Durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 wurde die Deutsche Frage gelöst -die Verfassungsfrage blieb jedoch durch die Reaktivierung des Art. 146 Grundgesetz offen. Der in der Verfassungsfrage einzuschlagende Weg ist bestimmend für das staatliche Selbstverständnis der Deutschen und Herausforderung für die Staats-und Verfassungsrechtswissenschaft. Für die einen gilt es, ein bis zum heutigen Tag bestehendes Legitimationsdefizit im Verfassungsstaat der Bundesrepublik durch eine Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, aufzufüllen; für andere droht verfassungswidrige Gefahr: die Ablösung des G Oktober 1990 wurde die Deutsche Frage gelöst -die Verfassungsfrage blieb jedoch durch die Reaktivierung des Art. 146 Grundgesetz offen. Der in der Verfassungsfrage einzuschlagende Weg ist bestimmend für das staatliche Selbstverständnis der Deutschen und Herausforderung für die Staats-und Verfassungsrechtswissenschaft. Für die einen gilt es, ein bis zum heutigen Tag bestehendes Legitimationsdefizit im Verfassungsstaat der Bundesrepublik durch eine Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, aufzufüllen; für andere droht verfassungswidrige Gefahr: die Ablösung des Grundgesetzes, einer in Jahrzehnten bewährten Verfassungsordnung, um die die Deutschen in der Welt beneidet werden, womöglich durch einfache Mehrheiten. Von einer „Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes“, einer „Zeitbombe im Verfassungsgehäuse“, von der „Selbstpreisgabe des Grundgesetzes“ und von einem „legalen Staatsstreich“ wird ebenso gesprochen wie von der Chance einer neuen Verfassunggebung, die über die in Art. 5 Einigungsvertrag empfohlene punktuelle Überprüfung des Grundgesetzes auf seine Tauglichkeit für das vereinte Deutschland weit hinausführt.
Die Klärung des Meinungsstreits erfordert zunächst eine kurze Überprüfung der rechtlichen Ausgangslage, eine Deutung der einschlägigen Grundbegriffe der allgemeinen Staatslehre -insbesondere der Untersuchung von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt, die Darlegung der spezifischen Rolle des Art. 146 GG alter und neuer Fassung (a. F.; n. F.) im Prozeß der Reorganisation der staatlichen Einheit Deutschlands sowie der Stellung des Art. 146 GG n. F. in der geltenden verfassungsmäßigen Ordnung. Hieraus ergibt sich die zusammenfassende Bewertung der Vorschrift im Hinblick auf das derzeit anlaufende Verfassungsreformverfahren.
I. Die rechtliche Ausgangslage
Art. 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (GG) lautete bis zum Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik gern. Art. 23 GG am 3. Oktober 1990 1) wie folgt: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Durch Art. 4 Nr. 6 des Einigungsvertrags 2) wurde Art. 146 GG wie folgt neu gefaßt (die Ergänzung ist durch Kursivschrift hervorgeho-ben): „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Die Ergänzung der Verfassungsnorm erfolgte in Erfüllung von Art. 1 Abs. 4 des ,, 2+ 4“ -Vertrags 3), der die Absicherung des territorialen Status quo im innerdeutschen Recht des staatlich geeinten Deutschlands verfolgt: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, daß die Verfassung des vereinten Deutschlands keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt entsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind.“
Bei der Ergänzung des Art. 16 GG durch Art. 4 Nr. 6 Einigungsvertrag handelt es sich demnach um eine sogenannte beitrittsbedingte Änderung des Grundgesetzes. Sie wurde unm Einigungsvertrag handelt es sich demnach um eine sogenannte beitrittsbedingte Änderung des Grundgesetzes. Sie wurde unmittelbar durch den Einigungsvertrag bewirkt 4), dessen Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satzl GG die gesetzgebenden Körperschaften mit der qualifizierten (verfassungsändernden) Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG verabschiedeten. Den Einwand des Formenmißbrauchs (keine Verfassungsänderung durch völkerrechtlichen Vertrag, der die Abgeordnetenrechte im Ratifizierungsverfahren auf die Alternative „Billigung oder Ablehnung“ reduziert) hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen: Das mit dem Einigungsvertrag eingeschlagene Verfahren habe seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 23 Satz 2 GG und dem Wieder-vereinigungsgebot des Grundgesetzes; zur Verwirklichung dieses Gebots komme den Verfassungsorganen ein weiter Gestaltungsspielraum zu 5).
Seinem Regelungsgehalt nach zielt Art. 4 Nr. 6 Einigungsvertrag auf künftige Verfassungsänderungen, die in Art. 5 Einigungsvertrag näher spezifiziert werden: „Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung.“
Die „Frage der Anwendung des Artikels 146“ führt den Interpreten zunächst zu einer Problematik der allgemeinen Staatslehre: Handelt es sich hierbei um einestaatsrechtlich gebundene Verfassungsänderung oder um freie Verfassunggebung?
II. Grundbegriffe der allgemeinen Staatslehre
Der Begriff der verfassunggebenden im Gegensatz zur verfassungsändernden Gewalt -also die Differenzierung zwischen pouvoir constituant originaire und pouvoir constituant institue -geht zurück auf den Machtkampf zwischen Königtum und Volk in der Französischen Revolution. Abb Sieys erklärte das Volk „in seinem Naturzustand“ für frei und allzeit in der Lage, sich eine Verfassung zu geben und damit zum Träger des pouvoir constituant 6). 1. Die verfassungsändernde Gewalt im deutschen Staatsrecht In der deutschen Staatsrechtslehre ist die permanent vorhandene verfassunggebende Gewalt des Volkes kaum weiterentwickelt worden. Klaus Stern spricht zu Recht von einem „brüchigen Eis“, auf das sich die Autoren des Art. 146 GG begeben hätten Die Kommentatoren der Weimarer Zeit grenzten die verfassunggebende Gewalt als rein „politische Frage“ aus Als „Urkraft allen staatlichen Wesens“ wurde sie bei Carl Schmitt zum zentralen Begriff seiner Staatslehre Das Volk kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt und ohne rechtliche Bindung die staatlichen Verhältnisse neu ordnen.
Dem stellt der 1. Präambelsatz zum Bonner Grundgesetz die sogenannte invocatio dei gegenüber: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.. Fraglich ist demnach, ob nicht auch die Konstituante einer ethi- sehen, wenn nicht gar rechtlichen Bindung unterworfen ist, mit anderen Worten, ob sie an eine Grundnorm oder an naturrechtliches Gedankengut gebunden ist.
Aus der Sicht des zwischenstaatlichen Rechts ist das sich eine neue Verfassung gebende Volk, die Staatsnation, „souverän“. Dies bedeutet aber nicht eine Freiheit von rechtlichen Bindungen. Die Normen des universellen Völkergewohnheitsrechts müssen beachtet werden Bei der Neukonstituierung kommt dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und seiner korrekten Anwendung besondere Bedeutung zu. Verfassunggebung ist nichts anderes als die Inanspruchnahme des Rechts auf innere und (wenn gleichzeitig ein neues Völkerrechtssubjekt konstituiert wird) äußere Selbstbestimmung. Das moderne Völkerrecht spricht sich hierbei dezidiert für die Schaffung und den Erhalt einer demokratischen Staatsordnung aus; so ist z. B.der Verfassungsgestaltung durch das weiße Minderheitenregime des Ian Smith in Südrhodesien ebenso die internationale Anerkennung versagt worden wie den von der Republik Südafrika in die Unabhängigkeit entlassenen Homelands.
Im Falle Deutschlands können zudem alte und neue vertragliche Verpflichtungen eine Rolle spielen, über die sich auch der Verfassunggeber nicht ohne Verletzung des Völkerrechts hinwegsetzen könnte Dasselbe gilt hinsichtlich der Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts, die bislang in allen Phasen der staatlichen Einigung Deutschlands genau beachtet wurden 2. Der Begriffdes Verfassungsstaates Der Möglichkeit einr permanenten Verfassungsneuschöpfung werden durch die Begriffe der Verfassung und des verfaßten Staates Schranken gesetzt. Zum Begriff des modernen Staates gehört „die normative Beständigkeit der Verfassung, ihre Dauer über den wechselnden Mehrheiten zu den grundlegenden politischen Werten“ Die Verfassung ist „rechtliche Grundordnung“ und enthält oberste Rechtsnormen, auf denen die gesamte übrige Rechtsordnung aufbaut Dies verlangt eine materiell-rechtliche Einbindung und eine verfahrensrechtliche Steuerung der extra-konstitutionellen verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Der pouvoir constituant Institut ist im Gegensatz zum pouvoir constituant originaire an die sach-und verfahrensrechtlichen Vorgaben der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung gebunden. 3. Die Bedeutung von Überleitungsnonnen („Totalrevision“)
Eine rechtliche Verbindung zwischen bestehender Verfassungsordnung und extrakonstitutioneller Verfassungsänderung („Verfassungsablösung“) kann durch Überleitungsnormen hergestellt werden. Auf derartigen Überleitungsnormen beruht die mögliche „Totalrevision“ der Schweizerischen Bundesverfassung und der Verfassung einiger Kantone Auch Art. 146 GG alter wie neuer Fassung kann als Überleitungsnorm aufgefaßt werden. Im Gegensatz zur Totalrevision fehlt jedoch bei Art. 146 GG die spezifische Regelung eines Einleitungsverfahrens. Die Verfassungsablösung in der Schweiz hat einen plebiszitären Grundentscheid für die Totalrevision zur Voraussetzung Überleitungsnormen verfolgen allgemein das Ziel, revolutionäre Brüche in der Verfassungsentwicklung zu vermeiden. Eine Relativierung des Schutzes der geltenden verfassungsmäßigen Ordnung wird dabei in Kauf genommen. Eine genaue Bestimmung der Funktion des Art. 146 GG n. F. im gegenwärtigen Verfassungsgefüge erfordert allerdings noch eine eingehendere Untersuchung seiner Entstehung und seiner spezifischen Rolle im Prozeß der Reorganisation der staatlichen Einheit Deutschlands.
III. Die spezifische Rolle des Art. 146 GG a. F. /n. F. im Prozeß der Reorganisation der staatlichen Einheit Deutschlands
1. Wege zur staatlichen Reorganisation Zur Reorganisation des deutschen Gesamtstaates bot das Grundgesetz in seiner bis zum 3. Oktober 1990 geltenden Fassung zwei Wege an: den Beitritt der DDR (bzw.der neukonstituierten Länder) als „anderer Teil Deutschlands“ (Art. 23 Satz 2) und die Neukonstituierung des geeinten Deutschlands gern. Art. 146 GG.
Der Beitritt zum Grundgesetz war die logische Konsequenz der in der Präambel zum Grundgesetz getroffenen Feststellung, wonach das „Deutsche Volk“ bei der Schaffung des Grundgesetzes „auch für jene Deutschen gehandelt hat, denen mitzuwirken versagt war“. Art. 23 Satz 2 GG vermittelte der ehemaligen DDR die einseitig wahrzunehmende Option, sich der vom Grundgesetz geschaffenen Ordnung, die auch ein „Verfassungsvertrag“ zugunsten der Bürger in den anderen Teilen Deutschlands sein wollte, anzugliedem. Der Beitritt als solcher bedurfte nicht der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland und auch nicht eines Plebiszits ihrer Bevölkerung. Der Beitritt der DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland wahrte nicht nur die Identität der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, das -zumindest bis auf weiteres -zur Verfassung des staatlich geeinten Deutschlands wurde; der Beitritt erfüllt auch den Tatbestand der völkerrechtlichen Eingliederung der DDR (Staatsintegration) bei Wahrung der Identität der Bundesrepublik Deutschland, die wiederum „subjektsidentisch“ ist mit dem 1867 begründeten, 1870/71 um die süddeutschen Länder erweiterten deutschen Gesamtstaat
Der zweite Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands war seine Neukonstituierung. In seinem letzten Artikel (Art. 146 GG) stellte sich das Grundgesetz selbst zur Disposition einer freien Entscheidung des deutschen Volkes, um gegebenenfalls kein Hindernis im Prozeß der Reorganisation der staatlichen Einheit Deutschlands zu sein. Dann wären auch die Vertreter Westdeutschlands in der gesamtdeutschen Konstituante nicht an das Grundgesetz gebunden gewesen Die gesamtdeutsche Konstituante wäre aber gleichwohl dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes verpflichtet geblieben
Ein „dritter Weg“ zur Einheit Deutschlands wurde im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen gesehen in der Kombination von Art. 23 Satz 2 und 146 GG a. F.: erst Beitritt der DDR zum Grundgesetz,dann Neukonstituierung der erweiterten Bundesrepublik. Dieser Weg war nach dem Grundgesetz in seiner alten Fassung nicht gangbar. Art. 146 GG mußte mit dem Beitritt der DDR und dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in den neuen Ländern gern. Art. 23 Satz 2 seine grundgesetzimmanente Bedeutung verlieren. Mit ihrem Beitritt legitimierten dies die Deutschen, denen nach der Präambel zum Grundgesetz „mitzuwirken versagt war“ und für die treuhänderisch mitgehandelt werden mußte. Der Anspruch des Grundgesetzes, aus der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes hervorzugehen, steht damit unbestreitbar im Einklang mit der Wirklichkeit. Ein anfänglich vorhandenes Legitimitätsdefizit füllte sich auf, und gleichzeitig entfielen Anlaß und Grund dafür, daß sich das Grundgesetz durch eine legale Verfassungsablösung in Frage stellte.
Der politische Prozeß der Reorganisation der staatlichen Einheit Deutschlands folgte jedoch 1990 nicht nur dem im Grundgesetz fest umrissenen Verfahren. Mit dem Beitritt anderer Teile Deutschlands (Art. 23 Satz 2) und der Neukonstituierung in Freiheit (Art. 146) umschrieb das Grundgesetz nur Verfassungsziele. Über die konkreten politischen Schritte, wie das Ziel der staatlichen Einheit zu erreichen sei, sagte es nichts aus. Es konnte diese Verfahren nicht regeln, da sie nicht ausschließlich eine rechtliche Angelegenheit der Bundesrepublik waren. Neben der Bundesrepublik Deutschland hatte auch die DDR weltweite Anerkennung, Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen gefunden. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war die (alte) Bundesrepublik -trotz ihrer „Subjektsidentität“ mit dem Deutschen Reich -bezüglich ihrer hoheitlichen Gestaltungskraft auf den vor dem 3. Oktober 1990 gültigen Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt
Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten waren andererseits nicht rein völkerrechtlicher Art; die Staaten waren füreinander nicht Ausland, weil der Gesamtstaat -handlungsunfähig von den Vier Mächten repräsentiert -noch bestand. Hieraus resultierten die deutsch-deutschen „inter-se-Beziehungen“, die sich zwischen die rein staatsrechtliche und die rein völkerrechtliche Ebe-ne schoben Diese für die Kontinuität des Gesamtstaates wichtigen Elemente sind zwar vom SED-Regime immer wieder bestritten worden ihre Bestandskraft und Richtigkeit bestätigte jedoch die friedliche Revolution der Bürger in der alten DDR.
Die „inter-se-Beziehungen“ zwischen den beiden deutschen Staaten waren koordinationsrechtlicher Natur, d. h. Bundesrepublik und DDR trafen sich hier auf einer Ebene der Gleichheit und des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins. Dies war gerade für die Initiierung des Einigungs-bzw. Wiedervereinigungsprozesses besonders bedeutsam: Gegen den Willen eines der beiden Staaten in Deutschlandjtonnte das Verfahren der staatlichen Reorganisation nicht in Gang gesetzt werden. Die maßgebliche Mitbestimmung der DDR und ihrer Staatsorgane bei der Einigung Deutschlands bedeutete jedoch nicht ein „Nach-drüben-Verlagern“ des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes bzw. die Respektierung oder Anerkennung eines eigenen Selbstbestimmungsrechts eines „Volkes“ der DDR. Auf völkerrechtlicher Ebene gab und gibt es nur ein Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes Durch die verfahrensmäßige Beteiligung wurde der ehemaligen DDR kein einseitig auszuübendes Sezessionsrecht eingeräumt. Ihre maßgebliche Beteiligung (obwohl in den Grenzen der ehemaligen DDR nur etwa ein Fünftel der deutschen Bevölkerung lebt) an der Reorganisierung Deutschlands war als eine sich aus den „inter-se-Beziehungen“ ergebende Besonderheit des Verfahrens bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des (gesamten) deutschen Volkes zu deuten Das verfahrensmäßigeZugeständnis war gerechtfertigt, da sich die DDR mit ihren ersten freien Parlamentswahlen am 18. März 1990 demokratisch legitimiert hatte und die äußeren Aspekte der Einigung weiterhin vom „ 2+ 4“ -Prozeß bestimmt wurden, an dem die beiden Staaten in Deutschland gleichermaßen mitwirkten. Das koordinationsrechtliche Zusammenwirken von Bundesrepublik und DDR auf der Stufe der prinzipiellen Gleichheit führte zu gewissen Modifikationen des in Art. 23 Satz 2 GG vorgezeichneten Wegs zur deutschen Einheit -ohne daß jedoch das Beitrittskonzept der Sache nach aufgegeben worden wäre.
Ohne das rechtliche Ziel des Beitritts der DDR zum Grundgesetz aus dem Auge zu verlieren wurde die politisch entscheidende Phase der staatlichen Einigung Deutschlands von konföderativen Elementen einer schrittweisen Wiedervereinigung durch Staatsvertrag geprägt Dies forderte die parlamentarische Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften, z. T. auch verfassungsändernde Mehrheiten
Im Lichte des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes war diese Verfahrensweise nicht unbedenklich. Weder ein Veto im Bundesrat (der Repräsentanz der Länderexekutive auf Bundesebene) bei der Ratifikation der Staatsverträge in der Bundesrepublik noch eine Sperrminorität in der Volkskammer der DDR wären legitimiert gewesen, dem Selbstbestimmungswillen des ganzen deutschen Volkes Ausdruck zu verleihen. 2. Art. 146 GG n. F. als Verfassungskompromiß Verhandlungen auf der Ebene der Gleichordnung, aber auch die maßgebliche Mitwirkungsmöglichkeit der parlamentarischen Opposition, führten zu politischen Kompromissen, die bei der Auslegung der durch Art. 4 Nr. 6 und 5 Einigungsvertrag neu entstandenen Verfassungslage berücksichtigt werden müssen
Zunächst bedarf es der Feststellung, daß die DDR dem Grundgesetz nicht unter der Bedingung einer späteren Neukonstituierung beigetreten ist. Die Beitrittserklärung der DDR geht davon aus, „daß die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind“ 32). Es wird also lediglich auf den Abschluß des Einigungsvertrags Bezug genommen, nicht aber werden bestimmte inhaltliche Regelungen des Einigungsvertrages oder gar die Verfassungsablösung zur Voraussetzung des Beitritts gemacht. Bereits mit dem Abschluß des Staatsvertrags vom 18. Mai 1990 hatte sich die DDR für den Beitritt nach Art. 23 Satz 2 GG a. F. entschieden. Zu diesem Zeitpunkt spielte die Forderung nach einer gesamtdeutschen Verfassungsgebung gern. Art. 146 GG a. F. und der Wunsch des „Runden Tisches“ nach Einbringung eines von ihm in Grundzügen beschlossenen Verfassungsentwurfes keine praktisch-politische Rolle mehr. Nach den Volkskammerwahlen war deutlich geworden, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung der DDR einen raschen Beitritt zum Grundgesetz wünschte. Die Parteien, die die Mehrheit in der Volkskammer stellten, hatten in den vorausgegangenen Volkskammerwahlen den Beitritt so eindeutig in ihr politisches Programm aufgenommen, daß ihre Wahl als Auftrag zur Herbeiführung des Beitritts, nicht aber als Votum für eine Neukonstituierung verstanden werden muß. Auch die vorausgegangene friedliche Revolution war eher auf die konkret erkennbare Verfassung des Grundgesetzes als auf eine künftig erst noch zu schaffende neue Ordnung ausgerichtet; die Menschen in der DDR kämpften um den Schutz durch das Grundgesetz. Die Diskussion um die Fortschreibung des Geltungsvorbehalts im Grundgesetz wurde fast ausschließlich zwischen den Regierungs-und Oppositionsparteien des Deutschen Bundestages geführt. Die größere Oppositionspartei, ohne deren Mitwirken der Einigungsvertrag nicht hätte ratifiziert werden können, forderte das „Offenhalten der Verfassungsfrage“ trotz der Vollendung der staatlichen Einheit; nach der Auffassung der SPD wardas Grundgesetz nur für eine Übergangszeit bestimmt und auch niemals vom deutschen Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt in freier Selbstbestimmung beschlossen worden Während die Logik des Beitritts der DDR zum Grundgesetz, aber auch die äußeren Rahmenbedingungen der Herstellung der staatlichen Einheit für die Obsoletheit und ersatzlose Streichung des Art. 146 GG a. F. sprachen, taucht die ursprünglich als Wiedervereinigungsartikel bezeichnete Vorschrift in der Fassung des Art. 4 Nr. 6 Einigungsvertrag mit verändertem Sinn wieder auf: als ständiger, vom Wiedervereinigungsfall abgelöster Geltungsvorbehalt des Grundgesetzes. 3. Die Stellung des Art. 146 GG n. F.
in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes Trotz der Freiheiten, die mit den Begriffen „Verfassungsablösung“ und „Neukonstituierung“ gewöhnlich verbunden sind, ist festzuhalten, daß Art. 146 GG n. F. Bestandteil der überkommenen Verfassungsordnung des Grundgesetzes bleibt und verfahrensmäßig durch Organe gehandhabt und angewendet wird, die ihre Befugnisse vom Grundgesetz und nicht von einem pouvoir constituant originaire ableiten. Der Verfassungskompromiß des Einigungsvertrages ist eine Verfassungsfrage des Grundgesetzes! Art. 146 GG n. F. als „Überleitungsnorm“ zu einer neuen Verfassung eröffnet weder selbst den Prozeß der Verfassungsablösung, noch enthält er Vorschriften, wie ein solches Verfahren zu eröffnen wäre.
Was das einschlägige Verfahren anbelangt, muß Art. 146 GG n. F. (Art. 4 Nr. 6 Einigungsvertrag) in Verbindung mit Art. 5, Spiegelstrich 4 Einigungsvertrag gebracht werden. Letztere Norm bestimmt, daß die Organe des pouvoir constituant institu^, die „gesetzgebenden Körperschaften“ Bundestag und Bundesrat, sich „mit der Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“ befassen werden.
In eine Überprüfung des Grundgesetzes auf seine Tauglichkeit für das staatlich geeinte Deutschland -einige Problembereiche werden als besonders diskussionswürdig benannt, ohne daß andere ausgeschlossen wären -können die dem Grundgesetz verpflichteten Staatsorgane nur nach Maßgabe des Art. 79 GG eintreten. Diese Vorschrift regelt die Frage, auf welche Weise das Grundgesetz geändert werden kann. Jeder Änderungs-oder Ergänzungsvorschlag des Grundgesetzes in seiner derzeit gültigen Fassung bedarf der Zweidrittelmehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist zudem an die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Insoweit ergibt sich nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gern. Art. 23 Satz 2 GG ein zwingender innerer Zusammenhang zwischen Art. 146 GG und Art. 79 Abs. 2 GG Auch als Überleitungsbestimmung bleibt Art. 146 GG bis zur Eröffnung der Neukonstituierung eine Verfassungsrevisionsnorm, die die Beschränkungen, denen der verfassungsändernde Gesetzgeber (insbesondere in Art. 79 Abs. 3) unterliegt, nicht aufhebt. Der Weg zu der in Art. 146 GG angesprochenen „freien Entscheidung“ des deutschen Volkes führt über den verfassungsändemden Gesetzgeber. Dieses -staatsrechtliche -Ergebnis bestätigt auch der Wortlaut des Art. 5 Einigungsvertrag: Die Frage der „Anwendung des Art. 146 GG“ wird ebenso wie die damit zusammenhängende Frage einer „Volksabstimmung“ ausdrücklich als Frage „zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ bezeichnet.
IV. Bewertung des Art. 146 GG n. F. im Hinblick auf das Überprüfungsverfahren nach Art. 5 Einigungsvertrag
Hinsichtlich der in Art. 5 Einigungsvertrag angesprochenen Überprüfung des Art. 146 GG stehen Bundestag und Bundesrat sowie die von ihnen eingesetzten Verfassungsreform-Kommissionen vor zwei Fragenkomplexen: erstens die Frage nach der Durchführung eines Verfassungsreferendums und zweitens die Frage nach der Streichung des Art. 146 GG. 1. Zum Nutzen eines Verfassungsreferendums -
Die Frage nach der Legitimität des Grundgesetzes Weder Einigungsvertrag noch Art. 146 GG n. F. gebieten, den Weg frei zu machen für ein Verfassungsreferendum. Insoweit besteht für die gesetzgebenden Körperschaften nur ein Prüfungsauftrag. Die rechtspolitische Entscheidung über ein Verfassungsreferendum wird in erster Linie bestimmt von der Antwort auf die Frage, ob das Grundgesetz über eine ausreichende Legitimität im Sinne der modernen demokratischen Verfassungstheorie verfügt. Die Argumente sind im Zusammenhang mit dem Einigungsprozeß aus staatsrechtlicher und politologischer Sicht breit aufgefächert worden und brauchen deshalb nur zusammengefaßt zu werden:
Das Grundgesetz, so wird geltend gemacht, habe nur eine zeitlich begrenzte Ordnung geschaffen. Der Satz in der Präambel a. F. zum Grundgesetz („um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben...“) deutet jedoch nicht auf ein Legitimitätsdefizit. Die Vorschrift korrespondierte mit Art. 146 GG a. F., einem der beiden möglichen Wege zur Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands. Die „Übergangszeit“ wurde 1990 durch eine europäische Friedensordnung („ 2+ 4" -Vertrag) und durch den Beitritt der DDR zum Grundgesetz beendet. Folglich ist auch bei der Neufassung der Präambel durch Art. 4 Nr. 1 Einigungsvertrag die zeitliche Begrenzung gestrichen worden.
Das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 stellte die Grundlage der freien verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Frage. Die historisch-tatsächliche Situation ist jedoch für die Frage nach der aktuellen Legitimation der Verfassungsordnung ohne Bedeutung. Der Parlamentarische Rat ging von der uneingeschränkten verfassunggebenden Gewalt des Volkes aus. Mit der Formulierung in der Präambel (alter wie neuer Fassung) „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ war klargestellt, daß die tatsächlich vorhandenen Beschränkungen der Verfassunggebung per definitionem keine Rolle spielen sollen und auch nicht zum Bedeutungshintergrund der gegenwärtigen Verfassungsordnung gehören können
Als problematisch wird die ursprüngliche plebiszitäre Legitimation des Grundgesetzes angesehen. Das Grundgesetz wurde 1949 nicht aufgrund einer Volksabstimmung in Kraft gesetzt; immerhin wur-de es von den Parlamenten der Länder, die ihrerseits vom Volk gewählt worden waren, angenommen. Wichtiger als die ursprüngliche plebiszitäre Legitimation einer Verfassung ist jedoch ihre fortschreitende Akzeptanz seitens der „später Geborenen“ In über vier Jahrzehnten hat die demokratische Ordnung des Grundgesetzes in zahlreichen Wahlen mit regelmäßig hoher Wahlbeteiligung eine im internationalen und im historischen Vergleich hohe Anerkennung erworben. Das Grundgesetz wird -über die Grenzen der Parteien hinweg -als eine Verfassung angesehen, die nicht nur gut konzipiert wurde, sondern -was wichtiger ist — in der Praxis auch funktioniert.
Auch die Bevölkerung in den neuen Ländern hat sich frei für das Grundgesetz entschieden. Die Volkskammer der DDR war zum Beitrittsbeschluß, wenn nicht formell, so doch demokratisch legitimiert. Ein höheres Maß an Integration der Bevölkerung der ehemaligen DDR ließe sich auch nicht durch eine mittels Plebiszit verabschiedete neue Verfassung erreichen. Obgleich die revolutionären Bewegungen, die sich vor allem im Bündnis 90 zusammengefunden haben, Respekt verdienen, könnte doch die Übernahme ihrer verfassungspolitischen Wünsche eher „desintegrierend“ wirken. 2. Zu den möglichen delegitimierenden Folgen eines Referendums Jedes Verfassungsreferendum, das auf der Rechtsgrundlage des Einigungsvertrags durchzuführen wäre, hat zwangsläufig zur Folge, daß nicht nur über eine Verfassungsordnung entschieden, sondern auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit thematisiert wird. Eine nachträgliche Billigung oder Mißbilligung des Beitritts nach Art. 23 Satz 2 GG a. F.sehen Verfassung und Einigungsvertrag nicht vor; sie widersprächen sowohl der erklärten Intention der Präambel a. F., daß auch •für jene Deutschen gehandelt wurde, denen mitzuwirken versagt war, als auch der eigentlichen Bedeutung des Art. 23 Satz 2 GG a. F., der anderen Teilen Deutschlands eine einseitig wahrzunehmende Option einräumen wollte. Sollte z. B. -wegen der hohen Kosten der Wiedervereinigung und wegen der Gefährdung des eigenen Besitzstandes - die westdeutsche Bevölkerung das Referendum zum Anlaß nehmen, die ostdeutschen Mitbürger wieder auszugrenzen oder mit ihnen „abzurechnen“, so wäre die vom Grundgesetz angestrebte integrative Wirkung in ihr Gegenteil verkehrt.
Es ist weiter eine optimistische Verkennung, von Volksentscheiden zu glauben, sie wirkten ausschließlich legitimitätsverstärkend Fraglos Akzeptiertes kann zerredet, Selbstverständliches in Frage gestellt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn es nichts wesentliches mehr zu entscheiden gibt, der Entscheid eine reine Akklamationsübung wird. Eine nur mäßige Beteiligung am Verfassungsreferendum führt zu Peinlichkeiten; die demoskopische Ausdeutung des Wählerverhaltens könnte nicht nur politische Parteien, sondern auch die Verfassung selbst auf die Anklagebank rücken. Es ist zweifelhaft, ob nach einer plebiszitären Auseinandersetzung das Grundgesetz noch vorbehaltlos als „Glücksfall der Geschichte -zumal der deutschen“ bezeichnet wird. 3. Zur ersatzlosen Streichung des Art. 146 GGn. F.
Art. 146 GG n. F. enthält nicht verfassungswidriges Verfassungsrecht; er kann — wie dargelegt -gemäß den Leitlinien, die in Art. 5 Einigungsvertrag Ausdruck gefunden haben, verfassungskonform, d. h. in Einklang mit Art. 79 GG interpretiert werden. Dennoch sollte Art. 146 GG n. F. ersatzlos gestrichen werden. Bei verfassungskonformer Auslegung hat Art. 146 GG neben Art. 79 GG keinen spezifischen Anwendungsbereich. Die mit der Vorschrift ursprünglich untrennbar verbundene Komponente der Wiedervereinigung ist wegen des historischen Beitritts der DDR zum Grundgesetz gern. Art. 23 Satz 2 überholt. Im Gegensatz zur „Totalrevision“ schweizerischer Prägung ist der Art. 146 GG keine echte Überleitungsnorm zu einer neuen Verfassung, da er die Eröffnung des Ablösungsverfahrens nicht eigenständig regelt. Der Aussagegehalt der Norm reduziert sich damit auf die verfassungsrechtliche Klarstellung einer „Binsenweisheit“ der allgemeinen Staatslehre: die alte Verfassung tritt mit dem Erlaß einer neuen außer Kraft. In der verfassungsrechtlichen „Normallage“ sind derartige Hinweise unüblich und unnötig. Der zeitlich und gegenständlich nicht eingegrenzte Hinweis auf eine mögliche Verfassungsablösung ist verfassungspolitisch schädlich, weil er den Schutz, den der Verfassungsstaat für sich in Anspruch nehmen darf, relativiert.