L Vorbemerkungen
Wenn man sich mit politischen Institutionen beschäftigt und fragt, welchen Stellenwert diese für die Politik haben und was sich darüber in Politikwissenschaft und politischer Bildung zu vermitteln lohnt, dann sollte man sich im klaren sein, daß man es nicht mit einem Thema unter anderen zu tun hat, sondern mit einem Gegenstandsbereich, der für das Demokratieverständnis von zentraler Bedeutung ist; denn das gesamte neuzeitliche Staatsdenken läßt sich auf die Frage nach dem Verständnis von institutionalisierter Integrationsleistung auf der einen und Selbstorganisation der Gesellschaft auf der anderen Seite reduzieren. Thomas Hobbes, John Locke und Jean Jacques Rousseau haben auf diese Kernfrage des Politischen drei klassische Antworten gegeben: Hobbes eine staatsabsolutistische, Locke eine marktgesellschaftlich-liberale und Rousseau eine identitär-radikaidemokratische. Im Grunde lassen sich bereits aus diesen ideengeschichtlich bedeutsamen Antworten drei unterschiedliche heute noch interesante Perspektiven ableiten, die in der Beschäftigung mit politischen Institutionen zu jeweils anderen Sichtweisen und Fragestellungen veranlassen. Aus der Hobbessehen Sicht dürfte vornehmlich interessieren, inwieweit Institutionen als politische Führungs-oder Machtinstrumente ge-oder mißbraucht werden. Aus der Lockeschen Sicht würde der Aspekt der Machtbegrenzung, Konkurrenz und individuellen Freiheitssicherung institutionell beeinflußter Politik in den Vordergrund rücken. Die Rousseausche Perspektive würde demgegenüber den Aspekt realisierter bzw. mehr noch verhinderter unmittelbarer politischer Teilhabe durch institutionenvermittelte Politik betonen.
Demokratie ist jedenfalls trotz des historischen Bedeutungswandels institutionalisierter Politik auch Herrschaftsordnung und nicht nur Selbstherrschaft. Und sie gründet sich nach wie vor und wohl auch in Zukunft in hohem Maße auf die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Institutionen. Die Zähmung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch das Recht, also durch institutionelle Regelungen, die den Menschen einen autonomen Bereich ebenso wie gesellschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten garantieren -gerade dies ist der spezifisch europäische Beitrag zum neuzeitlichen Staats-und Verfassungsdenken bei der Lösung ordnungspolitischer Grundprobleme Und so ist denn auch nach dem Demokratiemodell des Grundgesetzes Volksherrschaft weithin mittelbare, also institutionell vermittelte Herrschaft.
Man sollte annehmen, daß sich solche Kernfragen des Politischen schlechthin als Dauerthema politik-wissenschaftlicher und politisch-pädagogischer Beschäftigung von selbst legitimieren. Das scheint aber ganz offensichtlich nicht so zu sein. Während es in Teilen der deutschen Politikwissenschaft schon seit einigen Jahren Anzeichen eines wieder-erwachten Interesses an institutionellen Fragen, ja eines „aufgeklärten Institutionalismus“ (F. W. Scharpf) gibt sind es in der politischen Bildung der Gegenwart nur vereinzelte Stimmen, die sich mit diesem in der fachdidaktischen und bildungspolitischen Diskussion eher negativ besetzten Gegenstandsbereich theoretisch und praktisch auseinandersetzen. Doch was kennzeichnet diesen Gegenstandsbereich?
II. Zum Institutionenbegriff in der Politikwissenschaft und in der Soziologie
Allein die Suche nach brauchbaren definitorischen Erklärungen zum Institutionenbegriff ist aufschlußreich für die gegenwärtige Situation. Denn greift man zunächst nicht nach der Spezialliteratur, sondern nach den in der Politikwissenschaft wie in der politischen Bildung gleichermaßen bewährten handlexikalischen Büchern, so stößt man allenthalben auf bemerkenswerte Lücken -nicht überall, aber doch erstaunlich häufig.
So kommt in dem gerade auch in der politischen Bildung verbreiteten „Handlexikon der Politikwissenschaft“ von Wolfgang Mickel der Begriff „Institution“ oder „politische Institution“ weder als bearbeitetes Stichwort vor, noch finden diese Termini im Sachregister Erwähnung. Gleiches gilt für das bekannte ältere Fischer Lexikon „Staat und Politik“ von Emst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher, zwei Wissenschaftlern, die ja Grundlegendes zum modernen Institutionenverständnis beigetragen haben. Auch das soeben erschienene umfangreiche „Wörterbuch Staat und Politik“, herausgegeben von Dieter Nohlen, enthält kein entsprechendes Stichwort. Das Herder Lexikon Politik notiert mit Bezug auf Politik kurz, Institution sei eine öffentliche oder staatliche Einrichtung (Behörde) zur regelmäßigen Erledigung bestimmter Aufgaben.
Reinhard Becks „Sachwörterbuch der Politik“ definiert Institution ganz ähnlich als „eine zur regelmäßigen, rechtlich geordneten Erfüllung bestimmter Funktionen auf Dauer geschaffene, in der Verfassung oder im sonstigen öffentlichen Recht des betreffenden Staats verankerte, öffentliche Einrichtung“. Im engeren Sinne seien damit Staatsorgane, sonstige staatliche Behörden, bestimmte Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften und bestimmte Verfahren wie z. B. die Wahl gemeint. Im weiteren Sinne umschreibe Institution auch bestimmte soziale Gruppen und Einrichtungen. Institutionalisierung bezeichne die Umwandlung vorher privater in öffentliche Einrichtungen und deren Eingliederung in das staatliche Gesamtsystem. Eine ebenso schlichte wie zutreffende und brauchbare Erklärung für Institutionen bietet das ausdrücklich für den politischen Unterricht gedachte Lexikon der Politik „Gesellschaft und Staat“ von Drechsler, Hilligen und Neu-mann Institutionen seien „Einrichtungen, mit deren Hilfe die Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppen bestimmte Aufgaben (Funktionen) in verbindlicher, meist rechtlich geregelter Form wahrnehmen“.
Während der politologische Institutionenbegriff in der Regel ausgerichtet ist auf öffentliche Einrichtungen und staatliche Organe, die zum Zwecke der Willensbildung und teil-oder gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidungsfindung die für ein Gemeinwesen notwendigen politischen Integrationsleistungen zu erbringen haben, rekurriert der soziologische Institutionenbegriff auf ein generelles Phänomen in den Sozialbeziehungen, das sich aus dem Verhältnis von individueller Subjektivität und sozialer Objektivität ergibt.
Wenn Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft Zusammenleben, wird angesichts der Überfülle diskutierbarer Möglichkeiten die wechselseitige Abstimmung des Verhaltens problematisch. Um überhaupt handlungsfähig zu sein, sind deshalb politische Systeme ebenso wie jedes soziale System darauf angewiesen, Entscheidungsprämissen sowie die Entscheidungen selbst der politischen Dauerproblematisierung zu entziehen Politische Institutionen sind demzufolge nach soziologischem Verständnis zur Stabilisierung von Erwartungen notwendig, deshalb zugleich aber auch einem permanenten Enttäuschungsrisiko ausgesetzt. Indem sie Verhaltenserwartungen generalisieren, sie als politisch und oft eben auch rechtlich gegeben behandeln, entlasten sie den politischen Alltag. Dies schließt nicht aus, daß mangelnde Öffentlichkeit bei politischen Institutionen auch zu vielfältigen Belastungen des politischen Alltags führen kann -etwa wenn versucht wird, kontroverse Probleme von allgemeinem Interesse dem öffentlichen Diskurs zu entziehen.Weder der politologische noch der soziologische, hier vor allem mit systemtheoretischem Bezug verwendete Institutionenbegriff sieht Institutionen zwingend als statische Gegebenheiten. Veränderungen von Legitimationsvorstellungen, von kognitiven und normativen Interpretationen, von Erwartungen gegenüber institutionell zu vermittelnden materiellen, sozialen, kulturellen oder symbolischen Leistungen haben selbstverständlich Rückwirkungen auf Institutionen. Dabei gilt für politische Institutionen in der Demokratie, daß sie sich im Prozeß demokratischer Legitimation letztlich am Volkswillen bewähren müssen.
Einerseits kann dieser Prozeß nur funktionieren, wenn nicht alles und jederzeit einem politischen Dauerdiskurs unterstellt wird. Andererseits sind es gerade die politischen Institutionen, die der Austragung von Konflikten Raum geben müssen, unterschiedliche Meinungen und Interessen kanalisieren und integrieren, Minderheiten schützen und damit insgesamt politische Einheit stiften
III. Politische Institutionen in der fachwissenschaftlichen Diskussion und Herausforderungen für die politische Bildung
1. Der neue Institutionalismus in der Politikwissenschaft War die Beschäftigung mit Grundfragen politischer Institutionen lange Zeit weithin dem Kreis der Gelehrten Vorbehalten, die sich vor allem mit Problemen der politischen Philosophie, Ideengeschichte und politischen Theorie, also mit dem „polity“ -Bereich auseinandersetzen, so zeichnet sich seit einigen Jahren ein breiteres Interesse an konkreteren institutionellen Fragen ab. Dieser „neue Institutionalismus“ in der Politikwissenschaft wird vor allem aus drei Quellen gespeist: Erstens plädieren nach Jahrzehnten einer bis an die Grenzen disziplinärer Profillosigkeit gehenden Ausdifferenzierung des Faches eine ganze Reihe renommierter Vertreter der Disziplin für eine Rückbesinnung auf politisch-administrative Institutionen als „Kernbestand politologischer Eigen-kompetenz“ Allerdings sei die traditionelle Regierungs-und Institutionenlehre über die bloße Beschreibung politisch-administrativer Organisationsfonnen und Verfahrensweisen kaum hinausgekommen. Es sei damit wenig oder nichts von den eigentlich interessanten politischen Phänomenen erklärt worden. Wenn der institutioneile Ansatz (polity) der Politikforschung über die phänomenologische Deskription hinaus wolle, dann müsse er sich in der Erklärung von politischen Prozessen und politischem Verhalten (politics) sowie in der Auseinandersetzung mit Politikinhalten (policies) bewähren. Dieser „aufgeklärte Institutionalismus“ müsse hinauskommen über dje bloße Betrachtung organisatorischer Arrangements und juristischer Verfahrensregeln. Das Plädoyer gilt einer engeren „Verklammerung“ der Policy-, Politics-mit der Polity-Orientierung in Forschung und Lehre, also der Verknüpfung von materiell-inhaltlichen und Prozeßanalysen mit Untersuchungen zur politischen Ordnung sowie deren institutionelle Ausprägungen und normative Grundlagen.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der im Zuge einer Standortbestimmung der Disziplin erfolgten Rückbesinnung auf politische Institutionen steht -und dies ist die zweite Motivkraft -die Kritik an der Policy-Forschung. Während die Vertreter des Policy-Ansatzes Politikfeldanalysen als Beitrag zur konsequenten Professionalisierung der Disziplin in theoretischer, empirischer und methodischer Hinsicht sowie als Möglichkeit einer Verbindung wissenschaftlicher Analyse mit einer zunehmend unter Problemlösungsdruck geratenen Politik ansehen, beurteilen Vertreter einer Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft diese Entwicklung eher als Verfallsgeschichte der Fachdisziplin.
Allerdings konnte die vergleichende Policy-Forschung inzwischen zeigen, daß internationale undintertemporale Unterschiede in den politischen Leistungsprofilen von Regierungen in hohem Maße von politisch-institutionellen Bedingungen abhängen, wie etwa den spezifischen Verfahren der Konfliktregelung, der Machtverteilung zwischen Regierungs-und Oppositionsparteien, den Strukturen im Bereich der organisierten Interessen oder den Arrangements zwischen den an der politischen Interessenvermittlung und Entscheidung beteiligten staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Institutionelle Strukturen beeinflussen also nicht nur staatliche Handlungsmöglichkeiten, sondern auch die Auswahl von Politikstrategien erheblich. So werden etwa Verteilungskonflikte in Ländern mit einem „integrierten Pluralismus“ wie in der Bundesrepublik Deutschland kaum mehr konfrontativ, d. h.fragmentiert vermittelt, sondern eher in größeren Verteilungskoalitionen ausgehandelt Gegenüber den eher planungseuphorischen siebziger Jahren, in denen Institutionen vor allem im Hinblick auf ihre Problemwahmehmungs-und Politikgestaltungs-bzw. ihre mangelnde Veränderungskompetenz interessierten, ist der Perspektiven-wechsel offenkundig.
Einen dritten Impuls erfuhr und erfährt der neue Institutionalismus schließlich infolge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Bewegungen, die sich zunehmend aus der üblichen Konfrontation von „Bewegung“ versus „Institution“ löst. Zum einen können die neuen sozialen Bewegungen selbst als „Bewegungsinstitutionen“ begriffen werden. Zum anderen initiieren diese wiederum Innovationen in traditionellen Institutionen. Als Symptom oder Folge von Legitimations-oder Steuerungskrisen des etablierten Institutionennetzes sind sie selbst ein wichtiges Element im „Wandel der institutionellen Struktur einer Gesellschaft“ 2. Institutionen in der politischen Bildung:
Zwischen unterrichtlichem Allgemeingut und theoretischer Irrelevanz Vielleicht liegt es an dem oftmals zu beobachtenden time lag zwischen fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Diskussion, daß in der politischen Bildung gegenwärtig zumindest nicht von einem neuen Institutionalismus oder von einer Renaissance politisch-institutioneller Fragen gesprochen werden kann, obwohl ja allein der politisch-institutionelle Neuaufbau in den neuen Bundesländern aktuellen Anlaß böte. Im Gegenteil: Termini wie „Institutionenkunde“ oder „-lehre“ sind nach wie vor symbolträchtige Formeln für eine Art negativen Minimalkonsens zwischen politischen Bildnern und Bildungspolitiken! jeder Couleur. Sie sind darüber hinaus gleichsam der nicht näher präzisierte Verständigungscode dafür, wie man politische Bildung nicht betreiben darf.
So berechtigt diese Abwendung von einer traditionellen Institutionenvermittlung war und z. T. noch ist und so richtig der Gedanke ist, daß politische Bildung nicht aufgeht in der abstrakten Kenntnis von Verfassungsorganen, Kompetenzregeln und Formalstrukturen, so wird hier doch auch ein falsches oder zumindest verengtes Institutionenverständnis offenkundig. „Weithin erscheinen Institutionen als personfeindliche, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung hindernde Größen, während es doch“, so Bernhard Sutor, „darauf ankäme, zunächst nach dem positiven Sinn von Institutionen für personale Entfaltung der Menschen, dann auch nach ihren Gefahren zu fragen.“ Vor dem Hintergrund der oben nur skizzierten Hinweise auf die Ansätze einer Renaissance des Institutioneilen in der Fachwissenschaft kann dieses eher aus einem normativen, dem aristotelischen Politikverständnis verpflichtete Plädoyer Sutors aus sozialwissenschaftlicher Sicht nur unterstrichen werden.
Die Beschäftigung mit Institutionen darf keine Frage der jeweiligen Themenkonjunktur oder wissenschaftlicher Moden sein. Als ein zentraler Kristallisationskern des Politischen bleibt die Auseinandersetzung mit institutionalisierter Politik eine Hauptaufgabe politikwissenschaftlicher Forschung ebenso wie politisch-pädagogischen Bemühens. Und natürlich werden auch junge Menschen immer wieder etwas über Parlament und Regierung, über die Rechts-und Sozialordnung eines Gemeinwesens, über Parteien, Wahlen, Interessengruppen oder Massenmedien erfahren müssen -wobei durchaus darüber gestritten werden kann, was mit welchem Ziel und mit welchen Methoden davon vermittelt werden soll. So selbstverständlich dies alles aber für den Unterrichtspraktiker und für den der Unterrichtspraxis verpflichteten Fachdidaktiker sein mag und so selbstverständlich institutionenspezifische Gegenstandsbereiche in den meisten Politiklehrplänen vorgesehen sind und in der Schulbuchliteratur breiten Raum einnehmen -in der neuen fachdidaktischen Diskussion findet die Institutionenproblematik nur vereinzeltes Interesse
Im folgenden wird nun auf drei Problemfelder näher eingegangen, die es lohnend erscheinen lassen, sich zukünftig wieder intensiver, gleichwohl auf andere Weise als früher mit politischen Institutionen zu beschäftigen: a) auf Veränderungen im institutioneilen Bereich selbst. Verkürzt könnte man diese Veränderungen als langsamen Wandel von einem hoheitlichen zu einem eher pragmatisch-funktionalen Institutionen(selbst) Verständnis bezeichnen;
b) auf die Folgen zunehmender Mobilität und Individualisierung, also die Einstellungen zu und den Umgang mit politischen Institutionen;
c) auf das Spannungsverhältnis zwischen dem medienöffentlichen Erscheinungsbild institutioneller Politik auf der einen Seite und der Realwelt inner-und zwischeninstitutioneller Entscheidungsprozesse auf der anderen Seite.
Zu allen diesen drei eher aus fachwissenschaftlicher Sicht konkretisierten Aspekten sollen jeweils am Schluß einige Konsequenzen für die politische Bildung umrissen werden, die allerdings in theoretischer und praktischer Hinsicht einer näheren didaktischen Konkretisierung bedürfen.
IV. Neue Herausforderungen für die Beschäftigung mit politischen Institutionen
1. Vom „hoheitlichen“ zum pragmatisch-funktionalen Institutionen(selbst) verständnis Politische Institutionen gelten zwar als auf Dauer gestellte Einrichtungen, die Verhalten generalisieren und Erwartungssicherheit geben; sie sind deshalb aber nicht notwendigerweise starre oder statische Gebilde. Ihr Gewicht kann im politischen und gesellschaftlichen Leben zu-oder abnehmen, ihr Auftrag und ihr Selbstverständnis können sich verändern. Diese Veränderungsprozesse resultieren aus langfristigen, ja historischen Entwicklungen im Staatsverständnis und aus den damit verbundenen, institutionell umzusetzenden neuen Aufgaben von Staat und Gesellschaft. Zum anderen bleiben auch politische Institutionen von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen nicht unberührt. Beide beeinflussen sich wechselseitig.
So ist der „Staat des Grundgesetzes planender, lenkender, leistender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender“ in der Formel des Grundgesetzes „sozialer Rechtsstaat“ oder, wie Ernst Forsthoff einmal sagte, „Daseinsvorsorgestaat“ geworden. Damit hat sich nicht nur seine Legitimationsgrundlage verschoben, sondern auch der Charakter seiner Institutionen verändert. Effiziente Aufgabenerfüllung vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Bereich und nicht allein die Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit sind zu einem zentralen Legitimationsgrund geworden. Allerdings ist die gestiegene Verantwortung des Staates nicht von einer entsprechenden Ausweitung staatlicher Verfügungsmöglichkeiten begleitet, weil sich „die Gegenstände wohlfahrtsstaatlicher Politik großenteils gegen imperative Steuerung sperren“ Macht, so der Verfassungsrichter und Rechtswissenschaftler Dieter Grimm, sei hier nicht mehr das geeignete Medium für die Siche- rung staatlicher Aufgabenerfüllung. Sie sei vielmehr von der Mobilisierung weiterer Ressourcen, über die der Staat selbst nicht disponiere, abhängig. Infolgedessen müsse sich der Staat zunehmend nichtimperativer, indirekt wirkender Steuerungsmittel (z. B. Anreize, finanzielle Abschreckungen) bedienen. Die Erfüllung seiner Aufgaben hänge in hohem Maße von der freiwilligen Folgebereitschaft der Steuerungsadressaten ab: „Der Staat (und damit auch sein institutioneller Apparat, U. S.) agiert nicht mehr aus der hoheitlichen Position, sondern begegnet den gesellschaftlichen Kräften auf der gleichen Ebene. Diese geraten ihm gegenüber in eine Verhandlungsrolle, die ihnen die Möglichkeit verschafft, die staatlichen Aktionsprogramme nicht nur von außen zu beeinflussen, sondern im Innern mitzubestimmen."
Mehr noch als die Verfassungsrechtler haben in den letzten Jahren namhafte Politik-und Verwaltungswissenschaftler, Rechtspolitologen und Soziologen nicht nur auf das Steuerungsdilemma des Staates hingewiesen und sich für ein zeitgemäßes Institutionenverständnis ausgesprochen. Während man aus soziologischer Sicht -etwa Ulrich Becks Argumentation in seiner „Risikogesellschaft“ folgend -von „Strukturdemokratisierung“, „Verflüssigung“ bzw. „Entgrenzung“ sprechen kann, tritt aus eher politik-und verwaltungswissenschaftlicher Sicht in den Blick, daß politische und zumal staatliche Institutionen zur Erfüllung ihrer Aufgaben zunehmend auf die Kooperation mit außer-staatlichen -also etwa wirtschaftlichen, sozialen und anderen gesellschaftlichen -Handlungsträgern angewiesen sind. Staatliche Institutionen können diese Kooperation aber zunehmend weniger erzwingen, sondern müssen sie gleichsam einwerben. So erweist sich z. B. die Durchsetzung einer Norm zur Verbesserung der Luftqualität als außerordentlich schwierig, wenn nicht die betroffenen Hauptverschmutzer möglichst frühzeitig in den Beratungs-und Implementationsprozeß einbezogen werden. Straßenbauvorhaben scheitern oder werden verzögert, wenn nicht betroffene Interessen an der Diskussion beteiligt und in die Entscheidungsvorbereitung eingebunden werden. Auch Reformen im Gesundheitswesen sind ohne Aushandlungsprozesse zwischen den staatlichen und betroffenen Institutionen im Interessengruppenbereich nicht durchzusetzen
Neben die hoheitliche, eher rechtsförmige Steuerung und Leistungserbringung im Rahmen der Daseinsvorsorge treten also, so Thomas Ellwein und Joachim Jens Hesse, „zunehmend Aufgaben, durch Kooperation, Motivation, Überzeugung und Übereinkunft gesellschaftliche Prozesse zu organisieren und zu steuern“ Selbst von verwaltungsjuristischer Seite wird inzwischen von „einverständliche(r) Rechtskonkretisierung durch Gesetzesanwendungen mit dem Bürger“, von der „Ergänzung hoheitlich einseitigen Verwaltungshandeln(s)“ durch „kooperatives Zusammenwirken mit dem Bürger“ gesprochen und „eine intensive Beachtung vorrechtlicher Formen sozialer Koordination und Kontrolle“ für angezeigt gehalten.
Ähnliche Beobachtungen zum Wandel des staatlich-institutionellen Bereichs haben Ulrich Beck wohl veranlaßt, davon zu sprechen, daß das Primat des politischen Systems in Frage gestellt, die Politik Zentrums-und mittellos geworden sei. Bei institutioneller Stabilität und gleichbleibenden Zuständigkeiten wandere die Gestaltungsmacht der Politik in den Bereich der Subpolitiken ab Das rationalistisch-hierarchische Zweck-Mittel-Modell der Politik sei brüchig geworden. Es werde verdrängt durch Theorien, welche die Absprache, Interaktion, Verhandlung, Netzwerk, kurz: den Interdependenz-und Prozeßcharakter aller Elemente politischer Steuerung betonen.
Nun sind diese Beobachtungen zum Formwandel institutioneller Politik so neu nicht. Denn auch die Parteien-, Verbands-sowie die Parlamentarismus-und Föderalismusforschung haben hierzu schon vor Jahren wichtige Ergebnisse vorgelegt.
Konsequenzenfür diepolitische Bildung Wenn richtig ist, daß die politischen Konturen zunehmend verschwimmen, wenn der verfassungs-rechtliche Kompetenzrahmen, den das Grundgesetz beispielsweise den Verfassungsorganen absteckt, mehr und mehr ergänzt wird durch ein formelles, halbformelles und oft informelles, nichtsdestoweniger aber politisch folgenreiches Aushandlungs-und Absprachegeflecht, wenn Politik in der Mehrheits-und Wettbewerbsdemokratie zunehmend von kooperations-und koordinationsdemokratischen Prozeduren überlagert oder ergänzt wird, dann sollte sich dies auch in der politischen Bildungsarbeit niederschlagen; eine isolierte Vermittlung von Organisationsmerkmalen, Formalstrukturen und Kompetenzen muß dann zu einem falschen Politikbild führen. Institutionelles Handeln wird man also mehr als bisher als systemisches Handeln zu verdeutlichen haben. Überhaupt wird es darauf ankommen, Institutionen nicht nur als Organisations-oder Normsysteme, sondern auch als Handlungs-und Kommunikationssysteme -und zwar nach innen wie nach außen -in den Blick zu nehmen. Man sollte sich verstärkt und kritisch mit Fragen beschäftigen, inwieweit solche staatliche wie nichtstaatliche Institutionen einbeziehende Aushandlungssysteme offen, die ablaufenden Prozesse transparent, die Zugänge inklusiv oder exklusiv sind, die Interessenberücksichtigung auf das gut organisierte Spektrum konzentriert ist oder einem umfassenden Repräsentationsanspruch gerecht werden.
Auch dies, so muß man feststellen, sind keine völlig neuen Fragen oder Perspektiven. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen erhalten sie jedoch ein größeres, auch politisch-pädagogisches Gewicht. Der Wandel von einem eher hoheitlichen zu einem mehr und mehr auch pragmatisch-funktionalen Institutionenverständnis sollte seinen Niederschlag in der politischen Bildung finden.
Könnte man die aufgezeigten Trends als „objektive“ Grundlagen für ein verändertes Institutionen-verständnis bezeichnen, so gilt es ebenso, einige grundlegende subjektive Dimensionen, d. h. Einstellungsveränderungen (auch zu politischen Institutionen), zu berücksichtigen. 2. Gesellschaftlicher Wandel und Institutionenverständnis: „Marsch aus den Institutionen“ und institutionenadressierter Erwartungsdruck Das demokratische Gemeinwesen lebt vom Engagement seiner Bürger. Es lebt aber auch vom Vertrauen in die Demokratie und in ihre Institutionen. Das Verhältnis von Demokratieprinzip und Amtsautorität, von Bürgerfreiheit und rechtsgebundener, gemeinwohlverpflichteter Herrschaft, von Selbstregierung und Institutionalisierung -dies ist die spannungsreiche Beziehung, die die Essenz der zweitausendjährigen europäischen Verfassungskultur ausmacht und auch heute noch die politische Kultur prägt
In zahlreichen, auch neueren Untersuchungen zur politischen Kultur konnte immer wieder nachgewiesen werden, daß Vertrauen in die Demokratie und ihre wichtigsten Institutionen -in der Sprache der politischen Kulturforschung also das „Systemvertrauen“ -nicht notwendigerweise mit einer hohen Wertschätzung für Politik, Politiker oder etwa Parteien einhergeht und daß das Systemvertrauen in der Bundesrepublik inzwischen ähnlich stabil ist wie in anderen westlichen Demokratien Die in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem mit Verweis auf die Civic Culture-Studie von Almond und Verba erhobene Kritik an der bundesdeutschen, letztlich von der ökonomischen Prosperität abhängigen „Schönwetterdemokratie“ hat gegenwärtig keine empirische Grundlage mehr.
Gleichwohl gibt es ein neues Unbehagen an politischen Institutionen und institutionenvermittelter Politik; ein Unbehagen, das aktuell aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen gespeist wird: Die eine Quelle dieses neuen Unbehagens an politischen Institutionen ist die im Kontext eines Wertewandels zutage tretende neue Subjektivität. Mit der vor allem in den ausgehenden sechziger und dann vor allem in den siebziger Jahren angestoßenen verstärkten Hinwendung zu partizipativ-egalitärenWertvorstellungen veränderten sich auch die Erwartungen an die institutioneile und nichtinstitutionelle Infrastruktur des politischen und gesellschaftlichen Lebens -eine Entwicklung, die man mit Elmar Wiesendahl als schleichenden „Marsch aus den Institutionen“ bezeichnen könnte.
Parteien bekommen den Trend nicht nur bei Wahlen, sondern auch in ihrer innerorganisatorischen Arbeit schon seit etlichen Jahren zu spüren. Gewerkschaften sind davon betroffen, aber auch die Kirchen als traditionell sozialisationsrelevante Institutionen individueller und kollektiver Sinnvermittlung: Das politische Verhalten ist variabler, mobiler, individualistischer, für loyalitätsabhängige Institutionen der Willensbildung also schwerer berechenbar geworden. Ebenso wie in anderen modernen westlichen Gesellschaften „verflüssigt“ sich die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland, verlieren traditionelle politische Milieus und tradierte soziale Gruppenbezüge für die politische Orientierung und Meinungsbildung an Bedeutung.
Diese Entwicklung geht einher mit einer Lockerung institutioneller Bindungen, mit einer Individualisierung von Lebensstilen und einer Suche nach Eigenverantwortlichkeit, mit einer Reduzierung institutionell vermittelter sozialer Kontrolle und mit einer insgesamt steigenden Bereitschaft, die sich im gesellschaftlichen Modemisierungsprozeß zunehmend bietenden Wahlfreiheiten zu nutzen. In der von Weidenfeld und Korte kürzlich salopp betitelten „Stand-by-Gesellschaft“ erscheint, so die beiden Autoren, die Politik punktuell, situativ, kontextabhängig, erlebnis-und betroffenheitsorientiert
Insgesamt verlieren also klassen-bzw. schichtspezifische, für die Bindung an Institutionen lange Zeit wichtige Sozialisationsmuster weiter an Gewicht, nimmt der Anteil derjenigen, die sich dauerhaft, möglicherweise lebenslang, gleichsam „von der Wiege bis zur Bahre“ institutionell gebunden fühlen, deutlich ab. So ist -übrigens in ganz Westeuropa -das schichtspezifisch gebundene Wahl-verhalten in der Nachkriegsgeneration nur mehr ungefähr halb so hoch wie in älteren Altersgruppen. Mehr und mehr breitet sich gerade in der jüngeren Generation ein eher instrumentelles Verhältnis zu den Vermittlungsinstitutionen aus -eine Beziehung, die im Kern einem stark individualistisch gefärbten, zweckrationalen Interessenkalkül entspricht: „Während die Jugend der späten sechziger und noch frühen siebziger Jahre den Konflikt in den Institutionen suchte, läßt sie diese nunmehr links liegen... Das Formprinzip der politischen Großorganisationen vermag die Jugendlichen nicht mehr zu binden. Diese begegnen den traditionellen Vermittlungsinstanzen mit Distanz-und Verweigerungshaltung... In dem Maße, wie individuelle Lebenssinn-und Lebensplanungsfragen sowie gesellschaftliche Status-, Orientierungs-und Bindungsfragen als individuelle und höchstpersönliche Entscheidungsprobleme definiert werden, unterliegen kollektive Vertretungs-, Vermittlungsund Sinnstiftungsinstanzen von den Gewerkschaften über Parteien bis zu den Kirchen einem Geltungsverlust, der sich in Organisationsdistanz und -Verweigerung kundtut.“
Betrifft dies vor allem die intermediären Institutionen gesellschaftlicher und politischer Willensbildung unmittelbar, so ist noch auf einen latenten, nicht allein in Mitgliederzahlen, Organisationsaktivitäten und Partizipationsindices ausdrückbaren Mentalitätswandel im Milieu der neuen Wertorientierungen hinzuweisen, der den staatlich-institutionellen Bereich betrifft: eine verbreitete Neigung zum Mißtrauen gegenüber dem und zur Distanzierung vom Staat, die zugleich gepaart ist mit hohen Leistungserwartungen. Während institutionalisierte Autorität in den Verdacht des Bürokratischen, ja des Illegitimen und Undemokratischen gerät, stehen staatliche Institutionen unter einem steigenden Erwartungsdruck Peter Graf Kielmansegg vermutet, hinter dieser Mentalität könnte bei intensiver Bejahung der Demokratienormen „ein Unverhältnis zur Demokratie als einer als Staat verfaßten politischen Ordnung“ verborgen sein: „Das entschiedene Ja zum Demokratieideal wäre dann tendenziell zugleich ein Nein zur Demokratie als einem verfaßten Staat, der dem Bürger ja notwendig vorwiegend als institutionalisierte Autorität gegenübersteht.“
Die zweite Quelle des Unbehagens an politischen Institutionen ergibt sich aus der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der beiden vereinigten Teile Deutschlands. Die Reorganisation der neuen Bundesländer mit westlichen Institutionen schreite, so Mark Siemons, rascher voran, als das beschädigte DDR-Bewußtsein zu sich kommen kann. Die Verwaltungsrhetorik klinge für manche wie eine Verachtung des Politischen schlechthin, für das sie auf die Barrikaden gestiegen waren. Seitdem der von ihnen unter hohen persönlichen Risiken mitbewirkte Umbruch vollzogen ist, scheine Politik keine Rolle mehr zu spielen und habe der im Kern apolitische bundesrepublikanische Apparat die Lenkung der Dinge übernommen
Konnte in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg ein doch relativ stabiles Systemvertrauen entwickelt werden, so fehlt den Bürgern und zumal den jungen Menschen in den neuen Bundesländern dieser Erfahrungshintergrund. Systemabbruch, institutioneller Neuaufbau bei gleichzeitigem Angewiesensein auf das Funktionieren der vielen Institutionen etwa im Bereich der Ordnungs-und Leistungsverwaltung, Aufbau der Institutionen des parlamentarischen Lebens bei gleichzeitig hoher Erwartung an den In-und Output der politischen Repräsentationsorgane -dies sind zumal vor dem Hintergrund ökonomischer Unsicherheit und einem Übermaß an Problemen bei der Orientierung in einem Gestrüpp neuer institutioneller Normen, Strukturen und Verfahren schlechte Voraussetzungen für die Entwicklung positiver Einstellungen zum Institutionensystem; ganz abgesehen von der Diskreditierung von Ämtern und Funktionen, die entsteht, wenn bela-stete „Würdenträger“ des alten Regimes auch unter den neuen Verhältnissen institutionell arrivieren.
Konsequenzen für die politische Bildung Ist insgesamt davon auszugehen, daß der Anteil derjenigen in der (vor allem auch jüngeren) Bevölkerung abgenommen hat -in West und Ost gleichwohl aufgrund verschiedener Motive -, für den es eine Art Loyalitätsautomatik im Verhältnis zu den politischen Institutionen gibt, so ist dies zunächst eine Herausforderung für die Demokratie insgesamt und nicht unbedingt ein Nachteil für die politische Bildung. Allerdings wird die Vermittlung institutioneller Fragen schwieriger, und sie wird wohl nur gelingen können, wenn offenkundige Bedürfnisdispositionen und Erwartungen berücksichtigt und in einem aufgeklärten und aufklärenden Institutionalismus didaktisch ihren Niederschlag finden.
Hier gilt es zunächst, einen politisch-pädagogischen Gegentrend zur Kenntnis zu nehmen: Mehr noch als die schulische politische Bildung zeigt sich in dem weitgehend auf Akzeptanz und Freiwilligkeit angewiesenen Bereich der außerschulischen politischen Bildung schon seit einigen Jahren eine „subjektivistische Wende“. So kommen Cremer und Piepenschneider im Rahmen einer Angebots-analyse von („traditionellen“) politischen Bildungsstätten zu dem Fazit, daß die traditionelle politische Bildung in die Defensive geraten sei Auffallend sei der hohe Anteil von Bildungsangeboten, die man im weitesten Sinne unter der Rubrik „zwischenmenschliche Kommunikation“ subsumieren kann. Findet hier die individualistische, auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Erwartungshaltung, die skizzierte „neue Subjektivität“ ihren Niederschlag, so zeigt sich in den neuen Bundesländern ein eher lebenspraktischer Subjektivismus. Hier sei die aktuelle Nachfrage nach politischen Bildungsangeboten, so resümierte kürzlich Thomas Meyer, auf „anwendungsorientierte Informationen und lebenspraktische Orientierungen für die unmittelbarsten Lebensbedürfnisse in der veränderten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation“ ausgerichtet. Dies alles sei verbunden mit einer spontanen Skepsis gegenüber politischer Bildung, die aus alter („Staatsbürgerkunde“ -) Erfahrung zunächst dem Verdacht ausgesetzt sei, „die altbekannte Überrumpelungsmanier in neuem Gewände zu sein“
Bereits Mitte der achtziger Jahre hat sich Walter Gagel in seinen Beiträgen über „Betroffenheitspädagogik“ und „Bedeutsamkeit“ kritisch mit der subjektivistischen Wende in der politischen Bildung auseinandergesetzt und vermerkt, daß der „Vorrang des Beziehungs-vor dem Inhaltsaspekt“ zu einer Verkennung „des notwendigen Zusammenhangs zwischen subjektiver und objektiver Betroffenheit als didaktische Kategorie“ führen müsse. Es bleibe außer acht, „daß Lebensbezug und Vernunftorientierung sich nicht ausschließen, vielmehr einander bedingen“
Man mag sich für Gesetzgebung und Verwaltung nicht interessieren. Die Verabschiedung der Gesetze durch ein Parlament bindet, und Verwaltungshandeln betrifft jedermann. Man mag zu Parteien, Verbänden, Gewerkschaften oder Kirchen vielleicht alles andere als subjektive Nähe empfinden. Und dennoch sind es die Akteure dieser gesellschaftlichen Institutionen, die Entscheidungen treffen, gegebenenfalls auch mit staatlichen Institutionen aushandeln -Entscheidungen, von denen objektives Betroffensein ausgeht. Gleichwohl bleiben Institutionen in der Regel abstrakt und alltagsfern. Sie lassen sich deshalb auch nicht unvermittelt in das Motivations-und Lemrepertoire junger Menschen integrieren. Deshalb wird es für die politische Bildung darauf ankommen, Wege aufzuzeigen, wie die Zusammenhänge zwischen lebensweltlicher Subjektivität und politisch-institutioneller Objektivität aufgeklärt und transparent gemacht werden können.
Welche Aspekte die didaktischen Bemühungen dabei berücksichtigen sollten, hat wiederum Gagel in einem verdienstvollen Beitrag über die „Renaissance der Institutionenkunde?“ hingewiesen: erstens auf die im Lernprozeß herzustellende Brücke zwischen Alltagswelt und Politik; zweitens auf die bei aller notwendigen didaktischen Reduktion zu bewahrende Komplexität, die dann erreicht werden kann, wenn politische Institutionen (polity) stets zu den politischen Inhalten (policies) und politischen Prozessen (politics) in Beziehung gesetzt werden; schließlich auf die Verknüpfung des politologischen mit dem weiteren soziologischen Institutionenverständnis.
Für die Entwicklung eines aufgeklärten Institutionalismus spricht außer dem Wandel vom hoheitlichen zum pragmatisch-funktionalen Institutionen-verständnis und außer dem neuen Subjektivismus die wachsende Diskrepanz zwischen der institutionellen Politik und ihrem medienvermittelten Bild. 3. Politische Institutionen und die massenmediale Vermittlung von Politik Politische Realität ist medienvermittelte Realität. Natürlich reduziert sich Politik nicht nur auf vermittelte Politik und gehört zum politischen Geschehen mehr als das, was publiziert wird. Doch auch hier gilt: Die objektive politische Welt existiert für den einzelnen erst dann, wenn er sie subjektiv wahrnehmen kann. Deshalb ist die politische Realität für den nicht unmittelbar am politischen Geschehen Beteiligten vornehmlich -wenn auch nicht ausschließlich -medienvermittelt. Allerdings kommt diese medienvermittelte Realität nicht durch spiegelbildliche Verkleinerung einer objektiv vorfindlichen Politik zustande, sondern durch Selektion und Reduktion auf der Basis von „Nachrichtenwertkriterien“.
Nachrichtenwertkriterien aber sind Kriterien, die die journalistische Profession -in relativ großerÜbereinstimmung -für solche hält. Es sind „Aufmerksamkeitsregeln“ (Niklas Luhmann) wie Aktualität, Prominenz, Neuigkeitswert, Betroffenheit etc., die unter Berücksichtigung der zeitlichen, finanziellen und technischen Möglichkeiten und Voraussetzungen der jeweiligen Medien täglich neu das massenmediale Bild politischer Realität bestimmen
Auf diese Nachrichtenwertkriterien haben sich die Institutionen des politischen und gesellschaftlichen Lebens eingestellt, vor allem dadurch, daß Medienpräsenz als „Machtprämie“ erkannt und die massenmediale Vermittlung von Politik als genuiner Leistungsbereich der Politik selbst begriffen wird Zu einer Zeit, in der Politik mehr denn je darauf angewiesen ist, im Medium der Öffentlichkeit um Zustimmung zu werben, d. h. Kompetenz nachzuweisen, die Schlagzeilen zu bestimmen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, Ereignisse ebenso wie Pseudoereignisse zu produzieren, wird deshalb der politischen Öffentlichkeitsarbeit von den Institutionen selbst zunehmende Bedeutung beigemessen Was dabei entsteht, ist nicht selten eine politische „Kommunikationsdramaturgie“ ein vordergründiges, auf mehr oder weniger eindrucksvolle Rituale beschränktes, auf Spitzenakteure personalisiertes und auf nur wenige Themen und Sprachregelungen reduziertes Bild: ein Politikbild, geprägt von „demonstrativer Publizität“ (Jürgen Habermas), bei dem „eher Atmosphärisches als Sachliches, eher die Erscheinung von Konflikten als ihre Anlässe, Strukturen und Ursachen“ eher die Addition von Einzelbildern als strukturelle Zusammenhänge und Prozesse, eher das vordergründig Rituelle als das hintergründig Substantielle, also mehr die „Oberflächenstruktur“ von Politik in den Blick kommen. Vor allem für den Bürger, der sich wenig durch Lektüre informiert, gewinne Politik, so resümiert Erwin Faul mit Blick auf die Fernsehberichterstattung, eine einfach zugängliche, möglichst unterhaltsam wirkende Form. Es entstehe „eine weitgeöffnete Schere zwischen der erhöhten Komplexität politischer Prozesse und ihren audiovisuellen Vermittlungsformen“
In der Tat besteht zwischen den Gesetzmäßigkeiten einer möglichst öffentlichkeitswirksamen Darstellung von Politik und den Gesetzmäßigkeiten, die politische Problemlösungsprozesse sowie inner-und zwischeninstitutionelle Entscheidungsprozesse kennzeichnen, eine tiefe Kluft. Sachkompetenz, Kontinuität, Verfahrenskenntnis, Interessenausgleich ohne politischen Gesichtsverlust, Vertrauen und oft auch Diskretion -dies sind Kriterien für den Erfolg institutioneller Arbeit, für „Entscheidungsregeln“ (Niklas Luhmann) im politisch-institutionellen Handeln.
Konsequenzen für die politische Bildung Welche Konsequenzen aber hat die politische Bildung aus dieser Doppelgesichtigkeit institutioneller Politik zu ziehen? Weder der verbreitete pauschale Manipulationsverdacht gegenüber der massenmedialen Berichterstattung, noch der unvermittelte Zugriff auf das mediale Erscheinungsbild der Politik verschaffen hier einen angemessenen Zugang zum Verständnis politisch-institutioneller Normen, Prozesse und Problemlösungen. Es muß sehr bezweifelt werden, ob die Befähigung zur Teilnahme an der politischen Publizistik, die Hermann Giesecke vor einigen Jahren in einem ebenso provokativen wie interessanten Essay der politischen Bildung als ausschließliche Aufgabe anempfahl, ob diese Befähigung allein dazu führen kann, Politik verstehen zu lernen; dennoch ist die Entwicklung des Interesses an und die Befähigung vor allem zur Lektüre der schreibenden politischen Publizistik als eine „wichtige Barriere gegen Manipulierbarkeit“ nicht zu unterschätzen. Dies allein reicht jedoch für ein angemessenes Verständnis politischer Institutionen nicht aus.
An einem sehr geläufigen Beispiel läßt sich dies verdeutlichen: Der Deutsche Bundestag ist eine außerordentlich komplizierte, unanschauliche Institution, die ihrerseits aus einer Vielzahl von Teil-institutionen besteht, deren Aktivitäten zum überwiegenden Teil intransparent bleiben. Allenfalls bei spektakulären Themen, innerfraktionellen Konflikten oder politischen Auseinandersetzungen zwischen Spitzenpolitikern oder mit anderen Verfassungsorganen wird ab und an sichtbar, daß es außer einem Plenum auch Ausschüsse und außer Fraktionen auch Arbeitskreise bzw. -gruppen gibt. Und bisweilen wird erlebbar, daß auch der/die einzelne Abgeordnete eine Art Institution ist. So unanschaulich und schwer vermittelbar dies sein mag -manches ließe sich durchaus gut darstellen-, so einprägsam ist doch das Bild, das vom Bundestag via Massenmedien und vor allem via Fernsehen präsentiert wird. Es ist ganz überwiegend das Parlament als mehr oder weniger entleertes Plenum, vor dem die immer wieder gleichen Spitzenakteure agieren. Und gezeigt werden dann zumeist die eher holzschnittartig geführten Kontroversen im Stile eines verbalen Schlagabtausches, sozusagen Wahlkampf als Normalität parlamentarischer Arbeit; denn dies hat Nachrichten-und Unterhaltungswert. Es bedarf keiner Erklärung, daß auf diese Weise -beschränkt auf eine solche Art des Informationszuganges -kein adäquates Bild parlamentarischer Realität vermittelt wird. Vielmehr entsteht hier ein guter Nährboden, auf dem Vorurteile und gewiß auch berechtigte Kritik in bunter Mischung kultiviert werden können.
Ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der normativen Überfrachtung parlamentarischer Debatten, ohne kritische Zurkenntnisnahme des Parlaments als „ein Resonanzboden der Parteipolitik“, ohne Beschäftigung mit der Frage, warum Debatten im Plenum nicht der Suche nach, sondern der Legitimierung von Entscheidungen dienen, ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dem „in aller Regel symbolischen Charakter der Plenarverhandlung in der Öffentlichkeit“ ist die Institution Parlament nicht zu verstehen. Hier wird die Unverzichtbarkeit politischer Bildung als Ort systematischer Beschäftigung mit institutioneilen, nicht beliebig austauschbaren Inhalten, offenkundig.
Politische Bildungsarbeit, ob schulisch organisiert oder im Rahmen der außerschulischen Jugend-und Erwachsenenbildung durchgeführt, sollte dabei insgesamt dreierlei intendieren: erstens die Vermittlung von Medienkompetenz, d. h. einer Fähigkeit, die politische Berichterstattung gleichsam zu decodieren, um die Kriterien der inszenierten, ritualisierten, jedenfalls strategischen Kommunikation medienvermittler Politik zu erkennen. Zweitens bedarf es zur angemessenen Verarbeitung der wahrgenommenen massenmedialen Politik personaler Kommunikationsnetze gleichsam als vermittelnde Puffer. Dies ist jedenfalls ein gesichertes Ergebnis der Mediennutzungsund -Wirkungsforschung. Die politische Bildung ist hier nur eine von vielen denkbaren Vermittlungsinstanzen; ein Puffer allerdings, dem, wie am Beispiel gezeigt, durch die Möglichkeiten zielgerichteter und systematischer, subjektives Interesse ebenso wie objektive Bedeutsamkeit berücksichtigende Arbeit eine besondere Komplementärfunktion zukommt. Drittens sollte politische Bildung vermehrt Chancen für die möglichst aktive Erfahrungssuche in den Institutionen selbst, also „vor Ort“, eröffnen, möglichst nicht nur als politische Sightseeing-Tour sondern mit gezielten Einblicken in politisch-institutionelle „Werkstattsituationen“.
V. Schlußbemerkungen
Institutionenfrei, soviel sollte deutlich geworden sein, ist Politik nicht zu haben. Und das „Ja“ zur Demokratie ist immer zugleich ein „Ja“ zum verfaßten Staat, zu Institutionen mit Zuständigkeiten, Kompetenzen und Verfahren. Dies schließt Kritik am Handeln von politischen und gesellschaftlichen Institutionen ausdrücklich ein.
Die Vision aber einer Gesellschaft ohne Ämter, ohne Institutionen der Willensbildung und Interessenvermittlung, die Vorstellung, daß wahre Demokratie zum stetigen Abbau institutionell ausgeübter Macht und Herrschaft führe -diese Vorstellung hat sich als Utopie erwiesen; eine Utopie, mit der sich realexistierende Diktaturen lange Jahre -im übrigen gestützt auf einen extrem großen bürokratischen Apparat -am Leben erhalten haben.
In einer Zeit des Umbruchs und des demokratischen Neuaufbaues in den neuen Bundesländern ebenso wie in den Staaten Mittel-und Osteuropas wird jedoch der Wert gesellschaftlicher und politischer Institutionen für das Gemeinwesen offenkundig -ob es sich um Institutionen der demokratischen Willensbildung oder Institutionen aus dem Bereich der ordnungs-und leistungsstaatlichen Aufgaben handelt.
Politische Institutionen sind nicht „im Handformat“ zu haben, weder in fachwissenschaftlicher noch in politisch-pädagogischer Hinsicht. Deshalb helfen auch weder die Anknüpfung an die alte Regierungslehre in der Politikwissenschaft noch das Wiederaufleben der traditionellen Institutionenkunde in der politischen Bildung weiter.
Ein aufgeklärter und zugleich aufklärender Institutionalismus muß über die phänomenologische Deskription hinaus zur Erklärung politischer Prozesse und politischen Verhaltens beitragen, und er muß sich vor allem in der Auseinandersetzung mit konkreten institutionellen Lösungsbeiträgen zu den Problemen der Zeit bewähren.