I. Nach der Wiedervereinigung -erstmals eine „echte Verfassungsrevision“?
Das Grundgesetz -eine „beruhigte Verfassung“
Nichts ist so dauerhaft wie ein Provisorium 1) -das Grundgesetz scheint dies eindrucksvoll zu bestätigen. Zwar ist es in 40 Jahren 36mal „geändert“ worden doch seine Stabilität zeigt sich nicht nur darin, daß dies in der letzten Zeit immer seltener geschah so daß es vor der Wiedervereinigung scheinen mochte, als habe sich jede Verfassungsänderungsdynamik erschöpft. Hat sich die Bonner Verfassung nicht vor allem darin überzeugend bestätigt, daß großflächige Änderungen wichtiger Bestimmungen, die den Namen einer „Verfassungsrevision“ verdienen, wohl -über eine solche Beurteilung im einzelnen mag allerdings immer Streit herrschen -nur dreimal erfolgten: 1956 („Wehrverfassung“) 1968 („Notstandsverfassung“) und -allenfalls noch -mit dem „Finanzreformgesetz“ von 1969? Über zwei Jahrzehnte lang haben sich die -polarisierten -politischen Kräfte mit Adaptierungen begnügt, welche zwar mit ihrem Gewicht vor allem die Machtbalance zwischen Bund und Ländern verschoben haben, aber nicht einmal als „Partialrevision“ bezeichnet werden können.
Über „Verfassungsreform“ ist zwar immer wieder nachgedacht worden zu einem größeren Anlauf aber kam es nur mit jener „Enquete Verfassungsreform“, deren Schlußbericht nicht wenige Einzeländerungen vorschlug insgesamt aber gewiß nicht einer „Totalrevision“ das Wort redete.
Im ganzen und in seinen Teilen wurde das Grundgesetz als eine „beruhigte Verfassung“ von der Wiedervereinigung getroffen, und seine konsens-getragene Stabilität war so stark, daß es als solches Träger der deutschen Einheit werden konnte Dies hat vor allem einen Grund: Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Provisorium durch ein achtzigbändiges Rechtsprechungs-Lehrbuch eine Vollverfassung werden lassen, die in ihrer Systematik an die der Vereinigten Staaten heranreicht; vor allem aber hat es das Grundgesetz entwickelt,adaptiert. Gerade weil sich seine Rechtsprechung auch geändert hat bedurfte es mancher Verfassungsänderungen gar nicht mehr, ebensowenig einer größeren Revision -das Gericht hat die Hallen weit genug gebaut. Jahrzehntelang ist Verfassungsrevision durch Verfassungsjurisdiktion betrieben worden. 2. Wiedervereinigung -Anlaß zum „verfassungsrechtlichen Aufräumen“?
Doch nun kam ein „größerer Anstoß“: In Art. 5 Einigungsvertrag (EV) empfahlen die beiden deutschen Regierungen den gesetzgebenden Körperschaften Gesamtdeutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“. Der Bundespräsident hat, nachdem sich auch diese Problematik wieder zu „beruhigen“ schien, nachdrücklich „die im Einigungsvertrag vorgesehene Debatte über die künftige deutsche Verfassung angemahnt“ Es müsse eine breite und offene Verfassungsdiskussion geführt werden. „Vorgesehen“ ist dies allerdings im EV nicht, nur empfohlen, Bundestag und Bundesrat sind frei, ob sie dies überhaupt aufgreifen und wen sie mit der Vorbereitung beauftragen wollen Auch wird dort nicht die Frage einer „neuen Verfassung“ aufgeworfen, eine etwaige Diskussion soll vielmehr verfassungsrechtliche Folgelasten der Wiedervereinigung bewältigen, was („insbesondere“) am Bund-Länder-Verhältnis und den Staatszielbestimmungen ausdrücklich exemplifiziert wird. Selbst wenn man die Empfehlung weit auslegt, so kann sie sich allenfalls auf eine „Überprüfung des Grundgesetzes auf seine Tauglichkeit für das vereinte Deutschland“ richten sicher nicht auf eine Totalrevision über die „künftige deutsche Verfassung“: Diese soll, auch nach dem EV, das Grundgesetz sein, allenfalls mit einigen einigungsangepaßten Änderungen.
Nun liegt allerdings die Frage nahe, was denn nicht wiedervereinigungsrelevant sei, was denn nicht anders werden solle in einem Gesamtdeutschland. Hat sich nicht jahrzehntelang ein wahres Gebirge von bisher politisch unerfüllbaren Forderungen abgelagert um das allzu abstinente Grundgesetz, man denke nur an die Einfügung „sozialer Grundrechte“, ist jetzt nicht endlich die Zeit zum „verfassungsrechtlichen Aufräumen überhaupt“ gekommen, ja zu einer „Entrümpelung des Grundgesetzes“, ist das nicht eine große Hoffnung für „Linke“ und „Rechte“ Durch die Einführung von neuen Staatszielen auf breiter Front könnte ohnehin ein neuer Grundsatz-Raster über das Grundgesetz gelegt werden, der es bis in Einzelheiten hinein um-prägen würde, in schwer vorhersehbarer, juristisch vielleicht kaum präzis faßbarer Weise, und bis hin zu den Freiheitsrechten.
Vor einer solchen Krypto-Totalrevision, die bisher verdrängte politische Wünsche aus Anlaß, wenn nicht unter dem Vorwand der Wiedervereinigung befriedigen will, muß gewarnt werden, so sinnvoll es auch ist, einen großen, historischen Anlaß auch zur verfassungsrechtlichen Bestandsaufnahme zu nutzen. 3. Keine „Grundrechts-Revision“ -
Beispiel: Eigentumsrecht Die besondere Revisionssensibilität von Grundrechten ist in einer freiheitlichen Ordnung selbstverständlich und ergibt sich ausdrücklich aus Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG. So hat denn auch die Enqute-Kommission sich in ihren Vorschlägen bei den Grundrechten insgesamt auf Marginalretuschen beschränkt. Allerdings könnte die Asyl-Diskussion hier einen über ihren Gegenstand hinausreichenden Bewußtseinswandel herbeiführen
Daß dennoch erfreuliche Zurückhaltung allgemein festzustellen ist, zeigt das Grundrecht, welches stets die meisten Begehrlichkeiten weckt: das Eigentum Privater. Es gibt auch „Eigentum als Menschenrecht“ dies ist heute unbestritten, wasden „Menschenrechtskern“ dieses Freiheitsrechts anlangt Im übrigen kann dieses Grundrecht, wie alle anderen, verfassungsrechtlich formuliert und verfassungsändernd modifiziert werden das gilt erst recht dann, wenn man die Eigentumsgarantie als Verfassungsauftrag versteht was allerdings die Rechtsgewährleistung nicht abschwächen darf. Bemerkenswert ist daher, daß es etwa im Grundsatzpapier der SPD „Zur Verfassung des deutschen Staates“ heißt: „An den Grundrechten ist... nichts zu ändern. ) Insbesondere ergebe eine genauere Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, „daß die grundgesetzliche Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) Raum für gemeinwohlbedingte Verpflichtungen und Einbindungen des Eigentümers läßt.“ Dem kann nur zugestimmt werden; gerade hier macht Judikatur Revision überflüssig. Was das Gemeinwohl gebietet, kann gewiß durch Gesetzgeber und Gerichte „in Zukunft durch stärkere Akzentuierung noch betont werden“ Die Eigentumsproblematik ist aber zu vielschichtig, als daß hier wuchtige normative Verfassungsschläge geführt werden sollten Grundrechte werden -darauf sollte man sich immer wieder besinnen -mehr in Verfassungen anerkannt als dort im einzelnen ausgestaltet und entfaltet. Diese letztere Aufgabe obliegt zuallererst dem Verfassungsgericht.
II. Abschaffung des Berufsbeamtentums -„Verfassungsänderung aus Wiedervereinigung“?
1. Die Forderung nach Streichung des Art. 33 Abs. 4 und 5
Die rechtlich, politisch, gesellschaftlich wohl brisanteste Einzelforderung einer Verfassungsänderung ist die der ersatzlosen Abschaffung des Berufsbeamtentums; deshalb wird sie in diesem Zusammenhang auch besonders behandelt.
Im SPD-Grundsatzpapier wird verlangt: „Um die Entwicklung des Dienstrechts gesetzlich so regeln zu können, wie es den gegenwärtigen und zukünftigen Erfordernissen entspricht, sind Art. 33
Abs. 4 und 5 GG zu streichen.“ Daß damit letztlich die Aufhebung der institutioneilen Garantie des Beamtentums gemeint ist, kann nicht zweifelhaft sein Nur dann kann das insbesondere vom DGB seit Jahrzehnten geforderte Einheitsdienstrecht für die öffentlichen Bediensteten, kann die vielkritisierte „Zweispurigkeit im öffentlichen Dienst“ beseitigt werden -hier die Beamten, dort die Angestellten und Arbeiter.
Die Forderung trägt also viel weiter als die nach einer Umgestaltung des öffentlichen Dienstrechts durch Einführung der Trennung von „Status-und Folgerecht“, welche vor nahezu zwei Jahrzehnten im Rahmen der Bemühungen um eine Reform des öffentlichen Dienstrechts so nicht durchgesetzt werden konnte Seinerzeit war -ebenfalls vor allem seitens des DGB -vorgeschlagen worden, lediglich die allgemeinen Pflichten der im öffentlichen Dienst Beschäftigten durch den Gesetzgeber regeln zu lassen, alle „Folgerechte“, insbesondere die Bezahlung, jedoch durch Tarifvertrag; damit wäre auch ein Streikrecht für alle Bediensteten verbunden gewesen. Daß dies mit der Garantie der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 Abs. 5 GG) unvereinbar gewesenwäre, mußte auch den Vertretern dieser These einleuchten welche daher eine Verfassungsänderung in diesem Sinn forderten.
Würde der SPD-Vorschlag verwirklicht, so müßte es gar nicht zu einer derartigen eigenständigen Gesetzgebung für den öffentlichen Dienst kommen; es könnte auch das geltende Arbeitsrecht einfach auf die Rechtsverhältnisse aller bisherigen Beamten erstreckt werden. Keinesfalls dürfte man dann allerdings mehr von einer rechtlichen Gestaltung sprechen, welche den Namen des Beamtenstatus verdiente; dessen Zentren müßten aufgelöst werden, aus grundrechtlichen Gründen: Der Staat dürfte für eine Gruppe von Beschäftigten nicht mehr einseitig durch Gesetz die Bezahlung festlegen, weil eben Tarifvertragsfreiheit bestünde (vgl. Art. 9 Abs. 3 GG), und ein Streikverbot wäre nur in engsten Grenzen, bei wahrhaft existentiellen Staats-Dienstleistungen zu legitimieren. Es würde also nicht nur die Verfassungssicherung des Berufsbeamtentums, sondern dieses selbst abgeschafft.
Bibliotheken des Beamtenrechts, zahlreiche Urteile der Gerichte, viele Grundsatzerkenntnisse des Bundesverfassungsgerichts würden Makulatur, dies wäre die größte Veränderung im öffentlichen Recht seit 1945. Unmittelbar beträfe sie Rechts-verhältnisse, welche die Lebensgrundlage von mindestens drei bis vier Millionen Staatsbürgern bilden, ihre staatsorganisatorischen und verbandspolitischen Auswirkungen (Auflösung der Beamten-verbände, Machtzuwachs für den DGB) wären kaum absehbar. Dies wäre wirklich eine „Staatsund Gesellschaftsreform“.
Nicht zuletzt würde hier auch eine direkte Grundrechtsreform vollzogen, welche die SPD sonst doch vermeiden will: Das Beamten-Verfassungsrecht in Art. 33 GG bringt für diesen Personenkreis eine spezielle Ausformung seines Berufs-rechts und tritt damit weitgehend an die Stelle der sonst anwendbaren Art. 12 Abs. 1 und 9 Abs. 3 GG Für viele Bürger würde damit die Grund-rechtslage nicht unwesentlich verändert. Daß ihnen dies einen (etwa Streik-) „Freiheitsgewinn“ brächte, könnte allein eine solche Grundrechtsreform nicht legitimieren, wenn sich die bisherigen Grundrechtseinschränkungen der Beamten eben durch zwingende Verfassungsgründe des öffentlichen Wohls rechtfertigen lassen Vorsicht ist bei jeder Veränderung der „Freiheit-GemeinwohlSpannungslage im Bereich der Grundrechte“ geboten. Überdies würde die Aufhebung der Gewährleistung des Berufsbeamtentums auch, als solche bereits, einen prozessualen Grundrechtsverlust bringen: Die Beamten können heute ja, anders als Arbeitnehmer, Verfassungsbeschwerden erheben wegen Verletzung ihrer aus hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums abzuleitenden Rechte, insbesondere eine solche des Alimentationsgrundsatzes durch ungenügende Besoldung; solche „grundrechtsgleichen Rechte“ würden ihnen dann entzogen. 2. Keine Beamten in der früheren DDR -auch nicht im wiedervereinigten Deutschland?
Wenn eine Verfassungsreform aus der Wiedervereinigung heraus wachsen soll, so könnte gerade dies für Abschaffung der Verfassungssicherungen des Berufsbeamtentums sprechen; „Verfassungsreform aus Wiedervereinigung“ -hier eben kann näher untersucht werden, wie weit dies trägt.
In der früheren DDR gab es kein Berufsbeamtentum als kommunistische „Errungenschaft“ galt es, daß dieser Hort des „Klassenfeindes“ zerstört und in einem einheitlichen Dienstrecht aufgelöst wurde. Verständlich war es daher, daß die seit langem erhobenen Forderungen nach Abschaffung des Berufsbeamtentums gerade aus Anlaß der Wiedervereinigung wiederholt wurden Selbst noch bei den Koalitionsverhandlungen über die Bildung der ersten frei gewählten DDR-Regierung wurde beschlossen, vorerst ein Berufsbeamtentum nicht einzuführen Doch die Wende hat der Einigungsvertrag selbst gebracht: In Art. 20 Abs. 2 heißt es, in Anlehnung an Art. 33 Abs. 4 GG, es sei die Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben (hoheitsrechtlichen Befugnissen) „sobald wie mög- lieh“ Beamten zu übertragen. Dies ist inzwischen angelaufen In den neuen Bundesländern selbst ist durchaus nicht systematischer Widerstand dagegen, sondern eher die Bereitschaft verbreitet, einen Status zu übernehmen, der immerhin, in seiner vorbildlichen sozialen Absicherung, den neuen Mitbürgern sogar etwas wie eine Kontinuität zum bisherigen Beschäftigungsverhältnis zu bieten scheint. „Bekanntlich richtete sich das Bestreben im Beitrittsgebiet auf die Übernahme des im Westen vorhandenen Beamtenrechts, auf das Einrücken in die zu schaffenden Beamtenstellen. Reformen des Rechts des öffentlichen Dienstes sind in diesem Zusammenhang im Osten kaum angestrebt worden.“ Daß es zu Überleitungsschwierigkeiten, gerade im öffentlichen Dienst, vom Unrechts-regime in den Rechtsstaat, gekommen ist stellt nicht eine Problematik gerade des Beamtenstatus dar; die Überleitungsfrage darf nicht mit der einer etwaigen Reform des Beamtenrechts verquickt werden
Die Wiedervereinigung bietet also keinen Grund, über eine Abschaffung des Berufsbeamtentums im Wege einer Grundgesetzrevision nachzudenken, allenfalls könnte sie ein Anlaß sein, diese aus ganz anderen Gründen (seit langem) erhobene Forderung wieder einmal auf die Tagesordnung zu setzen -als „verfassungsrechtliches Aufräumen“. Von der „Empfehlung des Einigungsvertrags" für Verfassungsänderungen werden solche Bestrebungen nicht nur nicht getragen, die Wiedervereinigung sollte hier eben zur Zurückhaltung mahnen: Das Berufsbeamtentum aufzugeben könnte in den neuen Ländern leicht als ein Schritt zurück in eine Ordnung verstanden werden, welche gerade ein Beamtentum nicht dulden wollte. Was könnte dafür sprechen, ausgerechnet ein solches Kernstück der DDR-Verfassungsordnung für Gesamt-deutschland zu übernehmen, das für den totalitären Einheitsstaat ohne Gewaltenteilung prägend war -ein einheitliches Arbeitsrecht für den ganzen öffentlichen Dienst, während das Beamtentum im Westen sich bewährt hat, gerade als ein Instrument der Machtmäßigung und der Objektivierung durch unabhängige Vertreter des Staates gegenüber jenem immer stärkeren Parteieneinfluß, der mit Recht als ein Thema einer Verfassungsreform angemahnt wird Dieses Beamtenrecht hat auch auf das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland gewirkt. Die Wiedervereinigung spricht also insgesamt nicht für, eher gegen eine solche Verfassungsänderung.
III. Aufgabe des Beamtenstatus -ein Weg nach Europa?
1. Keine „Schnellschuß-Revision“
unter europäischem Vorwand Daß eine Fortsetzung der europäischen Einigung innerstaatliche politische Gewichtsverschiebungen bringen kann, die auch Verfassungsänderungen erforderlich machen, liegt auf der Hand. Dabei ist aber, schon allgemein, zweierlei zu bedenken: Die europäischen Abläufe erfolgen langsam, immer wieder ausgesetzt oder unvorhersehbar gehemmt. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) kann sich nur sehr vorsichtig-zurückhaltend zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten fortbewegen; die Rechtsentwicklung aus dem Europarecht in das nationale Recht hinein vollzieht sich also an sich nur langsam-punktuell, vor allem wo es um die Veränderung grundlegender Verfassungsvorgaben geht. Dies spricht bereits generell gegen etwas wie „Schnellschuß-Revisionen“, welche etwa eine „Tür nach Europa aufstoßen“ möchten; sie muß nunmehr behutsam geöffnet werden, soll nicht unnötig viel an nationaler Identität einem Europa geopfert werden, dessen Stärke ja auch aus der Vielfalt seiner Glieder kommt.
Zum anderen vollzieht sich der europäische Einigungsprozeß wesentlich in Dialog und Kompromiß. Ein Mitgliedstaat vom Gewicht des vereinten Deutschland hat daher nicht nur die Chance, sondern die Pflicht, in diesen Prozeß seine bewährten Positionen einzubringen, zu versuchen, sie den übrigen Partnern zu vermitteln. Dies gilt gerade für das deutsche öffentliche Dienstrecht, das weithin, vor allem in Europa, und insbesondere in seiner beamtpnrechthchen Säule, als vorbildlich gilt Grundsätzlich bereits wäre es also verfehlt, aus europapolitischen Gründen hier vorschnell Änderungen im Rahmen einer Vereinigungs-Verfassungsreform durchzuführen jedenfalls aber wäre es unklug, gleich die Radikallösung einer Aufgabe des Beamtenstatus anzubieten. Die Einung Europas wäre nur ein fadenscheiniger Vorwand für durchaus nicht europäisch sondern rein innerstaatlich orientierte politische Forderungen.
Was sich gerade für das öffentliche Dienstrecht erweisen läßt, sollte allgemein als europarechtliche Vorgabe für Grundgesetzrevisionen beachtet werden: Das deutsche Verfassungsrecht ist keine europarechtliche Vorleistungsmaterie, hier ist erst Eindeutiges und Endgültiges zu ratifizieren. Europäische Einigungseuphorien dürfen die Grundnormen-Ruhe des Grundgesetzes nicht aufheben. 2. Das deutsche Beamtenrecht -„Fremdkörper in Europa“?
Grundprinzip der Römischen Verträge ist es, daß die Staats-und Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten nicht zur Disposition der Gemeinschaft steht. Dies kommt im EWG-Vertrag deutlich zum Ausdruck -vgl. etwa Art. 90 Abs. 2 EWGV -nicht zuletzt in jenem Art. 48 Abs. 4 EWGV, aus dem manche ableiten wollen, daß das deutsche Berufsbeamtentum ein Fremdkörper in Europa sei, seine Verfassungssicherungen daher rasch beseitigt werden müßten.
Nach dieser Vorschrift gilt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft (Art. 48 Abs. 1 bis 3 EWGV) nur für „Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung“ nicht. Die EG-Kommission hat diese Ausnahme im Jahre 1988 eng ausgelegt so daß also etwa im Gesundheits-, Verkehrs-, Post-und Fernmeldewesen auch nicht-deutsche EG-Bürger in Deutschland zu berücksichtigen wären.
Die Rechtsprechung des EuGH deckt diese restriktive Interpretation nicht welche auch nach gegenwärtigem deutschen Recht dazu führen müßte, daß in diesen Bereich Beamte nicht mehr eingesetzt werden könnten, weil sie grundsätzlich deutsche Staatsbürger sein müssen Der EuGH hat den sehr weiten, keineswegs eindeutigen Begriff „öffentliche Verwaltung“ so definiert: Stellen, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind“ Selbst wenn es sich dabei um gemeinschaftsrechtliche Begriffe handeln sollte, so müssen diese doch aus den nationalen Rechten jedenfalls sinnerfüllt werden, wenn sie diesen nicht sogar einen Ausgestaltungsraum in Autonomie eröffnen oder schlechthin auf diese verweisen. Dafür spricht übrigens schon die Anwendung gerade deutscher Verfassungsbegrifflichkeit (hoheitliche Befugnisse) in der erwähnten Verdeutlichungsformel des EuGH Die Freizügigkeit gilt nach dem EuGH auch nicht dort, wo es um „Wahrung der allgemeinen Belange des Staates usw.“ geht, und zwar unabhängig von der Ausübung hoheitlicher Befugnisse Damit beläßt der EuGH einen Anwendungsbereich für das herkömmliche deutsche Beamtenrecht, selbst unter Beschränkung auf deutsche Staatsangehörige, der in etwa den heutigen Einsatzbereich der Beamten abdeckt. Sollten hier aber Problemzonen bleiben und Brüssel weiterhin die Freizügigkeit in traditio- nelle deutsche Beamtenbereiche hinein erweitern wollen, so könnte über eine Öffnung nicht nur des deutschen öffentlichen Dienstes sondern auch des Beamtenstatus für EG-Bürger nachgedacht werden, durch Lockerung des Erfordernisses der deutschen Staatsangehörigkeit
Die Europaprobleme im Bereich des öffentlichen Dienstes können also nicht nur ohne Verfassungsänderung durch den einfachen Gesetzgeber gelöst werden, dessen nuancierende Gestaltungskraft ist gerade hier, Art. 48 Abs. 4 EWGV zeigt es, gefordert.
IV. „Privatisierung der Verwaltung
Doch die eigentlichen Anstöße für eine Abschaffung des Berufsbeamtentums kommen heute weder aus der Wiedervereinigung noch aus Europa; sie sind seit langem verbunden mit der Diskussion um den Service-Staat. Entbeamtung der Daseins-vorsorge wird gefordert im Namen erhöhter Effizienz, welche im engen Korsett des beamtlichen Laufbahnrechts nicht gelingen könne; dieses letztere ist aber ein unverzichtbares Legitimationszentrum des Berufsbeamtentums In der Marktwirtschaft müsse darüber hinaus überall dort privatisiert werden, wo die Aufgaben ebensogut wenn nicht gleich von Privaten, so doch vom Staat in Formen des Privatrechts wahrgenommen werden könnten. Dies mache weithin das Beamtentum entbehrlich
Unter dem Banner „Privatisierung der Verwaltung“ finden also, gegen das Berufsbeamtentum, ganz heterogene, ja durchaus gegensätzliche Bewegungen sich zusammen: Unternehmerisch-liberale im Namen marktwirtschaftlicher Effizienz und einer Erweiterung geschäftlicher Möglichkeiten -sozialdemokratisches Wohlfahrtsstaats-Service-Denken in arbeitsrechtlichen Bahnen und einheitsgewerkschaftliche Bestrebungen. Politisch liegt hier vor allem eine Gefahr für das Berufsbeamtentum, denn diese vereinten Kräfte könnten die für seine Aufhebung oder doch wesentliche Beschränkung erforderliche Zweidrittelmehrheit aufbringen. Eine Entwicklung zur Beschränkung hat mit der weitgehenden Privatisierung der Bundespost schon begonnen Für die Bundesbahn wird sie gefordert. Nachdem der Bundespräsident die Ausfertigung des Entbeamtungsgesetzes für die Fluglotsen (auch) aus verfassungsrechtlichen Gründen des Dienstrechts verweigert hat -in der Tat üben sie eindeutig hoheitsrechtliche Befugnisse aus -muß eine Änderung des Art. 87 d GG ins Auge gefaßt werden, nach dem die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung geführt wird.
Im Zuge solcher Bestrebungen könnte es also zumindest zu einer Beschränkung des Beamtenstatus auf die „engen Hoheitsbereiche“, insbesondere der traditionellen inneren Verwaltung, der „Polizei“ in früherem Sinn kommen; um dorthin den Weg verfassungsrechtlich frei zu machen, kann auch die hier behandelte Abschaffung des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG ins Gespräch gebracht werden.
Gerade das Thema „Privatisierung“ zeigt aber, daß eine Verfassungsänderung gewiß nicht der richtige Weg für die Lösung derart vielschichtiger Probleme sein kann. Wo Privatisierungen in Betracht kommen, in welchem Ausmaß, in welchen Formen, das kann nur der Gesetzgeber entscheiden, darüber würden sich in einer Grundsatzentscheidung zur Verfassungsänderung gerade jene weithin konträren Kräfte nicht einigen können, welche heute eine Abneigung gegen das Beamtentum verbindet. Wenn aber eine Entscheidung zur Privatisierung der Verwaltung als solche nicht „verfassungsfähig“ ist, so würde ein Abschied von den Verfassungsgarantien für den Beamtenstatus eine deutliche Übermaß-Reaktion darstellen: Dort jedenfalls, wo die Ausübung der hoheitlichen Befugnisse erforderlich bleibt und im Mittelpunkt steht, hat sich der Beamtenstatus derart bewährt, daß eine Alternative nicht in Sicht ist und dies dürfte auch von weitreichendem Konsens getragen sein.
Bleibt die Frage, ob die jetzige Fassung des Art. 33 GG Privatisierungen im Wege stünde. Davon kann grundsätzlich nicht die Rede sein. Wenn der Gesetzgeber in einem bisherigen Verwaltungsbereich jede hoheitliche Prägung völlig aufhebt oder diesen sogar Privaten überläßt, so kommt dort auch ein Beamteneinsatz nicht mehr in Frage. Art. 33 GG mahnt allerdings, daß dies dort nicht geschehen darf, wo die Sachstruktur solcher Staatsaufgaben deren parlamentarische Kontrolle und die Erledigung durch Bedienstete in einem Rechtsstaat erfordern, die zu diesem eben in einem besonderen Dienst-und Treueverhältnis stehen. Dem einfachen Gesetzgeber bleibt jedenfalls ausreichender Gestaltungsraum den aber der bisherige Verfassungsrahmen auch weiterhin halten sollte.
V. Ausblick: Den „Beruf unserer Zeit“ zur Verfassunggebung überdenken
Bei jedem größeren Gesetzgebungswerk, vor allem aber vor einer weiterreichenden Verfassungsreform, sollte ernsthaft und grundsätzlich geprüft werden, ob dafür „die Zeit reif ist“, ob gerade sie berufen ist, Entscheidungen zu treffen, die über Generationen wirken sollen. Der Abschied vom Berufsbeamtentum wäre eine solche; dies ist eine der ganz wenigen heute erhobenen Forderungen zur Verfassungsänderung, von der dies uneingeschränkt gilt. Das Berufsbeamtentum in all seinen traditionellen Formen wird nicht unabänderlich durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt mag auch der Staat als solcher in einer Ordnung der Legalität unbedingt verpflichtet sein, von seinen Bediensteten „besondere Treue“ zu verlangen, jedenfalls in Kernbereichen.
Diese Untersuchung hat aber gezeigt, daß es eben keinen Grund gibt, weshalb eine Entkonstitutionalisierung des Berufsbeamtentums ernsthaft erwogen werden sollte. Exemplarisch verdeutlicht dies, weit über die konkrete Frage hinaus, wie sehr stets Zurückhaltung angebracht ist, wenn die Hand des Rechts an die Verfassung gelegt wird: Weder sollte es „Vorgriff-Revisionen“ mit Blick auf Europa geben, noch dürfen alte politische Süppchen aufgewärmt, alle alten unerfüllten Wünsche in eine solche Revision „hineingepackt" werden.
Wirtschaftlich leben wir in einer schweren, international in einer zugleich hoffnungsvollen und beängstigenden Zeit; beide für uns so entscheidenden Bereiche sind heute auch nicht in Umrissen übersehbar. Also ist dies eine Zeit für unumgängliche punktuelle Verfassungsanpassungen, sie hat keinen „Beruf zur großen Verfassunggebung“.
Die Französische Revolution ist einst, in ihrer ersten, begeisternden, freiheitlichen Phase angetreten unter der Devise „La Loi et le Roi“, heute müßte dies eigentlich heißen: „Die Verfassung und die Beamten“, in beiden Fällen eben: „Der Wille des souveränen Volkes und seine treuen Diener“. Diese festesten Fundamente des heutigen Deutschland dürfen nicht erschüttert werden.