Übersetzung aus dem Russischen: Bernd Bentlin, Köln Die Vorgänge auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion seit dem Putsch vom August 1991 zeigen erneut, daß die Schwierigkeiten bei der Reformierung des kommunistischen Totalitarismus nicht nur und vielleicht auch nicht so sehr mit dem Widerstand der Staats-und Parteinomenklatura Zusammenhängen, sondern daß ihre Ursachen viel tiefer gehen. Bekanntlich hat Jelzin erst Ende Oktober, d. h. fast zweieinhalb Monate nach der Niederlage der Putschisten, unter starkem Druck der Öffentlichkeit seine Absicht erklärt, radikale Veränderungen in der Wirschaft einzuleiten. Aber auch das war eher eine politische Absichtserklärung als ein konkretes Reformprogramm. Bedenkt man, daß auch in den Ländern Osteuropas, wo die Kommunisten in einigen Fällen schon seit über zwei Jahren nicht mehr an der Macht sind, die Reformen ebenfalls nicht einfach und reibungslos vorangehen, dann läßt sich mit gutem Grund behaupten, daß es eine innere Systemlogik bei der Reformierung kommunistischer Systeme, beim Übergang vom totalitären Wirtschaftstyp zur Marktwirtschaft, gibt.
Erkennen und mehr oder weniger sytematisch beschreiben läßt sich diese Logik freilich erst im nachhinein, wenn das Leben sie endgültig offenbart hat. Jedoch läßt sich schon jetzt, im Anfangsstadium dieses Prozesses, vieles analysieren und prognostizieren, und zwar nicht nur deshalb, weil es schon gewisse Erfahrungen mit der Reformierung kommunistischer totalitärer Regime gibt, wobei einige sehr wesentliche und hinreichende generelle Tendenzen zutage getreten sind, sondern auch deshalb, weil es weltweite Erfahrungen mit dem Übergang nicht totalitärer Gesellschaften anderen Typs zur modernen Marktwirtschaft gibt.
Diese Erfahrungen sind zum einen abgeschlossen, zum anderen gut erforscht und gründlich verarbeitet worden. Natürlich sagen sie an sich wenig darüber aus, welche Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion und in den anderen Ländern mit gleichem Schicksal möglich und welche unmöglich sind. Aber sie bieten doch einen Bezugspunkt für die Analyse dessen, was in diesen Ländern vor sich geht; sie bieten eine Richtschnur und einen Vergleichsmaßstab, denn nur im Vergleich ist es ja möglich, nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Eigenart und Einzigartigkeit der verschiedenen Erscheinungen aufzuzeigen. Auf der Basis dieser weltweiten Erfahrungen möchte ich versuchen, einige Besonderheiten bei der Reformierung des sowjet-kommunistischen Totalitarismus (auch im Vergleich mit Osteuropa) zu beschreiben.
I. Wesentliche Besonderheiten des Übergangs vom totalitär-kommunistischen Wirtschaftssystem zur Marktwirtschaft
1. Die Wirtschaft Vergleicht man den Übergang vom kommunistischen Totalitarismus zur (kapitalistischen) Marktwirtschaft mit dem historischen Übergang, der seinerzeit im Westen stattfand, dann lassen sich mindestens zwei wesentliche Unterschiede ausmachen. Zum ersten existierte in der westlichen Wirtschaft seit dem späten Mittelalter das Privateigentum (wenn auch in Formen, die einer allseitigen Entwicklung wirtschaftlicher Initiative hinderlich waren). Dagegen ist im totalitären WirtschaftsÜbersetzung System das Privateigentum entweder vernichtet worden oder es existiert als Anhängsel zur verstaatlichten ideologisierten Wirtschaft und spielt keinerlei selbständige Rolle. Zum zweiten (und das dürfte das Entscheidende sein) setzte der Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft im Westen mit der Entwicklung des Konsumenten-marktes ein, d. h. mit der Entwicklung von Landwirtschaft, Handwerk und der Leichtindustrie in einer Situation, als es noch keine Schwerindustrie gab -diese sollte sich erst mit der Kapitalakkumulation und der Herausbildung anderer Voraussetzungen entwickeln. Wie der Verlauf der Ereignisse in den Ländern Osteuropas, in China und Vietnam zeigt, beginnt die Reformierung des totalitären kommunistischen Systems ebenfalls auf dem Konsumsektor, mit dessen Befreiung vom staatlichen Diktat. Aber die letztlich entscheidende Schwierigkeit liegt darin, daß neben dem entstehenden Konsumentenmarkt eine gigantische Schwerindustrie besteht, deren Privatisierung und Einbeziehung in Marktverhältnisse Probleme völlig neuer Art aufwirft:
Erstens hat die Bevölkerung keine Mittel, um diese Unternehmen zu kaufen. Zweitens sind diese Unternehmen in ihrer wirtschaftlichen Substanz und Betriebsführung veraltet, so daß ihr Kauf unvorteilhaft ist. Drittens läßt sich das Problem, einen interessierten Eigentümer zu finden, weder durch die Ausgabe von Aktien noch durch andere Formen der Aufteilung des Unternehmenswerts lösen. Viertens wirkt sich die für eine totalitäre Planwirtschaft charakteristische Monopolstellung der Produktion in diesen Branchen zwangsläufig deformierend auf den Markt aus. Fünftens fehlt die notwendige Anzahl von Spezialisten, die in der Lage wären, unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu arbeiten.
Dieses letztgenannte Problem macht sich besonders dann in aller Schärfe bemerkbar, wenn die politischen Bedingungen des Übergangs zum Markt nicht auf evolutionär-reformistischem, sondern auf revolutionärem Weg entstehen. Antitotalitäre Revolutionen schaffen nicht so sehr den Raum für die Betätigung schon existierender Wirtschaftssubjekte (marktwirtschaftliche Erfahrungen fehlen im Totalitarismus), sondern sie sorgen vielmehr für die politischen Voraussetzungen zu deren Entstehung und Formierung. Antitotalitäre Revolutionen bestätigen besonders anschaulich die alte Wahrheit, daß Revolutionen nicht einfach und nicht nur eine Änderung der Eigentumsformen (im juristischen und ökonomischen Sinn), sondern auch eine Änderung der Art der Wirtschaftslenkung bedeuten.
Aber alle diese Probleme und Schwierigkeiten des Übergangs von der totalitären zur Marktwirtschaft können als minder bedeutsam angesehen werden, wenn man sie mit den sozialen Problemen vergleicht. Von deren Lösung oder Nichtlösung hängt es ab, ob die Staaten, die den Totalitarismus abgeschüttelt haben, eine Entwicklungsvariante vermeiden können, die in die Katastrophe führt. 2. Die sozialen Verhältnisse Nicht nur in den ehemaligen kommunistischen Ländern wird der Charakter des Übergangs zum Markt von den damit zusammenhängenden sozialen Problemen bestimmt, sondern es handelt sich vielmehr um einen historischen Erfahrungswert. Beim Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zur Markt-und Industriegesellschaft entstand das hauptsächliche soziale Problem infolge der Übervölkerung auf dem Land und der Abwanderung großer Massen einer an den gesellschaftlichen Rand geratenden Bevölkerung in die Städte. Beim damaligen Stand der Industrie waren die Städte nicht in der Lage, diese Massen aufzunehmen und in den Arbeitsprozeß einzugliedern. So entstand das gewaltige Problem der Verelendung, des Lumpenproletariats und der Nichtseßhaften, dem man mit härtesten Abschreckungsmaßnahmen zu begegnen versuchte, was sich aber als unlösbar erwies und zu einer der Hauptursachen für revolutionäre Erschütterungen im Westen des 18. und 19. Jahrhunderts wurde. Natürlich darf man diese Prozesse nicht getrennt von den Widersprüchen sehen, die zwischen den privilegierten Gesellschaftsschichten, insbesondere zwischen dem Adel und der aufkommenden Geldaristokratie, bestanden, aber diese Widersprüche hätten ohne den Zündstoff an der gesellschaftlichen Basis niemals zu Revolutionen geführt.
Beim Übergang vom Totalitarismus zur Marktwirtschaft tritt dieses Problem wieder in den Vordergrund, aber diesmal nicht so sehr als Problem des Verhältnisses Stadt-Land (es geht hier hauptsächlich um urbanisierte Länder), sondern vielmehr als soziales Problem der Stadt. Die Ursache der Marginalisierung kann dabei in einer zu großen Zahl von Arbeitskräften nicht auf dem Land, sondern in der Industrie liegen (was auch schon der Fall ist), und diese zu große Zahl geht ihrerseits auf die strukturelle Umgestaltung der Industrie, nämlich die Veränderung ihrer veralteten Branchenstruktur beim Übergang von der industriellen zur modernen wissenschaftlich-technischen Informationszivilisation zurück. Bekanntlich sind vor allem in der Schwerindustrie viele Millionen Menschen beschäftigt, deren Qualifikation sich bei der strukturellen Umgestaltung als veraltet erweist (das gilt auch für hochqualifizierte Beschäftigte).
Auf der anderen Seite hat eine Verzögerung beim Reformieren der Schwerindustrie zur Folge, daß im Zuge der Reform des Konsumsektors und der Herausbildung von Subjekten der Marktwirtschaft in diesem Bereich Widersprüche entstehen zwischen diesen von der Reform profitierenden Subjekten und den Arbeitern der Industrieunternehmen, deren Lebensstandard sinkt. Die Folgen davon haben sich besonders deutlich in Polen gezeigt, wo sie sich auf das politische Schicksal von Mazowiecki auswirkten: Der Mann, dem die Na-B tion zunächst die Reformen anvertraut hatte, erlitt nach wenigen Monaten bei den Präsidentschaftswahlen eine verheerende Niederlage. Das ist keine Episode und auch kein Zufall, sondern ein tief gehendes Problem, vor dem alle Länder, die sich vom Totalitarismus befreien, in Zukunft stehen werden (und zum Teil schon stehen). Es läuft auf die Frage hinaus, die den Anhängern Mazowieckis von seinen Gegnern während des Wahlkampfes am häufigsten gestellt wurde: Wenn es, wie behauptet, beim Übergang von der totalitär organisierten Wirtschaft zur Marktwirtschaft nicht ohne unpopuläre Maßnahmen und ohne ein zeitweiliges Absinken des Lebensstandards gehe, und wenn die Menschen aufgefordert werden, um ihres zukünftigen Wohlstands willen zu leiden, warum sollten dann nicht alle leiden, warum entstehen dann Schichten, die schon jetzt wirtschaftlich nach oben kommen?
Der Widerspruch zwischen den Forderungen nach Effektivität und dem für die postkommunistischen Gesellschaften charakteristischen geschärften Gefühl für soziale Gerechtigkeit wird sich auf das Tempo und die Richtung der Reformen auswirken, er wird die Legitimität oder Illegitimität der Macht bestimmen und den Charakter der politischen Regime der Übergangsperiode entscheidend beeinflussen. 3. Die Politik Nicht demokratische, sondern autoritäre Regime sind in der Regel das politische Äquivalent des in der Neuzeit begonnenen Übergangs zur modernen Marktwirtschaft gewesen, der stets von Marginalisierung begleitet war, also von sozialer Spannung, die sich nicht selten zu einer Konfrontation der Interessen auswuchs. Diese Regime traten hauptsächlich in zwei Typen auf: im traditionell-monarchischen (königlicher Absolutismus) und im bonapartistischen Typ, der aus Revolutionen er-wuchs, die ihrerseits ausbrachen, weil die traditionell-monarchischen Regime unfähig waren, die aufeinanderprallenden Interessen zu versöhnen. Hierbei sollte man sich darüber im klaren sein, daß die autoritären Übergangsregime von Napoleon bis Pinochet keineswegs den Markt gewaltsam einführten (ich erwähne dies besonders, weil diese Vorstellung bis heute in der sowjetischen wie auch in der westlichen sowjetologischen Literatur vorhanden ist), sondern daß sie Raum für die Tätigkeit der wirtschaftlich aktiven Bevölkerungsschichten schufen und diese (durch Gesetze und nicht selten mit Gewalt) vor dem an den Rand gedrängten Teil der Gesellschaft schützten.
In den Ländern, die den kommunistischen Totalitarismus abgeschüttelt haben, ist die Situation noch nicht geklärt, deshalb gibt es auch noch keine ausreichenden Grundlagen, um den Verlauf der politischen Entwicklung einigermaßen bestimmt vorauszusagen. Bislang lassen sich zwei Entwicklungstendenzen beobachten: Die erste Variante fand in Ungarn unter Kädär, in China unter Deng Xiaoping und bis zu einem gewissen Grad in Jugoslawien unter Tito statt. In diesen Fällen versuchte das kommunistisch-totalitäre Regime durch seine Wandlung zu einem kommunistisch-autoritären Regime Garant des Übergangs zu Marktverhältnissen (in dosierter, die Macht der KP nicht gefährdender Form) zu werden. In gewisser Weise kommt auch Gorbatschows Perestroika vor dem Augustputsch dieser Variante sehr nahe, wenn auch mit erheblichen Unterschieden (Gorbatschow versuchte, Unvereinbares miteinander zu verbinden: die Macht der KP und die parlamentarische Demokratie). Dieser Unterschied erwies sich als so gravierend, daß es Gorbatschow nicht gelang, eine auch nur begrenzte kommunistische Variante der Wirtschaftsreformen zu verwirklichen, deren Voraussetzungen er im Rahmen seines Kurses von Nowo-Ogarjowo von April bis August 1991 schaffen wollte. Die Demokratisierung des Regimes führte zur Destabilisierung und zum Zerfall des sowjetischen Imperiums, so daß die Bildung eines kommunistischen autoritären Reform-regimes im Kreml blockiert wurde. Die Putschisten wollten dies ohne Gorbatschow machen, aber ihre Angst vor Gewaltanwendung, das Bestreben, ihr Vorgehen als verfassungskonform hinzustellen und ihre Furcht, das bloße Wort „Kommunismus“ zu gebrauchen, zeigen erneut, daß Demokratisierung mit Kommunismus unvereinbar ist, daß sie unweigerlich dessen Tod bedeutet. Und wenn die Vertreter des Kommunismus das nicht verstehen, und wenn sie versuchen, sich dem entgegenzustemmen, dann heißt das, daß sie ebenso wie die Putschisten den Selbstmord einem natürlichen Tod vorziehen.
Die zweite Variante erkennen wir in der Entwicklung nach den Ereignissen von 1989 in Osteuropa. Hier übernahmen die nach freien Wahlen gebildeten demokratischen Strukturen die Aufgabe, den Übergang zur Marktwirtschaft zu vollziehen. Diesen Weg müssen auch die ehemaligen Sowjetrepubliken nach der Niederschlagung des Augustputsches und dem Zusammenbruch des Kommunismus in der UdSSR beschreiten. Die praktisch alles entscheidende Frage ist heute, ob diese neuen Machtstrukturen in der Lage sein werden, für einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Hauptziele und Grundprinzipien der Reformen zu sorgen, ob sie eine Polarisierung und Konfrontation der Interessen abwenden können oder, anders gesagt, ob es ihnen gelingt, ihre Länder vor dem Abgleiten in die eine oder andere Form des Autoritarismus zu bewahren. Von außerordentlich großer Bedeutung ist dabei im Hinblick auf die Schwäche der mittleren Unternehmerklasse und des eigentlichen politischen Zentrums die Frage, ob zivilisierte, nichtextremistische, anmarktwirtschaftlichen Reformen orientierte linke Kräfte vorhanden sind, die in der Lage sind, sich zum politischen Sprecher derjenigen Gesellschaftsschichten zu machen, denen soziale Gerechtigkeit mehr bedeutet als Freiheit. In der gegenwärtigen Situation wird es für die traditionellen linken Parteien (Sozialisten und erst recht Kommunisten) nicht einfach sein, diese Rolle zu spielen. Es ist nicht auszuschließen, daß wir in den postkommunistischen Ländern auf einen neuen Typus der linken Bewegung treffen werden, der durch die Aufspaltung des zunächst einheitlichen antikommunistischen Stroms in eine Neue Rechte und Neue Linke entsteht (wobei hier die westliche Definition gilt, aber nicht unbedingt westliche Entsprechungen). Wenn es dem linken Flügel gelingt, sich selbst zu definieren und zu organisieren, wenn er nicht die Konfrontation mit der entstehenden neuen Mittelklasse und den zentristischen Kräften sucht, wenn er angesichts deren Schwäche einen Teil ihrer historischen Funktionen übernimmt und wenn er es schafft, in den postkommunistischen Ländern die stabilisierende Rolle zu spielen, die im Westen seinerzeit die Sozialdemokratie inne-hatte, dann wird eine evolutionäre Entwicklung im Rahmen des Parlamentarismus möglich sein.
Allerdings können, wie die Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahlen in Polen zeigen, die ehemaligen kommunistischen Parteien unter neuen Namen Wiederaufleben, ihr politischer Erfolg ist möglich. Wenn aber sie die beherrschende Position am linken Flügel einnehmen, dann bedarf es, soll sich der Reformprozeß zivilisiert entwickeln, entweder einer mehr oder weniger stabilen Koalition der Mitte oder eines Konsenses mit den Linken in der Hauptfrage: daß der Übergang zum Markt notwendig ist und daß es fatal wäre, den Reformprozeß zu blockieren und zu stoppen.
Was nun die ehemalige UdSSR betrifft, so zeigt der Verlauf der Ereignisse nach dem gescheiterten Augustputsch, daß sich in den Sowjetrepubliken, die sich zu unabhängigen Staaten erklärt haben, einschließlich der Russischen Föderation, die Entwicklung autoritärer Tendenzen abzeichnet. Vom russischen Parlament ist ein Kurs gebilligt worden, der die Stärkung der Exekutive während der Dauer der Wirtschaftsreform und die Aussetzung der Wahlen der Leiter der kommunalen Verwaltungen vorsieht (die letzteren sollen ernannt werden). Das ist bislang nur eine Tendenz, und zwar eine nicht sehr tief gehende -allein deshalb, weil Jelzin nicht über die Machtstrukturen verfügt, die zur Stütze eines autoritären Regimes werden könnten.
Darüber hinaus haben die gegenwärtigen Widersprüche zwischen der exekutiven und der repräsentativen Macht, die vor allem auf lokaler Ebene stark sind (besonders in Moskau und Leningrad [St. Petersburg], wo sie schon vor dem Putsch auftraten), auch ihr Gutes: Man kann in ihnen eine wichtige Triebkraft für eine demokratische und nicht autoritäre Entwicklung sehen. Es ist nämlich über die repräsentativen Institutionen möglich, eine politische Opposition nicht außerhalb, sondern innerhalb der ehemaligen antikommunistischen demokratischen Bewegung zu bilden. Diese Opposition würde auf der einen Seite den allgemeinen Reformkurs der Exekutive unterstützen, auf der anderen Seite aber gegen die Exekutive opponieren und sie korrigieren, wenn sie sich zu weit vom Volk, von den Interessen der breiten Bevölkerungsschichten entfernt.
Die Funktionsteilung ist umso wichtiger, wenn es darum geht, unpopuläre wirtschaftliche Maßnahmen zu treffen. In einer solchen Situation ist es von entscheidender Bedeutung, daß die demokratische Bewegung in der Lage ist, eine zweite Staffel von Politikern zu stellen, die die jetzigen Führer, falls erforderlich, ablösen könnte. Anderenfalls würde das durch Politiker geschehen, die die demokratische Bewegung insgesamt ablehnen: durch Politiker nationalistischer oder national-populistischer Richtung. Falls dies geschieht, wird Autoritarismus unvermeidlich sein, und zwar ein Autoritarismus, der sich auf nationale Ideen mit allen ihren unberechenbaren Folgen stützt.
Natürlich kann die Frage, ob die postkommunistischen Länder in der Lage sein werden, eine katastrophale Entwicklung und ein Abgleiten in den Autoritarismus zu vermeiden, erst in der Zukunft einigermaßen sicher und glaubwürdig beantwortet werden. Schon jetzt aber lassen sich die Reformen, die in diesen Ländern im Gang sind, in einen globalen Zusammenhang stellen, und die Vor-und Nachteile des Übergangs vom totalitären Zustand zum Markt können definiert werden. Dabei ergeben sich Grundtendenzen-, die sowohl für die Möglichkeit der katastrophalen Variante als auch für die Möglichkeit ihrer Vermeidung sprechen.
II. Ist die nichtkatastrophale Variante des Übergangs möglich?
. Wenn man beginnt, den Übergang zur Marktwirtschaft von der traditionellen Gesellschaft (der bekanntlich mit sozialen Erschütterungen einhergeht) mit dem Übergang vom kommunistischen Totalitarismus zu vergleichen, dann sieht man sich zunächst vor pessimistischen Schlußfolgerungen.
Es hat nämlich noch nie jemand vor der Aufgabe gestanden, den Übergang zum Markt von einem total verstaatlichten Wirtschaftssystem durchzuführen -einem System, dessen Leitkriterien nicht ökonomische, sondern politisch-ideologische Produktionsbeziehungen sind. Waren beim Übergang von der traditionellen zur modernen kapitalistischen Gesellschaft die Subjekte der Marktwirtschaft schon vorhanden und mußten sie nur von den Fesseln staatlicher Restriktionen befreit werden, so gibt es in der kommunistischen Gesellschaft solche Subjekte nicht, sie müssen sich erst formieren. Hier muß alles bei Null (wie in der UdSSR) oder fast bei Null (wie in Osteuropa) begonnen werden.
Aber wenn das so ist, wenn der Ausgangspunkt der Bewegung zu einer modernen Wirtschaft in diesen Ländern viel schlechter ist als in allen gleichgearteten Fällen in der Vergangenheit und der Gegenwart, und wenn es weiter in allen diesen anderen Fällen nicht ohne Erschütterungen und Diktaturen abging, wo ist dann die Basis, auf der wir ein günstiges Ergebnis für uns selbst voraussagen können? Folgt daraus nicht eher -im Gegenteil, daß die UdSSR und die Länder mit einem ähnlichen historischen Schicksal unvermeidlich auf Katastrophen zusteuem, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat?
Diese unangenehme Frage wird oft zu verdrängen versucht. Eine Begleiterscheinung des Verdrängens ist, daß man, statt eine konkrete Antwort zu suchen, in eine Sackgasse gerät, die nach guter alter Gewohnheit „lichte Zukunft“ genannt wird. Geht es beispielsweise darum, die Möglichkeit einer Realisierung der Pinochet-Variante in der ehemaligen Sowjetunion (sowohl auf der Ebene des Zentrums als auch auf der der Republiken) zu widerlegen, wird darauf verwiesen, daß es in Chile Privateigentum und Marktverhältnisse gegeben habe, bei uns jedoch nicht. Hieraus müßte, so sollte man meinen, ein naheliegender Schluß gezogen werden: Wenn der historische Ausgangspunkt, an dem wir stehen, tiefer liegt als der in Chile, dann ist auch unser Weg nach oben um einiges mühsamer. Aber nein, von unserer gegenwärtigen Not wird wieder einmal auf das zukünftige Glück geschlossen. In Chile habe es Privateigentum gegeben, deshalb sei es dort nicht ohne Diktatur abgegangen. Bei uns gebe es keins, deshalb müßten wir zum Privateigentum über die Demokratie kommen. Wunder, o Wunder!
Nein, wenn wir nach Gründen für Optimismus suchen wollen, dann auf einer ganz anderen Ebene. Sie kann man nur in den historischen Resultaten der Tätigkeit des totalitären Regimes suchen. Hier gibt es nur eine von zwei Möglichkeiten: entweder haben sich während der totalitären Periode irgendwelche Voraussetzungen zur Überwindung des Totalitarismus angesammelt, oder es gibt keinerlei derartige Voraussetzungen bzw. die, die es gegeben hat, sind vernichtet. Natürlich läge im zweiten Fall der Vorteil unserer Länder gegenüber dem Chile Pinochets nur darin, daß wir es zu einem Pinochet noch nicht gebracht hätten, daß die Zivilisation bei uns nichts hätte, worauf sie sich stützen könnte, weshalb von einem zivilisierten Ausweg aus der Situation überhaupt keine Rede sein könnte.
Indessen beweisen der einmalig friedliche Charakter der osteuropäischen Reformen und Revolutionen von 1989 und die Niederschlagung des Putsches in der UdSSR die historische Erschöpfung der tötalitären Regime beziehungsweise den Mangel ihrer Verwurzelung in der Gesellschaft und daß keine auch nur irgendwie ernstzunehmenden Kräfte vorhanden sind, die sie ohne Unterstützung von außen schützen könnten. Hinzu kommt das beeindruckende Zeitbild, daß die unter totalitärem Druck stehenden Länder in der Lage gewesen sind, sich mit zivilisierten Mitteln von diesem Druck zu befreien. Das ist umso bemerkenswerter, als die ehemaligen Regime sich gerade mit Gewalt an der Macht hielten und der Bevölkerung scheinbar einzutrichtern versuchten, daß nur mit Gewalt etwas erreicht werden könne.
Offenbar fanden sich unter der totalitären äußeren Hülle und im Gegensatz zu ihr nicht nur Zerstörung, sondern auch eine Ansammlung zivilisierter Formen, die darauf zurückzuführen waren, daß die kommunistischen Regime in häßlichen und oft barbarischen Formen die gleiche Aufgabe lösten, die früher oder später von der ganzen Welt zu lösen war, nämlich die der Industrialisierung und Urbanisierung. Sie stellte sich nicht nur im zaristischen Rußland, sondern war in der gesamten Gruppe der Länder, um die es hier geht, vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht vollständig gelöst. Natürlich kann man die Länder in dieser Beziehung nicht gleichsetzen; es wäre z. B. unsinnig, ein Gleichheitszeichen zwischen Bulgarien und der Tschechoslowakei vor dem Krieg zu setzen (auch zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Landesteil gab es so etwas wie einen zivilisatorischen Bruch).
Das kommunistische Industrialisierungsmodell war verunstaltet infolge seiner einseitigen Orientierung auf die Entwicklung der Schwerindustrie, auf die Erfüllung der militärtechnischen Bedürfnisse der Sowjetunion, auf die Abkopplung von der internationalen Arbeitsteilung und auf provinziellen Universalismus, wobei jedes Land bestrebt war, sich praktisch alle Arten von Industieprodukten zu sichern. Darin wurde die wichtigste Voraussetzung für nationale Unabhängigkeit gesehen. Aber trotz des höchst unzivilisierten Charakters dieses Industrialisierungstyps und des noch weniger zivilisierten Charakters der kommunistischen Regime, die ihn realisierten, fanden im Rahmen dieses Prozesses auf der Grundlage der mit ihm einhergehenden Urbanisierung eine Überwindung des Bruchs zwischen der städtischen und der traditionellen Kultur und eine Ansammlung von Elementen moderner Bildung und Qualifikation statt. Zwar kam es dabei zu einer Abtötung der ökonomischen Kultur, der Marktkultur, aber wenn wir die historischen Ergebnisse des kommunistischen Totalitarismus analysieren und den Charakter und die Besonderheiten des Übergangs zum Markt und zur Demokratie erkennen wollen, dann müssen wir das Gesamtbild im Auge behalten, und wir dürfen nicht nur die objektiven Faktoren bestimmen, die die Gefahr einer katastrophalen Entwicklung verstärken, sondern wir müssen auch die (nicht minder objektiven) Faktoren sehen, die uns helfen können, eine solche Entwicklung zu vermeiden. Der urbanisierte Gesellschaftstyp, den die Kommunisten ihren Nachfolgern hinterlassen, ist einer dieser Faktoren.
Im Verlauf der Industrialisierung und Urbanisierung ist nämlich in den meisten Ländern die „überschüssige“ Bevölkerung vom Land in die Stadt abgewandert. Dabei bildeten die aus ihrem soziokulturellen Umfeld herausgerissenen Umsiedler eine Zeitlang eine gewisse soziale Stütze der kommunistischen Regime. Der Abschluß des Urbanisierungsprozesses aber bedeutete, daß jenes Problem, das vom 16. bis zum 19. Jahrhundert in Westeuropa und heute in der „Dritten Welt“ eine der Hauptursachen und -triebkräfte für blutige soziale Explosionen und Erschütterungen war und ist, historisch aufgehört hat zu existieren. Gemeint ist das Problem der mit dem Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zu Marktverhältnissen unvermeidlich einhergehenden Überbevölkerung auf dem Land und die dabei entstehende Marginalisierung großer Massen, die aus der Geborgenheit ihrer traditionellen Kulturen herausfallen, was sie zu Trägern gewaltsamer, Lösungen der akuten Probleme und zu Anhängern „plebejischer“ Methoden der Abrechnung mit der Vergangenheit macht.
Im Zuge der extensiven industriellen Entwicklung, wie sie in der UdSSR und in Osteuropa stattfand, wurde diese Zone des sozialen Konflikts, die beim Übergang zu marktwirschaftlichen Verhältnissen zwischen Stadt und Land entsteht, beseitigt. Dadurch bildeten sich in den Ländern mit totalitären Regimen trotz der Tatsache, daß deren Universalmittel zur Selbsterhaltung und zur Lösung aller Probleme die Gewalt war, objektive Voraussetzungen für gewaltfreie antiautoritäre Revolutionen (von oben nach unten).
Natürlich sind das vorerst nur die Voraussetzungen. Sie haben ausgereicht, um die Kommunisten friedlich von der Macht zu verdrängen, aber ob sie auch ausreichen werden, um die Reformen in der Wirtschaft zivilisiert durchzuführen, läßt sich noch nicht sagen. Denn der Übergang zum Markt steht in den ehemals totalitären Ländern erst am Anfang, daher wissen wir nicht, wie stark die neuen Marginalisierungsursachen in den Städten (vor allem die strukturelle Umgestaltung der Industrie, aber auch die ethnische Marginalisierung infolge nationaler Konflikte) sein werden. Es besteht aber Grund zu der Annahme, daß sie nicht solche fatal explosiven Folgen haben wird wie die frühere, die bei der Modernisierung der traditionellen Gesellschaft entstand. Anlaß zu Optimismus gibt hauptsächlich gerade der Umstand, daß im Zuge der möglichen Marginalisierung in den postkommunistischen Ländern nicht mehr Millionen von Menschen, wie man meinen könnte, aus ihrem kulturellen Bezugsrahmen herausfallen werden. Diese Menschen wissen nur eines: Sie haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen, und das bedeutet, daß die frühere geistige Quelle für soziale und politische Katastrophen in dieser Gruppe von Ländern (mit Ausnahme vielleicht Chinas und der ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens) kaum zum Tragen kommen wird.
In den Jahren des kommunistischen Totalitarismus wurde in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern das Problem der Formierung bzw. Deformierung des städtischen Kleinbürgers gelöst (ich unterlege diesem Wort nicht den für die sowjetiB sehe Mentalität charakteristischen negativen Sinn). Bei ihm handelt es sich nicht mehr um einen Angehörigen einer Randgruppe, er hat eine bestimmte soziale Nische besetzt, und er hat etwas zu verlieren. Sicher unterscheidet er sich durchaus vom westlichen Kleinbürger -dieser hat ein entwickeltes System privater Interessen, er ist ein mehr oder weniger aktiver Wähler und Mitglied einer Gesellschaft von Staatsbürgern. Wo dieser sozial-psychologische Typus existierte oder aufkeimte, wurde er von den totalitären Regimen vernichtet. Aber dennoch fand die Formierung einer besonderen historischen Spielart des städtischen Kleinbürgers statt, und diese ist zweifellos weitaus besser geeignet für einen nichtkatastrophalen Übergang zum Markt als der Angehörige einer ländlichen Randgruppe.
Trotz der Bemühungen des Regimes, das städtische Kleinbürgertum ideologisch zu verleugnen, trotz Losungen von der „aktiven Lebensposition“, vom „Dienst an der Gesellschaft“ und vom „Vorrang der gesellschaftlichen vor den privaten Interessen“ begannen sich seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre breite Schichten von Kleinbürgern herauszubilden, bei denen die Interessen des Privatlebens überwogen. In der UdSSR fand die Herausbildung dieses konsumorientierten Menschen-typs ihre Vollendung in der Breschnew-Zeit, als sich eine Art totalitär-kommunistischer Variante der Konsumgesellschaft durchsetzte (unter der Parole „Alles für den Menschen, alles im Namen des Menschen“). Entscheidend ist aber, daß es sich hierbei um eine Konsumausrichtung handelte, die durch keinerlei Produktionsorientierung vermittelt war und bei der Resultate individueller Arbeit von allgemeiner Bedeutung und allgemeinem Nutzen keinerlei Rolle spielten. Mit anderen Worten: Der kommunistische Kleinbürger ist Konsument, aber nicht Produzent. Für ihn spielt es keine Rolle, was er produziert und ob das, was er produziert, von irgendjemandem gebraucht wird. Konsum hängt in seinem Bewußtsein nicht mit der Qualität seiner beruflichen Arbeit zusammen, sondern mit den Funktionen des Staates als Verteiler und Umverteiler.
Durch dieses reale historische Resultat des kommunistischen Totalitarismus, durch die Urbanisierung und Formierung eines besonderen Typus des städtischen kleinbürgerlichen Massenmenschen, ist das Zentrum der möglichen (und sich schon abzeichnenden) Widersprüche beim Über-gang zum Markt aus dem Bereich der Stadt-Land-Beziehungen in den städtischen Raum verschoben worden. An die Stelle des Problems, aus der Kultur herauszufallen, ist das des möglichen Herausfallens aus dem Beruf im Zuge struktureller Umgestaltungen getreten. Es bedarf wohl keines besonderen Beweises, daß das -gewiß schmerzhafte -Herausfallen aus dem Beruf in keinem Vergleich zu den katastrophalen Folgen des Herausfallens aus der Kultur steht. Die Verlustbefürchtungen des städtischen Kleinbürgers sind also vergleichsweise gering. Das wiederum bedeutet, daß der in den kommunistischen Ländern entstandene Menschentyp Anlaß zur Hoffnung auf einen friedlichen, evolutionären Charakter der Veränderungen gibt.
Gründe für solche Hoffnungen lassen sich auch aus den internationalen Bedingungen des Übergangs der ehemals kommunistischen Länder zum Markt schöpfen. Erstens gibt es die Erfahrungen der entwickelten kapitalistischen Länder auf dem Gebiet des sozialen Schutzes der Bevölkerung vor dem Markt durch den Einsatz der Instrumente der Staatsmacht. Zweitens gibt es die Erfahrungen dieser Länder, vor allem mit kollektiven Formen des Kapitaleinsatzes (Aktien), die bei der Privatisierung in den ehemals kommunistischen Ländern, in denen ein Mangel an Privatkapital herrscht, genutzt werden können. Wenn also gesagt wird, daß der Übergang zum Markt in diesen Ländern eine Rückkehr zu den Frühformen des westlichen Kapitalismus bedeutet, dann heißt das, daß der globale, internationale Charakter der Entwicklungen nicht verstanden wird. Schließlich findet die nationale Wiedergeburt der Länder mit totalitären Regimen unter den Bedingungen einer sich in großen Zügen herausbildenden einheitlichen Weltwirtschaft statt, weshalb sie heute im Unterschied zu früheren Epochen nicht isoliert von der Welt und schon gar nicht in Konfrontation zu ihr vonstatten gehen kann. Es geht nicht mehr nach dem alten Schema: zunächst Binnenmarkt und erst dann Einbeziehung in den Weltmarkt; heute ist die Einbeziehung in die Weltwirtschaftsverbindungen nicht Folge, sondern Vorbedingung für die Schaffung von Binnenmärkten.
Insofern ist der Übergang zum Markt am Ende des 20. Jahrhunderts durchaus kein inneres Problem der Länder, sondern ein Problem der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Aus ebendiesem Grunde ist die Weltgemeinschaft so stark wie nie zuvor daran interessiert, daß ausnahmslos alle Länder auf ihrem Weg zur Marktzivilisation erfolgreich sind und nicht scheitern, und deshalb ist sie auch in einem Maße wie nie zuvor bereit, diesen Ländern dabei real zu helfen. An das jeweils betroffene Land geht deshalb die Frage, inwieweit es bereit ist, seine nationalen Probleme als solche der Einbeziehung in die globalen Verbindungen zu verstehen, inwieweit es bereit ist, den Isolationismus aufzugeben und Reformen entsprechend der von diesen Verbindungen diktierten Logik einzuleiten und durchzuführen.
Die Reformen, deren Kem in der Entstaatlichung und Privatisierung des Eigentums besteht, stoßen in allen postkommunistischen Ländern auf etwa die gleichen schon erwähnten Schwierigkeiten.
Aber in der Sowjetunion werden diese Probleme durch eine Reihe von Umständen noch erheblich verschärft. Der wichtigste davon ist die Tatsache, daß die UdSSR Zentrum und Bezugspunkt des gesamten osteuropäischen kommunistischen Systems war. Deshalb sind auch die Veränderungen, die hier durchgeführt werden müssen, wesentlich schwieriger und einschneidender als in den peripheren Gliedern des Systems. Dieses Problem mündet letztlich in die Frage nach den realen Eigentumsverhältnissen in dem Land, das sich bis jetzt offiziell UdSSR nennt.
III. Eigentum und Eigentümer in der UdSSR
Die Frage nach der Natur und dem Subjekt von Eigentum wurde schon in den ersten Jahren der Gorbatschowschen Perestroika zum Gegenstand gespannter Aufmerksamkeit der sowjetischen Sozialwissenschaft und Publizistik. Aber ich habe den Eindruck, daß die Diskussion dieser Frage, nachdem sie mehrere Etappen durchlaufen hat, zu nichts geführt hat.
Ich möchte daran erinnern, daß viele Forscher, die versuchten, die offenliegende Tatsache der ökonomischen Uninteressiertheit an den Ergebnissen der Arbeit theoretisch zu verarbeiten, zunächst dem Gedanken zuneigten, das Eigentum in der UdSSR und den Ländern mit ähnlicher gesellschaftlich-politischer Ordnung sei seiner Natur nach „herrenlos“, ihm fehle das Subjekt. Sehr bald jedoch erschloß sich dem sozialen Denken, daß es ein Wirtschaftssystem ohne Eigentümer nicht geben könne. Danach wurde die alte Idee von M. Djilas sehr populär, nach der unter den Bedingungen des kommunistischen Totalitarismus die Partei-und Staatsbürokratie („Nomenklatura“) als „neue Klasse“ auftritt, die dementsprechend auch der Haupteigentümer sei.
Die Nomenklatura hatte die Nutzungs-und Verfügungsgewalt über eine ganz spezifische Form des Eigentums, über die Armee und die Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes, die über die Hälfte der Industrieunternehmen des Landes ausmachten. Das Potential des militärisch-industriellen Komplexes zu erhalten und zu mehren -darin äußerte sich bei der Nomenklatura das Gefühl, Herr zu sein (wenngleich auch immer weniger, je weiter der Zerfall des Systems voran-schritt). Denn die Rüstungsindustrie war der einzige Bereich, in dem es die herrschende Klasse mit echten Konkurrenzverhältnissen zu tun hatte (nämlich mit der Militärindustrie des Westens). Sie rechnete damit, daß die Armee und die Militär-technik besser als alles andere in der Lage sein würden, ihre Machtposition, ihre Gegenwart und Zukunft sowie die Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu sichern. Deshalb war sie bereit, um der Erhaltung und Mehrung dieses militärischen Eigentums willen alles übrige leichten Herzens verderben zu lassen und zu zerstören, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen.
Unter dem Begriff „Nomenklatura“ wurde und wird zumeist der Parteiapparat als das zentrale administrative Glied des Systems verstanden. Indessen spielte er bezüglich des militärisch-industriellen Komplexes eine dienende, mobilisierend-ideologische Rolle. Die von den Parteistrukturen in das Massenbewußtsein eingeimpfte Idee des Sozialismus war eigentlich eine Idee der „Verteidigung“ -eine Idee, deren realer Inhalt der militärische Widerstand gegen die „Feinde des Sozialismus“ war; und nur in dieser Eigenschaft konnte sie Millionen von Menschen als mobilisierende Idee aufgezwungen werden, nur in dieser Eigenschaft konnte sie, indem sie die Ideologie des Krieges auf die Situation der Friedenszeit übertrug, die Bevölkerung mit Opfern, Entbehrungen und den Ungewißheiten des Alltags versöhnen.
Welche Rolle der militärisch-industrielle Komplex in der Sowjetunion spielte, läßt sich anhand der Erinnerungen von Gorbatschow selbst sehen. Noch vor dem Augustputsch berichtete er in einer Rede, wie er und zwei weitere Politbüromitglieder zur Regierungszeit Andropows in kleiner Runde auf die Militärausgaben zu sprechen kamen und darauf, wie man sie in den Griff bekommen könnte. Andropow, der Gorbatschow wohlgesonnen war und ebenso wie dieser nach Erneuerung strebte, antwortete: „Lassen Sie die Finger davon.“ Der militärisch-industrielle Komplex ist also Eigentum, an das zu rühren selbst den höchsten Rängen der Parteinomenklatura verboten war, und wenn diese doch versuchten, diese Systemlogik zu ignorieren, dann erging es ihnen ungefähr so wie Chruschtschow, der versucht hatte, die Interessen der Armee und des miliärisch-industriellen Komplexes insgesamt zu beschneiden.
Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß die Nomenklatura sich erst dann auf die Perestroika einließ, als klar war, daß sie zwar das Eigentum am militärisch-industriellen Komplex halten konnte, daß aber erste Schwierigkeiten bezüglich der Mehrung dieses Eigentums auftraten. Genauer gesagt: Sie konnte es nicht so schnell und so erfolgreich mehren wie es der westliche und vor allem der amerikanische militärisch-industrielle Komplex tat, der seine sowjetischen Konkurrenten vor eine Herausforderung gestellt hatte, der sie nicht gewachsen waren. Dies führte schließlich dazu, daß in der UdSSR eine Änderung der Eigentumsverhältnisse begann und die Legalisierung verschiedener Eigentumsformen, darunter auch Privateigentum, erfolgte. Einer der hauptsächlichen -nicht immer klar erkannten -Gründe für diese Veränderungen war die Erschöpfung der bisherigen finanziellen Quellen. Vor allem war es nicht möglich, die Landwirtschaft stärker auszubeuten: Von dort war nichts mehr zu holen, die Landwirtschaft war nicht einmal mehr in der Lage, die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Plünderung der Bauern durch die Kolchosen zum Wohle der Verteidigungsindustrie stieß an ihre Grenzen; die frühere „monolithische Einheit“ begann zu bröckeln. Der militärisch-industrielle Komplex brauchte neue Quellen, an die er nur herankam, wenn es neben ihm profit-trächtige, rentable Sektoren der Wirtschaft gab. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft kam es so zur gesetzlichen Zulassung der Hofwirtschaft, d. h. zur Zulassung potentieller Konkurrenten der Kolchosen und Sowchosen. Jedoch ist es in der Zeit vor dem Augustputsch in den meisten Regionen nicht gelungen, ein reales Recht auf Privateigentum zu gewährleisten, d. h. das Recht auf Erwerb und Verkauf von Land; gewährt wurde nur lebenslange Nutzung und Erbpacht; Lösungsversuche nach dem Augustputsch stoßen auf Widerstand.
Die Sowjetunion muß der allgemeinen Logik der Bewegung zur modernen Marktwirtschaft folgen, die bei der Landwirtschaft und den für den Konsumentenmarkt arbeitenden Branchen beginnt. Der einzige Unterschied ist der, daß der Impuls zu dieser Bewegung in der UdSSR nicht nur von den Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Industriegütern ausging, sondern auch von den Schwierigkeiten, die die Grundlage des militärisch-totalitären Systems und ihren Kem, den militärisch-industriellen Komplex, betreffen. Ein langer (sechs Jahre) und fruchtloser Weg wurde zurückgelegt, bis die sowjetische Nomenklatura begriff, daß die vom Standpunkt des militärisch-industriellen Komplexes peripheren Wirtschaftszweige mit prinzipiell anderen, der militärischen Kommandowirtschaft entgegengesetzten Methoden umgestaltet werden müssen. Eben wegen dieses tiefgreifenden Gegensatzes waren die Versuche, zu verbessern, ohne etwas zu ändern, so langwierig und beharrlich, und eben deshalb führte dieser Prozeß auch zu nichts, sondern mündete in den unsinnigen Putsch einer kommunistischen Nomenklatura.
Der militaristische Charakter des sowjetischen Wirtschaftssystems erleichtert und erschwert zugleich die Entstaatlichung und Privatisierung des Eigentums, die nach der Niederschlagung des Putsches nun endlich auf der Tagesordnung stehen. Erleichtert wird dieser Prozeß insofern, als das wissenschaftliche Potential und das technische Niveau des militärisch-industriellen Komplexes recht hoch sind, erschwert insofern, als das starre Kommandosystem der Lenkung der Verteidigungsbranchen sehr schwerfällig und kaum reformierbar ist. Besonders spürbar wirkte sich diese Schwerfälligkeit bis zur Entfernung der Nomenklatura von der Macht aus. Eine Gruppe von neun privilegierten Rüstungsbranchen, in denen Millionen von Menschen beschäftigt sind, bildete die Hauptstütze der Zentralmacht in den Republiken. Es war dies eine Art Metropole, zu der sich alle anderen Branchen und die in ihnen Beschäftigten wie Kolonien verhielten. Deshalb versuchte der Kreml auch mit allen Mitteln, die Kontrolle über die Rüstungsindustrie zu behalten und ihre Stabilität und Lenkbarkeit vom Zentrum aus zu gewährleisten (1991 erhielt der militärisch-industrielle Komplex bekanntlich noch mehr finanzielle Vergünstigungen als früher). Auf der anderen Seite waren auch die Republiken nicht allzu bemüht, die Verantwortung für den militärisch-industriellen Komplex und seine Reformierung zu übernehmen, wodurch die Position des Zentrums ziemlich stark wurde und die Grundlage für die sehr spezifischen Kompromisse von Nowo-Ogarjowo geschaffen wurde: Es wurde vorgesehen, einige „souveräne Staaten“ (einen Teil der Unionsrepubliken) im Rahmen des neuen Unionsvertrags in einen „souveränen Gesamtstaat“ einzugliedem, worunter das kommunistische Zentrum zu verstehen war. Aber die schon vor dem Putsch begonnenen Änderungen der Eigentumsverhältnisse in den gegenüber dem militärisch-industriellen Komplex peripheren Branchen -an denen dieser selbst ein objektives Interesse hatte -wirkten sich auf ihn ungünstig und nicht selten zerstörend aus. Das Auftreten von gemeinsamen und privaten Unternehmen führte zum Abfluß qualifizierter Arbeitskräfte. Die früher privilegierten Unternehmen der Rüstungsindustrie (privilegiert im Verwaltungssystem der Wirtschaft und des total verstaatlichten Eigentums) büßten beim Übergang der anderen Branchen auf ökonomische Methoden des Wirtschaftens (so zaghaft und begrenzt dieser Über-gang auch war) ihre bevorzugte Stellung ein, und das trotz der besonderen Fürsorge durch die Behörden und trotz großzügiger Finanzierung. So entstand ein Widerspruch innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes, nämlich zwischen der Bürokratie der Militärbehörden, die alles beim Alten lassen wollte, und den Direktoren der Rüstungsunternehmen, hinter denen Millionen von Menschen stehen, und die begannen, sich für den Übergang dieser Unternehmen zu Marktverhältnissen einzusetzen. Dieser Widerspruch kam während des Augustputsches in personifizierter Form zum Tragen, als die Führer von zwei Organisationen des militärisch-industriellen Komplexes -Wolskij und Tisjakow (der Mitglied des Putschkomitees GKTschP wurde) -sich auf verschiedenen Seiten der Barrikaden wiederfanden.
Heute besteht dieser Widerspruch nicht mehr in der früheren Form, die neun zentralen Ministerien des Rüstungssektors sind aufgelöst. Aber der wesentliche Kern dessen, was heute ökonomisch auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR vor sich geht, wird in erheblichem Maße davon bestimmt, was im militärisch-industriellen Komplex geschieht.
IV. Nach dem Augustputsch: Neue Probleme und Widersprüche
Die Entwicklung der Ereignisse nach dem 19. -21. August 1991 zeigt, daß gerade in den Besonderheiten des sowjetischen totalitären Wirtschaftssystems und nicht in den politischen Institutionen, die diesem Wirtschaftssystem dienen, die Ursachen für alle jetzigen und zukünftigen Probleme und Schwierigkeiten bei der Reform von Staat und Wirtschaft angelegt sind.
Hier ist auch der Hauptgrund für das Verhältnis der Demokraten, die nach dem Putsch an die Macht kamen, zu Gorbatschow zu suchen. Es ist sehr bezeichnend: Gorbatschow, dessen Macht überaus geschwächt ist, er, dessen indirekte politische und moralische Verantwortung für den Putsch von niemandem bezweifelt wird, erfährt von den Demokraten nicht nur Unterstützung, sondern sie bemühen sich, ihn zu stärken und in sein Team aufgenommen zu werden. Der ehemalige Ministerpräsident der Regierung Jelzin, Iwan Silajew, dessen ehemaliger Stellvertreter Grigorij Jawlinskij, die ehemaligen Gorbatschow-Kritiker Eduard Schewardnadse, Gawriil Popow (Bürgermeister von Moskau) und Anatolij Sobtschak (Bürgermeister von Petersburg) -sie alle und viele andere Vertreter der demokratischen Bewegung sind im Herbst 1991 in die engste Umgeljung des sowjetischen Präsidenten aufgerückt und wurden zu seinen Beratern und Mitstreitern. Und das, wo doch nach allgemeiner Auffassung das Unionszentrum am Ende ist, wo es nicht mehr real existiert und wo Gorbatschow eine rein symbolische Figur ist, die über keinerlei reale Machtbefugnisse und keinerlei Legitimität verfügt und keine (oder fast keine) Popularität genießt.
Dieser Zug zum ehemaligen Generalsekretär des ZK der KPdSU ist kein Zufall. Die Ursachen dafür liegen nicht allein in Gorbatschows Wandlung vom gemäßigten kommunistischen Reformer zum Totengräber des Systems, sondern in den Schwierigkeiten der einzelnen Republiken mit der Neuorientierung. Für die ehemaligen Sowjetrepubliken ist es sehr schwer, sich untereinander zu einigen, denn die Widersprüche zwischen ihnen sind erheblich. Dabei besteht neben den Interessengegensätzen, die zuweilen bis zur Unvereinbarkeit gehen, auch eine objektive Gemeinsamkeit der Interessen und eine sehr feste wirtschaftliche und technologische Verflechtung der Republiken miteinander. Und genau diese bizarre Verbindung von Gemeinsamkeit und Unvereinbarkeit ist auch der Grund dafür, daß die Funktionen der durch gegenseitige Vereinbarung geschaffenen zentralen Strukturen nicht erschöpft sind, und sie ist auch die Quelle, aus der Gorbatschow seine Kraft schöpft. Zudem bleibt er ja auch noch formell Oberbefehlshaber einer Millionenarmee, er verfügt über den atomaren „Knopf“, und er verkörpert in den Augen der ganzen Welt noch den Sowjetstaat mit allen seinen Verpflichtungen gegenüber der Welt-gemeinschaft. Sicher zwingen die Interessen des politischen Kampfes innerhalb der Republiken deren Führer zur ständigen Versicherung ihrer Treue zur Souveränität und zur Unterzeichnung von Abkommen mit Gorbatschow, aber sie stehen auch vor der Frage, ob sich das Amt des Präsidenten der UdSSR nicht überlebt hat. Aber selbst nach der Beseitigung dieses Amtes würden doch irgendwelche zentralen Strukturen erhalten bleiben, und für Gorbatschow würde sich in ihnen wohl ein Platz finden lassen.
Und wenn sich keiner findet, dann heißt das nur, daß die Person Gorbatschow in den Augen der Führer und Völker der ehemaligen Unionsrepubliken mit dem alten imperialen Zentrum identifiziert wird und daß diese Vorstellung sich als unüberwindlich erwiesen hat; es heißt weiter, daß Gorbatschow selbst es dann nicht vermocht hat, sich den neuen Realitäten anzupassen, und deshalb werden dann die neuen Koordinatiosstrukturen, die die Republiken jetzt schaffen, Strukturen ohne Vertreter der alten Moskauer Macht sein. Dies wiederum bedeutet, daß auch Gorbatschows persönliche politische Biographie am Ende angelangt sein wird, was aber keineswegs für die Funktionen der zentralen zwischenstaatlichen Organe zur Pflege gemeinsamer Aufgaben gilt, die im übrigen gar nicht unbedingt ihren Sitz im Kreml, ja, nicht einmal unbedingt in Moskau haben müssen. Bei den genannten Funktionen handelt es sich -im Unterschied etwa zur Europäischen Gemeinschaft -nicht nur um Funktionen der Koordination, Integration und gegenseitigen Kontrolle (vor allem der Atomwaffen), sondern auch um Funktionen des Abbaus der bisherigen Integration, die eine Integration des imperialen Typs war, sowie um Funktionen der Umwandlung eines Typs politisch-ökonomischer Gemeinsamkeit in einen anderen.
Mit der Vereinbarung der Präsidenten Rußlands, der Ukraine und Weißrußlands vom 8. Dezember 1991, eine slawische Union, eine „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ zu bilden, scheint das Bemühen Gorbatschows, den Abschluß eines Unionsvertrags zu erreichen, endgültig gescheitert. Die drei Präsidenten haben mit ihrem Alleingang von Brest deutlich gemacht, daß das definitive Ende der ehemaligen Sowjetunion gekommen ist, daß wie erklärt wurde, die Sowjetunion „als ein Subjekt der internationalen und geopolitischen Realität nicht mehr existiert“. Doch bleiben vorerst viele wichtige Fragen offen: -Wer hat künftig die politische Kontrolle über die Armee? -Wie wird die Verfügung über die Atomwaffen geregelt, die nicht nur in den drei slawischen Republiken stationiert sind, sondern auch in Kasachstan, dessen Präsident Nasarbajew über die Initiative der slawischen Republiken nicht informiert war?
-Wie wird das künftige Verhältnis zu den anderen, vor allem durch den Islam geprägten Republiken geregelt?
-Wie werden die ökonomischen Beziehungen zwischen den Republiken nach dem Zerfall der Union gestaltet?
Was die Gemeinsamkeit der Interessen der Republiken betrifft, so besteht sie vor allem gerade darin, daß ihre wirtschaftliche Grundlage vom militärisch-industriellen Komplex gebildet wird, dessen Unternehmen auf das engste miteinander verbunden sind. Die Privatisierung dieser Unternehmen bei geringstmöglichen Verlusten ist nur möglich, wenn sie nicht in den einzelnen Republiken, sondern gemeinsam und gleichzeitig durchgeführt wird. Daran sind die Wirtschaftseliten aller Regionen interessiert, denn nur auf diese Weise können sie den für den militärisch-industriellen Komplex kennzeichnenden Monopolcharakter erhalten. Hinter den bekannten Worten vom notwendigen Erhalt eines „einheitlichen Wirtschaftsraums“ steckt unter den heutigen konkreten Bedingungen die Idee des Erhalts der alten Monopol-strukturen beim Übergang zum Markt, die Idee der Umwandlung der politisch-wirtschaftlichen Macht (die sogenannte „Nomenklatura-Privatisierung“). Das steht im übrigen auch nicht im Widerspruch zur Idee der Konversion des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes, denn der technische Stand der Rüstungsuntemehmen läßt hoffen, daß deren Spitzenstellung auch beim Über-gang zu ziviler Produktion nicht ins Wanken gerät.
Die Gruppe der neun zentralen Ministerien der Rüstungsindustrie ist zwar liquidiert, deren Unternehmen sind den Republiken übergeben worden. Aber das bedeutet keineswegs, daß sich damit die Gemeinsamkeit der Interessen des militärisch-industriellen Komplexes erledigt hat. Es bedeutet nur eins: daß die Demontage der Leitung des militärisch-industriellen Komplexes als administrativ-politische Struktur abgeschlossen ist. Diese wandelt sich zu einer Wirtschaftsstruktur, die durch gemeinsame Verbindungen und Interessen zusammengehalten wird. Ich wiederhole noch einmal: Der „einheitliche Wirtschaftsraum“, von dem die Mehrzahl der Republiken nicht zu lassen wagt, kann unter den gegenwärtigen Bedingungen hauptsächlich nur ein Raum wirtschaftlicher Betätigung des militärisch-industriellen Komplexes sein. Aber wenn es einen solchen Raum gibt, dann gibt es auch zentrale Organe, die zumindest für die Einhaltung der Gesetze in diesem Raum sorgen. Solche Strukturen werden von den Republiken selbst geschaffen werden. Und wenn sie geschaffen sind, dann wird dort der Einfluß der Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes dominieren, selbst dann, wenn sie sich auf zivile Produkte umstellen.
In den Besonderheiten des sowjetischen Wirtschaftssystems, in seiner festen Anbindung an den militärisch-industriellen Komplex, ist auch eine Erklärung für die außerordentliche Vorsicht zu suchen, die Jelzin und die Führer einiger der ehemaligen Republiken gegenüber den Forderungen nach der Aufstellung nationaler Armeen an den Tag legen. Denn nationale Armeen bedeuten auch das Entstehen nationaler militärisch-industrieller Komplexe, die an Waffenproduktion und nicht an Konversion interessiert sind. Sie bedeuten einen Bruch der Verbindungen im früher einheitlichen militärisch-industriellen Komplex und gigantische Ausgaben, die sich vor der Bevölkerung nur sehr schwer rechtfertigen lassen, wenn man nicht zu solchen Mitteln greifen will wie Schaffung eines Feindbildes und Anstachelung der nationalen Hysterie, oder anders gesagt, wenn man keine Restauration des isolationistischen Kurses auf der Ebene der Republiken statt der des Imperiums will, mit allen sich daraus ergebenden unberechenbaren Konsequenzen. Symptomatisch ist, daß z. B. in der Ukraine die Idee der Zerstückelung des militärisch-industriellen Komplexes auf Unionsebene (und nicht nur die Übergabe der Rüstungsunternehmen an die Republiken bei Erhaltung des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“) von den nationalistischen Kräften vertreten wird.
Die Gemeinsamkeit der Interessen der Wirtschaftseliten ist umso bedeutsamer, als die Nomenklatura-Privatisierung der Erlangung politischer Stabilität nicht im Wege steht, sie sogar in gewisser Weise fördert. Denn sie ermöglicht es den Wirtschaftseliten, den Forderungen ziemlich breiter Arbeiterschichten entgegenzukommen, indem sie diesen einen Teil der Aktien, durch die sie in den Genuß der Vorteile des Monopols kommen, verkaufen oder übertragen. Die Tendenz zu dieser Art Modernisierung ist so bedeutend, daß aus ihr eine neue politische Strömung gespeist wird, die Unionsbewegung für demokratische Reformen, unter deren Führern wir eine Schlüsselfigur des sich modernisierenden militärisch-industriellen Komplexes wie den früheren Vorsitzenden des ehemaligen wissenschaftlich-industriellen Verbandes Arkadij Wolskij finden. Daß der Bewegung auch Schewardnadse und Alexander Jakowlew, Popow und Sobtschak angehören, die sich alle heute um Gorbatschow gruppieren, läßt vermuten, daß Gorbatschows Position wohl doch nicht so schwach ist, wie es in den ersten Tagen und Wochen nach dem Putsch scheinen mochte. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, daß die Hauptlast der Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen in der ersten Etappe der Reformen nicht bei ihm liegt, sondern bei den Führern der Republiken.
Gleichzeitig ist die Gemeinsamkeit der Interessen der ehemaligen Sowjetrepubliken äußerst instabil, denn die Nomenklatura-Privatisierung der Schwerindustrie und des militärisch-industriellen Komplexes gestattet es aus Gründen, die in ihr selbst liegen, nicht, einen einigermaßen entwickelten Konsumentenmarkt zu schaffen, um die Menschen zu kleiden und zu ernähren. Das gibt dem national-populistischen Radikalismus in den Republiken Nahrung, u. a. auch in Rußland, wo eine deutliche Zunahme des Einflusses der russischen nationalen Idee zu beobachten ist. Im Hinblick auf die reale wirtschaftliche Rolle der Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes kann dies aber nur eines bedeuten: Der in den einander gegenüberstehenden Figuren Wolskij und Tisjakow verkörperte Widerspruch zwischen Modernisierern und Isolationisten innerhalb des alten imperialen militärisch-industriellen Komplexes kann abgelöst werden durch den Widerspruch zwischen national-integrativen und national-isolationistischen Tendenzen innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes.
Die Brisanz der Situation besteht jedoch darin, daß keine dieser Tendenzen von sich aus zu einem Ausweg aus der schweren Krise und drängenden Zeitnot führt, sondern beide zur Verschärfung der Krise beitragen. Darüber sind sich offenbar die neuen russischen Machthaber im klaren. Jedenfalls sprach sich Jelzin Ende Oktober in einer Erklärung über seine Entschlossenheit, radikale Wirtschaftsreformen auf dem Territorium Rußlands zu beginnen, nicht von ungefähr gegen die Zerschlagung der Unionsarmee und Schaffung einer russischen Armee, also gegen isolationistische Tendenzen im russischen militärisch-industriellen Komplex aus. Auch diese Kompromißposition eröffnet allein noch keine Perspektiven, denn keines der Probleme kann und wird dadurch gelöst werden. Die Dramatik wird noch dadurch verschärft, daß es bis heute in der ehemaligen Sowjetunion keine Kräfte gibt, die selbständig mit diesen Problemen fertigwerden. Deshalb ist von wirklich entscheidender Bedeutung nicht einfach die Hilfe des Westens, sondern der Charakter dieser Hilfe. Sie kann nur dann zur Reformierung der sowjetischen Wirtschaft und zum Ausweg aus der Krise beitragen, wenn sie erstens auf die Konversion der Rüstungsindustrie und zweitens auf die Unterstützung des im Ansatz entstehenden kleinen und mittleren Gewerbes ausgerichtet ist. Nur in diesem Falle kann man damit rechnen, daß auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR ein wirklich freier Wirtschaftsraum entsteht und daß die Demontage des Imperiums in eine zivilisierte Bahn gelenkt wird und nicht in den Alptraum von Nationalitätenkriegen einmündet.
Die Weltgemeinschaft muß sich klar machen: Die Besonderheit der Sowjetwirtschaft und des sowjetischen Typs des kommunistischen Totalitarismus liegt in ihren historischen Wurzeln. Das heißt, daß die meisten Sowjetrepubliken aus eigener Kraft nicht in der Lage sein werden, den ersten Schritt zur Marktwirtschaft zu tun, nämlich den Konsumentenmarkt zu schaffen und ausreichend zu versorgen. Die atomare Supermacht, die jahrzehntelang versucht hatte, sich der übrigen Welt entgegenzustellen und sie ihrem Einfluß zu unterwerfen, erwies sich letztlich als so abhängig von dieser Welt und ihren Normen der Zivilisation, wie niemand sonst. Diese Abhängigkeit besteht in der Befriedigung der elementarsten primären Bedürfnisse von Abermillionen Menschen. Das ist der Kem der Sache, und wenn man sich dessen nicht bewußt ist, dann läßt sich nicht ein einziges Problem lösen.