„Finden Sie, daß in einem Zeitalter der Sachzwänge -auf die sich ja unsere Regierenden allemal berufen -Regierungen überhaupt noch nötig sind?“
Max ) Frisch 1)
I. Einleitung
In dieser Zeitschrift, der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, einfach die übliche Kritik am Parlament zu üben, wäre weder originell noch sonstwie bemerkenswert. Politiker, egal in welcher Funktion, sehen sich schier ständig irgendwelchen Anwürfen, Beschuldigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt. Immer wieder beliebter Anlaß ist da zum Beispiel eine Entscheidung über die Erhöhung von Abgeordnetendiäten. Ebenfalls regelmäßig Schelte hagelt es bei der Absetzung eines unliebsamen Gegners, noch häufiger bei der Inthronisierung eines botmäßigen Freundes auf eine hochdotierte Stellung durch einen Minister. Ganz zu schweigen vom Ärger über angeblich faule, unfähige oder -schlimmer Vorwurf -korrupte Politiker.
Alle diese Vorwürfe lassen sich zu einer bestimmten Art von Kritik zusammenfassen: Hier geht es immer um Entscheidungen des einzelnen Politikers, die von seinem Willen und seiner persönlichen Überzeugung abhängen. Hier geht es um die Wirklichkeit der individuellen politischen Entscheidung. Daneben werden häufig auch Vorwürfe erhoben, denen sich der einzelne Politiker nicht so leicht entziehen kann -etwa weil er gar keine Wahl hatte, anders zu handeln. Die detailliert und kompliziert verfaßten Regelungen zum Rederecht, zum Fraktionszwang, zum Antragsrecht des einzelnen Abgeordneten im Bundestag sind da gute Beispiele. Es gibt einen Rahmen, innerhalb dessen sich Politiker bewegen und der ihre Handlungsspielräume einschränkt.
Die überfraktionelle Initiative zur Parlamentsreform betrifft genau diese Art der Kritik: Hier geht es nicht mehr um Entscheidungen des einzelnen Politikers, die von seinem Willen abhängen; hier geht es um die Bedingungen, unter denen er seine Entscheidungen überhaupt nur treffen kann. Hier geht es um die Möglichkeit der individuellen politischen Entscheidung.
Dieselbe Unterscheidung zwischen Handlungswirklichkeiten und Handlungsmöglichkeiten (also zwischen dem, was tatsächlich passiert, und dem, was überhaupt passieren kann) -dieselbe Unterscheidung läßt sich nun nicht nur für den einzelnen Politiker machen, sondern auch für die Politik insgesamt. Nicht nur der einzelne Abgeordnete (also das politische Individuum) trifft Entscheidungen, sondern auch das Parlament als ganzes (also die politische Institution). Und nicht nur das Individuum bewegt sich innerhalb eines bestimmten Rahmens, der seine Handlungen eingrenzt, sondern natürlich auch die Institution.
Um diesen Rahmen, um die Bedingungen politischen Handelns, soll es im folgenden gehen. Hier interessiert weniger, was politische Institutionen tatsächlich leisten -hier interessiert, was sie überhaupt leisten können (Leute vom Fach nennen das eine „transzendentale“ Kritik der politischen Institutionen; gemeint damit ist dasselbe).
II. Politische Institutionen in Deutschland
Was sind nun politische Institutionen in Deutschland, und was sollen sie leisten? Jede Institution rechtfertigt sich damit, daß sie dem Individuum einen größeren Handlungsspielraum zur Verfügung stellt, als der einzelne ihn hätte, wenn er auf sich allein gestellt bliebe. Damit werden auch jene Einschränkungen vertretbar, die die Institution dem einzelnen abverlangt und die er ohne die Institution nicht beachten müßte.
Ein typisches Beispiel ist die Institution des Verkehrswesens: Sie bedeutet für jeden Menschen eine Einschränkung, weil er nicht mehr völlig frei über seine Zeit verfügen kann, sondern sich an Fahrpläne halten muß. Im Gegenzug ermöglicht das Verkehrswesen dem einzelnen aber eine Mobilität, die er -auf sich allein gestellt -nie erreichen könnte. Ein weiteres Beispiel sind die Parteien. Sie erfüllen die klassischen Funktionen einer Institution (hier: einer politischen Institution): Sie stellen dem einzelnen Bürger Handlungsspielräume bereit, die er allein nicht hätte; Parteien vergrößern, sozusagen als Instrument, die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bürgers an der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung.
In einem Staat kann es freilich nicht ausschließlich darum gehen, daß der einzelne Bürger sich an den gesellschaftlichen Weichenstellungen gemäß den deutschen Verfassungsidealen von Freiheit und Menschenwürde ausreichend beteiligen kann. Es muß auch Vorsorge dafür getroffen werden, daß diese -für den Bestand des Gemeinwesens unbedingt notwendigen -gesellschaftlichen Weichen-stellungen, diese Anpassungen des Staates an eine sich verändernde Umwelt, auch tatsächlich stattfinden und umgesetzt werden. So soll im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise die politische Institution des Parlaments (mit seinem repräsentativen Charakter) sicherstellen, daß notwendige gesellschaftliche Entscheidungen mit Hilfe effizienter und leistungsfähiger Entscheidungsstrukturen tatsächlich auch getroffen werden können, und die detailliert geregelte Institution der Regierung ist für die rechtzeitige und reibungslose Umsetzung vorgesehen.
Gerade das Grundgesetz sieht aber auch eine enge Verzahnung der verschiedenen politischen Institutionen vor. Beispiel hierfür ist das -der von Montesquieu entwickelten Lehre von der Gewaltenteilung eindeutig zuwiderlaufende -Recht der Regierung zur Einbringung von Gesetzesvorlagen im Parlament. Ein weiteres Beispiel ist die herausgehobene Stellung der Parteien. Durch ihre ausdrückliche Nennung im Grundgesetz genießen sie bei aller Staatsferne dennoch (als einzige im Grundgesetz auftauchende politische Organisation) Verfassungsrang -und erlangen damit eine durchaus ähnliche Bedeutung wie die veritablen Verfassungsorgane.
III. Politische Institutionen in Deutschland als Regelkreis
1. Mißerfolge der politischen Institutionen in Deutschland Wenn die politischen Institutionen für die notwendigen gesellschaftlichen Weichenstellungen sorgen sollten, dann werden ihre Leistungsgrenzen wie ihre Leistungsfähigkeit am besten auf den Feldern sichtbar, wo offenkundig größere gesellschaftliche Probleme auftreten. Als nicht weiter strittige Beispiele können da wohl gelten: -im Bereich der Volkswirtschaft: die Staatsverschuldung, die Arbeitslosigkeit, die Geldmengenkontrolle; -im Bereich der Justiz: die dramatische und weiter wachsende Überlastung der Rechtspflegeor’ gane sowie die Hilflosigkeit gegenüber neuartigen Interessenkonflikten, die mit dem herkömmlichen Prinzip der rein individuellen Haftbarkeit nicht bewältigt werden können (übrigens auch ein Institutionenproblem);
-im Bereich des Gesundheitswesens: die Gerechtigkeit bei gleichzeitiger Bezahlbarkeit;
-im Bereich des Verkehrswesens: die Aufrechterhaltung des gesamten Infrastruktursystems;
-im Bereich der Asylfrage: die zahlenmäßige Bewältigung bei Beibehaltung des sozialen Friedens; -damit zusammenhängend im Bereich der Entwicklungspolitik:
die konfliktverhütende wirtschaftliche Gesundung und politische Stabilisierung armer Länder. Unter Leistungsfähigkeit versteht man gemeinhin das Vermögen, Probleme rechtzeitig zu lösen, während Leistungsgrenzen wohl dann vorliegen, wenn trotz vielfältiger Versuche die Probleme so bleiben, wie sie waren. Hier soll keine Kritik an einer bestimmten Politik, an einer bestimmten Weltanschauung oder gar an einer bestimmten Person geübt werden. Auch geht es keinesfalls um neue Patentrezepte. Hier geht es darum, was die politischen Institutionen insgesamt leisten können. In bezug hierauf ist festzustellen, daß in den oben genannten Bereichen alle Anzeichen dafür vorhanden sind, daß zumindest auf diesen Feldern die politischen Institutionen ihre Leistungsgrenzen erreicht haben:
-Keiner politischen Mehrheit in Deutschland ist es trotz größter Anstrengungen gelungen, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen -
und es wird auch von keiner Seite bestritten, daß es sich hierbei um ein außerordentlich wichtiges Problem handelt. Ebenfalls keine politische Strömung konnte die wachsende Staatsverschuldung eindämmen. Mittlerweile wird zwar gesagt, die Auswirkungen der Staatsverschuldung auf das Land seien derzeit zum Glück nicht so schlimm, man werde das Problem später in den Griff bekommen. Das ändert aber nichts am eigentlichen Sachverhalt:
Die Staatsverschuldung entzieht sich offenbar zunehmend dem Einfluß der politischen Institutionen. Ähnliches gilt mittlerweile sogar für die Geldmenge, trotz der noch vergleichsweise starken Einflußkraft der Bundesbank.
-Durch keine Maßnahme irgendeiner politischen Strömung ist es bisher gelungen, die funktionsgefährdende Überlastung der Justiz zu stoppen. Allgemein als Rechtsverweigerung zugegebene Zustände können nicht beseitigt werden. Dazu kommt ein wachsender qualitativer Mangel unseres Rechtssystems, der aber ebenfalls nicht behoben werden kann: In komplexen, hochgradig arbeitsteiligen Prozessen kommt man mit einer rein individuellen Verantwortung und Haftbarkeit nicht weiter;
Beispiele hierfür sind die rechtliche Verfolgung von Verantwortlichen eines Unrechtssystems (siehe Mauerschützenprozesse und Verfahren gegen SED-Größen) sowie Umweltbelastungen durch Großunternehmen oder auch die immer mehr die Justiz in Anspruch nehmenden Asyl-verfahren. -Das Gesundheitswesen wuchert unaufhaltsam weiter. Weder sind die individuellen Leistungen für die Gemeinschaft noch bezahlbar, noch können alle notwendigen Leistungen wirklich Bedürftiger (Altenpflege, häusliche Kranken-, betreuung) unter akzeptablen Umständen gewährleistet werden. Alle Versuche einer Gegensteuerung aber sind fehlgeschlagen: Kein Reformvorhaben konnte die problematischen Entwicklungstendenzen länger als zwei Jahre ernsthaft stoppen.
-Im Verkehrswesen, insbesondere in großen Städten, gehen allen politischen Lagern die Konzepte aus, um das System in seinem eigentlichen Zweck zu retten: der Sicherung einer hohen Mobilität für den einzelnen Bürger. Statt dessen vermehren sich geradezu paradoxe Zustände: Wer fahren will, steht im Stau -wer parken will, muß fahren (um einen Parkplatz zu finden).
-Im Asylrecht schlagen alle bisherigen Versuche fehl, die verschiedenen Zielvorstellungen auf einen Nenner zu bringen: Die mehrheitlich als untragbar anerkannten Zustände setzen sich derweil fort, mit ihren wahrhaft explosiven Wirkungen in der Bevölkerung, ohne daß die Politik darauf reagiert. -In der Dritte-Welt-Politik schließlich ist die Geschichte der Entwicklungshilfe objektiv eine Geschichte der Fehlschläge: Weder wurden die wirtschaftlichen Verhältnisse in den wirklich armen Regionen der Erde entscheidend verbessert, noch wurden gar stabile politische Verhältnisse geschaffen. Die Entwicklungshilfe -halb Exportsubvention für die deutsche Industrie, halb Beruhigung des kollektiven Gewissens -konnte jedenfalls bisher von keiner politischen Strömung zu einem konfliktverhütenden Instrument ausgebaut werden. 2. Politische Institutionen als Regelkreise Wie ist es zu erklären, daß so offenkundig notwendige gesellschaftliche Weichenstellungen von den politischen Institutionen offenkundig nicht (mehr) geleistet werden?
Nachfolgend soll die These vertreten werden, daß die politischen Institutionen in Deutschland funktionieren wie ein Regelkreis. Zur besseren Durchschaubarkeit komplizierter Zusammenhänge sind Vergleiche oft nützlich. Und dieses ungewöhnliche Bild ermöglicht erstaunlich erhellende Einsichten. Ein Regelkreis, zum Beispiel ein elektrischer, funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Er hat vorgegebene Zielgrößen; seine Aufgabe ist es, die bei ihm eingehenden Strömungen so zu modulieren, daß sie mit diesen vorgegebenen Zielgrößen im Gleichgewicht stehen. Bezogen auf die Gesellschaft ist dieses Bild einfach anzuwenden: Es gibt im Gemeinwesen bestimmte Strömungen -Stör-größen genannt und die politischen Institutionen bringen diese Störgrößen mit den gesamtgesellschaftlichen Zielvorstellungen -den Zielgrößen -ins Gleichgewicht.
Das politische System in Deutschland hat sich als einer der leistungsfähigsten Regelkreise überhaupt erwiesen. Enorm schwankende Eingangsgrößen -also „Störgrößen“ in Form gesellschaftlicher Probleme -konnten seit dem Krieg erfolgreich moduliert, also „ausgeregelt“ werden: das deutsche Flüchtlings-und Vertriebenenproblem, die 68erBewegung, der Terrorismus, die Ölkrisen, der Rechtsradikalismus, die Alternativbewegung und vieles mehr.
Daß auch Regelkreise nicht unbegrenzt belastbar sind, weiß jeder, dem einmal eine Sicherung durchgebrannt ist. Hier stellt sich die Frage nach den Leistungsgrenzen von Regelkreisen. Diese sind in zwei Fällen erreicht:
Erstens, wenn die Störgrößen zu umfangreich werden. Dann ist der Regelkreis überfordert, und mit Hilfe eines Steuerungssystems muß eine Neudefinition seiner Zielgrößen vorgenommen werden, um seine Funktionsfähigkeit wieder herzustellen. Das ist die graduelle Leistungsgrenze eines Regelkreises. Um ein Beispiel zu geben: Es ist, übertragen auf das politische System in Deutschland, z. B. durchaus möglich, daß die Bundesrepublik die Integration der ehemaligen DDR nicht bewältigen kann, weil diese -um im Bild zu bleiben -eine nicht mehr modulierbare „Störgröße“ darstellt (das hieße nicht, daß die Vereinigung generell nicht gelingen kann; es hieße nur, daß neue gesellschaftliche Zielvorstellungen nötig wären, um das Gelingen zu sichern).
Einige der oben genannten Problemfelder lassen sich ebenfalls hier einordnen: die quantitative Überlastung der Justiz, des Verkehrs-und des Gesundheitswesens, der Strom an Asylbewerbern, die wachsende Arbeitslosen-und Staatsschulden-Menge; alles „Störgrößen“ in einem Ausmaß, daß nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, ob der politische Regelkreis sie noch zu bewältigen (auszuregeln) vermag.
Natürlich wird insbesondere von aktiven Politikern immer wieder betont, daß nichts gegen und alles für die Annahme spreche, der in der Vergangenheit unbestritten so leistungsfähige politische Regelkreis in Deutschland werde auch diese Probleme lösen. Allerdings ist das so nicht ganz richtig: Die Erfahrung gerade mit den hier angeführten Problemen zeigt, daß sie trotz intensivster Versuche eben bisher nicht gelöst werden konnten (anders als andere Schwierigkeiten!). Unter diesen Umständen spricht nun einiges für, aber -außer bloßem Optimismus -wenig gegen die Annahme, daß die politischen Institutionen mit diesen Problemen überfordert sein werden. Und Optimismus ist bekanntlich von Realismus genausoweit entfernt wie Pessimismus.
Zweitens erreicht der Regelkreis seine Leistungsgrenze, wenn Gefährdungen auftreten, die ihn gar nicht mehr in Form von Störgrößen erreichen. Solche Gefährdungen beziehen sich dann nicht mehr auf die konkrete Tätigkeit des Regelkreises, sondern auf die Bedingungen seiner Tätigkeit selbst -das heißt, auf das den Regelkreis umgebende Steuerungssystem.
Ein Beispiel hierfür ist die Umweltproblematik. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist eine Bedingung jedweden politischen und auch wirtschaftlichen Handelns. Für die Wahrnehmung von Gefährdungen solcher Handlungsbedingungen fehlt es dem Regelkreis aber zwangsläufig an Sensoren. Die politischen Institutionen reagieren auf die (ja meist erst fast eine Generation nach ihrer Verursachung sichtbar werdenden) Umweltschäden wie auf ganz normale gesellschaftliche Stör-größen: mit der Einrichtung einer Behörde (die hier als Institution übrigens nicht etwa abgewertet werden soll), mit der Produktion von Nonnen und Regelungen usw. Umweltgefährdungen sind aber normalen gesellschaftlichen Problemen nicht vergleichbar -weil sie nicht die innere Struktur des Gemeinwesens betreffen, sondern die äußeren Bedingungen für die Existenz des Gemeinwesens überhaupt. Hier geht es nicht mehr um Handlungswirklichkeiten im Staat, sondern um die Handlungsmöglichkeiten des Staates.
Mit der Bewältigung von Gefährdungen dieser Dimension ist der Regelkreis überfordert. Er kann nur innerhalb des Systems Störgrößen ausgleichen. Hier ist eine qualitative Leistungsgrenze des Regelkreises erreicht, und es stellt sich gar nicht mehr die Frage, wie wirksam er die Störgrößen moduliert -weil er es aus systematischen Gründen nicht kann.
IV. Defizite der politischen Institutionen in Deutschland
1. Beispiele für Defizite der politischen Institutionen in Deutschland Was spricht für diese generelle Regelkreis-Eigenschaft der politischen Institutionen? Absterbende Tannenbäume produzieren in ihrer letzten Lebens-phase besonders viele Zapfen. So ähnlich wirkt auch die sich stetig erhöhende Normenproduktion der Verfassungsorgane. Mittlerweile wird die Zahl der verabschiedeten oder zumindest behandelten Gesetze ja geradezu zum Leistungsnachweis und zur Rechenschaftslegung des Parlaments. Auch ein gewisser Stolz in Ministerien oder nachgeordneten Behörden über den Erlaß von Verfügungen, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen o. a. ist nicht ganz zu leugnen. Selbstverständlich führt eine erhöhte Zahl von Normen aber keineswegs zu einer besseren Problemlösung -im Gegenteil.
Eine hohe Regelungsdichte hat mit hoher Rechtssicherheit oder gar mit Effektivität tatsächlich nichts zu tun. Das Verhältnis zwischen diesen Begriffen ist vielmehr quasi umgekehrt proportional. Viele Regelungen verringern nicht die Notwendigkeit zur Normeninterpretation, sondern erhöhen sie: Jedes neue Gesetz schafft ein neues Interpretationsproblem, nämlich gerade für dieses Gesetz. Dadurch wird auch die Berechenbarkeit des Rechts für den einzelnen Bürger keineswegs erhöht, eher ist das Gegenteil der Fall: Erstens weiß man bei zu vielen zu interpretierenden Gesetzen nicht, wie sie nun tatsächlich interpretiert werden. Zweitens ist bei hoher Normendichte die Unübersichtlichkeit der zu beachtenden Regelungen besonders hoch.
Normen in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sollen das Zusammenleben der selbstbestimmten Individuen erleichtern. Eine hohe Regelungsdichte führt dagegen zur Unfähigkeit der Menschen, ohne starke Fremdzwänge überhaupt noch selbstbestimmt zu handeln. Und: Eine wachsende Normendichte führt wegen der zunehmenden Undurchschaubarkeit sowohl des Regelungsgewirrs als auch des Sinns und des Zwecks so vieler Vorschriften -zu einer steigenden Neigung zur Regelverletzung. Damit erreicht also der hohe Normenausstoß unserer Polit-„Fabriken“ faktisch das genaue Gegenteil von dem, was erreicht werden sollte. Und das läßt schon darauf schließen, daß die politischen Institutionen als Regelkreis ihre Leistungsgrenze erreicht haben.
Die politischen Institutionen sollen auch die Mit-wirkungsmöglichkeiten des einzelnen an Entscheidungen des Gemeinwesens sichern.
Warum hat denn dann eigentlich, bildlich gesprochen, in Deutschland jeder Bauer im Umkreis von 100 Kilometern das Recht, gerichtlich gegen eine geplante Eisenbahntrasse vorzugehen? Das läßt sich doch nur deshalb rechtfertigen, weil offensichtlich die vorherigen Mitwirkungsmöglichkeiten dieses Menschen bei der Planung der Trasse völlig unzureichend sind. Wenn letztlich Gerichte über Parlamentsentscheidungen abschließend befinden -wozu braucht man dann noch Parlamente? Die ausführliche nachträgliche juristische Anfechtungsmöglichkeit von politischen Entscheidungen ersetzt ganz offensichtlich die ausreichende vorhergehende politische Beteiligung der Bürger an diesen Entscheidungen. Das ist ein überdeutliches Zeichen für das Versagen der politischen Institutionen.
In diesem Zusammenhang wäre auch das Mißverständnis auszuräumen, die politischen Parteien seien mächtig. Wer sich die -von der jeweiligen Parteibasis beschlossenen -inhaltlichen Vorstellungen und Programme der Parteien anschaut und nachprüft, was davon in welchem Umfang jemals umgesetzt wurde, der erkennt die tatsächliche Macht der Parteien. Parteien sind nicht nur hierarchisch, sondern auch pyramidal strukturiert. Und die besonders wichtigen Initiativströme verlaufen auch in Parteien von oben nach unten -ebenso wie wirksame Kontrollmechanismen für die Umsetzung des „Parteiwillens“ faktisch fehlen. Der Weg der politischen Überzeugung des einzelnen Parteimitglieds zu deren Umsetzung allein nur in dessen Partei selbst -dieser Weg ist nicht kürzer als der Weg von der politischen Überzeugung des einzelnen Bürgers zur Umsetzung in der Gesellschaft. Parteien spiegeln die Verhältnisse in der Gesellschaft nur wider, geben aber praktisch keine neuen Impulse mehr zurück. Auch dies kennzeichnet die Leistungsgrenze politischer Institutionen.
Schließlich ist ziemlich deutlich zu beobachten, wie grundlegende Reformvorschläge innerhalb der politischen Institutionen durchweg und vehement auf Ablehnung stoßen -oder in stark abgeschwächter, „ungefährlicher“ Form akzeptiert und damit neutralisiert werden. Hier soll keinerlei Wertung von solchen Vorschlägen vorgenommen werden; es interessiert nur der Umstand als solcher, daß radikale Vorschläge wie Rotation von Parlamentariern, Abschaffung des Berufspolitikertums, Abschaffung des Beamtentums, strikte Quotierung etc. entweder in den politischen Institutionen abgelehnt, lediglich oberflächlich übernommen („freiwillige Quote“) oder nur rituell unterstützt werden, faktisch jedoch nicht ernsthaft zur Debatte stehen.
Dieses Phänomen ist nur zu verständlich: Jeder Regelkreis nimmt Steuerungsversuche (also Versuche, seine Zielgröße zu verändern) einfach als Störgrößen wahr -und versucht entsprechend seinem Routinereflex, diese Störgrößen auszuregeln. Somit werden Steuerungsversuche (und radikale Systemneuerungen wie die oben genannten sind, ungeachtet ihrer Qualität, nichts anderes als das) als Störgrößen „bekämpft“. Die politischen Institutionen verhalten sich hier also nahezu wie der idealtypische Regelkreis. 2. Folgen der Überforderung von politischen Institutionen Im Zusammenhang mit den politischen Institutionen als Regelkreis stellen sich somit zwei Probleme: Erstens die Erreichung der Leistungsgrenze des Regelkreises und damit der drohende Verlust der Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Zweitens: Da das Grundgesetz den politischen Institutionen die gesellschaftliche Weichenstellung (das heißt die Steuerung, die Definition der Ziel-größen) aufgegeben hat, der Regelkreis aber nicht steuert, sondern eben nur regelt, stellt sich die Frage: Wer steuert denn dann? Wo werden die gesellschaftlichen Weichenstellungen vorgenommen, wenn nicht in den politischen Institutionen? Und wie geschieht das?
Zum einen ist es sicherlich die Justiz, die zur Wahrnehmung dezidiert politischer Aufgaben geradezu gezwungen wird: Richterrecht statt Politik. Ein Beispiel auf unterer Ebene sind die Familien-gerichte. Auf dem Familiengerichtstag 1991 wurde über die Definition des „Lebensminimums“ im Unterhaltsrecht gesprochen. In der entsprechenden Arbeitsgruppe wurde völlig offen formuliert, daß die Gerichte dieses „Lebensminimum“ jetzt einheitlich neu zu definieren hätten, da sonst der Gesetzgeber auf den Plan gerufen werde. Das heißt nichts anderes, als daß es für normal gehalten wird, daß gesellschaftlich relevante Normsetzungen nicht mehr am dafür vorgesehenen Ort (im Parlament) stattfinden und deshalb von der Justiz durchgeführt werden.
Besonders eklatant wird die politische Ersatz-bzw. Korrekturrolle der Justiz beim Bundesverfassungsgericht (BVG) sichtbar. Schon ein Bück in die Geschichte der BVG-Urteile spricht Bände. Ganz zu Beginn der Bundesrepublik urteilte das BVG noch wie ein klassisches Verfassungsgericht: Es überprüfte Parlamentsentscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, also vorwiegend formal. Schon Mitte der sechziger Jahre kam eine zweite Dimension hinzu. Immer häufiger passierte es, daß der Gesetzgeber den BVG-Entscheidungen nicht mehr in vernünftigen Zeiträumen Rechnung trug. Deshalb wurden fortan Fristen angegeben, innerhalb derer die strittige Regelung durch eine verfassungskonforme ersetzt werden mußte. Und als selbst dies nicht immer den gewünschten Erfolg hatte, wurde in Einzelfällen auch schon eine Regelung vorgegeben, die bis Zur endgültigen Normsetzung durch das Parlament zu gelten hatte. Da diese vom BVG vorgegebene Regelung naturgemäß verfassungskonform war, präjudizierte sie die Parlamentsentscheidung erheblich. )
Noch augenfälliger wird die Verlagerung politischer Gestaltung in die Gerichte beim § 218 und beim Asylrecht. Es ist schlichtweg uneinsichtig, woher ein Gericht die Kompetenz nehmen soll, um zu entscheiden, welchen Lebensbegriff das Gemeinwesen im Strafrecht voraussetzt. Die entscheidende Frage beim § 218 ist ohne jeden Zweifel, wann die Gesellschaft den Beginn des staatlich zu schützenden Lebens ansetzt. Diese Entscheidung ist eine ausschließlich politische (und zugleich moralische), aber in keiner Weise eine juristische. Daß auch in der politischen Diskussion um die Abtreibung immer wieder mit dem BVG argumentiert wird, signalisiert nur die Unfähigkeit der politischen Institutionen, eine wirkliche gesellschaftliche Weichenstellung auch tatsächlich vorzunehmen. Statt dessen tun es die Gerichte. Wesensgleich ist die Lage beim Asylrecht. Die vom Grundgesetz offengelassene Frage, was eine (Asyl begründende) politische Verfolgung ist, muß natürlich politisch geklärt werden. Dazu haben die politischen Institutionen aber offenkundig nicht die Kraft. Die Verantwortung für diese politische Gestaltung verlagert sich somit wiederum zur Justiz.
Neben der Justiz sind es die Verbände -und hier insbesondere die Wirtschaftsverbände -, die gesellschaftliche Weichenstellungen übernommen haben. Die Tarifpartner haben längst eine Bedeutung weit über den bloßen Bereich „Tarifautonomie“ hinaus. Zuletzt deutlich wurde das bei den Tarifverhandlungen für die neuen Bundesländer. Die Gewerkschaften befürchteten offensichtlich im Falle niedriger Abschlüsse einen entstehenden Lohndruck auch auf die westlichen Bundesländer (mit den dann wohl unvermeidlichen negativen Auswirkungen auf die Gewerkschaften selbst). Die westlich dominierten Arbeitgeberverbände hingegen befürchteten aufgrund niedriger Kosten aufkommende Konkurrenz in den neuen Bundesländern. Die extrem hohen Lohnabschlüsse dieser Tarifrunde kamen beiden Tarifparteien entgegen -den Gewerkschaften, weil sie keinen Lohndruck mehr erwarten müssen (zumindest nicht bei ihren Mitgliedern), und den Arbeitgebern, weil sie dadurch sich selbst nur wenig, aber die noch junge und daher weniger stabile östliche Konkurrenz um so mehr in Schwierigkeiten gebracht haben. Auf diese Weise werden in der Tat weichenstellende strukturpolitische Entscheidungen getroffen -nur eben nicht von den politischen Institutionen.
Die Gefahr gesellschaftlicher Weichenstellungen in anderen als den dafür vorgesehenen Institutionen wird hier offensichtlich: Das Grundgesetz sieht diese Art der Steuerung nicht vor -und hält deshalb auch keine Mechanismen für ihren geordneten Ablauf bereit. So verlaufen diese gesellschaftlichen Zielgrößenbestimmungen quasi am verfassungsmäßigen Rahmen vorbei -ohne direkte Bürgerbeteiligung, ohne festgelegte Schutzmaßnahmen für die Betroffenen.
Der Vorteil der gesellschaftlichen Weichenstellungen durch Verbände, Lobbyisten, Pressure-groups und auch durch die Medien ist freilich der, daß sie noch relativ öffentlich und sichtbar verlaufen. Das kann für einen der wichtigsten Bereiche politischer Weichenstellung außerhalb der politischen Institutionen nicht gesagt werden: die Zielgrößenbestimmung durch die Bürokratie.
Wie jede Organisation entwickelt auch die Bürokratie sehr schnell eigene Interessen. Diese liegen, ebenfalls wie bei jeder Organisation, in der Ausweitung des eigenen Tätigkeitsbereiches sowie in der Vereinfachung der eigenen Arbeitsbedingungen.
Da die vorrangige Aufgabe der Bürokratie in der Kontrolle bzw. in der Regelung gesellschaftlicher Prozesse besteht, hat ihre systemimmanente Neigung zur Ausweitung des Tätigkeitsbereiches ganz erhebliche Auswirkungen. Während Regelungen und Kontrollen (in der Theorie) das gesellschaftliche Leben erleichtern sollen, gewinnen sie in der Bürokratie einen funktionalen Eigenwert, sozusagen als Existenzberechtigung der Bürokratie werden sie zum Selbstzweck erhoben. Dieser Prozeß ist, wohlgemerkt, ein systematischer und hat mit den Menschen in der Bürokratie natürlich nichts zu tun. Somit entwickelt sich in der Bürokratie eine Eigendynamik der Regelung und der Kontrolle, die zum einen das bürokratische Arbeitsfeld sichern und nach Möglichkeit vergrößern soll -zum anderen die Aufgabe hat, die Arbeitsbedingungen der Bürokratie zu verbessern (was in der Mehrzahl der Fälle diametral dem Ziel entgegenstehen dürfte, das gesellschaftliche Leben zu erleichtern). Aus vielerlei Gründen (auf die auch noch zurückgekommen wird) hat die Bürokratie einen entscheidenden Einfluß auf die politischen Institutionen und nimmt hier wichtige Weichenstellungen vor. Diese Bestimmung gesellschaftlicher Zielgrößen durch die Bürokratie findet ebenfalls ohne Bürgerbeteiligung, ohne Minderheiten-und Betroffenenschutz und ohne festgelegte, transparente Regeln statt. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Weichenstellung durch Interessenverbände verläuft also dieser Prozeß praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Die politischen Institutionen in Deutschland funktionieren nach dem Prinzip eines Regelkreises. Sowohl das Erreichen der Leistungsgrenze als auch die Nichtwahrnehmung der gesellschaftlichen Steuerungsfunktionen durch die politischen Institutionen werfen, wie gesehen, Probleme auf und lassen mitunter erhebliche Gefahren erkennen. Um eine Lösung der Schwierigkeiten in Angriff nehmen zu können, ist es sinnvoll, sich über die Ursachen dieser Situation ein Bild zu machen: Woran liegt die derzeitige Misere der politischen Institutionen in Deutschland? 3. Ursachen für die Schwächen der politischen Institutionen a) Parteien Seit längerem wird die abnehmende Unterscheidbarkeit insbesondere der „Altparteien“ CDU, SPD und FDP beklagt -übrigens auch in den Parteizentralen selbst. Woran liegt es, daß derselbe Politikertyp in allen Parteien raumgreift und daß prinzipiell unterschiedliche Anschauungen hinter den konkreten Forderungen der Parteien immer schwerer zu entdecken sind?
Parteien sollen, gemäß ihrem Verfassungsauftrag, „an der Willensbildung des Volkes mitwirken“ (Art. 21). Von den Parteien erwartet man, daß in ihnen Bürger politische Vorstellungen entwickeln und daß die Parteien dann für diese Vorstellungen in der Bevölkerung werben -und sich der Wahl stellen, welche Vorstellungen im Parlament vertreten sein sollen. Die Wirklichkeit in den Parteien aber sieht zunehmend anders aus: Der Wahlerfolg ist zur einzigen Existenzberechtigung der Parteien auch gegenüber sich selbst geworden. War der Stimmenanteil in der Parteientheorie des Grundgesetzes ein Mittel zur Durchsetzung der politischen Überzeugungen einer Partei, so ist der zahlenmäßige Wahlerfolg heute nachgerade zum eigentlichen Zweck der Partei aufgestiegen. Das bestimmt auch die Arbeitsweise der Parteien. Ein wichtiger Teil der Parteiarbeit besteht heute daraus, das „Ohr an den Mund des Volkes zu legen“. Im Klartext heißt das: die populärsten Meinungen in der Bevölkerung zu extrapolieren und sich nach ihnen auszurichten. Denn natürlich kann diejenige Partei den höchsten Stimmenanteil erwarten, die die Vorstellungen der meisten Wähler trifft.
In diesem Vorgehen und Selbstverständnis spiegelt sich das Gegenteil von politischem Gestaltungsanspruch: Nicht mehr die eigene, selbst erarbeitete Meinung steht im Mittelpunkt des Parteiinteresses, man stellt nicht mehr die eigenen Grundüberzeugungen öffentlich zur Debatte und wirbt für sie -sondern man prognostiziert den für ein gutes Wahlergebnis günstigsten Standpunkt und nähert sich ihm an.
Auch oberflächliche Prinzipientreue und vermeintlich unumstößliche Grundsätze haben bei dieser Technik durchaus ihren Platz. Kleinere Parteien, die ohnehin keine Aussichten auf einen Gewinn der Mehrheit haben, können mit dem Festhalten an verschiedenen Minderheitenpositionen eine in der Summe ebenfalls beachtliche Klientel an sich binden. Und große Parteien können durch konsequente Ablehnung bestimmter Standpunkte zwar einige Unterstützer verlieren, aber im Gegenzug viele Sympathien gewinnen.
Bei der derzeitigen Praxis der Parteienauseinandersetzung, wo man miteinander nicht um Zustimmung der Wähler zur eigenen Parteimeinung streitet, sondern um die beste Prognose einer Partei bezüglich der Wählerstimmung, sind streng genommen mehr als zwei Parteien eigentlich gar nicht nötig. So kommt es, daß die Parteien sich zunehmend angleichen. Immer weniger sind die inhaltlichen politischen Grundsätze hinter den tagesaktuellen programmatischen Forderungen der Parteien erkennbar. So kommt es auch, daß die Parteien keine wirklich unterschiedlichen Politikertypen mehr hervorbringen, sondern zunehmend Personen, deren Karriere man sich auch in jeder anderen Partei vorstellen könnte -während noch z. B. Herbert Wehner in der CDU oder Franz Josef Strauß als SPD-Mitglied doch relativ undenkbar gewesen wären.
Dieser Deformationsprozeß der Parteien als politische Institution ist sicherlich zu einem Teil dadurch bedingt, daß es parteiintern kein wirksames strukturelles Gegengewicht zur dominierenden Stellung von Berufspolitikern gibt. Die fehlenden Grundgesetzregelungen zur parteiinternen Struktur an diesem Punkt bewirken, daß die Parteiarbeit weitestgehend der spezifischen Interessenlage der Gruppe der Berufspolitiker untergeordnet ist (das ist keine Kritik an Berufspolitikern, sondern eine an den unzureichenden Strukturen zu ihrer Kontrolle). Diese Interessen laufen naturgemäß eher auf Wiederwahl hinaus als auf die notfalls auch entbehrungsreiche Vertretung abgelegener politischer Positionen. Jedenfalls ist es dieser Mechanismus, der bewirkt, daß die politische Institution „Partei“ in Deutschland ihrer theoretischen Aufgabe zunehmend nicht gerecht wird. b) Parlament Der Ausfall der Parteien als Institutionen mit gesellschaftlichem Steuerungsanspruch hat natürlich auch starke Auswirkungen auf die Arbeit des Parlaments. Hier kommen aber noch einige andere bestimmende Faktoren hinzu.
Ähnlich wie in den Parteien die Berufspolitiker die Arbeit dominieren, leidet der Verfassungsauftrag des Parlaments an der starken Stellung der Regierung -und zwar nicht an einer starken Regierung im allgemeinen, sondern am starken Einfluß der Regierung auf das Parlament. Das liegt zum einen an der Verzahnung von Regierung und Parlament -mindestens alle Parlamentarischen Staatssekretäre und meist auch alle Minister gehören gleichzeitig dem Parlament an. In kleineren Regierungsfraktionen gehört da so manches Mal fast ein Fünftel aller Abgeordneten auch der Regierung an -mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Fraktionsarbeit und das parlamentarische Selbstverständnis. Dazu kommt die höhere Bezahlung von Regierungsmitgliedem gegenüber Parlamentariern und damit auch ein höheres Sozialprestige. Es ist ein menschlicher und unabwendbarer Prozeß, daß unter diesen Umständen die Mehrzahl der Parlamentarier ein Regierungsamt anstreben dürfte -und auch das bleibt selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf die Parlamentsarbeit. Diese Situation gilt zwar auch -aber natürlich in weit abgeschwächter Form -für die Oppositions-B abgeordneten. Sie dominieren aber per definitionem nicht das Vorgehen des gesamten Parlaments und sind, selbst wenn sie es wollen, zur Neutralisierung der oben beschriebenen Tendenz nicht in der Lage. Insgesamt muß also angemerkt werden, daß das Parlament zunehmend als Vertretung der Exekutive auftritt statt als Volksvertretung. Somit fällt auch das Parlament als gesamtgesellschaftlich steuernde politische Institution aus. c) Regierung und Verwaltung Die Regierung ihrerseits ist vorwiegend geprägt von der unmittelbaren Nähe zur und der Verzahnung mit der Bürokratie. Als „Exekutive“ eigentlich bloß für die „Umsetzung“ politischer Entscheidungen zuständig, eröffnen sich ihr gleichwohl viele Möglichkeiten für gesellschaftliche Weichen-stellungen: durch das Recht auf Einbringung von Gesetzesvorlagen, durch den größeren Wissensstand auf der Ebene der Sachfragen gegenüber dem Parlament, aber auch durch die konstatierte Schwäche des Parlaments und die Leitfunktion der Regierung auch für Parlamentarier. Indes, auch von der Regierung gehen keine gesellschaftlichen Weichenstellungen mehr aus. Warum nicht?
Auch die Regierung entwickelt gruppenspezifische Interessen, als da sind: Sicherung des eigenen Status, Ausweitung des eigenen Arbeitsbereiches, Erleichterung der eigenen Arbeitsbedingungen.
Die Sicherung des eigenen Status bedeutet faktisch eine Festschreibung des Status quo. Vor diesem Hintergrund sind innovative, verändernde Entscheidungen nicht zu erwarten. Hinzu kommt, daß die Sicherung des eigenen Status bedeutet, den Vorsprung z. B. gegenüber den Parlamentariern zu wahren. Dieser Vorsprung besteht -neben der Gehaltshöhe -im unmittelbaren Zugriff auf Informationen aus der Ministerialbürokratie, im Einfluß durch Vernetzung dieser Ministerialbürokratie im gesamten politischen Raum und in der faktischen Möglichkeit, die Umsetzung der Parlamentswünsche zu beschleunigen oder zu bremsen. Alle diese Punkte beruhen direkt oder indirekt auf der Funktion der Regierung als Spitze der Verwaltung. Die Sicherung der Vorteile der Regierung bedeutet damit eine Sicherung der Verwaltung, also der Bürokratie.
Die Ausweitung des eigenen Arbeitsbereiches bewirkt das noch direkter: Arbeitsbereich eines Regierungsmitglieds ist die Führung seiner Fachverwaltung -ein größeres Einflußfeld kann hier fast nur durch eine größere Verwaltung hergestellt werden.
Die Erleichterung der eigenen Arbeitsbedingungen schließlich bedeutet, die Aufsicht über die Verwaltung einerseits und die Verfügung über die Vorteile des Verwaltungsapparates andererseits zu vereinfachen. Der erste Punkt läßt sich mit Hilfe von besonderen Informationen aus der Verwaltung umsetzen, besondere Informationen erhält die Regierung durch besonders guten Kontakt zur Verwaltung. Der zweite Punkt bedeutet, der Verwaltung die Arbeit zu erleichtern -was der Regierung natürlich auch die Verfügung über die Ergebnisse der Verwaltungsarbeit erleichtert.
Man sieht hier in allen Punkten die Verflechtung der Interessen der Regierung mit denen der Bürokratie. Wie bereits beschrieben, strebt die Bürokratie in keiner Weise nach gesellschaftlichen Weichenstellungen inhaltlicher Art, sondern nur nach Ausweitung und Erleichterung des eigenen Tätigkeitsbereiches. Auf diese Art entsteht auch auf der Ebene der Regierung keine gesellschaftliche Weichenstellung mehr, sondern nur noch eine Eigendynamik der bürokratischen Regelung. Von Steuerung kann -auch hier -keine Rede mehr sein. d) Verfassung Es ist nicht zu umgehen, auch das Grundgesetz selbst als eine Ursache für den fortschreitenden Funktionalitätsverlust der politischen Institutionen anzusehen. Die oben beschriebenen Fehlentwicklungen waren sicher nicht vollständig, aber doch in Ansätzen durchaus abzusehen.
Der Ausfall praktisch aller Kontrollinstanzen gegenüber der Bürokratie, die selbst ja eine nur formale Eigendynamik entwickelt -dieser Ausfall ist hausgemacht. Das weitgehende Fehlen oder zumindest das Versagen von checks-and-balances wird nicht zuletzt dadurch bedingt, daß auch im Parlament selbst -also in der Kontrollinstanz -die Bürokratie überproportional vertreten sein kann. Und das ist ein klassischer Systemfehler, ebenso wie der fehlende Schutzmechanismus innerhalb der Parteien gegen die Dominanz von -strukturell ohnehin bevorteilten -Berufspolitikern; schließlich sollen die Parteien an der Willensbildung des Volkes teilnehmen, die Willensbildung der Parlamentarier ist da wohl kaum vorrangig.
Neben den Ursachen für die Krise der politischen Institutionen in Deutschland, die strukturell teilweise im Grundgesetz selbst liegen, gibt es heute auch neue und unerwartete äußere Einflüsse, die das Problem immens verstärken. Die zunehmende Komplexität von Arbeitszusammenhängen er-23 Schwert den politischen Institutionen ihre Arbeit enorm. Die wachsende horizontale und vertikale Arbeitsteilung in den politischen Prozessen führt zu einer immer stärkeren Zersplitterung der Verantwortlichkeit.
Und so leiden unsere politischen Institutionen an ihrer Struktur, die von klaren, auf einzelne Perso-
V. Das Ende?
In der Technik ist der Umgang mit Regelkreisen, die nicht mehr funktionieren, relativ einfach: Entweder sie brennen durch, dann tauscht man sie aus; oder man schaltet sie ab, stellt ihre Zielgrößen neu ein und schaltet sie dann wieder an. Das dürfte mit den politischen Institutionen in Deutschland nicht ganz so einfach werden.
Zunächst wird wohl allgemeine Übereinstimmung darüber herrschen, daß ein „Durchbrennen“, ein Zusammenbruch wegen Überlastung (oder Über-forderung) vermieden werden sollte. Die Probleme, die sich dann noch stellen, sind immer noch gravierend:
-Die gesellschaftlichen Weichenstellungen werden von Institutionen vorgenommen, die dafür nicht vorgesehen sind -wie kann verhindert werden, daß die Steuerung durch diese Institutionen nach anderen als demokratischen und pluralistischen Verfahren verläuft?
-Die politischen Institutionen funktionieren als Regelkreis -und sind am Rande ihrer Leinen zugeschnittenen Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Entscheidungen ausgeht -während die Wirklichkeit von diesem Organisationsprinzip immer weniger bewältigt werden kann. So liegt ein wichtiger Grund für die Krise der politischen Institutionen schlicht in ihrer -gegenüber den heutigen Herausforderungen -veralteten Organisationsstruktur. stungsgrenze. Wie kann verhindert werden, daß sie vollends zusammenbrechen? -Und schließlich stellt sich dann noch die wichtige Frage nach dem Verhältnis zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit:
Wenn die politischen Institutionen nicht so funktionieren, wie das Grundgesetz es vorsieht -soll man dann die Realität auf den Stand des Grundgesetzes zurückdrehen, oder soll man die Verfassung modernisieren und sie den realen Gegebenheiten anpassen? Das heißt: Soll man das Grundgesetz Dinge regeln lassen, für die verfassungsmäßiger Regelungsbedarf besteht -
oder soll man diese Dinge zu unterdrücken versuchen, weil sie in der Verfassung nicht vorgesehen sind?
Es sieht so aus, als könnten diese Fragen nicht von den politischen Institutionen allein beantwortet werden. Es sieht so aus, als müsse sich dieses Mal das Volk selber stärker um eine Antwort bemühen.