jeden Preis zu stärken, kann einen Bumerangeffekt erzeugen. Deswegen ziehen Israelis, die den soliden aber gezielten Weg zur Holocaust-Erinnerung suchen, es im Jahr 1991/2, 50 Jahre nach der „Wannsee-Konferenz“, vor, z. B. am Kurs „Holocaust und jüdische Identität“ des Yad-Va’Shem-Instituts teilzunehmen. Doch hat die Erfahrung der dritten Phase gezeigt, daß auch ein derartiger rationaler Ansatz der Gefahr ausgesetzt ist, den Holocaust auf Kosten der Aufklärung zu mythologisieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Staat Israel, Protokoll der Verhandlungen des Volksrats, 16/5/48, S. 24, vierte Sitzung vom 14. 5. 1948 (Hebr.)

  2. Ha'arez vom 1. 11. 1991, S. 5 a.

  3. Tom Segev, The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, Jerusalem 1991 (Hebt.)

  4. Vgl. z. B. Chaim Schatzker, Der Holocaust in den israelischen Schulen, Yalkut Moreshet 1970, S. 140ff. (Hebr.); Yehuda Bauer, The Holocaust. Some Historical Aspects, Tel Aviv 1982 (Hebr.); Amnon Neustadt, Israels zweite Generation. Auschwitz als Vermächtnis, Berlin 1987; Nili Keren, The Impact of the Public Opinion Shapers and of the Historical Research on the Development of the Educational Thought and Educational Programs concerning the Holocaust in Highschools and in Informal Education in Israel 1948-1981, Diss., Jerusalem 1985 (Hebr.).

  5. Man muß zwischen diesem Begriff und dem Begriff der Mystifizierung, wie ihn Yehuda Bauer benutzt, unterscheiden; vgl. Y. Bauer (Anm. 4), S. 71-86.

  6. Der Erfolg von David Grossmanns Roman „See under: Love“ (1986) oder A. B. Yehoshuas Roman „Molcho“ (1987) wie auch der Erfolg der Spielfilme „Avias Sommer“ und „Wegen jenes Krieges“ oder von Joshua Sobois Drama „Ghetto“ (1984) beruht im wesentlichen auf den neuen Versuchen während der dritten Phase, die private und kollektive Verdrängung zu überwinden.

  7. S. N. Eisenstadt, The Transformation of Israel Society, London 1985, Kap. 7, S. 121.

  8. Vgl. z. B. Rafael Mahler über die Lehren des Holocaust in: Bashaa’r (1959) (Hebr.) oder die Einführung des orthodoxen Marxisten Alexander Stengel zu seinem Buch: Der Holocaust und die jüdische Frage, Tel Aviv 1981 (Hebr.), S. 10-11.

  9. Vgl. Dina Porat, The Blue and the Yellow Stars of David: The Zionist Leadership in Palestine and the Holocaust 1939-1945, Cambridge, Mass., 1990; vgl. auch Elianu Dubkin, Alia und Rettung in der Zeit des Holocaust, Jerusalem 1946, sowie das Buch des „Außenseiters“ Shabtai Beit-Zvi, Post-Ugandian Zionism in the Crucible of the Holocaust. The Mistakes of the Zionist Movement 1938-1945, Tel Aviv 1977 (Hebr.).

  10. Der Vertrag über den Transfer des jüdischen Vermögens aus Nazi-Deutschland nach Palästina; vgl. dazu Edwin Black, The Transfer Agreement, New York-London 1984.

  11. So in einer Sendung von Radio Israel (Kol Israel), Sefarim Nekuda, vom 9. 11. 1991.

  12. Vgl. Joseph Heller, „Lehi“, Ideology and Politics 1940-1949, Jerusalem 1989 (Hebt.), S. 91-94.

  13. Vgl. Jacob Katz, Was the Holocaust Predictable?, Commentary, May 1975, S. 41-48.

  14. Vgl. Ma’ariv vom 27. 4. 1979: „Den Holocaust lehren?“. Weizmann war in den dreißiger und vierziger Jahren der Führer der zionistischen Organisation und Jabotinsky (gest. 1940) der Führer der revisionistischen Opposition, die seit der Wende 1977 Israel regiert.

  15. S. N. Eisenstadt (Anm. 7), Kap. 15. ,

  16. Der Holocaust, in: Shoresh, (1983) 2, (Hebr.), S. 39ff.

  17. Vgl. die Reihe Keshev. Studies & Sources, herausgegeben vom Institute of Holocaust Research (Hbr.), Bar-Ilan, sowie N. Katzburg (Hrsg.), Pedut. Rescue in the Holocaust (Hebr.), Bar-Ilan 1984; in dieser Publikation befassen sich alle Aufsätze mit den Beziehungen zwischen Religion und Holocaust.

  18. So der , Admor‘ (Rabbiner) aus Satmar, Joel Teitelbaum, in seiner Schrift „Sefer Va’Joel Moshe“ (Hebr.), New York 19826.

  19. Vgl. B. Duvdevani, Andacht, in: Panim el Panim, Nr. 234 vom 25. 10. 1963.

  20. Vgl. Rab. Joel Schwarz/Rab. Isaak Goldstein (Hrsg.), Ha’Sho’ah, Jerusalem 1987 (Hebr.), S. 14-15; Elieser Schweid, Wrestling until Daybreak, Tel Aviv 1990 (Hebr.), vor allem Kap. 5-7; Amos Funkenstein, Theological Interpretations of the Holocaust, in: The Tel Aviv Review, Tel Aviv 1988, Bd. 1, S. 67-100; Yehuda L. Ashkenazi, V’jhi beaharit Hajamim, in: Shoresh, Nr. 2, o. J., S. 22ff.

  21. Vgl. J. Schwarz/I. Goldstein (Anm. 20), S. 108, S. 115. Konsequent ist auch die folgende Erklärung: Die Klage über die Nürnberger Gesetze, die ja nur die Bestätigung der eigenen Gesetze gewesen seien, war nicht gerechtfertigt. Deswegen brachte Gott eine Katastrophe, die eine echte, nachhaltende Klage berechtigte, ebd., S. 118.

  22. Ebd., S. 150.

  23. Gesetzbuch 1953, Gesetz vom 18. 8. 1953, S. 2 (2).

  24. Vgl. Gesetzbuch 1980, Gesetzesänderung vom 26. 3. 1980.

  25. Vgl. Michael Wolffsohn, Ewige Schuld?, München 1988; Uri Farago, Attitudes towards the Holocaust among Israeli Students 1984, S. 177.

  26. Vgl. T. Segev (Anm. 3); N. Keren (Anm. 4).

  27. Vgl. N. Keren (Anm. 4), S. 187.

  28. Vgl. ebd., S. 251; Ruth Firer, The Agents of Zionist Education, Tel Aviv 1985 (Hebr.), S. 70.

  29. Vgl. R. Firer (Anm. 28), S. 59.

  30. Vgl. Curriculum des Faches Geschichte, Erziehungsministerium, Jerusalem 1975.

  31. R. Firer (Anm. 28), S. 71.

  32. Moshe Zimmermann (Hrsg.), Jerusalem 1981 (Hebr.).

  33. Arie Karmon, Der Holocaust, Jerusalem 1980.

  34. Vgl. Judith Wolf, Stand des Faches Geschichte, Curriculumzentrum, Jerusalem 1990.

  35. Israel Gutman/Chaim Schatzker, Der Holocaust und seine Bedeutung, Jerusalem 1983 (Hebr.), S. 186.

  36. Chaim Schatzker, „Kinder, vermeidet Erziehungsreisen nach Auschwitz“, in: Kol Haifa vom 12. 4. 1991.

  37. Vgl. LeKach, 1990 Kichler Zipi (Hrsg.), Jerusalem (Hebr.).

  38. Brief vom 18. 1. 1990, in: Z. Kichler (Anm. 37), S. 12.

  39. Vgl. dazu auch T. Segev (Anm. 3), Kap. 8.

  40. In: Ha’arez vom 2. 3. 1988.

  41. Yaakov Sharett, Israel is No More, Tel Aviv 1988 (Hebr.), S. 198-200.

  42. Es gibt auch gezielte Versuche, die Geschichte des Antisemitismus und des Holocaust in den arabischen Ländern künstlich zu betonen, sowohl in den Medien wie im Geschichtsunterricht; vgl. Arie Barnea, One Fate, Jerusalem 1986 (Hebr.).

  43. Vgl. M. Wolffsohn (Anm. 25); Lily Gardner Feldman, The special Relationship between West Germany and Israel, Boston 1984.

  44. Vgl. Moshe Zimmermann, Einstellungen israelischer Schüler und Studenten zu Deutschland und zur deutschen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39-40/80, S. 19 ff.

  45. Bei der arabischen Bevölkerung -in Israel, in den besetzten Gebieten und in arabischen Ländern -wird die Einstellung zu Deutschland oft durch bizarre Unkenntnisse beeinflußt: Die Sympathie für Deutschland beruht auf der Annahme, daß das Deutschland von heute als Nachfolgestaat des Dritten Reiches gemeinsam Sache mit den Arabern gegen die Juden -d. h. Israel -machen will; vgl. Die Zeit, Nr. 29 vom 12. Juli 1991.

  46. Die Bezeichnung Deutschlands als „Amalek“ (Erzfeind) war auch in nichtreligiösen Kreisen geläufig; vgl. Ezriel Carlebach, Downfall, Tel Aviv o. D. (Hebr.), S. 238.

  47. Vgl. „Pori“ -Umfragen im Auftrag des Koebner Zentrums für deutsche Geschichte, Hebräische Universität Jerusalem.

  48. Vgl. die Aufforderung des Knessetabgeordneten M. Kleiner, „Keine freie Auswanderung“, in: Ha’arez vom 21. 10. 1991.

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