I.
Die Epoche der Juden in Deutschland sei ein für allemal vorbei, konstatierte Leo Baeck -geistiges Oberhaupt und damals schon eine Symbolfigur des deutschen Judentums -Ende 1945 in New York: „Für uns Juden ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden könnten.“
Leo Baeck war im Frühjahr 1945 in Theresienstadt befreit worden, aus jenem Lager in Nord-Böhmen, das als „Altersghetto“ und „Vorzugslager“ für Juden aus der Tschechoslowakei, Deutschland, Österreich und Dänemark deklariert, in Wirklichkeit aber nur ein elendes KZ gewesen war. Unter den 150000 Menschen, die insgesamt in die ehemalige Festung nördlich von Prag deportiert wurden, waren über 40000 deutsche Juden Die meisten von ihnen sind entweder in Theresienstadt selbst zu Grunde gegangen oder wurden, wie auf der „Wannsee-Konferenz“ verkündet, in mehr als 60 Transporten in Vernichtungsstätten wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec gebracht, um dort ermordet zu werden. Befreit wurden nur weniger als 6000 deutsche Juden in Theresienstadt -jenem Ort, der in der nationalsozialistischen Propaganda als Altersruhesitz für dekorierte jüdische Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, für Gelehrte und Künstler bezeichnet wurde.
Der Zynismus des Regimes schreckte nicht davor zurück, die künftigen Ghettoinsassen durch Kaufverträge, in denen ihnen ein geruhsames Altersdomizil vorgegaukelt wurde, auszuplündem und die internationale Öffentlichkeit durch den Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ sowie die Inszenierung sorglos heiteren urbanen Zusammenlebens mit künstlerischen Darbietungen und gesellschaftlichem Treiben anläßlich des Besuchs einer internationalen Delegation im Juni 1943 zu täuschen.
Für die Juden aus dem deutschsprechenden Raum, für diese hoch assimilierten Träger deutscher Kultur, mußte die Realität von Theresienstadt zum Synonym des Verrats der Deutschen an ihnen werden: Sie hatten sich im Glauben an die Emanzipation auch 1933 noch sicher gefühlt, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß ihre Verdienste um das -wie sie glaubten -gemeinsame Vaterland ignoriert, daß ihr Patriotismus mit Füßen getreten, daß ihr deutsches Kulturbewußtsein verachtet, ihr Bürgertum nicht mehr anerkannt, ja, nicht existent sein sollte.
Den Diskriminierungen, die die deutschen Juden seit 1933 erleiden mußten, die den Zweck ihrer Ausgrenzung aus der Gesellschaft der Deutschen hatten und die mit dem Verlust der materiellen Existenz endeten, folgte vor der physischen Vernichtung -durch Hunger, Krankheit und Verzweiflung auf der Zwischenstation Theresienstadt und in anderen Lagern, durch Erschießungskommandos und in den Gaskammern im Osten -die Demütigung der annullierten Emanzipation, der Zurückweisung ins Ghetto.
Die betrügerischen Finten, die diesen letzten Akt der jüdischen Tragödie einleiteten, waren aber nicht nur Ausdruck zynischer Grausamkeit; in ihnen spiegelte sich auch das schlechte Gewissen, das die deutschen Machthaber gegenüber den deutschen Juden hatten. Der Aufbruch zu den Orten, an denen mit äußerster Untat die Ausgrenzung in letzter Konsequenz geschehen sollte, mußte ein bißchen verbrämt und, so gut es ging, getarnt werden. Das galt nicht nur für die nach Theresienstadt Deportierten, das galt, mit anderer Sprachregelung -„Siedlung im Osten“ oder „Evakuierung“ -für alle Juden, mindestens für diejenigen aus Deutschland und Österreich. Das schlechte Gewissen teilten die Inhaber der Macht mit ihren Anhängern, mit den Mitläufern, auch mit ihren Gegnern. Die Tarnung des Völkermords durch die Mörder erwies sich nach dem Zusammenbruch des Regimes dann als scheinbar rettender Strohhalm, an den sich mit der Beteuerung, man habe nichts gewußt, so viele klammerten. Das Entsetzen über das, was geschehen war, artikulierte sich nur bei wenigen in Form von Scham, Reue oder ähnlichen Gefühlen aktivierbarer Erin-nerung; die Mehrheit floh in die Haltung des Verdrängens, der Abwehr, des Ignorierens.
II.
Die traditionellen antisemitischen Vorurteile waren durch den Holocaust keineswegs ausgelöscht oder durch Gesten des Mitleids und der Einsicht, durch den Willen zum Umdenken sublimiert worden. Die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und antisemitische Parolen bewiesen nur, was auch Meinungsumfragen ab 1949 immer wieder zutage förderten: Der latente Antisemitismus war nicht in einer allgemeinen Katharsis aufgelöst worden, er war im Gegenteil nach Hitler eher stärker als zuvor. Der Unterschied bestand natürlich darin, daß Judenfeindschaft nicht mehr offen artikuliert werden durfte, daß man entsprechenden Gefühlen nur Luft machen konnte, indem man sie in an die Wände gekritzelte Parolen umsetzte, in anonymen Leserbriefen äußerte oder am Stammtisch unter Gleichgesinnten kundtat.
Gegen die Erinnerung an die Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden, gegen die Konfrontation des Bewußtseins mit der Tatsache des Völkermords, seiner Vorgeschichte und seines Umfeldes wurden und werden, seit die Verbrechen geschahen, Abwehrkräfte und Verdrängungsmechanismen mobilisiert. Das ist erklärbar und verständlich, wenngleich nicht befriedigend. Am wenigsten befriedigend ist die Haltung individueller und kollektiver Verweigerung für die Opfer und ihre Nachkommen. Ihnen gegenüber wurden ganz unterschiedliche Argumentationsmuster eingeübt. Man habe nichts gewußt, lautete eine Standardformel, mit der unterstellt wurde, die Tarnung des Völkermords habe lückenlos funktioniert. Die juristischen und politischen Diskriminierungen konnten und sollten aber den Nichtjuden in Deutschland ebensowenig verborgen bleiben wie die Ausgrenzungen durch die Nürnberger Gesetze, den Novemberpogrom und seine Folgen, die Verordnung, den Stern zu tragen, die weithin öffentliche Zwangsarbeit und schließlich die Deportationen. Selbst wenn der Exodus der Juden aus den deutschen Städten und Dörfern nach Möglichkeit mit Diskretion -also z. B. im Morgengrauen -betrieben wurde, so war dann aber doch das Verschwundensein der Nachbarn ein Faktum, das nicht unbemerkt geblieben sein kann.
In* Korrespondenz mit dem Argument, man habe nichts gewußt, steht die Projektion allen Übels auf eine kleine Minderheit von Bösewichtern, exponierten Funktionären des Regimes; sie seien, so der Erlösungswunsch, alleine und ausschließlich haftbar für das Schicksal der Juden in Deutschland und Europa. Auf die SS, auf die Gestapo und auf die Potentaten des NS-Staats wird bei dieser Form der Verweigerung alles Verbrecherische am System delegiert.
Wieder eine andere Art des Nichtbewußtmachens ist die Beschwörung eigenen Leidens. Dafür gibt es reichlich Beispiele aus über vier Jahrzehnten. Da kommt etwa in den sechziger Jahren ein nach Palästina ausgewanderter deutscher Jude in seine ehemalige Heimatstadt zurück und erfährt die Abwehr der früheren Nachbarn und Bekannten. Der alte Lehrer, bei dem er als diskriminierter jüdischer Schüler damals ein bißchen Verständnis gefunden hatte, ist verbittert, weil er in der NS-Zeit wegen seiner kritischen Haltung nicht zum Oberlehrer befördert wurde. Das nimmt seine Möglichkeiten zur Reflexion über das NS-Regime voll und ganz in Anspruch; der Zorn über seine Zurücksetzung läßt keinen Raum für Betrachtungen über das in unvergleichlich größerer Dimension anderen geschehene Unrecht.
Die ehemalige Wohnungsnachbarin bittet der Besucher aus Israel um die Bestätigung etlicher Angaben für das Wiedergutmachungsverfahren seiner Mutter. „Und wie geht es ihrer lieben Frau Mutter? Was wir hier durchgemacht haben, übersteigt jegliche Vorstellungskraft.“ So beginnt das Gespräch: „Die schrecklichen Bombenangriffe ... Nacht für Nacht mit allen Nachbarn im Keller zu sitzen... Ohne meinen Mann hätte ich die schreckliche Zeit nicht überstehen können. Stellen Sie sich vor: Erst mußte ich eine Nierenoperation über mich ergehen lassen, und dann hat man mir den halben Magen herausgenommen.“ Und so geht es weiter, daß der Israeli es gar nicht mehr wagt, nach dem Verbleib einer anderen jüdischen Familie aus dem gleichen Haus zu fragen, die wohl nicht rechtzeitig mehr auswandern konnte. „Bitte grüßen Sie ihre verehrte Frau Mutter und richten Sie ihr aus, daß sie klug daran tat, rechtzeitig das Land zu verlassen und ihr auf diese Weise erspart blieb, die Leiden, die über uns kamen, durchzumachen! ... Ein Glück, daß Ihr das Verlorene zurückerstattet bekommt. Für uns sorgt keiner.“
Ein weiterer Schritt, die unangenehme Erinnerung zu neutralisieren, ist dann das Aufrechnen deutscher Leiden gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus: Die Saldierung der Luftangriffe auf deutsche Städte mit den Konzentrationslagern, die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und der Verlust der deutschen Ostgebiete mit dem millionenfachen Mord an Sowjetbürgern, Polen, Juden, Roma und Sinti und vielen anderen. Die ärgste Form der Abwehr schließlich besteht im Leugnen des Völkermords, wie es von Rechtsextremisten, Revisionisten und Unbelehrbaren betrieben wird
Die Zurückweisung der unsinnigen Thesen im Umkreis der „Auschwitzlüge“ steht hier nicht zur Debatte. Ebensowenig geht es um andere Reaktionen auf die Erinnerung -wie etwa die Forderung nach dem Schlußstrich, die dafür steht, Unangenehmes als abgeschlossen und unabänderlich zu erklären und damit aus dem Gedächtnis zu tilgen oder einzukapseln. Es geht auch nicht um Über-kompensationen durch einen beflissen zur Schau getragenen Philosemitismus, und es geht nicht um den abstumpfenden Übereifer von Moral predigenden Aufklärern, die sich als Nachgeborene in die Opferrolle drängen, um stellvertretend für moralisch Anspruchslosere das Problem zu bewältigen. Gegenstand der folgenden Betrachtung ist der Umgang mit dem Wissen, das die deutsche Bevölkerung von der Judenverfolgung hatte. Es geht um Reaktionen auf die Realität der Ausgrenzung einer Minderheit bis zu ihrer letzten tödlichen Konsequenz.
Daß die Zeitgenossen in Deutschland -ganz gleich, ob an der Front oder in der Heimat -Kenntnis vom Völkermord an den Juden hatten, braucht Fachleuten und Aufgeklärten gegenüber nicht betont zu werden. Zeugnisse für die Kenntnis vom Genozid -in welchem Umfang, ob als Gewißheit oder Ahnung, sei dahingestellt -gibt es aus allen Bereichen: in privaten Tagebüchern und Aufzeichnungen, in Briefen, in amtlichen Dokumenten.
Anfang 1942 sprach Thomas Mann in einer seiner Rundfunkreden an die „Deutschen Hörer“ über BBC von der Ermordung holländischer Juden durch Giftgas. Zweimal sagte er, die Geschichte klinge unglaubwürdig, „und überall in der Welt werden viele sich sperren, sie zu glauben...; die Neigung, um nicht zu sagen: die Tendenz, solche Geschichten als Greuelmärchen anzusehen, bleibt zum Vorteil des Feindes weit verbreitet“ Aber so wie er selbst von der Richtigkeit der monströsen Nachricht überzeugt war, hat er wohl seine Hörer erreicht. Wehrmachtsurlauber aus dem Osten bestätigten die Gerüchte und Ahnungen. Belege für die Kenntnis vom Völkermord in der deutschen Bevölkerung gibt es genug. In Ulrich von Hassells Tagebuch etwa findet sich unter dem 15. Mai 1943 die Eintragung, während man vergeblich die Welt durch Katyn abzulenken suche, hause „die SS in Polen weiter in unvorstellbar beschämender Weise. Unzählige Juden werden in besonders dazu gebauten Hallen vergast, jedenfalls 100000.“
Am 18. Juni 1943 schrieb der Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, aus Riga an Alfred Rosenberg, den Reichsminister für die besetzten Ost-gebiete und Chefideologen der NSDAP, „daß die Juden sonderbehandelt werden, bedarf keiner weiteren Erörterung. Daß dabei aber Dinge vorgehen, wie sie in dem Bericht des Generalkommissars vom 21. 6. 43 vorgetragen werden, erscheint kaum glaubhaft. Was ist dagegen Katyn? Man stelle sich nur einmal vor, solche Vorkommnisse würden auf der Gegenseite bekannt und dort aus-geschlachtet! Wahrscheinlich würde eine solche Propaganda einfach nur deshalb wirkungslos bleiben, weil Hörer und Leser nicht bereit wären, derselben Glauben zu schenken.“
Die alle bisherige Erfahrung und Vorstellungskraft übertreffende Unglaublichkeit der Nachrichten über die Ermordung der Juden bildete tatsächlich die vielleicht noch größere Barriere für ihre Verbreitung als die amtlich verordnete Geheimhaltung. In den Berichten der Einsatzgruppen wurde auf jegliche Tarnung verzichtet, sie waren ja nur für den internen Gebrauch bestimmt Deshalb finden sich Belege für die Interaktion von SS und Wehrmacht in den „Ereignismeldungen UdSSR“ an das Reichssicherheitshauptamt ebenso wie in den Kriegstagebüchern der Wehrmacht. Bei der großen Zahl von Offizieren und Soldaten, Eisenbahnern, Bürokraten und Technikern, die in den besetzten Ostgebieten in irgendeiner Weise tätig waren und Zeugen des Geschehens wurden, ist es dann aber auch ganz unglaubwürdig, daß nicht eine allgemein verbreitete Kenntnis der Vorgänge geherrscht hat. Sogar den Medien konnten diejenigen, die sich engagiert interessierten, Hinweise auf das Schicksal der Juden entnehmen, etwa aus der Berichterstattung über Hitlers Reden Zu fragen ist also nicht mehr danach, ob -und wie-viel -die Deutschen vom Völkermord wußten Die Frage lautet vielmehr: Wie gingen die Deutschen mit ihrem Wissen um, und das führt weiter zu dem Problem ihrer Zustimmung zur Judenpolitik des Regimes, beginnend mit dem Antisemitismus als partei-und staatstragender Ideologie über die einzelnen Stufen der Gewaltanwendung gegen die Juden in Deutschland bis zum Völkermord
III.
Die erste Station bildete der Boykottaufruf der NSDAP gegen jüdische Geschäfte und Unternehmungen am 1. April 1933. In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise, daß die Bevölkerung sich gegenüber den pöbelhaften Demonstrationen der SA vor Anwaltskanzleien, Arztpraxen, Apotheken und Warenhäusern ziemlich reserviert zeigte, und zwar nicht nur in Berlin und anderen Großstädten. In Wesel am Niederrhein stand einer der jüdischen Inhaber des dort alteingeführten Kaufhauses „Leyens und Levenbach“ auf der Straße, in seiner Uniform des Kriegsfreiwilligen von 1914, dekoriert mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse. Er verteilte ein Flugblatt, das er in der Nacht zuvor hatte drucken lassen. Darin nahm er den Reichs-kanzler Hitler und seine Minister beim Wort, die erklärt hatten, „Wer im Dritten Reich einen Front-
Soldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft“: „Wir fassen diese Aktion, die Hand in Hand mit verleumderischen Behauptungen in der Stadt geht, als Angriff auf unsere nationale und bürgerliche Ehre auf und als eine Schändung des Andenkens von 000 gefallenen deutschen Frontsoldaten jüdischen Glaubens. Wir sehen darüber hinaus in dieser Aufforderung eine Beleidigung für jeden anständigen Bürger.“
Erich Leyens, der Demonstrant, rechnete damit, von der SA vor den Augen der Mitbürger erschlagen zu werden, doch er hatte sich geirrt: „Meine Mitbürger bewiesen noch ihre wahre Gesinnung. Immer mehr Menschen sammelten sich an, die mit offensichtlicher Zustimmung das Flugblatt lasen. Es kam zu Demonstrationen. Die SA wurde zurückgezogen.“ Am anderen Tag berichtete die Weseler Zeitung über das Ereignis, druckte unter der Überschrift „Selbsthilfe eines jüdischen Front-kämpfers“ das Flugblatt ab und kommentierte es mit folgenden Worten: „Das entschlossene und mutige Auftreten von Leyens hat in Bürgerkreisen der Stadt allseits Sympathie und Anerkennung gefunden. Das Geschäft wurde nicht geschlossen, und auch die öffentlichen Boykottaufforderungen hörten sehr bald auf.“ 12)
Auch wenn man diesen Fall nicht verallgemeinern kann, ergibt sich doch nach der ersten spektakulären öffentlichen Aktion des NS-Regimes gegen die Juden der Befund, daß die Bevölkerung keineswegs begeistert dem Boykottaufruf folgte. Diese Methode, Antisemitismus zu praktizieren, war zu wenig subtil und zu wenig legal. Auf den Druck der Straße wollte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung offenbar nicht reagieren; es sind auch zahlreiche Solidaritätsbeweise überliefert, Solidaritätsbeweise, die sich gegen die demonstrierende SA richteten.
Um ein Bild von der Einstellung und von der Bewußtseinslage der Deutschen gegenüber der antijüdischen Politik des Regimes zu gewinnen, müssen die Reaktionen auf die weiteren Stufen der Ausgrenzung und Gewaltanwendung untersucht werden. Das ist natürlich nur näherungsweise möglich, denn der allgemeine Zustand der Gesellschaft, die Stimmung gegenüber und die Zustimmung zur Regierung änderten sich ab 1933 rasch und gründlich ebenso wie die Taktik der Regierung und ihres Repressionsapparates
Die Nürnberger Gesetze vom Herbst 1935 wurden trotz ihres diffamierenden Charakters und trotz der mit ihnen signalisierten Erosionen des Rechtsstaates hingenommen, ohne daß es zu Unmutsre-aktionen oder Demonstrationen der Solidarität mit den Juden wie beim Boykott 1933 gekommen wäre. Das war sicher nicht nur eine Auswirkung der inzwischen gewachsenen Zustimmung zum Hitler-staat, die auf außenpolitischer Kraftentfaltung und innenpolitischer Konsolidierung beruhte. Daß die Nürnberger Gesetze -ein immerhin beispielloser Akt der Diskriminierung einer Minderheit aus „rassischen“ Gründen -ohne Protest hingenommen wurden, war wesentlich der Tatsache zuzuschreiben, daß sie als formal legale Rechtsetzungsakte -eben als „Gesetze“ -begriffen wurden, auch wenn der Gesetzgeber, der Reichstag, längst zum willigen Werkzeug des Diktators denaturiert war. Wesentlich blieb, daß die Nürnberger Gesetze als Rahmen staatlichen Handelns für alle Nichtbetroffenen abstrakt und gegenstandslos waren; die konkreten Auswirkungen konnten der Mehrheit der Bevölkerung verborgen bleiben, die weitaus meisten Folgen des legislativen Aktes gingen sie nicht unmittelbar an
Dasselbe galt auch für die zahlreichen anderen Maßnahmen, mit denen Juden aus Stellungen, Berufen, dem öffentlichen Leben verdrängt wurden: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933, das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen (ebenfalls April 1933), das Schriftleitergesetz (Oktober 1933), der Verlust der Promotionsmöglichkeit für jüdische Studenten ab April 1937, die Einführung der Zwangsvornamen Sarah und Israel im August 1938 und die schier unzähligen sonstigen Diskriminierungen, die auf gesetzlichem Fundament mit Hilfe von Verordnungen, Erlassen, Verfügungen und Durchführungsbestimmungen in Kraft gesetzt wurden.
Soweit die Maßnahmen nur die Juden insgesamt, einzelne Gruppen oder unbekannte Individuen betrafen, mußte man sie nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen. Anders war es vielleicht mit dem Entzug der Kassenzulassung und dem Verlust der Approbation für jüdische Ärzte im September 1937 bzw. Juli 1938. Für das in der Natur der Sache gründende Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bedeutete die erzwungene Trennung vom jüdischen Hausarzt einen Eingriff, der sicherlich häufig von Nachdenklichkeit, Unmut und Kritik auf der nicht-jüdischen Seite begleitet war. Mit Solidaritätsaktionen hätte man sich aber strafbar gemacht, und die Furcht vor Denunziation war alles andere als unbegründet. Schließlich wäre dem jüdischen Arzt, so konnte man sagen, mit irgendwelchen Demonstrationen auch nicht geholfen gewesen
Gegenüber jüdischen Apothekern und Rechtsanwälten, Viehhändlern und Maklern, die ebenfalls ihrer beruflichen Existenz beraubt wurden, gab es die persönlichen Bindungen, die immerhin Mitleid und Verlustgefühle mobilisierten, in aller Regel nicht. Die „Arisierungen“ kleiner Geschäfte mochten traditionelle nachbarschaftliche und menschliche Beziehungen stören und deshalb Anlaß zu Vermutungen und Nachdenken bieten. Für die großen Betriebe traf das sicher nicht zu, denn die Inhaber der Tietzschen Warenhäuser oder des Textilhauses Grünfeld in Berlin bekam das Publikum wohl ebensowenig zu Gesicht wie der Bücherfreund den Verleger Samuel Fischer. Die „Arisierung“ genannte Enteignung großer jüdischer Firmen ließ sich ebenso wie die kollektive Verdrängung von Juden aus der kulturellen Szene propagandistisch unterfüttern. Dafür war -auch aus Konkurrenzsituationen heraus -Beifall zu bekommen
Die vielfältigen pauschalen Schikanen gegen „die Juden“ konnte man übersehen oder billigen, ohne daß man damit konkrete Personen wie Nachbarn oder Mitbürger verbinden mußte. Angesichts der Parkbänke mit der Aufschrift „nur für Arier“ oder den Schildern „Juden unerwünscht“ oder „Zutritt für Juden verboten“ konnte man sich einreden, das träfe nur irgendwelche anonyme fremde Personen, mit denen man nichts zu tun habe. Gegenüber den Juden, die 1933 bis 1938 auswanderten, wie auch gegenüber denjenigen, denen 1939 und 1940 noch die Flucht gelang, konnte man argumentieren, sie verließen Deutschland aus eigenem Entschluß, sie gingen einer besseren Zukunft entgegen, hätten in Deutschland bald ohnehin nichts mehr zu verlieren. Man konnte sie geradezu beglückwünschen, denn die Demütigungen und Verluste, die bis zur Emigration erlitten waren, nahm man je nachdem schamvoll oder stumm zur Kenntnis.
Bis zum Herbst 1938 konnte man sich also arrangieren, konnte die Realität der judenfeindlichen Politik des nationalsozialistischen Staates zu ignorieren versuchen, konnte sie natürlich auch billigen. Man konnte in Übereinstimmung mit dem Regime konstatieren, die Juden hätten als Minderheit nur Anspruch auf minderes Recht; man konnte sich einreden, sie hätten zuviel Einfluß besessen, den man jetzt auf ein normales Maß zurückschrauben müsse; man konnte mehr oder weniger oder auch alles, was die nationalsozialistische Propaganda gegen die Juden vorbrachte, zur Rechtfertigung übernehmen. Man konnte die Ergebnisse und Wirkungen der judenfeindlichen Politik auch aus dem Bewußtsein verdrängen oder es beschwichtigen mit der Versicherung oder Überzeugung, alle die diskriminierenden Ereignisse seien Bestandteile einer notwendigen Neuordnung der Beziehungen von Juden und Nichtjuden in Deutschland, und diese Neuordnung sei nun im wesentlichen beendet durch einen Zustand, der Juden zwar allen Einflusses im öffentlichen Leben, wesentlicher staatsbürgerlicher Rechte und vieler beruflicher Möglichkeiten beraubt habe, daß aber ihre Existenz auf bescheidenem Niveau gesichert und garantiert sein würde.
IV.
Das alles galt nach dem Novemberpogrom 1938 nicht mehr. Die Inszenierung der „Reichskristallnacht“, der auf staatliche Initiative hin entfesselten und ausgeübten rohen Gewalt gegen Juden, gegen Institutionen ihres Kultes und gegen jüdisches Eigentum bedeutete auch einen Wendepunkt im Bewußtsein und im Verhalten gegenüber Juden
Der Vandalismus der am organisierten Pogrom Beteiligten sprang gelegentlich auch über auf Unbeteiligte, als Frucht antisemitischer Propaganda, als Folge der Pressekampagne nach dem Grünspan-Attentat oder -was wohl am häufigsten und wahrscheinlichsten war -aus dumpfer Aggression, Sensations-und Zerstörungslust, wie sie durch den Pogrom in Gang gesetzt und sanktioniert worden waren. Beispiele für spontane Gewalt finden sich in den Akten der Gerichte, die sich nach 1945 mit den Ereignissen der „Reichskristallnacht“ beschäftigten. Sie stehen dafür, daß der Pogrom für nicht wenige zum Ventil für Mord-und Zerstörungsgelüste wurde, daß niedere Instinkte öffentlich abreagiert wurden, nachdem erst einmal die Aufforderung und Erlaubnis durch die Obrigkeit erteilt war
Kaum weniger verabscheuungswürdig waren aber die Reaktionen von Schadenfreude und Genugtuung über das Schicksal der Juden, die sich in Plünderungen, Erpressungen, Denunziationen äußerten und die vor allem auf Bereicherung zu Lasten der rechtlos werdenden Juden zielten: Es ging um die Übernahme der zu arisierenden Geschäfte, um Wohnungen, um Arztpraxen, um Rechtsanwalts-kanzleien, Apotheken, Läden, usw. Diese Reaktionen setzten nicht erst nach dem Pogrom ein. Typisch in diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen Erpressungsmanöver, denen sich Juden bei ihren Auswanderungsvorbereitungen ausgesetzt sahen. Treue Bedienstete forderten im letzten Moment vor der Abreise Lösegelder, Nachbarn und Unbekannte erpreßten Summen oder Wertgegenstände von den Abreisenden
Andere -bürgerlicher Wohlanständigkeit eher entsprechende -Verhaltensmuster zeigten diejenigen, denen bei aller grundsätzlichen Billigung der nationalsozialistischen Judenpolitik deren Formen und Methoden zuwider waren. Die Novemberpogrome blieben, wenn man vom Test der Boykottaktion im Frühjahr 1933 absieht, die einzige Gelegenheit, bei der das Regime die Judenfeindschaft und die Bereitschaft zu physischer Gewalt gegen die jüdische Minderheit öffentlich exzessiv demonstrierte. Dagegen waren viele Bürger sich einig, daß diese Art der „Lösung der Judenfrage“ zu brutal, zu pöbelhaft, zu unzivilisiert war. Es wurde auch häufig Bedauern um die vielen beim Pogrom vernichteten Sachwerte registriert.
In den amtlichen Berichten von der Gendarmeriestation bis zu den Regierungspräsidenten kam solcher Ärger immer wieder zur Sprache. Ein Beispiel aus dem Bericht des Regierungspräsidenten von Niederbayern und der Oberpfalz zeigt die verbreitete Ambivalenz von Mißbilligung und Zustimmung: „Die gegen das Judentum gerichteten gesetzlichen Maßnahmen fanden ... vollstes Verständnis. Um so weniger Verständnis brachte der Großteil der Bevölkerung für die Art der Durchführung der spontanen Aktion gegen die Juden auf; sie wurde vielmehr bis weit in Parteikreise hinein verurteilt. In der Zerstörung von Schaufenstern, von Ladeninhalten und Wohnungseinrichtungen sah man eine unnötige Vernichtung von Werten, die letzten Endes dem deutschen Volksvermögen verloren gingen und die im krassen Gegensatz stehe zu den Zielen des Vierjahresplans, insbesondere auch zu den gerade jetzt durchgeführten Altmaterialsammlungen. Auch die Befürchtungen wurden laut, daß bei den Massen auf solche Weise der Trieb zum Zerstören wieder geweckt werden könnte. Außerdem ließen die Vorkommnisse unnötigerweise in Stadt und Land Mitleid mit den Juden aufkommen.“ Das letzte Argument war besonders bemerkenswert, kann man doch daraus -wenn die Bemerkung nicht als regimekritische Ironie eines Berichterstatters gewertet wird -einen hohen Grad von Übereinstimmung der Bevölkerung mit den Zielen des Regimes ablesen. In der Weigerung, zum Winterhilfswerk zu spenden, weil mit Billigung der NSDAP soviele Sachwerte zerstört worden seien, kamen in ländlichen, insbesondere katholischen Gegenden Regimekritik und Opposition auf pragmatische Weise zum Ausdruck, und zwar ausgelöst durch die physische Gewalt gegen Juden im November 1938.
In recht erheblichem, wenngleich nicht exakt meßbarem Umfang wurden aber auch Mitleid und Solidarität mit den Opfern des Pogroms empfunden und artikuliert. Man schämte sich der Exzesse, wollte keinen Anteil daran haben und war in der Ablehnung einig, und zwar fast öffentlich. Für manche wurde der Pogrom Anlaß zu heimlicher Sympathiekundgebung für jüdische Nachbarn, für einige auch zu anhaltendem Widerstand und fortdauernder Hilfe. Zu nennen wären Gruppen, die vor allem in Berlin bis 1945 Juden versteckten, sie ernährten und schützten. Die Aktivitäten im Umkreis der Gräfin Maltzan, die Gruppe um Ruth Andreas-Friedrich und manch andere organisierte Hilfe für Juden gehen auf die Scham vom November 1938 zurück
Man kann konstatieren, daß der inszenierte Pogrom nicht die Billigung der Mehrheit des deutschen Volkes gefunden hat. Die Motive der Ablehnung waren unterschiedlich. Sie reichen von der Sorge um die Zerstörung des Rechtsbewußtseins, von der Mißbilligung der Übergriffe auf fremdes Eigentum über das Empfinden, diese Vorgänge stünden im Gegensatz zur kulturellen Tradition Deutschlands. Dazu kam die berechtigte Befürchtung, das brutale Vorgehen schade dem deutschen Ansehen im Ausland. Andere waren aus humanitären Gründen entsetzt oder empfanden das ohnmächtige Gefühl kollektiver Beschämung. Eine hochgestellte, dem Nationalsozialismus gegenüber grundsätzlich positiv eingestellte Person schrieb anonym zwei Tage nach dem Pogrom an Joseph Goebbels: „Weinen könnte man, schämen muß man sich, ein Deutscher zu sein... und niemand traut sich, ein Wort dagegen zu sagen, wenn auch 85 % der Bevölkerung empört ist wie nie.“
Das bedeutete nicht, daß die judenfeindliche Politik grundsätzlich und mehrheitlich von den Deutschen abgelehnt wurde; sie sollte jedoch in Form von Gesetzen und Verordnungen auf einer formal legalen Grundlage vollzogen werden. Mißbilligt wurde die unzivilisierte und öffentliche Art und Weise der Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, nicht aber die Ausgrenzung selbst. Solange der Rahmen des bürgerlichen Formenkanons einigermaßen beachtet wurde, konnte die Politik der Ausgrenzung, Enteignung und Verdrängung der jüdischen Minderheit aus Deutschland mit erheblichem Konsens in der Bevölkerung rechnen.
Die Ereignisse des November 1938 waren aber auch für die Nichtbetroffenen einschüchternd und von weitreichenden Wirkungen begleitet. Die mentalitätsmäßig traditionell geringe und angesichts des inzwischen perfekt ausgebauten Terror-apparats immer gefährlicher werdende Bereitschaft zum Widerstand und zu eventuell tödlicher Solidarität mit der bedrängten Minderheit wurde ab November 1938 deutlich geringer. Die „Reichskristallnacht“ war auch ein Test der moralischen Widerstandsfähigkeit der deutschen Bürger gewesen, und sie hatte ihn mehrheitlich verloren, auch wenn Einsichtige die Dynamik des Geschehens richtig erkannten und die Preisgabe von Gesittung und Kultur, den Untergang der Idee vom Rechtsstaat in Deutschland beklagten.
Aber, und das war entscheidend, man schwieg bei aller Empörung über öffentlich geübte Gewalt gegen die Juden, man übte Mitleid und Hilfe nur im Verborgenen und nahm auch die dem Pogrom folgenden öffentlichen Aktionen des Regimes einschließlich der Deportationen aus den Heimat-oder Wohnorten verschämt zur Kenntnis. Bei der „Fabrik-Aktion“ vom Februar 1943 gab es eine Ausnahme, fast die einzige. Sie demonstrierte, was Protest vermochte, mitten in Berlin und am helllichten Tag. Vom Arbeitsplatz in der Fabrik waren jüdische Zwangsarbeiter zur Deportation nach Auschwitz abgeholt worden. Einige von ihnen, die mit nichtjüdischen Frauen verheiratet waren, kamen wieder frei, weil die Angehörigen öffentlich so lautstark und energisch protestierten.
Sehr aufschlußreich für die Mentalitätsgeschichte der Deutschen wäre es gewesen, wenn von vielen aufgezeichnet worden wäre, was in den unzähligen Augenblicken der Konfrontation geschah, was jeder einzelne empfand, wenn er Juden begegnete, als sie mit dem Stern als vogelfrei gebrandmarkt waren, wenn er beobachtete, wie sie für ihre kärglichen Lebensmittelrationen zu beschränkten besonderen Zeiten in den Läden anstanden, wie sie ihre Rundfunkgeräte und Telefonapparate ablieferten, als sie keine Haustiere mehr haben konnten, in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr sitzen, sie schließlich gar nicht mehr benutzen durften, wie sie als Zwangsarbeiter auf der vorletzten Station vor der Deportation angelangt waren. Für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung war mit der Deportation „die Judenfrage“ gelöst. Der An-blick Hunderter von den Sammelstellen in den Städten mit Sack und Pack zum Bahnhof ziehender Juden wurde -wenn er sich bot -mit der Vermutung beschwichtigt, sie reisten irgendwohin in den Osten, um sich dort anzusiedeln. Daß die vorrükkenden deutschen Armeen niemals solche Siedlungen sahen, hingegen die Spuren massenhaften Mordens -das wurde stillschweigend akzeptiert.
Daß es mehr oder weniger deutliches Wissen um den organisierten Völkermord im Osten des deutschen Herrschaftsgebiets, um das Treiben der Einsatzgruppen der SS, die Existenz der Vernichtungslager, die Gaswagen gab, ist evident. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Wie man als einfacher Soldat Kenntnis erhielt, geht aus folgender Schilderung hervor: „ 1942/43 war ich als Soldat in der von deutschen Truppen besetzten bjelorussischen Hauptstadt Minsk. Als Kraftfahrer meiner Einheit mußte ich eine zeitlang täglich ins Ghetto fahren, um jüdische Arbeitskräfte abzuholen. Ein Angehöriger des jüdischen Ordnungsdienstes, ein gebürtiger Frankfurter und ehemaliger Offizier im Ersten Weltkrieg, sagte mir eines Tages, daß der in Sichtweite von uns stehende Kastenwagen kein gewöhnlicher Lieferwagen oder gar ein Möbelwagen sei. Es sei ein Spezialwagen für die Vernichtung von Menschen, daher würde er auch , Gaswagen 4, , Seelentöter 4 oder auch , Todeswagen 4 genannt. , Das kann ich nicht glauben 4, sagte ich erschrokken. , Wir wollten es auch nicht glauben , erwiderte der Frankfurter Landsmann. , Unsere Leute sind ahnungslos eingestiegen -70 bis 80 Personen -man sagte ihnen, sie würden verlegt. Später sikkerte die Nachricht zu uns durch, daß diese Menschen während der Fahrt durch die in den Wagen geleiteten Benzingase getötet wurden. An irgendeiner Grube wurden ihre Leichen ausgeladen. 444
Bei anderer Gelegenheit erhält dieser Soldat Kenntnis, daß am 8. Mai 1943 am Stadtrand von Minsk 2600 deutsche und österreichische Juden ermordet wurden. Eines der Opfer, ein Wiener Sportstudent, hatte ihm im Bewußtsein seines bevorstehenden Todes einen Band Ibsen zum Andenken geschenkt. Der deutsche Soldat zog die Konsequenz aus seinem Wissen und kapitulierte zusammen mit sieben Kameraden bei der ersten sich bietenden Möglichkeit
Aber auch ohne die direkte Konfrontation mit dem Verbrechen konnte jeder im Deutschen Reich, wenn er nur wollte, der Wahrheit der Judenverfolgung und -Vernichtung näherkommen, und zwar vor allem aus drei Quellen: aus der Zeitung, wenn man die Drohungen gegen die Juden ernstnahm und die Prophezeiungen dechiffrierte durch das Radio, wenn man die Sendungen von BBC London hörte, durch die Berichte deutscher Soldaten, die von der Ostfront und aus den besetzten östlichen Gebieten auf Urlaub nach Hause kamen. Aber die Tarnung des Völkermords und die Geheimhaltung seiner Details durch das Regime wurde wirkungsvoll ergänzt durch die Bereitschaft der meisten Deutschen, nicht an das Grauenhafte zu denken, zufällige Beobachtungen zu ignorieren, Unerwünschtes nicht wahrzunehmen.
Die Zeitgenossen erlebten während der NS-Herrschaft wie unmittelbar danach die Diskrepanz zwischen ihrer Wahrnehmung und ihrem Gewissen. Die Wahrnehmung reichte von der Ahnung über die Vermutung bis zum vollen Wissen der Wahrheit über den Völkermord. Aber das Gewissen sagte allen, die die Ermordung der Juden nicht billigten -und das war die Mehrheit -, diese Wahrheit dürfte nicht sein. Sie verboten sich, Zeugen (und damit Mitwisser und Mitschuldige) dieser Realität zu sein. Die Wahrnehmungsfähigkeit und -Willigkeit erwies sich in dem Dilemma als schwächer, und so wird bis zum heutigen Tag die Wahrheit nur allzuoft verdrängt. Wahrheit bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir haben es gewußt, aber wir wollten es nicht wissen.
Diese Wahrheit hielt Thomas Mann schon im Herbst 1941 .den Deutschen vor: „Das Unaussprechliche, das in Rußland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wißt ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Haß, der eines Tages, wenn eure Volks-und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muß. Ja, Grauen vor diesem Tage ist am Platz, und eure Führer nutzen es aus. Sie, die euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen euch: Nun habt ihr sie begangen, nun seid ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müßt ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über euch.“
Aber die apokalyptische Prophezeiung hätte nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft im kollektiven Bewußtsein der Deutschen nicht so peinlich fortwirken müssen. Nach dem 8. Mai 1945 sind die Chancen der Erlösung vom Trauma aus Scham und Schuld, Mitwissen und Billigung, ohn-mächtiger Gegnerschaft und weitreichender Zustimmung zum Regime versäumt worden. Die Chancen lagen im Erinnern und Bewußtmachen.
In der Erinnerung der Deutschen blieb Auschwitz das Tabu überhaupt, selbst wenn das Problem thematisiert wurde. Wenn die Vertreter der Evangelischen Kirche im Oktober 1945 in ihrer Stuttgarter Erklärung von einer „Solidarität der Schuld“ sprachen, so blieb das Bekenntnis doch ebenso allgemein („durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“) wie christlich-selbstbezogen („wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger waren, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“) Von den Juden war noch lange Zeit nicht die Rede.
Indizien für diese Beklommenheit im Umgang mit dem Thema „Juden“ im weitesten Sinne finden sich vielfach in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Theodor Heuss, der einheitsstiftende erste Bundespräsident, als Demokrat und eloquenter Literat gleicherweise populär, blieb in seinen offiziellen Reden merkwürdig sprachlos, wenn Probleme der Juden mit den Deutschen oder der Deutschen mit den Juden zu benennen waren. In den großen Reden an die Deutschen, die das Staatsoberhaupt jeweils zum Jahresende hielt, gibt es in seiner ganzen Amtszeit -im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik also -kaum Erwähnungen der Katastrophe der Juden: Möglicherweise hielt Heuss die Zeit noch nicht für reif oder aber auch er unterlag der schamhaften Berührungsangst bürgerlicher Honorität, die das Klima der Zeit prägte und das kollektive Schweigen der präzisen öffentlichen Benennung des historischen und konkreten Sachverhalts vom millionenfachen Judenmord vorzog.
So war auch 1952 nicht von Juden die Rede, als die doch ganz beachtliche Anstrengung der Bundesrepublik zur materiellen Wiedergutmachung des Völkermords Vertragsform gefunden hatte: Lediglich in einem Nebensatz wird der „Israelvertrag“ erwähnt. Oder 1955, als Heuss des Todes von Albert Einstein gedachte und an den 100. Todestag Heinrich Heines erinnerte, scheute er sich, zu erwähnen, daß diese Männer Juden gewesen waren und deshalb in Deutschland zu unterschiedlichen Zeiten angefeindet und ins Exil getrieben worden waren.
In der politischen Kultur der Bundesrepublik hat die Erinnerung an den Holocaust heute selbstverständlich ihren Platz. Die pauschalen Klagen, daß alles verdrängt und verschwiegen worden sei, daß in den Schulen nichts über die Judenverfolgung gelehrt werde, daß die Schulbücher nichts oder zuwenig darüber enthielten, sind ebenso verbreitet wie überzogen. Zu speziellen Anlässen, gar an Gedenktagen, wird des Holocaust öffentlich gedacht; große Städte haben einen Formenkanon der Betreuung ihrer ehemaligen Bürger, die sich ins Exil retten konnten, entwickelt; die Pflege jüdischer Friedhöfe ist gewährleistet, es gibt keinen Mangel an Gedenkstätten und Erinnerungstafeln (etwa an den Orten zerstörter Synagogen). Der Verdacht allerdings scheint begründet, es handele sich vielmehr um Feiertagsrituale, nicht um alltägliches Bewußtsein.