L Die zukünftige Rolle der USA in der Welt und gegenüber Europa
Das „Ende des Ost-West-Konflikts“ hat eine öffentliche und akademische Debatte darüber ausgelöst, welche internationale Machtfiguration zukünftig als Stabilisierungsfaktor an die Stelle der alten, bipolaren Weltordnung treten wird. Diese Debatte hat mit dem Golfkrieg neue Nahrung und mit dem Bericht des amerikanischen Präsidenten Bush zur Lage der Nation im Januar 1991 eine spektakuläre Wendung erfahren. Trug George Bush darin doch unmißverständlich das Konzept einer „Neuen Weltordnung“ Vor, das untrennbar mit einem amerikanischen Führungsanspruch verknüpft ist Die vor allem von Paul Kennedy entfachte Niedergangsstimmung scheint im Zuge der gegenwärtigen weltpolitischen Veränderungen von einer Neuauflage der „Pax Americana“ -Euphorie aufgefangen zu werden. Über die zukünftige weltpolitische Rolle der USA darf mehr denn je spekuliert werden.
Solche Spekulationen zwischen Extremen sind indes nichts Neues, sondern lediglich die aktuellen Manifestationen rivalisierender Interpretationen der grundlegenden Orientierungsmuster amerikanischer Außenpolitik. Geht man diesen Interpretationen einmal auf den Grund, dann kann eine kritische Prüfung ihres Aussagegehaltes die vom Verlauf des Golfkrieges genährten Erwartungen auf eine Rückkehr der USA als Ordnungsfaktor in einer unipolaren Welt dämpfen. Auch Vermutungen über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen lassen sich präzisieren. Der von dem früheren amerikanischen Botschafter in der Bundesrepublik, Richard Burt, gegenüber dem westeuropäischen Antiamerikanismus erhobene Vorwurf, er stelle die amerikanische Präsenz in Westeuropa als eine „unnatürliche, historische Verirrung“ dar, kann aus dem Blickwinkel zentraler Orientierungsmuster der amerikanischen Außenpolitik versachlicht werden.
Eine an der Doktrinentwicklung orientierte Analyse der amerikanischen Außenpolitik festigt schließlich die Erwartung einer „Relativierung der Bedeutung der , semi-europäischen Mächte* (gemeint sind die USA und die Sowjetunion, K. D. W.) ... für die Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung“ Weder als alleinige Welt-ordnungsmacht noch als Vormacht in und für Europa werden die USA eine Gestaltungsrolle zurückgewinnen und so ausfüllen, wie sie dies am Ende des Zweiten Weltkrieges tun konnten. Vielmehr ist zu erwarten, daß die transatlantischen Beziehungen sich zunehmend durch das weltweite wirtschaftliche Konkurrenzverhältnis zwischen einer ehemaligen Führungsmacht und deren selbstbewußter auftretenden Konkurrenten definieren werden. Auch wenn gegenwärtig sowohl die amerikanischen Absichten als auch die europäische Unzulänglichkeit dagegen zu sprechen scheinen, wird sich in den internationalen Sicherheitsbeziehungen ebenfalls ein Wandel hin zu einer vermehrten europäischen Eigenständigkeit vollziehen, in dessen weiterem Verlauf die USA in die Rolle eines zwar mitgestaltend einbezogenen, aber nicht mehr allein dominierenden Akteurs abgedrängt werden.
Die wiederholten Drohungen der USA mit einer Reduzierung ihrer Truppen in Europa sind noch als ein stets wirksames Druckmittel in Erinnerung, um die Bereitschaft der Westeuropäer zu erhöhen, an der transatlantischen Lastenverteilung zu partizipieren. Die dadurch immer wieder hervorgerufenen Isolationismusängste unterstreichen aber in besonderer Weise, wie orientierungslos eine Einschätzung der amerikanischen Außenpolitik zwischen Allianzbindung und „Isolationismus“ bleiben muß, wenn sie keine Bezugsgrößen hat, um ein Teilproblem wie das der Truppenpräsenz in Europa in einen größeren Gesamtzusammenhang einzuordnen. Wir müssen einen systematischeren Zugang finden, um die Hintergründe der spezifi-sehen Form und Funktion der allianzpolitischen Bindung der USA an Westeuropa sowie des Phänomens des amerikanischen „Isolationismus“ aufzudecken.
Es ist eine auffällige Hilflosigkeit, mit der gerade von deutschen Autoren analytische Systematisierungsversuche an die Interpretation der amerikanischen Außenpolitik herangetragen wurden und werden. Deren Einfallsreichtum drückt sich in typischen Klassifikationen wie „die Außenpolitik in der Präsidentenära x oder y“ aus Politikwissenschaft soll und kann mehr anbieten, und zwar dann, wenn sie im Bestreben, analytische Distanz zu gewinnen, nach tiefer liegenden Bewegungskräften und Orientierungsmustern fragt. Es gibt verschiedene Versuche, solche Orientierungsmuster freizulegen. Ihnen allen liegt die Absicht zugrunde, individualisierenden Erklärungen nach dem Motto „Männer machen Geschichte“ analytische Leitkategorien entgegenzusetzen und damit die Vorstellung völliger Beliebigkeit und Unbere-chenbarkeit der Entwicklung der amerikanischen Außenpolitik über Bord zu werfen.
Dieses Bestreben kommt in zahlreichen Etiketten zum Ausdruck, die der amerikanischen Außenpolitik angeheftet worden sind. Besonders häufig sind dabei die Begriffspaare „Isolationismus/Inter-nationalismus" und „Idealismus/Realismus“ anzutreffen. Wir wollen sie aufgreifen, weil zwischen „Idealismus“ und „Realismus“ ein breites Spektrum möglicher Triebkräfte erfaßt und mit „Isolationismus“ und „Internationalismus“ ein ebenso breites Spektrum möglicher Strategien abgesteckt werden kann. Allein mit Hilfe dieser Begriffskategorien ist die verwirrende und scheinbar zwischen allen vier Eckpunkten hin und her schwirrende Realität der Außenpolitik der USA aber ebenfalls noch nicht zufriedenstellend verständlich zu machen. Es bedarf eines (wie zu zeigen sein wird, durchaus möglichen) integrierenden Interpretationsansatzes, der nicht nur diese vier Orientierungsmuster in einen Bezug zueinander zu setzen vermag, sondern zugleich auch eine klare Prognose liefern kann.
II. Die außenpolitische Doktrinentwicklung als Schlüssel zum Verständnis?
Auf der Suche nach Wurzeln und Grundzügen amerikanischer Außenpolitik bietet es sich zunächst an, die offizielle Doktrinentwicklung zu betrachten. Zu deren Charakterisierung ist auf die vier oben eingeführten Orientierungsmuster mit Vorliebe zurückgegriffen worden, so daß sich auf diese Weise eine Chance eröffnen könnte, mehr über den jeweiligen Stellenwert „isolationistischer“ und „internationalistischer“ bzw. „realistischer“ und „idealistischer“ Elemente und deren jeweilige Erkennungszeichen in der amerikanischen Außenpolitik zu erfahren. Da sich die Doktrinentwicklung hier nicht in Gänze nachzeichnen läßt, konzentrieren wir uns auf einige Meilensteine Eine richtungweisende Rolle nimmt dabei Washingtons Abschiedsbotschaft von 1796 ein. Die Auseinandersetzung, in die diese Rede eingreift, ist als „The Great Debate of the 1790s“ in die Geschichte eingegangen und drehte sich um eine Allianzfrage: Sollten sich die USA, die 1778 eine Allianz mit Frankreich eingegangen waren, in die Kriege zwischen dem revolutionären Frankreich und dem monarchischen Europa hineinziehen lassen?
Washington hielt es für die guten Beziehungen der USA -vor allem auf dem Gebiet des Handels -zu allen Staaten für schädlich, wenn sich die Vereinigten Staaten durch „unwise ... artificial ties“ an bestimmte Partner binden würden. Er plädierte daher für möglichst wenig politische Bindungen, gegen jegliche dauerhaften Allianzen („stay clear of permanent alliances") und wollte selbst kurzfristige Bündnisse nur in außerordentlichen Notlagen („extraordinary emergencies“) eingehen, um die Ausweitung des Außenhandels mit allen Staaten („liberal intercourse with all nations“, „diffusing and diversifying by gentle means the streams of commerce“) nicht zu gefährden. Bezeichnend für das richtungweisende außenpolitische Selbstverständnis der noch jungen Republik ist die folgende Maxime Washingtons: „The great role of conduct for us in regard to foreign nations is, in extending our commercial relations to have with them as little political connection as possible". Was spricht nun aus Washingtons Stellungnahme? Kommen in ihr eher „realistische“ oder „idealistische“ Züge zum Vorschein, war Washington gar der erste „Isolationist“? Washingtons Position des Wirkens durch Beispiel („give to mankind the magnanimous and too novel example of a people always guided by an exalted justice and benevo-lence“) wird zusammen mit der postulierten Bündnisabstinenz in der Tat gern als ein frühes Manifest des amerikanischen Hanges zum „Isolationismus“ verstanden. Daneben scheint es aber -wenn wir uns vorerst auf ein Alltagsverständnis der oben eingeführten Begriffe beschränken -auch durchaus „internationalistische“ Elemente zu geben. So ist die Absicht, möglichst mit allen Staaten Handel treiben zu wollen, nur schwer mit dem Begriff „Isolationismus“ zu vereinbaren: Diplomatische Bündnisabstinenz und weltweite ökonomische Ambitionen vereinen sich in der Rede Washingtons. Andere Passagen („There can be no greater error than to expect or calculate upon real favors from nation to nation“) sind als Beleg für die tiefen Wurzeln des amerikanischen „Realismus“ interpretiert worden. Dafür spricht auch Washingtons Bevorzugung der nationalen Wirtschaftsund Handelsinteressen gegenüber der Unterstützung des von Frankreich verkörperten republikanischen Prinzips.
Die gleiche Ambivalenz drückt sich in der Monroe-Doktrin von 1823 aus, die den nächsten historischen Referenzpunkt amerikanischer Außenpolitik darstellt Was ist die noch immer lebendige Botschaft dieser Doktrin? Ihr Kem besteht in der Erklärung, die westliche Hemisphäre der europäischen Kolonisierung zu verschließen. Unter Verweis auf die Unterschiedlichkeit der politischen Systeme („zwei Sphären“) sagt Monroe: „(W) e should consider any attempt on their part to extend their System to any portion of this hemisphere as dangerous to our peace and safety.“ Im Gegenzug wird auch die eigene Nicht-Interventionsabsicht gegenüber den europäischen Nationen bekräftigt.
Die explizite Beanspruchung einer eigenen Einflußsphäre, der nicht-kolonialen neuen Welt, geht deutlich über Washingtons „Wirken durch Beispiel“ hinaus. Sie ergreift aktiv Partei für die neuen Republiken, in denen sich die nordamerikanischen Vorstellungen von der politischen Organisation des zivilisatorischen Fortschritts spiegeln. Sie ist zugleich von einem ausdrücklich politischen Ex-pansionismus gekennzeichnet, der die erklärte Beschützerrolle nicht nur „idealistisch“, sondern wegen der durchscheinenden Bereitschaft zu Interventionen, um einer möglichen Gefährdung des eigenen Friedens entgegenzuwirken, auch „realistisch“ interpretieren läßt. Auf dem hier eingeschlagenen Weg zur Entmündigung des „Hinterhofes“ (Lateinamerika, Karibik) wird zwar ein Stück „Isolationismus“ abgelegt, die erklärte Nichteinmischung in die europäischen Angelegenheiten bleibt jedoch „isolationistisch“.
In den „Open Door“ -Noten des Außenministers John Hay von 1899/1900 reagierten die USA auf Versuche vor allem der europäischen Mächte, den chinesischen Markt durch diskriminierende Handelshemmnisse für andere unzugänglich zu machen Hay forderte diese Mächte zu bestimmten Zusicherungen auf, „insuring the benefitsof equa-lity of treatment of all foreign trade throughout China“. Die „Open Door“ -Noten werden häufig als Beginn der „imperialistischen“ Phase der US-Außenpolitik (1898 bis 1921) bezeichnet. Sie stellen jedoch keinesfalls einen Einschnitt dar, sondern greifen mehrere Motive der früher verkündeten Leitlinien wieder auf. Zum einen führen die „Open Door“ -Noten die spätestens seit der Monroe-Doktrin bestehende Tradition des zumindest verbalen Antikolonialismus fort Sie tragen darüber hinaus auch das schon in der Rede Washingtons formulierte Leitmotiv des freien Welthandels weiter, indem sie das amerikanische Interesse an dem „principle of equal and impartial trade“ bekräftigen. Sie betonen jedoch zugleich, daß die USA diese Prinzipien nicht in ihrem alleinigen Interesse, sondern „for the world" schützen wollten Schließlich wird in den „Open Door“ -Noten der „Internationalismus“ der amerikanischen Außenpolitik, verstanden als politische Interventionsbereitschaft, auf einen weiteren Kontinent ausgeweitet.
Die 14-Punkte-Erklärung Wilsons, vor dem Ende des Ersten Weltkrieges als Entwurf für ein Friedensprogramm präsentiert, greift ebenfalls einige bekannte Motive wieder auf, etwa die Forderung nach Aufhebung aller Handelsschranken, beschreitet in Punkt 14, dem Vorschlag zur Errichtung des Völkerbundes „for the purpose of affor-ding mutual guarantees of political independence and territorial integrity“, jedoch Neuland. Das Wilsonsche Friedensprogramm wird als der gescheiterte Versuch einer idealpolitischen Umorientierung der amerikanischen Außenpolitik und zugleich als Beginn der Periode des „Isolationismus“ gewertet, die bis zur diplomatischen Anerkennung der Sowjetunion im Jahre 1933 datiert wird. Um festzustellen, inwieweit insbesondere die letztgenannte Einschätzung tatsächlich stichhaltig ist, wäre zuerst die Frage zu beantworten, welche Elemente des Wilsonschen „Internationalismus“ von seinen („isolationistischen“?) Widersachern tatsächlich abgelehnt und welche auch von diesen durchaus mitgetragen wurden.
In der Atlantik-Charta von 1941, einer gemeinsamen Erklärung über die Friedensziele des amerikanischen Präsidenten Roosevelt und des britischen Premiers Churchill vom August 1941, werden insgesamt acht Grundprinzipien einer zu errichtenden Nachkriegsordnung genannt. Dazu zählen der Verzicht auf territoriale oder andere Expansion, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, der freie, gleichberechtigte Zugang zum Welthandel und zu den Rohstoffen der Welt und der Verzicht auf die Anwendung von Gewalt. Die Atlantik-Charta läßt sich als bedeutsamer Schritt auf dem Weg zur Gründung der Vereinten Nationen und zugleich als Ausdruck eines vagen, allgemein universalistischen „One World“ -Denkens betrachten. Deutlich erkennbar stützt sie sich vor allem auf wesentliche Elemente des Wilsonschen „Internationalismus“. Die idealpolitische Grund-ausrichtung wird jedoch wieder fragwürdig, wenn in Punkt vier ein Recht aller Staaten auf den Zugang zu den für ihre Wohlfahrt erforderlichen Rohstoffen reklamiert wird.
Die Truman-Doktrin von 1947 sollte den Kongreß dazu veranlassen, Hilfsgelder für die Türkei und Griechenland bereitzustellen. Präsident Truman verkündete dabei die Absicht der USA, die „freien Völker“ überall auf der Welt durch wirtschaftliche und finanzielle Hilfsmaßnahmen gegenüber Bestrebungen der totalitären Staaten zu unterstützen, die „die Grundlagen des internationalen Friedens und damit die Sicherheit der Vereinigten Staaten“ untergraben. Auch wenn der Begriff „Kommunismus“ nicht verwendet wird, stellt der antikommunistische Kampf für das „Gute“ einen durchaus idealpolitisch zu verstehenden Bestandteil der Truman-Doktrin dar. Ein amerikanisches Eingreifen wird aber, wie schon in der Monroe-Doktrin, mit einem Gemisch aus „idealistischen“ Allgemein-und „realistischen“ Eigeninteressen begründet.
In der Truman-Doktrin nimmt der Systemgegensatz zwischen liberalen und totalitären Regierungsformen den Platz ein, den in der Monroe-Doktrin noch der Gegensatz zwischen den Ordnungen der „alten“ und der „neuen“ Welt innehatte, der dort gleichermaßen zur unmittelbaren Gefahr für die Sicherheit der USA und damit zum Interventionsgrund erklärt worden war. Die Monroe-Doktrin wird von Truman in der Weise globalisiert, daß nicht mehr nur der amerikanischen Hemisphäre, sondern nun der ganzen Welt ein amerikanisches „Ordnungsangebot“ unterbreitet wird. Die Truman-Doktrin markiert in dieser Hinsicht den historischen Höhepunkt des amerikanischen „Internationalismus“: Mit dem Eintreten der USA für die gesamte „freie Welt“ wurden ein globaler Anspruch und dessen Einlösbarkeit für eine befristete Zeit zur Deckung gebracht.
Die Nixon-Doktrin von 1971 gab dieses Einlösungsversprechen und damit die Universalität des „internationalistischen“ Engagements wieder auf. Das Vietnam-Debakel und die wirtschaftlichen Probleme der USA machten eine Kostensenkung bei der Wahrnehmung globalpolitischer Aufgaben unvermeidlich. An die Stelle nicht mehr finanzierbarer automatischer Garantien wurde eine selektive Interventionsabsicht gesetzt, die unter Carter und Reagan noch regionale Konkretisierungen erhielt. Der von Präsident Bush mit seinen Überlegungen zu einer „Neuen Weltordnung“ verbundene globale Führungsanspruch der USA scheint den von seinen Vorgängern angetretenen Teilrückzug jedoch wieder zugunsten eines weltweiten Engagements der USA als Ordnungsmacht rückgängig machen zu wollen.
Der Überblick über die Doktrinengeschichte der amerikanischen Außenpolitik hat die erwarteten Bezüge zu den zuvor eingeführten Orientierungsmustern herzustellen vermocht. Dennoch bleibt der Ertrag der bisher angestellten Überlegungen vor allem aufgrund der beobachteten Ambivalenzen unbefriedigend, die die betrachteten Doktrinen im Hinblick auf die Triebkräfte, die ihnen zugrunde liegen, und die Strategien, die sie formulieren, aufweisen. So haben wir eine zunächst kon-tinuierliche, dann rückläufige, zuletzt aber wieder wachsende Globalisierungstendenz in der amerikanischen Außenpolitik festgestellt sowie das zumeist gemeinsame Auftreten „idealistischer“ und „realistischer“ Motive. Im folgenden sollen die bis hierher noch unbestimmt verwandten Orientierungsmuster der noch ausstehenden begrifflichen Präzisierung unterzogen werden, um ihren Erklärungswert anschließend genauer betrachten zu können.
III. Orientierungsmuster amerikanischen Außenverhaltens
L. Amerikanische Außenpolitik: Realpolitik oder Idealpolitik? Zwei Thesen zur Motivstruktur Zuerst wollen wir zwei Interpretationsansätze aufgreifen, die amerikanische Außenpolitik als „reali-stisch" bzw. als „idealistisch“ zu deuten versuchen, am zu sehen, ob auf deren Grundlage (immerhin sollen jeweils treibende Kräfte der amerikanischen Außenpolitik auf den Begriff gebracht werden) Erwartungen über die künftige Rolle der USA in ier Welt und speziell gegenüber Europa formuliert werden können. Die Unterscheidung zwischen . Idealismus“ und „Realismus“ ist dabei eine inhaltliche in dem Sinne, daß „realistischer“ und . idealistischer“ Politik unterschiedliche Prämissen iber das, was Außenpolitik erreichen kann, zu-gründe liegen Als „idealistisch“ wird eine Poli-: ik verstanden, die an die Verbesserungsfähigkeit ier internationalen Ordnung und der politischen ind gesellschaftlichen Verfaßtheit der sie konstituerenden staatlichen Einheiten glaubt. Die bereits . besseren“ liberal-demokratischen Systeme fühlen sich dazu berufen, zur Verbesserung der internaionalen Ordnung (und ihrer Bestandteile) im In-eresse aller beizutragen. Als „realistisch“ kann lemgegenüber ein egoistisches Macht-und Wohlahrtsstreben bezeichnet werden, durch das jeder staatliche Akteur in dem unveränderbar als . Selbsthilfesystem“ wahrgenommenen internatio-1alen System versucht, sich selbst Vorteile zu ver-ichaffen. Diese beiden unterschiedlichen Betrach-ungsweisen können als rivalisierende Thesen zur Erklärung des amerikanischen Außenverhaltens twa wie folgt reformuliert werden: n der Interpretation als Idealpolitik stellt der Wunsch nach einer internationalen Friedens-ordnung auf der Grundlage friedensfähiger Gesellichaftsordnungen nach dem amerikanischen Vorild die durchgängige Konstante der amerikaniichen Außenpolitik dar. Die Übernahme der Ver-intwortung für die „freie Welt“ vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg ist den USA danach von den Umständen aufgezwungen worden, die sie zu einer „Weltmacht wider Willen“ haben werden lassen. Diese Auffassung hält das Sendungsbewußtsein für einen bedeutsamen Zug in der amerikanischen politischen Kultur und im Selbstverständnis der USA. Begriffe wie „chosen people“ oder „manifest destiny“, liberaler Internationalismus, Freihandel, Völkerbund, Vereinte Nationen, Menschenrechte werden assoziiert Die Weltmachtrolle der USA und speziell ihre allianzpolitische Bindung an Westeuropa erscheint als eine nur zögerliche Übernahme der Verantwortung für eine „bessere“ internationale Ordnung im Interesse aller Staaten. Die Zeitumstände haben nach dem Zweiten Weltkrieg gerade in Europa eine sich allianzpolitisch bindende Einmischung erforderlich gemacht, um Freiheit und Demokratie auf der Welt zu schützen und zu verbreiten.
In der Interpretation als Realpolitik können als durchgängige Ziele der amerikanischen Außenpolitik die Förderung des Außenhandels zum Zweck der Entwicklung des amerikanischen Wohlstandes und die Gewährleistung der eigenen Sicherheit durch eine mit gesellschaftspolitischer Gleichschaltung verbundene wirtschaftliche Durchdringung in globalem Maßstab betrachtet werden. Dieser These folgend -ihr entspricht im wesentlichen der Begriff der „Open Door“ -Politik -wird von einer grundsätzlich expansiven „amerikanischen Strategie“ ausgegangen, deren „realistischer“ Gehalt an der Orientierung an einem unmittelbaren Eigennutz festgemacht werden kann. Diese These impliziert, daß Kontroversen bei den politischen Eliten nur über die Methode, über den Weg bestanden haben (und pragmatisch entschieden wurden; je nach den konkreten historischen Umstän-den war eben die Entsendung von Flotten, die Gründung einer internationalen Organisation oder das Eingehen von Allianzen zweckdienlicher), nicht aber über das Grundziel der schließlich weltweiten wirtschaftlichen Expansion. 2. „Isolationismus“ und „Internationalismus“
Mit diesen beiden Thesen haben wir zwei Orientierungslinien beschrieben, mit deren Hilfe versucht werden soll, die Zukunft der amerikanischen Rolle in der Welt und gegenüber Europa in dem Spannungsfeld zwischen „isolationistischen“ und „internationalistischen“ Strömungen präziser zu bestimmen. Wenden wir uns zunächst der Bedeutung „isolationistischer“ Tendenzen zu. Welches sind ihre Erkennungszeichen und wann haben sie eine Rolle gespielt? a) „Isolationismus": Ein Mißverständnis Die Verwendung des Begriffes „Isolationismus“ muß als überaus problematisch angesehen werden. Denn ohne weitere Differenzierungen ist er unbrauchbar. Wenn man in Washingtons Abschieds-adresse bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts eine „isolationistische“ Grundströmung identifizieren will, dann beschränkt sich diese auf das Ziel der amerikanischen Außenpolitik, sich aus Bündnisverwicklungen möglichst herauszuhalten und politische Äquidistanz gegenüber den europäischen Nationen zu wahren. Ein solches, eingeschränktes Verständnis von „Isolationismus“ macht ausdrücklich nicht die reine Binnenorientierung und den generellen Verzicht auf Außenbeziehungen zum Kriterium. Im Gegenteil, das politisch-diplomatische Sich-Heraushalten („non-entanglement") soll dem extrem außengerichteten Ziel der Sicherung wirtschaftlicher Zugangsmöglichkeiten dienen.
Den Härtetest für die Haltbarkeit unseres engen „Isolationismus“ -Verständnisses bildet die Phase des sogenannten klassischen „Isolationismus“, der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen. Stehen „isolationistische“ Tendenzen in der amerikanischen Außenpolitik seither auf einem breiteren und damit vielleicht auch ihre Gegenwartsrelevanz erhöhenden Fundament? Die Niederlage der Völkerbundsidee Wilsons in den USA -die Ratifizierung scheiterte im Jahr 1920 -ist zwar als das Ergebnis einer großen Kontroverse zwischen „Internationalisten“ und „Isolationisten“ in die Literatur eingegangen; inzwischen konnte jedoch deutlich gemacht werden, daß die Kluft zwischen den Vorstellungen Wilsons und der nachfolgenden „isolationistischen“ Außenpolitik nur begrenzte Ausmaße hatte. Wie vor allem Link gezeigt hat, ging es Gegnern wie Befürwortern der Völkerbundsidee in den USA vor allem um den richtigen Weg, der einzuschlagen sei, um das keinesfalls kontroverse Ziel der Förderung eines internationalen Freihandelssystems zu erreichen
Der Konflikt zwischen „Internationalisten“ und „Isolationisten“ nach dem Ersten Weltkrieg kann in diesem Sinne ebenfalls präzisiert und als eine Auseinandersetzung zwischen Unilateralisten auf der einen Seite bezeichnet werden, die eine Politik der freien Hand anstrebten, und Multilateralisten auf der anderen Seite, die für die Einbindung aller Staaten in ein System kollektiver Sicherheit eintraten und eine möglichst große Freizügigkeit für Waren und Kapital im Rahmen internationaler Garantien herstellen wollten. Im Grunde ist diese Kontroverse vergleichbar mit der Streitfrage, auf die auch Washingtons Abschiedsrede Bezug nimmt: Wird wirtschaftlicher Internationalismus durch das Eingehen politischer Bündnisse beeinträchtigt? Eine dem Alltagsverständnis des Begriffes nach streng „isolationistische“ Politik („Wirken durch Beispiel“ im Sinne eines Rückzugs auf sich selbst) hat es zu keiner Phase der amerikanischen Außenpolitik gegeben. Bündnisabstinenz und das Ziel einer ziemlich kontinuierlichen Globalisierung amerikanischer Ordnungsvorstellungen gingen Hand in Hand.
Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen läßt sich die allianzpolitische Bindung der USA an Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zwar nicht als die eingangs zitierte „unnatürliche, historische Verirrung“, aber deutlich als eine Ausnahmeerscheinung charakterisieren. Eine Ausnahme, deren Begründung durch den „extraordinary emergency“ des waffenstarrenden Systemantagonismus in der Kontinuität Washingtons stünde und deren Fortbestand in ihrer bisherigen Form damit auch an die Bedeutung des Bedrohungscharakters dieses Antagonismus gebunden wäret Andererseits läßt sich als Ergebnis der bisher angestellten Überlegungen festhalten, daß bei dem hier präzisierten Verständnis des „isolationistischen“ Grundzuges der amerikanischen Außenpolitik auch die Möglichkeit eines gänzlichen Rückzuges der USA aus dem Weltgeschehen und aus Europa aufgrund des nach wie vor angestrebten weltweiten Marktzugangs verworfen werden kann. Die Beschäftigung mit dem „Isolationismus“ hilft auf diese Weise dabei, die untere Grenze des amerikanischen Außenengagements zu identifizieren: Die zum Teil alarmistisch beschworenen „isolationistischen“ oder „neo-isolationistischen“ Tendenzen in der Außenpolitik etwa unter Präsident Reagan besagen somit allenfalls, daß in der amerikanischen Weltordnungspolitik einem Unilateralismus der Stärke Vorrang gegenüber einer Einbindung in multilaterale Handlungszusammenhänge eingeräumt wird b) Internationalismus:
Auch der Internationalismus-Begriff wirft Probleme auf, die sich aus seinen unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten ergeben: Internationalismus tritt in gleich zwei Ausprägungen als „idealistisch" auf, nämlich sowohl als der „One World" -Universalismus der amerikanischen Friedenspläne nach den beiden Weltkriegen als auch in dem Eintreten für die „freie Welt“ seit 1947. Er läßt sich jedoch ebenso „realistisch" als „Open Door“ -Impe-rialismus interpretieren, und zwar nicht nur in dem Verständnis, daß es eine bis 1921 reichende imperialistische Phase der amerikanischen Außenpolitik gegeben habe, sondern auch so, daß die gesamte amerikanische Außenpolitik des 20. Jahrhunderts auf diese Weise zu deuten sei. Dieser Begriff bezeichnet die Zielsetzung der USA, einen einheitlichen freien Weltmarkt mit formal gleichberechtigten Zugangsmöglichkeiten für alle zu schaffen und zu sichern. Die Ambivalenz „idealistischer“ und „realistischer“ Betrachtungsweisen wird besonders darin deutlich, daß die „hehren“ liberalen Ordnungsgrundlagen der überlegenen Ökonomie den faktisch größten Nutzen sichern. Das Verfolgen amerikanischer Eigeninteressen und die Wahrnehmung von Allgemeininteressen sind unter der Prämisse, eine internationale Freihandelsordnung sei zugleich die beste Friedensordnung, auf der Ebene der Programmatik -sehr zum Leidwesen „realistischer“ Interpreten -kaum zu trennen.
Unabhängig davon, ob man sie idealpolitisch oder realpolitisch interpretiert, kann die stufenweise Verbreitung der eigenen Ordnungsvorstellungen über die ganze Welt bis in die Gegenwart als ein durchgängiger Grundzug der amerikanischen Außenpolitik betrachtet werden, mag man ihn nun als „internationalistisch“, „globalistisch“ oder einfach als expansiv bezeichnen. Der Blick auf diesen insoweit unstrittigen wirtschafts-oder ordnungspolitischen „Internationalismus“ offenbart allerdings ein Operationalisierungsproblem bei der Bestimmung des realpolitischen bzw. idealpolitischen Gehaltes der amerikanischen Außenpolitik: Es ergibt sich aus der analytischen Untrennbarkeit der Attribute, die die Wahrnehmung wirtschaftlicher Eigeninteressen kennzeichnen, und derjenigen, die für das Eintreten für den zivilisatorischen Fortschritt in seinem bürgerlich-liberalen Verständnis stehen. Die Unterscheidung der widerstreitenden „idealistischen“ und „realistischen“ Antriebskräfte scheint analytisch bedeutungslos zu sein, weil sie in das gleiche Außenverhalten münden.
Eine Antwort auf die Frage nach der relativen Bedeutung von Realpolitik und Idealpolitik in der amerikanischen Außenpolitik, nach dem Verhältnis zwischen einer auf das nationale Interesse fixierten Machtpolitik einerseits und einer „die Welt verbessern wollenden“ Politik andererseits, fällt aufgrund dieser Ambivalenz ebenfalls schwer. Zumindest auf der Ebene der Programmatik scheinen bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts kaum offensichtliche Gegensätze und Widersprüche auf: Die USA hatten das Geschick oder das Glück, das Verfolgen ihrer Eigeninteressen vergleichsweise glaubhaft als im Interesse des allgemeinen gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts liegend deklarieren zu können, da es kein Gegenmodell zu ihren liberaldemokratisch-kapitalistischen Idealen von gesellschaftlichem Fortschritt mit vergleichbarer Erfolgsbilanz gab: Der Wiederaufbau Westeuropas nach amerikanischem Vorbild war zugleich auch eine schlüssige Friedensstrategie, antikommunistische Machtpolitik zugleich auch Kreuzzug.
Als Zwischenfazit läßt sich festhalten: Mit Hilfe der Begriffe „Isolationismus“ und „Internationalismus“ auf der Ebene der Strategie, „Idealismus“ und „Realismus“ auf der Ebene der Motive allein ist die Außenpolitik der USA offenbar nicht analytisch in den Griff zu bekommen. Der Versuch, „realistische“ und „idealistische“ Triebkräfte auseinanderzuhalten und ihnen möglicherweise unterschiedliche Verhaltensweisen zuzuordnen, endet in der Sackgasse der Ambivalenz. Das analytische Dilemma, in das die Orientierung an dem Gegensatzpaar „idealistische“ vs. „realistische“ Außenpolitik führt, wird noch dadurch vertieft, daß beide Interpretationsansätze die unterschiedlichen Triebkräfte der amerikanischen Außenpolitik, die sie jeweils zugrunde legen, gleichermaßen fragwürdig begründen müssen: Während der „idealistische“ Interpretationsansatz von den (geäußerten) Absichten ausgeht, stützt sich der „realistische“ Ansatz (funktionalistisch) auf die objektiven Fol-B gen des zu erklärenden außenpolitischen Handelns. Die Beweisführung auf der Grundlage von Absichtserklärungen krankt daran, daß sie nicht entscheiden kann, ob diese handlungsleitend oder aber verschleiernd sind. Die Orientierung an den objektiven Folgen krankt indes daran, daß diese gänzlich unintendiert sein können.
Es führen jedoch Wege aus dieser analytischen Sackgasse: Einer könnte darin bestehen, subsystemisch, d. h. aufgrund einer Untersuchung der innenpolitischen Voraussetzungen, eine Entscheidung zwischen den beiden widerstreitenden Thesen zur Motivstruktur der amerikanischen Außenpolitik zu treffen. Ich will diesen Weg hier nicht weiter verfolgen, sondern einen zweiten beschreiten: Man muß sich gar nicht für eine der beiden Thesen zu den Motiven der amerikanischen Außenpolitik entscheiden, wenn man die festgestellte Ambivalenz akzeptiert als die Janusköpfig-keit der Ausübung von Hegemonialmacht. Mit Hilfe eines hegemonialtheoretischen Analysezugriffs können nicht nur „isolationistische“ und „internationalistische“ Tendenzen in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Auf diese Weise läßt sich auch der scheinbare Gegensatz zwischen ideal-politischen und realpolitischen Zügen in der amerikanischen Außenpolitik auflösen. Dieser integrierende Zugriff ist überdies auch prognosefähig: Er kann die Prognose eines fortschreitenden Rückzugs der USA als alleiniger weltpolitischer Ordnungsmacht begründen, der sich auch auf das Verhältnis zu Europa auswirken wird. c) „Isolationismus“ und „Internationalismus“ als Instrumente einer Hegemonialmacht Wir haben bereits festgestellt, daß die schrittweise Globalisierung der amerikanischen Außenpolitik am Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Höhepunkt findet und sich danach in zahlreichen, unter maßgeblichem Einfluß der USA etablierten Teilweltordnungen manifestiert hat. Der seither erfolgte Wandlungsprozeß läßt sich über die Stationen „Truman-Doktrin“ und „Nixon-Doktrin“ bis zur Außenpolitik Reagans und Bushs leicht nachvollziehen: Während Truman noch eine weltweite Garantie amerikanischer Interventionen zur Eindämmung totalitärer Umsturzversuche ankündigte und einlöste, war die Nixon-Doktrin schon von einer Leistungsminderung gekennzeichnet, allerdings bei unveränderter Behauptung eines Führungsanspruchs. Die USA haben seither auf zwei Wegen versucht, kostensenkende Formen der Ausübung ihrer weltpolitischen Führungsrolle zu finden. Der erste Weg bestand in einer nur noch selektiven Interventionsbereitschaft, der zweite setzte auf eine Beteiligung anderer an den Kosten der Führerschaft. Beide Elemente finden sich in der Nixon-Doktrin. Der Aufbau einer für weltweite Operationen konzipierten „schnellen Eingreiftruppe“ (ein gar nicht neues, sondern durchaus traditionsbehaftetes Instrument amerikanischer Außenpolitik) ist für den ersten, unilateralistischen Weg symptomatisch. Auf die Konservierung einer alleinigen Führungsrolle zielte auch noch Präsident Reagans Versuch, über eine Re-Militarisierung und Re-Bipolarisierung der Weltpolitik den amerikanischen Führungsanspruch durch Disziplinierung der Verbündeten zu konservieren. Er wurde jedoch von einem schleichenden Kontrollverlust im Zuge einer Multipolarisierung der internationalen Beziehungen bei wachsender Bedeutung der wirtschaftlichen Verflechtungen und Konkurrenz konterkariert und schließlich durch das Ende der Ost-West-Konfrontation unterlaufen. Präsident Bush schlug im Golfkrieg zwar auch noch diesen Weg einer militärpolitischen Unterordnung der verbündeten Konkurrenten ein, wandte sich aber zugleich einer Strategie des multilateralen Krisen-managements unter Beteiligung der Vereinten Nationen zu.
Man könnte diese jüngsten Etappen der amerikanischen Außenpolitik als einen neuerlichen Beleg für das unberechenbare Hin und Her zwischen „Internationalismus“ und „Isolationismus“, zwischen Mitgestalten, (Teil-) Rückzug und Wieder-eintritt in das weltpolitische Geschehen interpretieren. Eine sehr viel plausiblere Deutung der Doktrinentwicklung, deren roter Faden in einer schrittweisen Globalisierung von Ordnungsansprüchen besteht, die dann wieder zögernd zurückgenommen bzw. modifiziert werden, kann allerdings eine epochenübergreifende hegemonialzyklische Analyse liefern Dafür spricht, daß kein Sinken des Willens, Weltordnungspolitik zu betreiben, für das amerikanische Außenverhalten seit dem Ende der sechziger Jahre charakteristisch zu sein scheint, wohl aber eine durch die Veränderung struktureller Rahmenbedingungen hervorgerufene Verminderung der Ordnungsund Gestaltungsfähigkeit Beginnend mit der Nixon-Doktrin wurde nach immer neuen Führungsstrategien gesucht, die nicht mehr finanzierbare hegemoniale Lasten abstreifen, aber zugleich ein Höchstmaß an Ordnungsfähigkeit bewahren sollten. d) Der wirtschaftliche Hegemonieverlust und seine Folgen Betrachten wir zuerst die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: In den späten vierzi-ger Jahren konnten die USA als unangefochtene ökonomische Führungsmacht den wirtschaftlichen Wiederaufbau (West-) Europas finanzieren und gestalten. 1991 sind es Westeuropa und Japan gewesen, die das militärische Engagement der USA am Golf bezahlt haben. In der Abnahme der Finanzierungsfähigkeit der USA drückt sich eine deutliche Veränderung der Kräfteverhältnisse in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen aus. Zurecht stellte Karl Kaiser zum Ende der achtziger Jahre fest: „Eine inneramerikanische Debatte über die Finanzierbarkeit der Außenpolitik hat begonnen. Nicht Isolationismus, sondern Mangel an Ressourcen untergräbt die Weltrolle der Vereinigten Staaten.“ Paul Kennedy hat mit der Formulierung von der „globally overstretched Power“ das hegemoniale Überengagement der USA auf seinen Begriff gebracht.
Auch die wirtschaftliche Dynamik, die die Durchdringung der Märkte in Mittel-und Osteuropa verspricht, wird an den USA weitgehend vorbeigehen. Hier kann -in Umkehrung einer Czempiel-sehen Metapher -ein Prozeß der Peripherisie-rung der USA dingfest gemacht werden. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß nicht die amerikanisch gestifteten alten Instrumente der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (ERP, OEEC und Weltbank), sondern zunehmend europäische und dabei vor allem solche der Europäischen Gemeinschaft zum Ausgangspunkt einer blockübergreifenden wirtschaftlichen Kooperation in Europa werden.
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, daß sich im Gefolge der wachsenden -und nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation auch von sicherheitspolitischen Rücksichtnahmen der Westeuropäer gegenüber den USA befreiten -ökonomischen Konkurrenz ein weltwirtschaftspolitisches „Realignment“ vollziehen wird. Die Herausbildung mehrerer regionaler Weltwirtschaftszentren wird die bipolar-militarisierte Nachkriegsordnung als für die USA künftig bedeutendstes Strukturmerkmal der internationalen Beziehungen ablösen. e) Der sicherheitspolitische Hegemonieverlust und seine Folgen Ein zweiter Veränderungsprozeß vollzieht sich im Bereich der sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen den USA und ihren bisherigen europäischen Bündnispartnern. Dies scheint nur auf den ersten Blick verwunderlich. Zwar hatte ein Entfremdungsprozeß innerhalb der NATO bereits seit der Durchsetzung der „flexible response“ in den sechziger Jahren eingesetzt und in Stichworten wie „Abkopplungsängste“ oder „Glaubwürdigkeitsverlust“ seinen Niederschlag gefunden. Die Be-wußtwerdung unterschiedlicher Interessenlagen hat jedoch anders als bei den wirtschaftlichen Institutionen kaum etwas an der amerikanischen Dominanz innerhalb der NATO geändert. Erst als sich die -mit Ausnahme Frankreichs -nur langsam voranschreitende sicherheitspolitische Emanzipation der europäischen Verbündeten von den USA in ihrer Wirkungsrichtung mit einem anderen Prozeß vereinigte, erhielt der Hegemonieverlust der USA politische Aktualität: Mit der Auflösung der Macht-und Systemkonkurrenz zwischen Ost und West als dem wichtigsten Begründungszusammenhang der NATO und der nuklearen amerikanischen Sicherheitsgarantie für Westeuropa hat die alte -zur Disziplinierung einladende -Sicherheitspolitik mit all ihren Begleiterscheinungen den Boden unter den Füßen verloren. Mehr denn je mußte die Struktur der NATO als Anachronismus und ihre 'bisherige Funktion entbehrlich erscheinen. War die sicherheitspolitische Hegemoniefähigkeit der USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stets an den Spannungsgrad der Ost-West-Beziehungen gebunden und durch dessen Aktivierung auch verlängerbar, so konnte nach dessen Absinken gegen Null ein amerikanischer Führungsanspruch gegenüber Westeuropa auf diese Weise nicht mehr behauptet werden
Der Verlauf des Golfkrieges wird gern als ein Beleg für die Umkehr des Niedergangsprozesses und für den neuerlichen Griff der USA nach der alleinigen weltweiten Führungs-und Ordnungsmacht ins Feld geführt. Die amerikanische Führungsrolle in der Allianz gegen den Irak stellt die These vom „imperial overstretch“ indes nicht ernsthaft in Frage, denn ohne eine Fremdfinanzierung wäre die Übernahme dieser Rolle für die USA unmöglich gewesen. Was auf den ersten Blick als wiedererlangte hegemoniale Führungsrolle erscheinen mag, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als geliehene Führerschaft. Spricht, so könnte weiter eingewandt werden, aber die Fähigkeit, auch unter widrigen Bedingungen einen Weg zu finden, um die Führungsrolle erneut an sich zu reißen, nicht gerade doch für den Fortbestand von Hegemonie? Auch diese Frage kann verneint werden. Die Weltpolizistenrolle der USA im Golfkrieg ist vielmehr das Ergebnis eines „leadership lag“ der Konkurrenz: Diese schöpfte ihre eigenen Handlungsspielräume (noch) nicht aus, sondern bediente sich der hegemonialen „Restexpertise“ der USA im Bereich des militärischen Know-hows.
Aus hegemonialtheoretischer Sicht überaus aufschlußreich (und folgerichtig) ist auch ein genauerer Blick auf das Verhalten der USA selbst: In ihrer Hinwendung zu den lange verschmähten Vereinten Nationen drückt sich eine neue Form der politischen Führerschaft aus, die der veränderten Stellung der USA in der Weltpolitik angepaßt ist und einen kostensparenden und zugleich legitimationssichemden Weg zur Ausübung sicherheitspolitischer Ordnungsmacht ermöglicht. Damit deutet sich bereits an, daß an die Stelle der sich ihrem Ende zuneigenden bipolaren Weltordnung keineswegs eine „Pax Americana“ alten Stils treten wird, sondern ein auf viele Schultern gestütztes und als „Neue Weltordnung“ angepriesenes multilaterales Krisenmanagement, dessen Ziel in der Stabilisierung des weltpolitischen Übergangs liegt, der mit dem amerikanischen Hegemonieverlust eingetreten ist und durch das Ende des Kalten Krieges noch beschleunigt wurde. Für ein effektives Krisenmanagement reicht weder die unilaterale Ordnungsfähigkeit einer der beiden vormaligen Supermächte mehr aus, noch der Rückgriff auf immer stumpfer werdende nationale Zwangsmittel. Mit der Hinwendung zu multilateralen Strategien der Bewahrung von Ordnungsmacht wächst auch die Bedeutung „weicher“ Machtressourcen, die Joseph S. Nye als die Fähigkeit eines Staates definiert hat, andere in seinem Sinne für kollektives Handeln zu gewinnen
Kehren wir zu den Konsequenzen zurück, die sich aus dieser Interpretation der amerikanischen Außenpolitik für das Verhältnis zu Europa ergeben: Die allerdings noch recht tastenden Bemühungen der westeuropäischen Staaten um eine gemeinsame Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen können, wie im Falle Jugoslawiens, immerhin als ein Indiz für die wachsende Bereitschaft zur Eigeniniative gewertet werden. Neben einer künftig möglicherweise stärkeren sicherheitspolitischen Komponente der EG und einer Wiederbelebung der WEU wird die KSZE den USA jedoch zumindest eine flankierende, mitgestaltende, wenn auch nicht länger dominierende Funktion sichern. Die in bezug auf Europa zu erwartende sicherheitspolitische Peripherisierung der USA kommt allerdings nirgendwo augenfälliger zum Ausdruck als in der Konzeption und dem Begriff des KSZE-,, Europa“ (von San Francisco bis Wladiwostok) selbst.
Der NATO kann zumindest in ihrer bisherigen Form und Funktion aus diesem Blickwinkel keine große Zukunft vorausgesagt werden. Der „neue Atlantizismus", von dem der amerikanische Außenminister Baker 1989 gesprochen hat deutet zwar ein wiedererwachtes Interesse der USA an dem im Wandel begriffenen Europa an, ändert aber wenig an der Konzeptionslosigkeit, die auch in den USA hinsichtlich zukünftiger Funktionen von NATO und amerikanischer Truppenpräsenz in Europa herrscht. Die Organisation erscheint mit ihrer auf die amerikanische Dominanz gestützten Struktur aus der hier eingenommenen Perspektive zwangsläufig als ein „Auslaufmodell", für das unter Umkehr des Räuber-Syndroms gilt: Sie hat ihre Schuldigkeit getan, aber gehen will sie noch nicht. f) Der ideologische Hegemonieverlust und seine Folgen Ein Prozeß der europäischen Emanzipation von den USA, der allerdings von regional ganz gegenläufigen Entwicklungen gekennzeichnet ist, vollzieht sich auch im Bereich von Ideologie und Identität. Ganz sicher hat das westlich-industrielle Zivilisationsmodell als „liberales Projekt“ seinen europäischen Einzugsbereich mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus erheblich erweitern und damit seinen Anspruch als Leitbild konsolidieren können. Aber ein genauerer Blick auf europäische (und außereuropäische) Tendenzen zeigt durchaus auch Gegenläufiges: Wie die zum „Krieg zwischen den Kulturen“ hochstilisierte militärische Auseinandersetzung am Golf von dem Widerstand kündet, auf den das westliche Zivilisationsmodell -am augenfälligsten verkörpert im „American way of life“ -in den unterentwickelten Weltregionen der südlichen Halbkugel stößt, so bestehen auch in den westeuropäischen Staaten selbst zunehmende Zweifel an dessen Zukunftsfähigkeit und Ökologieverträglichkeit. In Ost-und Mitteleuropa, wo solche Zweifel noch kaum eine Rolle spielen, orientiert sich die Identitätsfindung aber auch nicht nur an den von den USA repräsentierten westlich-liberalen Grundwerten, wie die verstärkte Hinwendung zu ethno-nationalen oder gesamteuropäischen Leitbildern (etwa in der wiederbelebten Mitteleuropa-Debatte) offenbart. Eine neue Europazentriertheit kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß der Europarat als mögliches Kernstück einer europäischen Wertegemeinschaft eine zunehmend gesamteuropäische Anziehungskraft entfaltet. Die CSFR, Ungarn, Polen, die Sowjetunion, aber auch die unabhängig gewordenen baltischen Republiken haben als neue bzw. prospektive Mitglieder Gefallen an dem blocküberwölbenden Potential und dem identitätsstiftenden Angebot dieser Organisation gefunden. Diese Entwicklung besiegelt das Ende der ideolo-gischen Trennung Europas, die den Kalten Krieg geprägt hat. Sie zielt auf eine größere Werteunabhängigkeit von den USA. Selbst in der Bundesrepublik gibt es nicht mehr jene unbefragte Ausrichtung auf Amerika, wie sie für die (Nachkriegs-) Zeit der „Reeducation“ noch typisch war.
IV. Idealpolitik und Realpolitik revisited
Alle drei Veränderungsprozesse im Bereich der strukturellen Voraussetzungen für die amerikanische Führungsrolle in der Welt und gegenüber Europa untermauern die Erwartung einer weitgehenden Verminderung der amerikanischen Dominanz über, Präsenz in und (Selbst-) Bindung an Europa. Was ändert sich an dieser, auf die Annahme eines amerikanischen Hegemonieverlustes und die daraus folgende Suche nach neuen Formen außenpolitischer Gestaltungsmöglichkeiten gestützten Prognose, wenn man sie noch einmal den alternativen Interpretationsansätzen von Idealpolitik bzw. Realpolitik gegenüberstellt und sie daran mißt? Beide Interpretationsvarianten bestätigen die hier formulierten Erwartungen. Nehmen wir uns zur Begründung dieser Aussage zunächst den leichteren Fall einer „idealistischen“ Betrachtungsweise von Hegemonialpolitik vor: Dieser folgend würde die amerikanische Globalpräsenz als eine mehr oder minder freiwillig eingegangene Verpflichtung angesehen, die liberale Demokratie vor ihren Feinden zu schützen, in Begriffen der Funktion eines Hegemons gesprochen: ein kollektives Gut zu erbringen. Mit dem Umbruch in Osteuropa könnte dieser Auftrag zumindest für den europäischen Raum als erfüllt betrachtet werden. Ein Rückzug müßte sogar freiwillig erfolgen. In Rückbesinnung auf Washingtons Forderung, politische „Verstrickungen“ zu meiden, könnte die kostspielige allianzpolitische Bindung an Westeuropa wieder durch unverbindlichere Kooperationsbeziehungen ersetzt werden.
Der „realistischen“ Interpretation der amerikanischen Hegemonialpolitik kann eine in die gleiche Richtung wirkende Dynamik des Hegemonieverfalls abgewonnen werden: Ob sie wollen oder nicht, die USA können sich diese Präsenz als hegemoniale Ordnungsmacht in der bisherigen Form gar nicht mehr leisten, auch wenn sie nicht als eine Aufgabe auf Zeit, sondern als „Dauerauftrag“ gedacht gewesen sein mochte. Die Prognose von der verringerten Präsenz wird also sowohl durch die Wirkungsrichtung derjenigen Kräfte und Motive untermauert, die eine (neo-) „realistische“ Interpretation der amerikanischen Außenpolitik unterstellt, als auch durch die derjenigen, auf die sich eine „idealistische“ Interpretation stützen würde.
Wir haben den Versuch unternommen, durch die Freilegung einiger wesentlicher Elemente der Tiefenstruktur der amerikanischen Außenpolitik bestimmte Wirkungskräfte und deren Wirkungsrichtung, also eine Tendenz zu ermitteln. Diese Tendenz wird sich aber nicht selbsttätig und geradlinig durchsetzen, sondern einem Kräftefeld widerstreitender Einflüsse ausgesetzt sein. Mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts haben wir bereits einen der dabei zu berücksichtigenden begünstigenden Faktoren benannt. Allerdings scheint, wie der Golfkrieg zeigt, gerade der damit einhergehende Rückzug der Sowjetunion aus ihrer ehemaligen Rolle als zweite globale Ordnungsmacht atavistische Gelüste in den USA geweckt zu haben, wieder allein für „Recht und Ordnung“ sorgen zu wollen. Unter weiteren Gegenkräften zu der prognostizierten Entwicklungstendenz stellt der „leadership lag“ der zur Übernahme von kollektiven Ordnungsund Konfliktregelungsfunktionen aufgerufenen Europäer die vielleicht wichtigste dar. Gerade bei einer Militarisierung von Konflikten wird Westeuropa dazu neigen, der auf diesem Gebiet noch funktionstüchtigen alten Hegemonialmacht globalpolitische Ordnungsfunktionen zuzuschieben. Keinen Anlaß für einen etwaigen Wunsch der europäischen Nachbarn nach dauerhafter amerikanischer Präsenz in Europa bietet allerdings das neue Deutschland mehr: Während die Anwesenheit der USA in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt auch der Eindämmung des deutschen Militarismus gegolten hatte dürfte nun gegenüber dem sich als besonders friedliebender „Drückeberger“ entpuppenden Deutschland dieser Grund für eine Existenzverlängerung des atlantischen Militärbündnisses und der amerikanischen Präsenz in Europa entfallen sein.