Die Rolle, die Frankreich im zweiten Golfkrieg spielte, hat unter Franzosen erneut die Diskussion über die Frage entfacht, ob ihr Land noch eine Groß-oder lediglich eine Mittelmacht sei. Bei einer Umfrage im Februar 1991 meinten 72 Prozent der Befragten, Frankreich sei eine Großmacht Führende Spezialisten der französischen Außenpolitik vertraten die gegenteilige Ansicht. So meinte der stellvertretende Leiter des Institut Franjais des Relations Internationales (IFRI), Dominique Moise, Frankreich sei seit seiner militärischen Niederlage von 1940 keine Großmacht mehr. Trotz seiner weltpolitischen Position und dem beharrenden Stolz auf seine Statussymbole (Atomwaffen, ständiger Sitz im Weltsicherheits-rat, überseeisches Stützpunkt-, Bündnis-und Klientelsystem) sei es lediglich eine „mittlere Macht“ wie Großbritannien oder Deutschland
Die Diskussion über Frankreichs Status als Groß-oder Mittelmacht ist nicht neu. Sie flammt immer wieder dann auf, wenn sich bei internationalen Konflikten die Grenzen französischer Macht zeigen, wie etwa 1956 während der Suezkrise oder während der achtziger Jahre anläßlich der erfolglosen Interventionen im Tschad und im Libanon. Die Ursache dieser Dauerdiskussion liegt in der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der französischen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg
I. Der Großmachtanspruch
Der Großmachtanspruch Frankreichs beruht mental und ideologisch auf dem durch Geschichte, Sprache, Kultur und Geographie geprägten nationalen Selbstverständnis, politisch auf dem Status als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges (und bis 1990 als Besatzungs-bzw. Schutzmacht in Deutschland) sowie als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, diplomatisch auf den engen Beziehungen zu vielen Staaten der Dritten Welt, militärisch auf dem Besitz von Atomwaffen sowie weltweiten Eingreifkapazitäten und den Bündnisverträgen mit den frankophonen Staaten Schwarzafrikas, geostrategisch auf der zentralen Lage in Westeuropa sowie dem Besitz überseeischer Territorien und Departements in der Karibik, im Atlantik und im Pazifik, wirtschaftlich auf seiner Währung, seinen Spitzentechnologien und seinen Wachstumsindustrien, kulturell auf seiner nicht zuletzt sprachlichen Ausstrahlungskraft und engen Bindungen zu den frankophonen Staaten
Unter diesen Faktoren ist das nationale Selbstverständnis subjektiv der wichtigste. Aufgrund dieses Selbstverständnisses betrachten sich die Franzosen mehrheitlich noch immer als „Grande Nation“, die eine weltweite Mission zu erfüllen habe und der ein Platz unter den Großen dieser Welt gebühre Sie leiten von diesem Selbstverständnis ein Mitspracherecht bei der Regelung internationaler Konflikte (z. B.des Palästinakonfliktes im Nahen Osten) sowie einen Führungsanspruch in der Europäischen Gemeinschaft ab
Der Großmachtanspruch und das Sendungsbewußtsein sind bereits im 19. Jahrhundert eine enge Verbindung mit dem Sicherheitsstreben eingegangen. Solange Frankreich eine „echte“ Großmacht war (zu Zeiten Ludwigs XIV. bis Napoleon L), besaß es auf dem europäischen Kontinent nicht nur die Vormacht, sondern konnte auch seine Sicherheit mit eigenen Mitteln garantieren. Seit der Niederlage in den Napoleonischen Kriegen (1815) hat es mit der europäischen Präponderanz auch die Fähigkeit verloren, seine Sicherheit mit eigenen Mitteln zu wahren. 1870/71 wurde es von Preußen, 1940 von Deutschland besiegt, im Ersten Welt- krieg vermochte es sich nur dank der Unterstützung durch eine weltweite Koalition zu behaupten, und den Zweiten Weltkrieg überlebte es als freies Land nur aufgrund des Sieges seiner Verbündeten. Die Erinnerung an diese historische Erfahrung, die über das Erziehungssystem und den politischen Diskurs wachgehalten wird, hat sich tief in das kollektive Bewußtsein eingeprägt
Daraus resultiert die enge Verbindung des Strebens nach Sicherheit, europäischer Führung und Weltgeltung. Sie bildete ein wichtiges Motiv beim Aufbau des 2. Kolonialreiches im 19. Jahrhundert, der Bildung des kontinentalen Sicherheitssystems in der Zwischenkriegszeit und der Entwicklung der Atomstreitmacht in den sechziger Jahren. Sie erklärt heute den breiten außenpolitischen Konsens zwischen allen relevanten politischen Kräften des Landes, von den Kommunisten bis zu den Nationalisten. Der französische Großmachtanspruch ist daher nicht ein Ausdruck von Realitätsblindheit oder chauvinistischer Verblendung, sondern das Ergebnis historischer Erfahrung. Er bildet eine tiefverwurzelte Triebkraft der französischen Politik
II. Der gegenwärtige Status: Schein und Wirklichkeit
Dem ausländischen Beobachter, der nicht das französische Selbstverständnis teilt, stellt sich die internationale Lage Frankreichs jedoch etwas anders dar. Trotz erheblicher Anstrengungen und beachtlicher Erfolge ist es Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gelungen, seinen relativen Machtverlust voll auszugleichen und wieder eine „echte“ Großmacht zu werden. Es ist daher heute wie Großbritannien im Vergleich zu den atomaren Weltmächten USA und UdSSR eine atomare Mittelmacht mit weltweiten Interessen und Kapazitäten 1. Die Nachkriegssituation Frankreich gehört zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, aber es verdankt diese Position nicht etwa wie im Ersten Weltkrieg primär eigenen militärischen Anstrengungen, sondern dem machtpolitischen Kalkül der drei Weltmächte von 1944/45, d. h.den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion. Vor allem Großbritannien, aber auch die Vereinigten Staaten wollten ein starkes Frankreich als Gegengewicht gegen die Sowjetunion in Europa und als zusätzliche Garantie gegen ein eventuelles Wiederaufleben der deutschen Großmacht. Sie verlangten deshalb von der Sowjetunion erfolgreich die Zustimmung zur Beteiligung Frankreichs an der Besetzung Deutschlands und an der Aufnahme in den Kreis der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates. An den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam, auf denen die Weichen für die Nachkriegsentwicklung gestellt wurden, nahm Frankreich jedoch nicht teil. Es war daher nicht wie nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar an der Gestaltung der Nachkriegsordnung beteiligt Als Besatzungsmacht in Deutschland konnte es zwar die Entwicklung der deutschen Verhältnisse beeinflussen, aber die zentralen Entscheidungen der Deutschland-politik Helen in Washington und in Moskau, nicht in Paris
Auch die ständige Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat verschaffte Frankreich keinen bestimmenden Einfluß in der Weltpolitik. Seine europäische Interessenlage erforderte während des Kalten Krieges eine enge Anlehnung an die Vereinigten Staaten und Großbritannien. An eine autonome Weltpolitik war nicht zu denken. In Europa war Frankreich infolge des Ost-West-Konfliktes auf den Schutz der Vereinigten Staaten und der übrigen westeuropäischen Demokratien angewiesen. Es trat daher 1949 der NATO bei und verzichtete so auf eine autonome Sicherheitspolitik. Die Erneuerung seines kontinentaleuropäischen Bündnissystems, auf dem in der Zwischenkriegszeit seine Sicherheit und seine europäische Vormachtstellung beruhte, war nicht möglich, denn seine früheren ostmitteleuropäischen Verbündeten, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien, waren 1944/45 unter sowjetischen bzw. kommunistischen Einfluß gefallen und kamen als Bündnis-partner daher nicht mehr in Frage. Lediglich in seinem überseeischen Kolonialreich konnte Frankreich seine frühere Machtstellung kurzfristig erneuern. Im Zuge der Entkolonisierung mußte es sich jedoch trotz heftiger Gegenwehr (Indochina-und Algerienkrieg) aus seinen Kolonien zurückziehen. Es verlor im Laufe der fünfziger Jahre auch seinen Status als Kolonialmacht 2. Die gegenwärtigen Macht-und Einflußchancen Frankreich ist es jedoch teilweise gelungen, die alten Bindungen in neuer Form aufrechtzuerhalten. Seine ehemaligen Kolonien in Schwarzafrika band es wirtschaftlich, finanziell, militärisch und kulturell durch die Schaffung der Franc-Zone sowie durch bilaterale Kooperations-, Verteidigungsund Militärabkommen an sich. Die Franc-Zone garantiert den Mitgliedstaaten eine feste Währungsparität und erlaubt es Frankreich, die Finanz-und Währungspolitik seiner ehemaligen Kolonien zu beeinflussen. Die bilateralen Verträge sichern Frankreich den beherrschenden Einfluß auf die Wirtschaft, die Kultur und die Verteidigung seiner Klienten und ermöglichen ihm ein militärisches Eingreifen in lokale Konflikte. Seine Handlungsfähigkeit wird jedoch dabei durch die Abhängigkeit von den Interessen und Launen der einheimischen Machthaber, den Ambitionen von Regionalmächten und den Strategien der Weltmächte eingeschränkt
Die einheimischen Eliten benutzen die Zusammenarbeit mit der früheren Kolonialmacht zur Absicherung ihrer Machtpositionen. Dadurch gerät Frankreich in Gegensatz zu den autochthonen Oppositionsbewegungen, die so oft zum Vorkämpfer antifranzösischer Positionen werden. Außerdem wird es häufig in interne Machtkämpfe verwikkelt die es zur militärischen Intervention zwingen. Wenn Regionalmächte in diese internen Machtkämpfe eingreifen, wie z. B. Libyen Anfang der achtziger Jahre im Tschad, dann muß es entweder sein Engagement verstärken oder aber sich aus dem Krisengebiet zurückziehen. Eine Verstärkung des Engagements droht zu Konflikten mit den Weltmächten zu führen, da diese häufig direkt oder indirekt die Regionalmächte unterstützen (so die Sowjetunion durch Waffenlieferungen an Libyen). Ein Rückzug aus dem Konfliktgebiet bedeutet dagegen einen Verzicht auf direkte Einflußnahme und damit auf eine wirkungsvolle Interessenwahrung. Frankreich muß daher beim Einsatz seiner militärischen Machtmittel im frankophonen Schwarzafrika sehr umsichtig vorgehen. Diese Notwendigkeit setzt seinen Interventionsmöglichkeiten enge Grenzen
Auch mit seinen ehemaligen Kolonien im arabischen Nordafrika (Tunesien, Algerien, Marokko) schloß Frankreich nach deren Unabhängigkeit Kooperationsverträge. Allerdings gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ihnen wesentlich schwieriger als mit den ehemaligen Kolonien in Schwarzafrika. Zum einen war die Hypothek der Kolonialzeit wesentlich größer, zum anderen besitzen ihre Bewohner ein ausgeprägtes kulturelles und religiöses Eigenbewußtsein. Dies gilt besonders für Algerien, das seine Unabhängigkeit erst nach einem langen, blutigen Krieg (1954-1962) erlangte Die Kooperation beschränkt sich im wesentlichen auf den wirtschaftlichen Bereich. Hier allerdings sind die Austauschbedingungen erheblich umfangreicher als mit Schwarzafrika, da die Wirtschaftskraft der nordafrikanischen Staaten wesentlich größer ist als die der schwarzafrikanischen So verfügt Algerien über reiche Erdöl-und Erdgas-vorkommen, Marokko über große Phosphatlager. Während sich die Wirtschaftsbeziehungen mit den nordafrikanischen Staaten seit deren Unabhängigkeit verstärkt haben, wurden die kulturellen schwächer. Unter dem Druck des arabischen Nationalismus und des islamischen Fundamentalismus vollzog bzw. vollzieht sich besonders in Algerien die Arabisierung des Erziehungssystems und des geistigen Lebens. Außerdem breitet sich der amerikanische Einfluß und damit auch die englische Sprache rasch aus. Der kulturelle Einfluß Frankreichs geht daher in Nordafrika zurück
Frankreich beschränkte sich jedoch in Übersee nicht nur darauf, alte Positionen zu behaupten und eventuell auszubauen, sondern bemühte sich auch, neuen Einfluß außerhalb seines ehemaligen Kolonialgebietes zu gewinnen. Dabei konzentrierte es seine Anstrengungen auf Lateinamerika und die arabische Welt. Mit beiden Regionen ist es histo- risch eng verbunden, mit Lateinamerika vor allem kulturell, mit der arabischen Welt auch wirtschaftlich, politisch und militärisch. In beiden Regionen trifft es jedoch auf eine stark verwurzelte britische bzw. amerikanische Präsenz. Letztere erwies sich im Falle Lateinamerikas als übermächtig. De Gaulles triumphale Reise durch Mittel-und Südamerika hinterließ daher politisch und wirtschaftlich wenig Spuren
In der arabischen Welt war Frankreich dagegen erfolgreicher. Es bot den arabischen Staaten wirtschaftliche, technologische, diplomatische und militärische Zusammenarbeit an, empfahl sich als Treuhänder ihrer Interessen in den Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und der westlichen Welt sowie als politisch-kulturelle Alternative zu beiden Supermächten. Seine „arabische Politik“ scheiterte jedoch in den achtziger Jahren an den ethnischen, religiösen, staatlichen und nationalen Gegensätzen der Region sowie an seinem begrenzten wirtschaftlichen und militärischen Potential. So geriet Frankreich im libanesi, sehen Bürgerkrieg zwischen die Fronten, kollidierte im Tschad mit libyschen Interessen und zog sich im ersten Golfkrieg (1980-1988) durch die Unterstützung des Irak nicht nur die Feindschaft des Iran und der islamischen Fundamentalisten, sondern auch die Gegnerschaft Saudi-Arabiens, der Golfscheichtümer und Ägyptens zu. Im zweiten Golfkrieg (1991) gewann es durch seine Unterstützung der anti-irakischen Koalition wieder an Einfluß in Ägypten, Saudi-Arabien und den Golfstaaten, verlor aber seine privilegierten Beziehungen zum Irak. Seine Rolle in der arabischen Welt ist daher heute eher bescheiden
Während Frankreich in der Dritten Welt versuchte, alte Bindungen zu erhalten bzw. neue zu schaffen, suchte es in Europa die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn in bi-und multilateralen Strukturen. Es ergriff die Initiative zur westeuropäischen Integration und bemühte sich um eine Verständigung mit der Bundesrepublik Deutschland. Es sicherte sich so eine führende Position innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und gewann einen zuverlässigen Verbündeten. Seine westeuropäische Führungsposition ist allerdings keine Hegemonie. Frankreich ist wie alle seine Partner in ein System gegenseitiger Abhängigkeiten eingebunden und kann daher seine Interessen nur einvernehmlich durchsetzen. Auch im deutsch-französischen Zweierverhältnis ist es nicht (mehr) die Vormacht Seine politische und militärische Überlegenheit wird heute durch das wirtschaftliche und demographische Gewicht Deutschlands ausgeglichen. Infolge der deutschen Wiedervereinigung werden sich die wirtschaftlichen Gewichte wahrscheinlich noch weiter zugunsten der deutschen Seite verschieben, wenn erst einmal die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft abgeschlossen ist. Wie groß der französische Einfluß einmal sein wird, falls eines Tages auch noch die ostmitteleuropäischen Staaten der EG beitreten, läßt sich heute noch nicht sagen. Auf alle Fälle wird er nicht dominieren.
Frankreich ist es gelungen, seine europäischen Interessen eng mit seinen afrikanischen zu verbinden. So vermochte es z. B. durch die Assoziierung seiner ehemaligen schwarzafrikanischen Kolonien mit der EG, deren Wirtschaftskraft in den Dienst seiner Afrikapolitik zu stellen. Das bedeutet jedoch nicht, daß es die Afrikapolitik der EG bestimmte. Gewiß war sein Einfluß auf diese groß, aber auch hier mußte es die Zustimmung seiner Partner suchen. Seit dem britischen EG-Beitritt ist dies nicht einfacher geworden
III. Das militärische Potential
Die militärische Grundlage der französischen Machtstellung bildet die Autonomie der Verteidigung. Diese beruht auf dem Besitz von Atomwaf-fen. Mit deren Entwicklung begann bereits die IV. Republik nach der französisch-britischen Niederlage im Suezkonflikt 1956, um eine erneute atomare Erpressung durch die Weltmächte zu vermeiden. Auf-und ausgebaut zu einer operationellen Streitmacht wurde sie aber erst durch de Gaulle und dessen Nachfolgern. Unter de Gaulle sollte sie einerseits die Sicherheit des Mutterlandes „nach allen Himmelsrichtungen“ garantieren, andererseits die überseeischen Besitzungen und Einflußgebiete vor ausländischen Interventionen abschirmen. Seine Nachfolger gaben das Konzept der atomaren Rundumverteidigung auf, hielten jedoch an dieser Doppelfunktion fest, die aber nur bedingt erfüllt wurde. Sie ist primär eine politische Waffe, keine militärische, da ihr Einsatz gegen eine andere Atommacht das physische Ende Frankreichs bedeuten könnte. Sie erhöht das internationale Prestige Frankreichs und erweitert seinen außenpolitischen Handlungsspielraum, aber sie schafft nicht die Unabhängigkeit der nationalen Verteidigung, d. h. die Fähigkeit, die nationale Sicherheit gegen jeden potentiellen Gegner mit eigenen Mitteln zu garantieren. Frankreich ist trotz seiner atomaren Waffen weiterhin auf den konventionellen Schutz der NATO und die atomare Rückendeckung der Vereinigten Staaten angewiesen. Daran hat (zumindest vorläufig) die grundlegende Veränderung der internationalen Machtverhältnisse und der geostrategischen Situation in Europa durch den Zusammenbruch der sowjetischen Machtposition nichts geändert Die sowjetische Bedrohung ist zwar verschwunden, aber Rußland bleibt eine Weltmacht, sei es nun innerhalb oder außerhalb einer erneuerten euro-asiatischen Union.
Seine Atomwaffen verleihen Frankreich jedoch innerhalb der NATO einen Sonderstatus, da sie es ihm ermöglichen, einem potentiellen Angreifer mit dem atomaren Gegenschlag zu drohen und so die Gesamtstrategie der westlichen Allianz zu beeinflussen. Sie stärken damit die französischen Einflußmöglichkeiten innerhalb des atlantischen Bündnisses. Sie erhöhen aber auch seine Entscheidungsfreiheit, denn es ist nicht automatisch an die Beschlüsse der westlichen Militärorganisation gebunden. Damit erweitern sie seinen außenpolitischen Handlungsspielraum in Konfliktfällen. Nur Frankreich selbst bestimmt, ob, wann und wie es seine Atomwaffen einsetzt.
Die Atomwaffen sichern Frankreich ferner im deutsch-französischen Verhältnis die militärische Überlegenheit und gleichen damit teilweise seine wirtschaftliche Unterlegenheit aus. Sie erhöhen außerdem gegenüber Deutschland den französischen Bündniswert. Frankreich kann zwar den atomaren Schutz der Vereinigten Staaten nicht ersetzen, aber doch einen zusätzlichen atomaren Schutz bieten. Dies ist besonders dann wichtig, wenn die Vereinigten Staaten zögern sollten, ihr atomares Potential zur Verteidigung der Bundesrepublik einzusetzen. Die Atomwaffen bilden aber auch eine Rückversicherung für den Fall eines Wiederauflebens des deutsch-französischen Antagonismus. Die Hades-Raketen, die Frankreich nach dem Rückzug seiner Truppen aus Deutschland im Elsaß aufstellen will, reichen gerade bis München und Berlin. Eine unmißverständliche Warnung nicht nur für potentielle Angreifer aus der russischen Steppe.
Außerhalb Europas und der Atlantischen Allianz sind die französischen Atomwaffen jedoch „stumpf“, wie der Golfkonflikt erneut gezeigt hat. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen in sekundären Konflikten der Dritten Welt ist unglaubwürdig, da sie aus politischen und moralischen Gründen nicht ausgeführt werden kann. Lediglich wenn der Gegner ebenfalls über Massenvernichtungswaffen verfügt -seien sie nun chemischer, bakteriologischer oder atomarer Art -, könnte eine Drohung mit der atomaren Kriegsführung diesen von deren Gebrauch abhalten, wie dies wahrscheinlich im zweiten Golfkrieg der Fall war. Gegenüber konventionell ausgerüsteten Gegnern in der Dritten Welt braucht Frankreich jedoch andere Mittel, um seine Interessen wirkungsvoll durchsetzen zu können. Es schuf deshalb schnelle Eingreiftruppen, die ihm die militärische Intervention in überseeische Konflikte erlauben sollen. Damit zeigt es, daß es fähig und willens ist, auch außerhalb Europas als selbständige Macht zu handeln
Der’ Aufbau und der Unterhalt der atomaren Streitkräfte geht jedoch auf Kosten der konventionellen, denn die wirtschaftlichen Ressourcen Frankreichs reichen nicht für eine gleichgewichtige atomare und konventionelle Rüstung. Darunter leidet nicht nur die konventionelle Verteidigungsfähigkeit in Europa, sondern auch die Interventionsfähigkeit in Übersee.
Dies wurde erneut während des Golfkrieges deutlich: Frankreich gelang es nur mit großer Mühe, 10000 Mann, 40 Panzer, 36 Flugzeuge und 14 Schiffe zu mobilisieren. Vor Ort waren die französischen Streitkräfte auf die logistische Unterstützung und die elektronische Aufklärung ihrer Verbündeten angewiesen. Ohne die amerikanische Optronik waren die französischen Flugzeuge blind Die Professionalität der Soldaten und die Effizienz der Führung verschleierten zwar vor den französischen Fernsehzuschauern die Schwäche des französischen Engagements, vermochten sie aber nicht zu kompensieren. Neben dem amerikanischen Riesen war Frankreich ein Zwerg. Sein Expeditionskorps spielte in der arabischen Wüste die Rolle einer Hilfstruppe, die den Flankenschutzder alliierten Truppen übernahm. Dies bestätigte Erkenntnis, daß Frankreich heute nicht mehr über ausreichende Kapazitäten für eine konventiodie Kriegsführung außerhalb Europas verfügt
IV. Die Haltung der politischen Klasse
Die politische Klasse Frankreichs ist sich mehrheitlich der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der französischen Außenpolitik bewußt. Trotzdem hält sie am Großmachtanspruch fest und versucht, ihn durchzusetzen. Ihre internen Differenzen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. De Gaulle und Mitterrand waren innenpolitisch erbitterte Gegner, außenpolitisch stimmten sie aber in den Grundzielen überein
Die außenpolitische Grundhaltung der politischen Klasse beruht einerseits auf kulturellen Mustern und innenpolitischen Motiven, andererseits auf gesellschaftlichen Interessen und außenpolitischen Zwängen. Zu den kulturellen Mustern gehört das nationale Selbstverständnis, zu den innenpolitischen Motiven der Wille zur Machteroberung bzw. zur Machtbehauptung. Die politische Klasse teilt mehrheitlich das nationale Selbstverständnis der Bevölkerung. Sie ist wie diese überzeugt, daß Frankreich noch immer zu den großen Mächten dieser Welt gehört, auch wenn seine ökonomische Leistungsfähigkeit und militärische Macht bei weitem nicht an die der Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion heranreichen. Die Reden und Schriften Mitterrands legen davon ein beredtes Zeugnis ab
Die politische Klasse benutzt aber auch ganz bewußt den Großmachtanspruch, um ihre außenpolitischen Aktionen zu legitimieren. So rechtfertigte Mitterrand die französische Teilnahme am zweiten Golfkrieg mit dem Argument, Frankreich müsse seinen „Rang“, d. h.seinen Status als Großmacht wahren Er tat dies in der Überzeugung, daß viele Wähler auf einen nationalen Diskurs positiv reagieren. Er ist dazu unter den Bedingungen der demokratischen Parteienkonkurrenz jedoch auch gezwungen. Würde er auf den Großmachtanspruch verzichten, bestünde die Gefahr, daß die Sozialisten einen Teil der Wähler an die nationalistische Rechte verlören. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse könnte dies zum Verlust der Macht führen.
Die außenpolitische Haltung der politischen Klasse wird jedoch nicht nur von kulturellen Vorstellungen und innenpolitischen Motiven, sondern ebenfalls von gesellschaftlichen Interessen und politischen Notwendigkeiten bestimmt. Trotz des starken Modernisierungsschubes der französischen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg bedürfen einzelne Wirtschaftszweige noch immer geschützter Märkte sowie staatlicher Exportförderung. Letzteres gilt ganz besonders für die Rüstungsindustrie. Diese muß aus Rentabilitätsgründen einen erheblichen Teil ihrer Produktion exportieren. Infolge der starken internationalen Konkurrenz vermag sie dies jedoch nur mit staatlicher Hilfe.
Der Staat fördert den Rüstungsexport durch Militärabkommen etc. aus politischen, militärischen und ökonomischen Gründen. Rüstungsexporte in die Länder der Dritten Welt stärken dort seinen politischen Einfluß. Sie garantieren die Rentabilität der französischen Rüstungsindustrie und ermöglichen so die Ausrüstung der französischen Streitkräfte mit französischen Rüstungsgütern zu bezahlbaren Preisen. Dadurch sichern sie die Autonomie der nationalen Verteidigung, auf der Frankreichs Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit militärisch beruht. Schließlich schaffen bzw. erhalten sie Arbeitsplätze und tragen so zur sozialen Absicherung des politischen Systems bei. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen Rüstungsexport, außenpolitischer Einflußnahme, nationaler Verteidigung und innenpolitischer Herrschaftssicherung. Ähnliche Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik bestehen auch in anderen Bereichen, etwa zwischen der Landwirtschaft und der Europapolitik (EG) oder der Mineralölwirtschaft und der „arabischen Politik“, wenngleich nicht in der gleichen Intensität. Es wäre daher völlig falsch, würde man das französische Großmachtstreben auf ökonomische Motive reduzieren. Wohl aber ist die Interdependenz zwischen ökonomischen Interessen und außenpolitischen Zielsetzungen evident Unter dem Druck innergesellschaftlicher und internationaler Entwicklungen (Modernisierung, Ost-West-Konflikt, Entkolonisierung) sah sich Frankreich (ähnlich wie Großbritannien) gezwungen, seine Außen-und Verteidigungspolitik seinen wirtschaftlichen und militärischen Kapazitäten anzupassen. So trat es 1949 der NATO bei und akzeptierte die deutsche Wiederbewaffnung, weil es allein seine Sicherheit nicht mehr garantieren konnte, und zog sich seit der Mitte der fünfziger Jahre aus seinen Kolonien zurück, weil es nicht mehr die Kraft und den Willen besaß, seine direkte Herrschaft über die Kolonien aufrechtzuerhalten
De Gaulle hat in den sechziger Jahren diesen Anpassungsprozeß teilweise verzögert, aber keineswegs gestoppt. Er orientierte sich an einer „gewissen Idee von Frankreich“, deren zentrale Bestandteile Unabhängigkeit, Größe und Entscheidungsfreiheit waren und versuchte, sie unter den Bedingungen der sechziger Jahre durchzusetzen. Dadurch änderten sich die Mittel und Methoden der französischen Außenpolitik, nicht aber deren grundsätzliche Ziele In der Verteidigungs-und Europapolitik wurde die Integration durch die Kooperation, in der Überseepolitik direkte Herrschaft durch indirekte Einflußnahme ersetzt. Die Betonung der nationalen Interessen verdrängte die Berufung auf die westlichen Gemeinsamkeiten. So blockierte de Gaulle den politischen Institutionalisierungsprozeß der EWG und verließ die integrierte Militärorganisation der NATO, intensivierte jedoch gleichzeitig die bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und suchte die Verständigung mit den osteuropäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion. Er schloß bilaterale Bündnis-und Kooperationsverträge mit den ehemaligen französischen Kolonien in Schwarzafrika und bemühte sich um die Stärkung des französischen Einflusses in der arabischen Welt, in Lateinamerika und in Südostasien. Dabei beschwor er die Unabhängigkeit und Größe Frankreichs und polemisierte gegen die „beiden Hegemonien, die sich die Welt teilen“. Die Revision der „Ordnung von Jalta“ wurde -wie einst die der Friedensverträge von 1815 unter Napoleon III. -zum Leitmotiv der französischen Politik
Die Unterschiede zur Außenpolitik seiner Vorgänger waren jedoch in der Praxis wesentlich geringer als in der Theorie. De Gaulle war zwar gegen die europäische Integration und verweigerte Großbritannien den Beitritt zur Gemeinschaft, erfüllte jedoch die von der IV. Republik geschlossenen Europäischen Verträge und ermöglichte so einen wirtschaftlichen Integrationsprozeß, der seiner nationalen Unabhängigkeitspolitik allmählich die materiellen Grundlagen entzog. Seine nationale Rhetorik verschleierte zwar diesen Sachverhalt, hat ihn jedoch nicht verhindert. De Gaulle bewirkte daher langfristig keine grundlegende Umkehr der französischen Europapolitik
Ähnliches gilt für die übrigen Bereiche der französischen Außenpolitik. Frankreich trat zwar aus der integrierten Militärstruktur der NATO aus und verwies die Amerikaner des Landes, blieb jedoch in der Atlantischen Allianz und setzte die militärische Kooperation mit den Verbündeten auf bilateraler Ebene fort. De Gaulle umwarb die Sowjetunion und beschwor die alten russisch-französischen Gemeinsamkeiten, machte jedoch der sowjetischen Führung in zentralen Fragen wie etwa der Anerkennung der DDR keinerlei Konzessionen. Er polemisierte gegen die (angebliche) „Teilung der Welt“ in Jalta und ermunterte die Nationalisten in Ost und West, respektierte jedoch die Grundstrukturen der Weltordnung, schon weil ihm die Mittel fehlten, sie zu verändern. Hinter seinen hehren Worten von Unabhängigkeit und Größe, von Prestige und Rang verbarg sich oft eine pragmatische Anpassung an die realen Machtverhältnisse und weltpolitischen Entwicklungen, die er niemals aus dem Auge verlor. Sein Diskurs erweckte den Anschein von unbeugsamer Kompromißlosigkeit, sein praktisches Handeln aber zeugte von großer Flexibilität. Emst Weisenfeld hat ihn daher treffend als „Magier im Elysepalast" bezeichnet
De Gaulles Nachfolger haben im wesentlichen dessen Außen-und Sicherheitspolitik fortgesetzt, diese aber verstärkt den machtpolitischen Realitäten angepaßt. Ihr Diskurs hat allerdings häufig diese Anpassung verschleiert. In der Öffentlichkeit entstand daher der Eindruck, Frankreich verfolge eine prinzipienfeste, aber unbewegliche Politik, die sich mehr an der Vergangenheit als an der Gegenwart oder gar der Zukunft orientiere. Paradigmatisch für diese Verhaltensweise ist die Reaktion Mitterrands auf die deutsche Vereinigung.
V. Frankreich und der deutsche Vereinigungsprozeß
Der deutsche Wiedervereinigungsprozeß der Jahre 1989/90 stellte Frankreich vor ein Dilemma, denn er zwang es, zwischen der Verteidigung des Status quo und der Anpassung an die europäische Entwicklung zu wählen. Der Status quo bildete seit dem Fehlschlag der gaullistischen Ostpolitik die Grundlage der französischen Außen-und Sicherheitsinteressen Er beruhte machtpolitisch auf der Spaltung Deutschlands. Diese ermöglichte die Westintegration der Bundesrepublik und verhinderte so die Erneuerung eines selbständigen deutschen Nationalstaates, und sie begünstigte die Entwicklung der deutsch-französischen Kooperation, die Frankreich die führende Rolle in den Europäischen Gemeinschaften sicherte und seinen Handlungsspielraum gegenüber den Weltmächten erweiterte
Die Existenz zweier deutscher Staaten sowie deren Einbindung in das westliche bzw. das östliche Bündnissystem bildete somit eine der wichtigsten Voraussetzungen des französischen Großmachtstrebens und wurde deshalb zur Grundlage der französischen Deutschlandpolitik Frankreich reagierte daher allergisch auf alle Entwicklungen, die diese in Frage zu stellen schienen, wie etwa die deutsche Ostpolitik der siebziger oder die Friedensbewegung der achtziger Jahre, denn es fürchtete, diese könnten zur „Finnlandisierung", d. h. zur Neutralisierung Deutschlands und damit zur Erneuerung eines ungebundenen deutschen Machtzentrums führen
Die politische Klasse und die Öffentlichkeit Frankreichs gewöhnten sich mehrheitlich rasch an die deutsche Teilung. Seit den sechziger Jahren mehrten sich die Stimmen, die in der Zwei-bzw. Mehr-staatlichkeit Deutschlands den Normalfall der deutschen Geschichte, im Nationalstaat aber die Ausnahme sahen Deutschland reduzierte sich im französischen Bewußtsein mehr und mehr auf die (alte) Bundesrepublik so wie es sich bereits nach der Reichsgründung von 1871 auf das Deutsche Reich, d. h.den kleindeutschen Nationalstaat reduziert hatte. Die DDR wurde zwar auch zur Kenntnis genommen, schließlich völkerrechtlich anerkannt und am Ende sogar umworben, aber nicht als Teil Deutschlands betrachtet, sondern als ein integraler Bestandteil des Ostblocks
Die zunächst stillschweigende, dann bewußte Hinnahme der deutschen Teilung stand im Widerspruch zur grundsätzlichen Bejahung des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Dies stellte solange kein Problem dar, wie die machtpolitischen Realitäten der europäischen Ordnung eine staatliche Wiedervereinigung Deutschlands als unrealistisch erscheinen ließen. Politische Akzeptanz der Teilung und verbale Bejahung der Einheit koexistierten unverbunden. Erst als der Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft über Ostmitteleuropa die machtpolitischen Realitäten der europäischen Ordnung grundlegend veränderte, schlug die Stunde der Wahrheit. Auch Frankreich mußte nun zwischen hehren Prinzipien und nationalen Interessen wählen Darauf war es jedoch nicht vorbereitet. Es reagierte daher zunächst entsprechend dem Muster seiner bisherigen Deutschlandpolitik. Deren zentrales Ziel war unter Mitterrand die Wahrung des europäischen Gleichgewichtes Dieses wurde durch die Destabilisierung der DDR und dem sich aus ihr ergebenden deutschen Vereinigungsprozeß bedroht. Die Erneuerung eines souveränen deutschen Nationalstaates würde das Kräfteverhältnis nicht nur innerhalb der EG, sondern auch im übrigen Europa grundlegend verändern. Sie mußte daher aus französischer Sicht verhindert werden
Eine integrale Verteidigung des Status quo war jedoch nicht möglich. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bildet seit der Französischen Revolution einen festen Bestandteil des französischen Selbstverständnisses Dieses den Deutschen zu verweigern, hätte daher gegen die normativen Grundlagen der französischen Außenpolitik verstoßen. Sie war jedoch auch mit der deutsch-fran- zösischen Partnerschaft unvereinbar, da die deutsche Bundesregierung sich aktiv für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der DDR-Bevölkerung einsetzte. Frankreich sah sich sowohl aus normativen als auch aus politischen Gründen gezwungen, das deutsche Streben nach staatlicher Einheit zu unterstützen. Mitterrand erkannte diese Notwendigkeit und paßte ihr seine Deutschlandpolitik, wenn auch zögernd, schrittweise an
Mitterrand bemühte sich zunächst im Herbst 1989, die deutsche Entwicklung unter Kontrolle zu bekommen, um zu verhindern, daß sie die europäische Ordnung zerstörte. In mehreren Reden und Interviews bezeichnete er das Streben der Deutschen nach staatlicher Einheit als legitim, erinnerte jedoch nachdrücklich an die Rechte der Siegermächte gegenüber ganz Deutschland. Die Deutschen könnten ihr Selbstbestimmungsrecht nur im Einvernehmen mit den Siegermächten ausüben. Die Stabilität Europas habe Vorrang vor der Einheit der Deutschen. Im übrigen sei die Wiedervereinigung zunächst ein Problem der Sowjetunion Gleichzeitig zu seinen Bekenntnissen zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und seinem Beharren auf den Rechten der Siegermächte gegenüber ganz Deutschland forderte er wiederholt die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft, um so die Bundesrepublik noch fester in den Westen zu integrieren Auch er hatte erkannt, daß die feste Einbindung Deutschlands in westeuropäische und atlantische Strukturen die beste Sicherheitsgarantie für Frankreich bilde; er wollte daher vor allem diese Einbindung erhalten. Im Herbst 1989 scheint er jedoch noch geglaubt zu haben, auch die Eigen-staatlichkeit der DDR, wenn auch in einem gesamtdeutschen und einem gesamteuropäischen Rahmen, erhalten zu können. Er betonte daher in seinen Reden immer wieder das Interesse Frankreichs an der Aufrechterhaltung der europäischen Ordnung und die Verpflichtung der Deutschen, die bestehenden Grenzen und Verträge zu achten
Mitterrand strebte im Herbst 1989 seine deutschlandpolitischen Ziele durch eine enge Zusammenarbeit sowohl mit den übrigen Siegermächten als auch mit der Bundesrepublik an. Stillschweigende Bedingung für eine deutsch-französische Zusammenarbeit in der Deutschlandpolitik bildete allerdings für ihn die Bereitschaft Bonns, Paris die Führung zu überlassen Als Bundeskanzler Kohl am 28. November seinen Zehn-Punkte-Plan zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas ohne vorherige Konsultation seiner Partner verkündete, brach Mitterrand die Zusammenarbeit mit Bonn ab. Am 6. Dezember traf er sich in Kiew mit Gorbatschow, um dessen Haltung zur deutschen Entwicklung zu erkunden, und am 21. /22. Dezember besuchte er Ost-Berlin, um die Möglichkeiten einer Stabilisierung der DDR auszuloten. In Kiew betonte er die Existenz zweier deutscher Staaten und deren Bedeutung für das europäische Gleichgewicht in Ost-Berlin unterschied er nachdrücklich zwischen den inneren und den äußeren Aspekten der deutschen Frage. Für die inneren seien die Deutschen zuständig, für die äußeren die Siegermächte Die Warnung an die Adresse Bonns war unüberhörbar. Eine Wiedervereinigung würde es nur mit Zustimmung der Siegermächte, also auch Frankreichs geben. Eine Zusammenarbeit mit ihm sei daher ratsam
Je schneller die alte Ordnung in der DDR zerfiel, und je lauter der Ruf nach der deutschen Einheit ertönte, um so mehr scheint sich aber auch in Paris die Überzeugung durchgesetzt zu haben, daß sich die Eigenstaatlichkeit der DDR und damit die Spaltung Deutschlands nicht mehr lange aufrechterhalten lasse. Als dann im Februar 1990 auch die Sowjetunion der Einheit prinzipiell zustimmte, gab Frankreich seinen hinhaltenden Widerstand gegen das deutsche Einheitsstreben auf. Die immer massiver werdende Unterstützung der deutschen Position durch die Vereinigten Staaten dürfte diesen Meinungsumschwung ebenfalls befördert haben. Es stimmte einer internationalen Konferenz zur Regelung der äußeren Aspekte der Einheit zu und suchte erneut die Verständigung mit der Bundesrepublik.
Als Bedingung für seine Unterstützung des staatlichen Vereinigungsvorhabens verlangte es allerdings, daß auch das neue Deutschland der NATOund der EG angehören, auf ABC-Waffen verzichten und die Nachkriegsgrenzen auch an Oder und Neiße anerkennen müsse Als Bundeskanzler Kohl zögerte, einer völkerrechtlichen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze vor der Wiedervereinigung zuzustimmen, lud Mitterrand den polnischen, Staatspräsidenten Jaruzelski demonstrativ nach Paris ein, um so seine Haltung in der Grenzfrage zu bekräftigen. Erst nachdem die deutsche Bundesregierung auf die französische Linie einschwenkte, stimmte Frankreich endgültig der staatlichen Vereinigung Deutschlands zu. Es paßte sich damit im Frühjahr 1990 nach einigem Zögern der europäischen Entwicklung an, ohne allerdings auf die Essentials seiner Deutschlandpolitik -Westbindung Deutschlands, Begrenzung der deutschen Militärhoheit, Anerkennung der Nachkriegsgrenzen -zu verzichten. Es wahrte so die europäischen Grundlagen seines internationalen Status. Außerdem gelang es ihm, die guten Beziehungen zur Bundesrepublik trotz zeitweiliger Verstimmungen zu erhalten
VI. Kontinuität trotz weltpolitischer Veränderungen
Ungeachtet der tiefgreifenden Veränderungen der internationalen Machtverhältnisse seit 1989 hält Frankreich auch weiterhin an seinem Autonomie-und Großmachtstreben fest. Es lehnt eine Rückkehr in die integrierte Militärstruktur der NATO mehr denn je ab und beteiligt sich auch nicht an dem Aufbau einer schnellen NATO-Eingreiftruppe. Statt dessen fordert es eine Europäisierung des Atlantischen Bündnisses sowie eine eigenständige Verteidigung Westeuropas durch den Ausbau der Westeuropäischen Union zu einem funktionsfähigen Verteidigungssystem In der Dritten Welt bemüht es sich verstärkt, seinen Einfluß auch außerhalb seines ehemaligen Kolonialreiches zu festigen, indem es sich nach dem Rückzug der Sowjetunion und ihrer ehemaligen Verbündeten aus Afrika und Lateinamerika (Kuba) als die einzige Alternative zu den Vereinigten Staaten unter den Industrienationen des Nordens präsentiert In Europa versucht es seine Sonderstellung zu stärken, indem es die Einberufung einer Konferenz der Atommächte über die Zukunft der sowjetischen Atomwaffen vorschlug
All diese diplomatischen Initiativen deuten darauf hin, daß sich die Grundzüge der französischen Außen-und Sicherheitspolitik nicht ändern werden, solange Mitterrand noch Präsident ist. Die pragmatische Anpassung der französischen Außenpolitik an die jeweiligen konkreten Machtverhältnisse und Konstellationen dürfte sich jedoch fortsetzen. Ob sich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Wollen und Können unter den Nachfolgern Mitterrands wesentlich verringern wird, ist fraglich. Die jüngere Generation der französischen Politiker ist zwar nicht mehr durch die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt, aber sie hat die gleichen kulturellen Sozialisationsprozesse durchlaufen wie die ältere. Sie teilt daher weitgehend deren Ansichten über Frankreichs Stellung in der Welt.