Ethnokratie -ein verhängnisvolles Erbe in der postkommunistischen Welt
Wladimir K. Wolkow
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Zusammenfassung
Die rasante Entwicklung des Neonationalismus und die nationalen Konflikte in Ländern Ostmittel-und Südosteuropas wie auch in der UdSSR, die den revolutionären Veränderungen der Jahre 1989 bis 1991 folgten, veranlassen zur Erforschung ihrer treibenden Kräfte und der politischen Ursachen. Diese Tendenzen erwachsen aus dem sozialpolitischen Nachlaß der postkommunistischen Welt, aus der früheren Praxis des nationalstaatlichen Aufbaus. Ihnen zugrunde liegt die Erscheinung einer neuen gesellschaftlichen Schicht auf der politischen Bühne -der Ethnokratie, die nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ entstanden ist. Ethnokratie umfaßt einen Teil des alten sozialpolitischen Spektrums, am meisten die alte Nomenklatur-schicht, Vertreter der Schattenwirtschaft und der nationalgesinnten Intelligenz. Jede dieser Gruppierungen hat ihre eigene Motivation und in jedem Einzelfall unterschiedlichen Anteil. In multinationalen Staaten führen Ethnokratie-Clans erbitterte Kämpfe um Macht und Eigentum. Ethnokratie zeigt dabei ausgeprägt totalitäre Züge. Sie schürt bewußt die Feindseligkeit in den Beziehungen zwischen den Völkern, da nur in gespannten Situationen ihre Ziele am besten zu verwirklichen sind. Diese konfliktschaffende Eigenschaft macht Ethnokratie besonders gefährlich.
I. Neonationalismus -eine Folge sozialistischer Regimezusammenbrüche
Nach den Revolutionen des Jahres 1989 in den Ländern Ost-, Mittel-und Südosteuropas hat niemand erwartet, daß ihr künftiger Weg in die Welt-gemeinschaft problemlos verlaufen würde. Alle diese Staaten standen vor der Aufgabe, die Menschenrechte durchzusetzen, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft einzurichten. Für den Neuanfang, für die Bewältigung der neuen Herausforderungen, schien Optimismus angebracht. Welche Folgen der Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ hervorrufen würde, war nicht abzusehen, weniger noch, daß der Sozialismus in fast allen Ländern Osteuropas durch einen Neonationalismus abgelöst würde. Es hat sich wieder einmal erwiesen, daß dem Leben mit Theorien allein nicht beizukommen ist.
Intensität und Erscheinungsformen des Neonationalismus sind von Land zu Land natürlich sehr verschieden. Die Verschärfung der Nationalitäten-probleme äußert sich dabei zuerst außenpolitisch (zum Beispiel in den Beziehungen Ungarns mit seinen Nachbarstaaten Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien), kommt aber stärker noch zum Ausdruck im innenpolitischen Leben multinationaler Staaten oder in Staaten mit zahlreichen nationalen Minderheiten. An erster Stelle sind hier Jugoslawien und die Sowjetunion zu nennen, vor der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien. Die nationalen Gegensätze in Jugoslawien zeigen den innen-und außenpolitischen Zusammenhang des Nationalismus in neuer Schärfe. Die Konflikte gewannen transnationale Bedeutung, sie haben die Grenzen dieses Landes überschritten und sich in ein gesamteuropäisches Problem umgewandelt.
In der Sowjetunion haben nationale Streitfragen nach dem Scheitern des Staatsstreiches im August 1991 an Schärfe zugenommen. Im Laufe von Tagen wurde all das in die Wirklichkeit umgesetzt, was die Putschisten gefürchtet hatten: der Zusammenbruch der Kommunistischen Partei und das Verbot ihrer Tätigkeit; der Umbruch des autoritärbürokratischen Herrschaftssystem, in dem diese Partei ihre Schlüsselrolle spielte; der Zerfall der sowjetischen Zentralgewalt mit den Machtwerkzeugen KGB, MWD (Innenministerium) und die Entziehung des Rückhalts von Seiten der Armee. Dann folgten die Unabhängigkeitserklärungen der Republiken und der Austritt der drei baltischen Republiken aus der Union.
In den westlichen Medien, insbesondere in den deutschen, hat man dies von Anfang an eindeutig als „Zerfall der Sowjetunion“, als „Zerfall des sowjetischen Imperiums“ bewertet. Als Beweis hat man in erster Linie die Unabhängigkeitserklärungen einer Reihe von Republiken verstanden. Doch ist es heute noch zu früh zu urteilen, was sich aus den revolutionären Ereignissen in der Sowjetunion ergeben wird. Mit selbstverständlicher Vorsicht kann man allerdings die Meinung vertreten, der Zusammenbruch des autoritär-bürokratischen Herrschaftssystems mit seinem übertriebenen Zentralismus komme nicht dem Zerfall des Landes gleich. Die Unabhängigkeitserklärungen verschiedener Republiken bedeuten weder eine einhellig vertretene gemeinsame Ausrichtung noch in jedem Einzelfall dasselbe; jede Erklärung muß gesondert beurteilt werden. Für die Mehrheit der Republiken bedeutet dieses Streben zunächst eine Neuorientierung, die transnationalen Beziehungen in einem neuen Staatenbund auf anderen Grundlagen aufzubauen. Die Nationalitätenbeziehungen in der Sowjetunion wuchsen sich dabei zu einem der Hauptprobleme von Weltbedeutung aus.
Nationalitätenprobleme existieren in verschiedenen Regionen der Welt und rufen Krisensituationen in gleich mehreren Staaten hervor. Sie werden solange existieren wie die Nationen und Völker selbst. Doch in jeder Gesellschaftsordnung entwikkeln sich die Nationalitätenprobleme unter eigenen Bedingungen. Vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus galt es als unangefochtene Wahrheit, daß Nationalismus ein Erzeugnis des Kapitalismus sei. Man betrachtete es als eine Binsenwahrheit, daß nach dem Aufbau des Sozialismus allgemeine Völkerfreundschaft herrschen würde, daß alle Voraussetzungen früherer Feind-35 Seligkeiten zwischen den Völkern wie selbstverständlich abfallen würden. Diese Postulate wurden durch die Realität widerlegt. Aus heutiger Sicht kann man behaupten, daß gerade die Gesellschaft des „realen Sozialismus“ zum Nährboden des Nationalismus geworden ist. Diese Gesellschaft hat der postkommunistischen Welt ein verhängnisvolles Erbe hinterlassen. Worin besteht dieses Erbe?
II. Veränderungen im Sozialgefüge
In den letzten Jahren haben wir von Biologen viele Warnungen über die Gefahren gehört, die der Menschheit durch die Anwendung der Gentechnik drohen. Nicht weniger gefährlich und verhängnisvoll sind unvorhergesehene soziale Mutationen. Die verderblichen Folgen nationaler Sozialtechnik sind überall zu beobachten, wo sie angewandt wurden -in Osteuropa, in Asien, in Lateinamerika. Bis zum heutigen Tag richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die erbärmlichen Ergebnisse für die Wirtschaftslage, die politischen Verhältnisse und das Kulturleben. Die sozialen Auswirkungen des „realen Sozialismus“ sind aber noch nicht ins Rampenlicht geraten. Als sich die Staubwolke, die durch den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ entstanden war, lichtete, wurde offensichtlich, daß in der postkommunistischen Welt ein Sozialmutant hinterblieben ist, ein sozial-politischer Homunkulus, die Ethnokratie. Gerade die Entstehung und die Existenz dieser sozial-politischen Schicht verschärfte die nationalen Gegensätze und gab einen mächtigen Anstoß zum Wachstum des Nationalismus.
Der Entstehung der Ethnokratie ging eine lange Zeit des Reifens aller ihrer sozialen Bestandteile im Schoße des alten Herrschaftssystems voran. Vier Umstände prägten diesen Prozeß:
-die langjährige unumschränkte Herrschaft der marxistisch-leninistischen Theorie der nationalen Frage im öffentlichen Bewußtsein;
-der langjährige Einsatz dieser Theorie in der Praxis des nationalstaatlichen Aufbaus;
-das langjährige Bestehen des autoritär-bürokratischen Herrschaftssystems, das die gesamte Gesellschaft verformte und neue Sozialschichten ins Leben rief;
-das Aufkommen der Dissidenten-Bewegung und antikommunistischer Widerstandsprogramme während der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, inbesondere in ihrer jeweils nationalen Färbung.
1. Marxistisch-leninistische Auffassungen zur nationalen Frage
Wie in allen anderen Lebensbereichen beanspruchte der Marxismus-Leninismus auch angesichts aller Nationalitätenprobleme, im Besitz fehlerloser Anschauungen zu sein. Weder Marx noch Lenin haben allerdings Nennenswertes zu diesem Bereich hinterlassen. Mehr noch: ihre oft oberflächlichen und manchmal sogar andere Völker beleidigenden Äußerungen bringen zuweilen bis zum heutigen Tag gelehrte Nachfolger in eine prekäre Lage. Als maßgebende Persönlichkeit in der Nationalitätenfrage galt Josef Stalin. Er war der erste Volkskommissar für Nationalitätenangelegenheiten in der Regierung Lenin und hat einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Nationalitätenpolitik und ihre künftige Rechtfertigung ausgeübt. Sein persönlicher theoretischer Beitrag beschränkte sich auf definitorische Festlegungen, die auf die flüchtige Bekanntschaft mit den Werken austromarxistischer Theoretiker, vor allem Otto Bauers, zurückzuführen sind.
Nach Stalins Tod sind in der Sowjetunion mehrfach Diskussionen über die Theorie der Nationalitätenfrage geführt worden. Sie endeten ergebnislos; ihre Teilnehmer zeigten sich außerstande, den marxistischen und stalinistischen Dogmenkreis zu verlassen. Andererseits erlaubte es die bloße Existenz des autoritär-bürokratischen Herrschaftssystems den Diskussionsteilnehmem nicht, die dogmatischen Theorievorgaben zu überschreiten. Man muß aber auch auf den weltwissenschaftlichen Kontext hinweisen: eine befriedigende Befassung mit der Nationalitätenproblematik hat es bislang nicht gegeben.
In der letzten Zeit hat eine Reihe von sowjetischen Politologen die Meinung geäußert, daß es keine marxistische Nationalitätentheorie gebe. Jedoch existierte in der Tat eine Sammlung von destruktiven nationalistischen Parolen, die von den Bolschewiken als Werkzeuge zur Machtergreifung und -festigung genutzt wurden. Die meisten dieser Pa-B rolen stammten von extremen Flügeln der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich unter den Völkern Ostmittel-und Südosteuropas. Es wurde angenommen, daß in der „lichten kommunistischen Zukunft“ alle nationalen Trennwände und alle Nationalitätenprobleme enden würden. Alle daraus folgenden theoretischen Berechnungen trugen einen äußerst pragmatischen Charakter und zielten darauf, die bürgerliche Gesellschaftsordnung und das bürgerliche Staaten-system höchstmöglich zu destabilisieren. Als bestgeeignetes Mitteldazu galt das Selbstbestimmungsrecht der Nationen einschließlich dem Recht auf Abtrennung. Man muß sich nicht von der demokratischen Form dieser Parole irreführen lassen. Mit aller Entschiedenheit ist zu unterstreichen: Die bolschewistische Strategie war nur auf ein Ziel gerichtet, nämlich den Sieg der sozialistischen Weltrevolution. Alles andere hatte nebensächliche Bedeutung. 2. Die Praxis des nationalstaatlichen Aufbaus Die praktische Verwirklichung dieses theoretischen Grundsatzes war von äußerstem politischen Zynismus gekennzeichnet. Tatsächlich verachteten die bolschewistischen Führer das nationale Bewußtsein und hielten es für ein bürgerliches Relikt. Niemals nahmen sie auf die Interessen der Völker Rücksicht, sondern verletzten sie immer wieder zugunsten ihrer außenpolitischen Pläne und pragmatischen Ziele. So wurden zum Beispiel die Interessen und das Territorium des armenischen Volkes in der Zeit des Aufbaus der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der kemalistischen Türkei (unter Kemal Atatürk, Staatspräsident seit 1923) und der Sowjetunion Anfang der zwanziger Jahre zur politischen Verfügungsmasse: zugunsten der Türkei verzichtete die Regierung Lenin auf die armenischen Regionen Kars und Ardagan und stimmte der Einverleibung der Region Berg Karabach in die aserbaidschanische Republik zu. So entstand das Berg-Karabach-Problem, das in jüngster Zeit wieder blutige Auseinandersetzungen hervorbringt. Als weiteres Beispiel kann man den Verzicht der bolschewistischen Regierung auf die westlichen Teile der ukrainischen und belorussischen nationalen Gebiete zugunsten Polens gemäß den Bedingungen des Vertrags von Riga (1921) anführen. Dieses „Danaergeschenk“ kam die Polen 1939 teuer zu stehen, als mit deutscher Zustimmung (nach dem „Hitler-Stalin-Pakt“) die Sowjetunion Ostpolen besetzte.
Äußerst willkürlich wurden die Grenzen zwischen des Sowjetrepubliken gezogen. Fast nirgendwo stimmten die administrativen Grenzlinien mit ethnischen Gebieten überein. Es gab keine Volksbefragungen über nationale Zugehörigkeiten; die Volkszählungen wurde unter Verletzung der allgemein anerkannten Normen betrieben. Zum Himmel schreiende bürokratische Willkür war in zwei Fällen besonders augenfällig: die Grenzziehungen in Mittelasien und die der Russischen Föderation. Im ersten Fall kamen die augenblicklichen Verwaltungsinteressen der Parteibürokratie zum Ausdruck. Im zweiten Fall war die Sache viel komplizierter. Lenin und andere bolschewistische Führer waren sich im klaren darüber, daß die Mehrheit der russischen gebildeten Schichten der Oktoberrevolution ihren Beistand nicht nur vom sozialen, sondern auch vom nationalen Standpunkt aus versagt hatte. Zur Niederschlagung einer solchen Gesinnung rückte man Kampfparolen gegen den „großrussischen Chauvinismus“ in den Vordergrund. Unter anderem wurden Methoden der nationalen Zersplitterung angewandt.
Der ethnische Name „Russen“, der früher für die Bezeichnung der drei ostslawischen Völker -Großrussen, Belorussen und Malorussen (Ukrainer) -verwendet wurde, benannte jetzt polemisch allein die „Großrussen“. Ihr ethnisches Territorium wurde bewußt zugunsten der Nachbarrepubliken vermindert. Schließlich wurden im Rahmen der Russischen Föderation 16 autonome Republiken, fünf nationale Gebiete und zehn nationale Kreise geschaffen. Dabei haben nur in ein paar autonomen Republiken die Titularnationen eine Mehrheit. Die Russische Föderation wurde in ein Versuchsfeld für soziale Experimente verwandelt. Ihre nicht gleichberechtigte Lage hat man bis zur jüngsten Zeit, faktisch bis zum Augustputsch 1991 beibehalten.
Die kommunistische Machtausübung führte in die Praxis des nationalstaatlichen Aufbaus eine eigenartige Rangordnung der Nationalitäten, ein drei-oder vierstufiges System ein: Unionsrepubliken, autonome Republiken (im Rahmen einer anderen Unionsrepublik), nationale Gebiete und nationale Kreise. Damit verbunden war ein mehrstufiges System der nationalen Rechte, Vorrechte und Sonderrechte. Titularnationen der Unionsrepubliken hatten die größten Privilegien. Diese Republiken verfügen über alle Merkmale eines Staatswesens. In allen Republiken, Nationalgebieten und Kreisen hat man eine entsprechende Kaderpolitik betrieben. An der Spitze der Staatsorgane stehen die Vertreter der Titularnationalität (ungeachtet des realen Anteils dieser Nationalität in der gesamten Bevölkerung). Zu Beginn der zwanziger Jahre er-37 hielt diese Politik die Bezeichnung „Verwurzelung des Apparates“. Wenn es um Posten ging, hatte die Nationalität, nicht die Kompetenz den Vorrang. Gleichzeitig gab man sich größte Mühe, der nationalen Intelligenz in allen Republiken, Gebieten und Kreisen Raum zu schaffen. Man rechnete damit, daß diese Intelligenz eine neue Kultur entwickeln würde -„national der Form nach, sozialistisch im Inhalt“. Ohne Zweifel beförderte eine solche Politik die Kulturentwicklung verschiedener Völker. Sicher ist aber auch, daß dies von (verfeinerten) Erscheinungen des Nationalismus begleitet wurde.
Die Nationalitätenpolitik ist nicht gesondert vom kommunistischen Herrschaftssystem mit seinen Terrormethoden zu betrachten. Die siebzigjährige Machtausübung im Namen des Sozialismus kostete 50 bis 70 Millionen Menschen das Leben. Die ganze Gesellschaft, alle sozialen Klassen wurden stark deformiert. Viele soziale Schichten wurden zurückgedrängt und ausgerottet, insbesondere die Geistlichkeit, der Adel, die alte Intelligenz, das alte Beamtentum, das Offizierskorps, Kosakentum und vermögende Bauern (sogenannte „Kulaken“). Diese Terrorpolitik betraf alle Völker des Landes, die größten Verluste aber erlitten die Russen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde eine Reihe von Völkern Repressionen ausgesetzt und verbannt: Wolgadeutsche, Krimtataren, Kalmyken, Tschetschenen und Inguschen, meschetinische Türken. Deren Existenzanspruch trägt heute zur Summe der Nationalitätenprobleme des Landes bei. 3. Entstehung neuer Sozialschichten Das autoritär-bürokratische Herrschaftssystem hat neue sozialpolitische Schichten erzeugt. In erster Linie muß man hier die sogenannte „neue Klasse“ (Milovan Djilas) oder „Nomenklatura“ (Michael S. Voslensky) erwähnen. Diese relativ große herrschende Schicht wird von Partei-und Staatsbeamten, von Führungskräften des KGB, des MWD und der Staatsanwaltschaft wie auch von Wirtschaftsverwaltern geführt. Die freien Wahlen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei haben nach dem Zusammenbruch der totalitären Regime erkennen lassen, daß diese „Nomenklatura“ in allen drei Ländern durchschnittlich ungefähr 11-13 Prozent der gesamten Wählerschaft sammeln konnte. Das entspricht in etwa ihrem realen Anteil an der Bevölkerung.
In ihren besten Jahren scharten sich die Angehörigen dieser Schicht in „Clan“ -Bindungen auf verschiedenen Ebenen -Kreis, Gebiet, Republik -zusammen, die untereinander verflochten und streng hierarisch aufgebaut waren. Juri W. Andropow, der lange an der Spitze des KGB stand und die letzten anderthalb Jahre seines Lebens (von November 1982 bis Februar 1984) Generalsekretär der KPdSU war, hat die gesellschaftliche Ordnung der Sowjetunion als eine neue Pyramide aus Partei-und Wirtschafts-Clans definiert, enthoben von den eigentlichen sozialen Vorgängen: „Wir kennen die Gesellschaft nicht, in der wir leben.“ Eine solche Lage war die Voraussetzung für Machtmißbrauch, für Korruption, Bestechung, Vetternwirtschaft und bürokratische Willkür in allen Lebensbereichen. Andropows Erkenntnis folgte die Zustimmung, extreme Fälle des Machtmißbrauchs gerichtlich untersuchen zu lassen. So begann die berüchtigte „usbekische Strafsache“, die den Untersuchungsführern der Staatsanwaltschaft der UdSSR, T. Gdljan und N. Iwanow, anvertraut wurde. Die Untersuchung hat viele Jahre gedauert, eine Reihe von öffentlichen Skandalen hervorgerufen und konnte bis zum heutigen Tag nicht zu Ende gebracht werden.
Das Versagen der Kommandowirtschaft hat Schattenwirtschaft und entsprechende soziale Schichten ins Leben gerufen. Es entstanden Gruppierungen, die über beträchtliche Geldsummen verfügten und die Unterstützung von Seiten der Verwaltungsorgane brauchten. Diese „Schattenschichten“ operierten fast zwangsläufig mit der kriminellen Welt wie sie zugleich Kontakte zur herrschenden Schicht pflegten. Die größte Gefahr besteht im Zusammenwachsen der Nomenklaturschichten mit den Schattenschichten, ein Tatbestand, den die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR schon zu Beginn der Perestroika benannte. In der Öffentlichkeit rief diese Erkenntnis einen -bislang folgenlosen -Schock hervor. Bestehende Verbindungen werden nicht zur Schau getragen, doch die kriminellen Verwachsungen gedeihen weiter. 4. National gefärbte Opposition und nationale Zweckbündnisse Eine besondere Eigenschaft des autoritär-bürokratischen Herrschaftssystems ist der übertriebene Zentralismus. In seinem allumfassenden Charakter schließt er die Anerkennung regionaler oder nationaler Grenzen allein in sein opportunes Ermessen. Die schärfste Kritik am zentralistischen Herrschaftsanspruch übten jene oppositionellen Intelligenz-und Dissidentenkreise, die zur offenen Opposition übergegangen waren. Dabei erwies sich der jeweilige regionale Standpunkt als Katalysator und Vehikel der Systemkritik; die Bekämpfung der herrschenden Zustände wurde mit nationalen Zielen verknüpft. Das Erreichen nationaler Unabhängigkeit schien manchen ein Ausweg, doch wurden unter den neuen Umständen alte nationale und nationalistische Ansichten wiederbelebt. Manchmal nahmen sie eine Form an, die auf eine stark emotionale Basis schließen läßt. Als Beispiel kann man Behauptungen über die Existenz des „Sowjetischen Imperiums“ beziehungsweise über die „koloniale Lage“ einiger Völker anführen. Diese Formeln verwendet man sehr gern auch in westlichen Medien, ohne sich die Mühe zu machen, nach Hintergründen und Ursachen zu forschen.
Alle für die Länder des „real-existierenden Sozialismus“ charakteristischen sozialpolitischen Struktureigenschaften reiften lange Zeit im Schoß des kommunistischen Regimes. Mit dem Anfang der „Perestroika“ sind sie in Bewegung geraten, und mit der Wende der Geschichte entstand, wie in einem Kaleidoskop, aus alten Elementen ein neues Bild. Früh, in der ersten Etappe der Krise des autoritär-bürokratischen Herrschaftssystems, zeigte sich die Empfindlichkeit der Nomenklatura gegenüber Nationalitätenproblemen. Die allmähliche Bereitschaft, die fehlende Anziehungskraft der marxistischen Ideologie durch nationale Werte zu ergänzen oder sogar zu ersetzen, hatte Folgen. Die zwischenstaatlichen Beziehungen verschärften sich innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft: es entbrannte die bulgaro-jugoslawische Polemik über die mazedonische Frage; es kamen ungarorumänische Gegensätze über Siebenbürgen zum Ausdruck; Fragen der nationalen Minderheiten wurden wieder aktuell.
Der erste ernsthafte Ausbruch der nationalen Gegensätze innerhalb eines Landes fand in Jugoslawien statt, dem Land, das als erstes den Rückzug vom kommunistischen Herrschaftssystem begonnen hatte. Sein Vorrücken in die posttotalitäre Welt verlangsamte sich aber und blieb lange Zeit in der ersten Teilstrecke dieses Weges zurück. Die jugoslawischen Formen der Selbstverwaltung haben das alte Herrschaftssystem nicht zerstört, sondem nur abgeschwächt. Das Wesentliche bestand darin, daß der bürokratische Zentralismus von der gesamtstaatlichen Ebene auf die republikanische übertragen wurde. Anstatt eines Zentrums entstanden sechs republikanische Zentren, um die die Vereinigung der lokalen Parteien, von Technokratie und Vertretern der nationalgesinnten Intelligenz begonnen hat. Das legte den Grundstein zur Entstehung der Ethnokratie, die hier früher als in anderen Ländern gebildet wurde. Ihr erstes Auftreten wurde durch eine innenpolitische Krise im Jahre 1971 ausgelöst. Damals befand sich, nach Einschätzung des Staatspräsidenten Josip Tito, das Land am Rande des Bürgerkrieges. Als Urheber dieser Krise wurde die kroatische republikanische Führung ausgemacht. Der Konflikt wurde durch das diktatorische Eingreifen Titos bewältigt. Die kroatische Führung wurde ausgewechselt, und in der Staatsverfassung wurden Änderungen vorgenommen, um ähnliche Fälle in Zukunft auszuschließen. Im nachhinein erweist sich dies nur als die Behandlung von äußeren Symptomen, nicht als gründliches Heilverfahren.
Anzeichen derselben Gesellschaftskrankheit sind in der Sowjetunion in Erscheinung getreten, als die Nomenklatura die Bedrohung für ihre sozialpolitische Stellung zu empfinden begann. Ungefähr um die Jahreswende 1988/89 führten erste gegenseitige Abgrenzungen in den Reihen der herrschenden Schicht zur Zuspitzung national ausgetragener Gegensätze. Ein Teil der Partokratie und Technokratie unternahm auf der Gebiets-und Republik-, ebene Schritte, um sich mit konservativen und reaktionären Kreisen des zentralen Machtapparates zu vereinigen. Ein anderer Teil versuchte, oft zusätzlich zu diesen Zweckbündnissen, seine Kräfte mit nationalgesinnten Schichten der Intelligenz (insbesondere in den jeweiligen Nationalrepubliken) zu vereinigen. In einigen Fällen kam die lokale Nomenklatura den nationalen Kräften entgegen. Nach außen ist dies in einer „Parade der Souveränitäten“ und Souveränitätserklärungen fast aller Republiken zum Ausdruck gekommen. In mehreren Republiken und Nationalgebieten begann die Nomenklatura, in den Jahren 1989/90 nach freien oder halbfreien Wahlen nationale Farben zu bekennen.
III. Entstehung der Ethnokratie
Ethnokratie ist Produkt und Kennzeichen der Umbruchphase autoritär-bürokratischer Herrschaftssysteme. Gerade in dieser Zeit der Unsicherheit entstehen bei einzelnen Nomenklatura-Clans die Wünsche und Bedürfnisse nach Selbsterhalt. Gehandelt wird nach der Parole „Rette sich, wer kann“. Nationale Farben und Fahnen dienen dann in den meisten Fällen als Rettungsringe. Treibende Kraft aller Handlungen ist die Angst vor dem Verlust der sicheren Position in der Gesellschaftsordnung. Hinzu kommen die Privilegien, die materiellen Anreize. Der Umbruch des alten Herrschaftssystems bedeutet noch nicht, daß sich gleichzeitig die soziale Struktur der Gesellschaft verändert. Im Gegenteil, sie bleibt unberührt. Die gesellschaftlichen Besitzverhältnisse bleiben dieselben. Alle Betriebe, der Handel, das Verkehrswesen, die Banken sind unter der Verwaltung der Vertreter der alten Nomenklaturschichten. Wie die Erfahrung verschiedener Länder, unter anderen Polens, Ungarns, der Tschechoslowakei, Bulgariens, Rumäniens oder der Sowjetunion zeigt, ist Privatisierung eine schwierige, langwierige Angelegenheit. Vor der Nahperspektive der Marktwirtschaft suchen die alten Nomenklaturschichten nach Umwegen zur Erhaltung ihres sozialen Status. Sie stehen vor dem Problem, wie sich die bisherige Macht in marktwirtschaftlichen Bereichen, im Zeichen der Eigentumsprivatisierung bewahren läßt. Unter den üblichen Verhältnissen des demokratischen Entwicklungsprozesses ist die Lösung einer solchen Aufgabe beschwerlich oder gar unmöglich. Also müssen dazu die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, die Möglichkeiten für Versuche der gesellschaftlichen Alchimie eröffnet werden. Das nationale Element spielt in diesem Experiment die Rolle des sozialen Katalysators, mit dessen Hilfe man sich einer Reihe von Kritikern, Gegnern und Konkurrenten entledigen kann: sie fallen unter das Nationalitätenproblem, das nach bewährten Mustern bewältigtwird.
Ethnokratie tritt also ins Dasein als Folge der Synthese aus mindestens drei gesellschaftlichen Schichten: 1) die alte Nomenklaturschicht, die ihre Schlüsselpositionen in der Wirtschaft und im Staatsapparat aufgrund ihrer Routine in Verwaltungsfragen beibehalten hat, 2) die Vertreter der Schattenwirtschaft und des beginnenden Unternehmertums, 3) die nationalgesinnte Intelligenz. Jede von diesen Schichten hat ihre Motivationen. Aber der gemeinsame Nenner für sie alle besteht in nationaler Selbstsucht oder Natiozentrismus.
In jedem Einzelfall haben diese drei Schichten ihren jeweils unterschiedlichen Anteil an der Ethnokratie. Und jede dieser Schichten beeinflußt deren ideologische Grundlagen, politischen Ziele und sozialen Wurzeln. Ihr Charakter ist abhängig von der Qualität aller ihrer Bestandteile und den Außenverhältnissen ihrer Entstehungsbedingungen. Immer aber ist Ethnokratie eine brisante Zusammensetzung, die ausgeprägte autoritäre Züge und die Tendenz zur Errichtung neuer Despotien unter „nationaldemokratischen“ oder „nationalkommunistischen“ Vorzeichen hat. Über die Handlungsmethoden der Ethnokratie läßt sich am besten aufgrund von unbestrittenen Tatsachen und konkreten Beispielen urteilen.
In der letzten Zeit kam es immer häufiger zu einseitigen Abspaltungserklärungen verschiedener nationaler Republiken, Gebiete und auch kleinerer Regionen. Die Unabhängigkeitserklärungen bedeuten nicht in jedem Einzelfall dasselbe. Zwar erfahren sie einige Unterstützung durch die Ethnokratie, doch hat der Begriff Unabhängigkeit für jede Schicht seinen eigenen Sinn. Für die national-gesinnte Intelligenz, die von Denknormen des 19. Jahrhunderts über die Werte des Nationalstaates ausgeht, wiegen Unabhängigkeitserklärung und Nationalrechte mehr als Menschenrechte und Menschenfreiheiten.
Die Vertreter der Schattenwirtschaft sehen in erster Linie eine Möglichkeit, ihre Geschäfte zu legalisieren und altes „schmutziges Geld“ reinzuwaschen. Für die Nomenklaturschicht gilt die Hoffnung und bietet sich die Gelegenheit, ihren sozialen Status und die Kontrolle über das „öffentliche Eigentum“ in ihrem Territorium zu erhalten. Das Ziel, alles öffentliche Eigentum, ungeachtet der früheren Zugehörigkeit zu gesamtstaatlichen Behörden, Ämtern und Ministerien, gesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaftsverbänden in Besitz zu nehmen, wird als höchste Nationalaufgabe dargestellt. Dazu gehören auch die Bemühungen, das gesamte Territorium, das beim kommunistischen nationalstaatlichen Aufbau dieser oder jener Titularnation zugemessen wurde, beizubehalten, ungeachtet des realen Nationalbe-Standes und der kommunistischen Beweggründe bei der Grenzziehung.
Was die letzteren angeht, so dienten die territorialen Zuteilungen oft als Kompensation für die Verletzung der nationalen Gefühle. Darüber kann man am Beispiel Litauen urteilen. Nach der Eingliederung in die Sowjetunion 1940 wurde die Republik um das Gebiet um die Stadt Wilna, damals überwiegend von Polen bevölkert, und um einige Kreise, die vorher zu Belorußland gehörten, erweitert. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hat man ihr auch das Klaipeda (Memel) -Gebiet einverleibt. Diese Zuteilung wurde bis heute beibehalten. Solche Beispiele sind nicht Ausnahme, sondern die Regel, die legitimiert wird unter Bezugnahme auf internationale Konventionen, etwa auf KSZE-Beschlüsse wie dem von der Unantastbarkeit der existierenden Grenzen.
IV. Ethnokratie und opportunistische Nationalitätenpolitik
Ethnokratie hat größte Wendigkeit gezeigt, ihre Machtstellung mit populistischen Parolen und pseudodemokratischen Losungen zu tarnen. In der Tat aber strebt sie, dem kommunistischen Usus folgend, zu Monopolmachtausübung, nur unter nationalen („Macht der Nation“) und nicht Klassenkampfparolen („Macht der Arbeiterklasse“). Die Bevölkerung sieht sich aufgeteilt nach nationalen Merkmalen in „unsere“ und „andere“. Monopolmachtstreben verschafft sich in erster Linie Kontrolle über die Massenmedien; Ethnokratie duldet keine Kritik (Selbstkritik ist ihr fremd), da sie keiner Kritik standhält. Das Schüren von Feindseligkeiten in den Beziehungen zwischen den Völkern ist ethnokratisch beabsichtigt. Hier tritt die klassische Maxime „divide et impera“ („Teile und herrsche“) in Erscheinung. Sie dominiert die Nationalbeziehungen, wobei zuallererst dem eigenen Volk Zügel angelegt werden. Als Beispiele können Georgien, Moldawien und die baltischen Republiken gelten sowie fast alle Republiken Jugoslawiens. Der georgische Präsident S. Gamsachurdia beispielsweise hat alle oppositionellen Kundgebungen verboten. Er hat die Parole „Georgien für Georgier“ in den Vordergrund gerückt, obwohl die nationalen Minderheiten dort ein Drittel der Bevölkerung bilden. Als der ehemalige und mittlerweile in sein Amt zurückgekehrte sowjetische Außenminister Schewardnadse, früher eine politisch leitende Persönlichkeit in Georgien, nach Demonstrationen in Tiflis die Meinung äußerte, die georgische Regierung solle sich mit der Opposition am Runden Tisch treffen, wurde er von Gamsachurdia als „Feind des georgischen Volkes“ gebrandmarkt. Ähnlich verhielt sich der litauische Parlamentspräsident und „Sojudis" -Führer V. Landsbergis, als er mit gleichen Vorwürfen -„Feind des litauischen Volkes“ -die frühere Ministerpräsidentin K. Prunskiene, eine der Vorsitzenden des „Forums für die Zukunft Litauens“, beschimpfte. In Moldawien brandmarkt man jeden als „Verräter“, der sich weigert, sich als „Rumäne“ zu bekennen. Das hat auch zur Spaltung der Moldauer geführt. In einigen Republiken nationalkommunistisch geprägter Ethnokratie (Aserbaidschan, die mittelasiatischen Republiken), wurden die Verbreitung der demokratischen Printmedien und die Ausstrahlung des linksdemokratischen „Rußland-Fernsehens“ verboten. Die autoritären und sogar totalitären Tendenzen der Ethnokratie scheinen sich unumstößlich zu stabilisieren.
Ethnokratie bestreitet anderen Völkern, insbesondere Minderheiten, gleichen Rechte, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. In Georgien negiert die Regierung die nationalen Rechte der Osseten und Abchasen. Erstere vertreten ein Nationalgebiet, die anderen eine autonome Republik. Die georgische Regierung hat den Beschluß gefaßt, die südossetische Autonomie aufzuheben und hat entrechtende Maßnahmen in die Wege geleitet. Das führte zu nationaler Konfrontation und Blutvergießen. Präsident S. Gamsachurdia hat den meschetinischen Türken, die unter Stalin 1945 verbannt waren, das Recht auf Rückkehr in ihr ehemaliges Siedlungsgebiet verweigert. In der Moldau-Republik stehen rabiate Rechtsverweigerungen gegen slawische Minderheiten und gegen den Autonomieanspruch der Gagausen auf der Tagesordnung.
In den baltischen Staaten nimmt derselbe Prozeß andere Formen an. Litauen fand sich nach der gewonnenen Unabhängigkeit schlagartig mit der polnischen Minderheit konfrontiert. Nach litauischem Parlamentsbeschluß wurden die Selbstverwaltungsorgane der polnischen Minderheit aufgelöst, die daraufhin Anspruch auf Autonomie erhob. Die Beziehungen zwischen Polen und Litauen spitzten sich nach dieser Völkerrechtsverletzung zu; die Lösung des Problems ist offen. In Lettland steht die Frage von Bürgerrechten der russischen Minderheit, die fast eine Hälfte der Bevölkerung (48 Prozent) ausmacht, zur Diskussion. Ihr droht das Schicksal, als Bürgerschaft zweiter Klasse behandelt zu werden. Das betrifft auch die anderen baltischen Staaten. Es besteht die Gefahr, daß hier eine gespaltene Gesellschaft ohne Kontakt zwischen den Bevölkerungsgruppen entstehen wird. Die Ethnokratie ist fest entschlossen in ihrem Kampf gegen das Selbstbestimmungsrecht anderer Völker und Minderheiten, insbesondere gegen das Recht auf Sezession. Das beweisen die Auseinandersetzungen um Berg-Karabach in Aserbaidschan, um das Dnestr-Gebiet in Moldawien und um Regionen und Republikansprüche innerhalb Jugoslawiens.
Die gegenwärtige demographische Entwicklungslinie zeigt einen ständigen Trend zur komplexen, vielschichtigen Bevölkerung. Das ist ein weltweiter Vorgang, der allerdings besonders in Industrieländern zu verzeichnen ist, wo über Migrationsbewegungen zahlreiche Minderheiten ansässig geworden sind (türkische Gastarbeiter in Deutschland, Araber in Frankreich, Vertreter der Commonwealth-Völker in Großbritannien). In allen Ländern Ost-, Mittel-und Südosteuropas spielen Minderheiten eine traditionell große Rolle. Die ethnokratische Parole der Schaffung „ethnisch reiner Territorien“ besitzt hier besondere Brisanz. Solche Losungen erinnern an faschistische Theorien über die „Rassenreinheit“. Zum ersten Mal wurden sie von den albanischen Nationalisten im Kosovo-Gebiet (Jugoslawien) am Anfang der achtziger Jahre ins Feld geführt und zeigten sogleich ihren Explosivgehalt. Im Alltag kamen sie zum Ausdruck in häßlichen Erscheinungsformen des Ausgrenzens nationaler Minderheiten (in jenem Falle der serbischen und montenegrinischen) und der Nötigung zur Emigration.
Ähnliche Symptome treten in verschiedenen sowjetischen Republiken zutage. In Aserbaidschan zum Beispiel wurde die armenische Bevölkerung einiger Dörfer im mit Berg-Karabach benachbarten Schaumjan-Kreis gewaltsam nach Armenien ausgesiedelt. Elena Bonner, die Witwe des sowjetischen Bürgerrechtlers A. Sacharow, hat öffentlich die aserbaidschanischen Behörden beschuldigt, sie wollten die demographische Situation in der umstrittenen Region gewaltsam verändern. Chauvinistische Aufrufe, insbesondere gegen die russische und ukrainische Minderheit, erklingen in Moldawien. Die lettischen Nationalisten erwägen Mittel, wie sie möglichst größere Teile der russischen Bevölkerung zur Aussiedlung bewegen können. Solche Gedanken sind auch anderen baltischen Kräften nicht fremd.
Alle Herrschaftsmethoden der Ethnokratie und die damit verbundenen nationalistischen Erscheinungsformen reizen Feindseligkeiten in den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten bis zum Äußersten. Im Hintergrund aller nationalen Konflikte stehen ohne Zweifel die Interessen der Ethnokratie-Clans, ihr Kampf um Macht und Eigentum in den multinationalen Staaten. Mehr noch: Die Zuspitzung der nationalen Beziehungen ist für sie erstrebenswert. Nur eine gespannte Situation schafft die notwendigen Voraussetzungen für die Realisierbarkeit ihrer Ziele. Gerade diese konfliktschaffende Eigenschaft der Ethnokratie macht sie besonders gefährlich. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß Ethnokratie eine Weltgefahr darstellt.
In der postkommunistischen Welt hat die Ethnokratie gezeigt, daß ihr Streben nach möglichst großen national-territorialen Ansprüchen in eine politische Sackgasse führt. Darüber kann man am Beispiel Jugoslawiens urteilen. Dieses Land hat sich in ein gesamteuropäisches Labor der negativen gesellschaftlichen Erfahrungen im Bereich der nationalen Beziehungen verwandelt. Die entflammte Konfrontation in den nationalen Beziehungen ruft eine Kettenreaktion hervor. Unter solchen Umständen führen emotionale Einschätzungen zur einseitigen Parteinahme. Dabei entsteht die Gefahr, in die Lage des Verbündeten eines Ethnokratie-Clans in seinem Kampf gegen den anderen Konkurrenten zu geraten.
V. Maßnahmen gegen den ethnokratischen Konfrontationskurs
Über die allgemeine Bedrohung durch die Ethnokratie muß man sich überall bewußt werden. Ethnokratie hat tiefliegende soziale Wurzeln, aufgrund derer man ihr eine dauerhafte Existenz voraussagen kann. Sie übt einen äußerst negativen Einfluß auf die Entwicklung der postkommunistischen Welt aus. Ihre Neutralisierung kann man nur durch ein breites Spektrum demokratischer Maßnahmen erreichen. Dazu gehören: 1. Die konsequente Durchführung der ökonomischen Reformen und der möglichst schnelle Über-gang zur Marktwirtschaft, die Veränderung der gesellschaftlichen Besitzverhältnisse und die Privatisierung des staatlichen Eigentums. Besonders erforderlich ist ein allmählicher, aber allgemeiner Mentalitätswandel. Man muß Umstände schaffen, unter denen der Weg zu Privateigentum nur durch schöpferische Leistung und gerechtfertigtes Unternehmertum, nicht aber durch Machtausübung möglich wird.
2. Die Förderung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und Rechtsordnung. Die Menschenrechte darf man nicht für andere -klassenbedingte oder nationale -Interessen opfern. Zur „menschlichen Dimension“ gehört die Vorrangstellung der Menschenrechte, nicht aber der Nationalrechte. Die Bevorzugung der letzteren muß als autoritäre Handlungsweise betrachtet werden, da es hier um selbstgefällige Gruppeninteressen, um nationalistische Diskriminierung von Minderheiten geht.
3. Die Sicherung der Minderheitenrechte. Sie sollen Gleichheit und das Recht auf kultur-nationale Autonomie, einschließlich des Rechtes auf Abtrennung, umfassen. Entziehung der Menschenrechte unter nationalem Vorwand ist als grobe Rechtsverletzung, als Apartheidspolitik zu betrachten. 4. Das Verlangen nach zugestandener und praktizierter Doppelstaatsangehörigkeit. Die Praxis gewinnt besonders an Bedeutung bei der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Die politische Erfahrung hat gezeigt, daß sich in solchen Fällen die Frage der Staatsbürgerschaft in ein Mittel der Erpressung nationaler Minderheiten verwandeln kann. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Abschluß einer internationalen Konvention über das Recht auf doppelte Staatsangehörigkeit notwendig sein wird.
Viele dieser Probleme sind in der weiteren Entwicklung des KSZE-Prozesses zu erörtern. Ihre Lösung wird einen großen Beitrag zum Aufbau des „gemeinsamen europäischen Hauses“ darstellen. Sie alle muß man bei der Schaffung von Mechanismen zur Krisenbewältigung berücksichtigen. Vor allem aber muß man sich deutlich machen, mit welchen sozialen und politischen Kräften man es zu tun hat.
Wladimir K. Wolkow, Dr. sc., geb. 1930; Professor für Geschichte Ostmittel-, Ost-und Südosteuropas, Direktor des Instituts für Slawistik und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die UdSSR und die volksdemokratischen Länder (1944-1949), Moskau 1985; Aufsätze und Artikel zu den revolutionären Ereignissen in den Ländern Ostmittel-und Südosteuropas.
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