„Ich sehe im Staat... eine Institution.. die einzig und allein das nationale Interesse verkörpert und ihm dient. Um Ziele zu bestimmen und über sie zu entscheiden, braucht der Staat Machtorgane mit einem qualifizierten Schiedsrichter an der Spitze. Um sie durchzusetzen, braucht er Diener, die so ausgewählt und ausgebildet sind, daß sie einen tatkräftigen und einheitlichen Körper innerhalb des Staatsapparats bilden. Von diesen beiden Bedingungen ist die erste heute erfüllt und ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, daß das auch morgen noch gilt. Die zweite veranlaßt mich im August 1945, die Nationale Verwaltungshochschule zu gründen. Ist die solchermaßen entworfene Struktur endgültig gefestigt, werden die neuen Instrumente dem Staat genügend Kontrolle über die französische Politik verschaffen, um die Nation stärker und glücklicher zu machen.“
Diese klare Konzeption, mit der de Gaulle als Chef der Provisorischen Regierung 1944 bis 1946 auf sein Ziel der Wiederherstellung des Staates als dem entscheidenden Kraftzentrum der Nation zusteuerte, scheiterte vorerst. Die gegen die Vorstellungen de Gaulles entworfene Verfassung der IV. Republik führte 1946 zu einer Konstellation, wie sie bereits die III. Republik gekennzeichnet hatte: Unterordnung der Regierung unter das Parlament und damit Renaissance der Parteienherrschaft. Die Unfähigkeit der IV. Republik, das Problem der Dekolonisierung zu lösen, führte 1958 zu ihrem Untergang.
Stand somit die Entwicklung der politischen Institutionen unter der IV. Republik in scharfem Kontrast zu den Zielvorstellungen de Gaulles, so zeigten sich in dieser Periode hinter den Kulissen der „Republik der Abgeordneten“ erste Anzeichen einer Erneuerung des politischen Führungspersonals. Begünstigt durch den Personalaustausch im Zuge der Säuberung von Kollaborateuren (mit der Besatzungsmacht) und beflügelt von der Aufbruchstimmung der wirtschaftlichen und sozialen Rekonstruktion begann sich der neue Typus des Manager-Beamten herauszubilden. Er wuchs auf dem Boden der noch unter der provisorischen Regierung geschaffenen Tatsachen: im nach Kriegsende verstaatlichten Teil der Wirtschaft und im neu errichteten Planungsapparat. Diese neue Gruppe selbstsicherer Technokraten neigte zu dem Glauben, sie sei dabei, die an die Macht zurückgekehrten „dekadenten“ Parteieliten der Zwischenkriegszeit abzulösen. In Wirklichkeit war eine Wachablösung jedoch nicht in Sicht. Dennoch, nach der Inkubationszeit der IV. Republik konnte diese „unfertige Elite“ eine zentrale Rolle bei der Neuformierung des politischen Führungspersonals spielen, als 1958 de Gaulle eine zweite Chance zur Realisierung seines politischen Konzepts erhielt.
I. Von de Gaulle zu Giscard d’Estaing: die Republik der Beamten
Reform der Institutionen und Neuformierung einer politischen Elite sind nicht nur deshalb in einem engen Zusammenhang zu sehen, weil sie im Konzept de Gaulles auf das eine Ziel eines unabhängigen, starken Staates gerichtet sind. Sie bedingen sich auch gegenseitig. Die besonderen Merkmale des politischen Führungspersonals werden von der Beschaffenheit des Institutionengefüges mitgeprägt. Der Blick ist deshalb zunächst auf die Verfassung der V. Republik zu richten. 1. Der neue institutionelle Rahmen Das politische System der V. Republik ist als Gegenmodell zur Dominanz des Parlaments konzipiert. Die Verfassung stärkt bewußt die Exekutive zu Lasten des Parlaments. Schlüsselfigur ist der Staatspräsident, der durch direkte Volkswahl eine vom Parlament unabhängige demokratische Legitimation erhält. Er bedient sich in seinem politischen Handeln der Regierung, die er faktisch auch dann abberufen kann, wenn sie das Vertrauen des Parlaments genießt. Das Gebot der Inkompatibilität von Ministeramt und Abgeordnetenmandat markiert deutlich die neue, entsprechend de Gaulles Vorstellungen von Gewaltenteilung konzipierte Machtkonstellation. Die wichtigste Scheidelinie verläuft nicht mehr wie in der IV. Republik zwischen den Mehrheitsfraktionen des Parlaments und der aus ihrer Mitte hervorgegangenen Regierung einerseits und dem Staatsapparat andererseits, sondern zwischen der Exekutive (Präsident, Regierung, Staatsapparat) und dem Parlament.
Die Entmachtung des Parlaments bedeutet zugleich eine Entmachtung der Parteien. Innerhalb des Parlaments spielen die Regierungsparteien im Extremfall die Rolle einer „weitgehend dem Willen der Exekutive unterworfenen Manövriermasse“ außerhalb des Parlaments sind sie zu „Organen personalplebiszitärer Massenmobilisierung“ geworden.
Schafft die Verfassung einerseits eine Distanz der Regierung zum Parlament und den Parteien, so fördert sie andererseits eine Annäherung von Regierung und hoher Verwaltung. Die ausgeweitete Verordnungskompetenz der Regierung und die Zunahme der Rahmengesetzgebung überlassen der Regierung einen weiten Handlungsspielraum, den sie in enger Kooperation mit der Ministerial-Verwaltung ausfüllt. Die Kooperation zwischen Regierung und Verwaltung wurde durch zwei Entwicklungen beschleunigt, die beide mit dem neuen Staatskonzept verbunden sind: die Ausweitung der Staatstätigkeit und die Reorganisation der Regierung. Der Staat, der sich nun -in der Wiederaufnahme von Traditionen, die bis in die Monarchie zurückreichen -als Motor der Modernisierung Frankreichs versteht, wird zum Planer und Unternehmer im wirtschaftlichen und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Allein die Koordination dieser neuen Aktivitäten machte eine Reorganisation des zentralen Regierungsapparats erforderlich. Wichtiger noch war die Notwendigkeit, die neue Führungsrolle des Staats-präsidenten und „seines“ Premierministers auch organisatorisch umzusetzen. Das Ergebnis war die Etablierung eines ausgedehnten Systems politisch-administrativerStäbe (administration d’tatmajor), vom Präsidenten (Secrtariat gnral de l’Elyse) über den Premierminister (Cabinet du Premier ministre) bis zu den Ministern und Staatssekretären (Cabinets ministriels) Die bereits existierenden Strukturen wurden quantitativ ausgeweitet mit Führungsaufgaben in den einzelnen Ministerien betraut und zu festen Bestandteilen des von den Stäben des Präsidenten und Premierministers dominierten Entscheidungssystems.
Die verstärkte Kooperation von Politik und Ministerialverwaltung konnte sich auf eine Besonderheit der französischen Verwaltung stützen, die Grands Corps. Sie sind mit eigenen Statuten ausgestattete Korporationen von Elitebeamten, die jeweils einen besonderen administrativen oder technischen Zuständigkeitsbereich außerhalb der regulären Verwaltungshierarchie innehaben. Die drei wichtigsten administrativen Corps (Conseil d’Etat, Cour des comptes und Inspection gnrale des finances) üben Funktionen der juristischen Beratung der Regierung, des Obersten Verwaltungsgerichts, der Rechnungsprüfung und der Finanzplanung aus; als die bedeutendsten technischen Corps gelten das Corps des Mines und das Corps des Ponts et Chausses. Die herausragende Rolle der Grands Corps beruht jedoch weniger auf der Ausübung der genannten Aufgaben als vielmehr auf ihrer Funktion als Personalreservoir. Ihre Mitglieder können für die Übernahme von Spitzenpositionen in Politik, Ministerialverwaltung und Wirtschaft beurlaubt oder abgeordnet werden, wo. bei ihnen stets die Rückkehr in ihre Ursprungscorps offensteht. 2. Verbeamtung der Politik -Politisierung der Beamten Die Etablierung der V. Republik hat nicht nur eine enge Kooperation zwischen Politik und Verwaltung, sondern auch eine zunehmende Besetzung politischer Positionen durch Beamte mit sich gebracht. Diese „große Invasion“ der Beamten in die Politik ist die wichtigste Veränderung des politischen Führungspersonals seit 1958. Sie läßt sich auf allen politischen Entscheidungsebenen feststellen. In der Nationalversammlung war die Beamtenschaft zwar während der IV. Republik mit einem Anteil von durchschnittlich einem Fünftel vertreten, bis 1978 hat sich dieser Anteil jedoch fast verdoppelt. Wichtiger noch als dieser allgemeine Anstieg ist jedoch die stärkere Repräsentanz der hohen Verwaltungspositionen
Die gleiche Entwicklung zeigt sich auf der Ebene der Regierungen. Nicht nur verdoppelt sich der Anteil der Beamten an den Regierungsmitgliedern unter den drei ersten Präsidenten gegenüber der IV. Republik von einem Drittel auf zwei Drittel, auch innerhalb der Kategorie der Beamten sind signifikante Verschiebungen festzustellen. Nunmehr liegt das Schwergewicht bei den Inhabern hoher Verwaltungsposten (1944-1958: 12 Prozent; 1974-191: 43 Prozent), die somit die früher dominierenden Lehrberufe (1944-1958: 18 Prozent; 1974-1981: 8 Prozent) ablösen. Mit den Anwälten und den Vertretern der Privatwirtschaft verlieren in der Regierung solche Gruppen von Notabein an Gewicht, die in den Parlamenten der IV. wie auch in der V. Republik eine führende Rolle spielten und spielen, Zeichen für die Abkopplung der Regierung von der Nationalversammlung.
Die Premierminister und ebenso die drei Präsidenten dieser Ära kommen ohne Ausnahme aus dem öffentlichen Dienst, alle (bis auf den Premierminister und Universitätsprofessor Raymond Barre) aus der hohen Staatsverwaltung. Je weiter man in der politischen Hierarchie nach oben steigt, desto mehr nimmt der Beamtenanteil zu: von durchschnittlich 28 Prozent in der Nationalversammlung über 55 Prozent in der Regierung erreicht er 100 Prozent an der Staatsspitze.
Die Invasion der Beamten erfaßte nicht nur die politischen Institutionen sondern auch die französische Wirtschaft („pantouflage"). 1973 war die Mehrzahl (71 Prozent) der Direktorenposten der staatlichen und knapp die Hälfte (47 Prozent) dieser Positionen der halbstaatlichen Unternehmen mit hohen Beamten besetzt 8). Ähnliches gilt für die Privatwirtschaft. Anfang der siebziger Jahre kamen 43 Prozent der Generaldirektoren der 100 größten französischen Unternehmen aus der Verwaltung, Mitte der achtziger Jahre betrug dieser Anteil bei den 50 bedeutendsten 54 Prozent
Eine besondere Rolle im „langen Marsch“ (Quermonne) der hohen Beamten in die Führungspositionen von Politik und Wirtschaft spielen die Mitglieder der Grands Corps. Allerdings bestehen zwischen den einzelnen Grands Corps Unterschiede im Ausmaß, in dem sie außerhalb ihres engeren Aufgabenbereichs tätig werden und in den Schwerpunkten dieser Positionen. Während die Mitglieder des Conseil d’Etat und der Cour des comptes in allen Bereichen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft Verwendung finden, sind die der anderen Grands Corps in bestimmten Sektoren konzentriert. Die Inspection des finances hat traditionell ihre Schwerpunkte in den Ministerien für Wirtschaft, Finanzen und Außenhandel sowie in den Banken und Versicherungen, das Corps des Mines im Industrieministerium sowie in den Chemie-und Energieunternehmen. Nimmt man hinzu, daß die Grands Corps die überwiegende Zahl der Parteiführer aller politischen Lager (mit Ausnahme der Kommunisten und des rechtsradikalen Front National), einen Großteil der Minister, fünf der sieben Premierminister vor 1981 und zwei Staats-präsidenten stellten, so wird die überragende Bedeutung dieses Elitenreservoirs sichtbar, aus dem Karrierewege in viele Richtungen gespeist werden und das somit zur Ausbildung von Einflußnetzen beiträgt, die die wichtigsten Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verbinden.
Hinter der Zunahme der hohen Beamten auf allen politischen Entscheidungsebenen verbirgt sich eine wichtige Veränderung: die der Karrieremuster Die klassische Karriere der lokalen Honoratioren (35 Prozent der Minister 1958-1981 dominant unter der III. und IV. Republik, führt von einem ererbten oder schrittweise akkumulierten politischen Kapital auf lokaler Ebene (Gemeinde-/Stadtrat, Bürgermeister) über Wahlämter in Departement und Region in solche auf nationaler Ebene (Nationalversammlung, Senat). Der zweite klassische politische Karriereweg des Parteiaktivisten (28 Prozent der Minister bis 1981) beginnt entweder mit dem langsamen Aufstieg aus lokalen Parteiämtern in die nationalen Führungsgremien der Parteien oder mit dem direkten Zugang in die Parteiführungen (Expertenstatus, Zugehörigkeit zum Umfeld eines Parteiführers) und bietet von hier aus die Chance des Überwechselns in ein Staatsamt.
Zu den beiden traditionellen Laufbahnen der lokalen Honoratioren und der Parteiaktivisten tritt nun eine dritte, für die V. Republik charakteristische hinzu: die der Technokraten. Diese besteht darin, hohe Beamte, die den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit im Staatsapparat hatten, in Regierungsämter zu berufen. Dieser Kategorie sind 37 Prozent der Minister zuzuordnen. Der zentrale Ort des Eintritts in die Politik für diesen Personenkreis sind die erwähnten Stäbe der Ministerien, des Premierministers und des Präsidenten.
Die idealtypisch gegenübergestellten Karrierewege sind in der Regel nicht voneinander isoliert, sondern treten vielfach miteinander kombiniert auf. Parteiaktivisten und Beamte, die eine politische Karriere anstreben, versuchen diesen Weg durch Wahlmandate zu erleichtern. Das Streben nach Mandaten gilt auch für Regierungsmitglieder, die durch eine nachträgliche „demokratische Salbung“ ihr politisches Gewicht erhöhen und die Kontinuität ihrer politischen Laufbahn abzusichem suchen Auf diese Weise entsteht die für Frankreich charakteristische Ämterhäufung, bei der das Amt des Bürgermeisters, des Generalrats (Regionalrats bzw.deren Präsidenten) mit einem Mandat in der Nationalversammlung oder dem Senat (und u. U. im Europaparlament) verbunden werden.
Die Etablierung des dritten Karrierewegs, der die Beamten zu Lasten der lokalen Notabein und Parteiaktivisten in politische Spitzenstellungen vorrücken ließ, gab dem „Mandarinat" (Dogan) einen über seinen zahlenmäßigen Anteil hinausreichenden Einfluß. Die Öffnung dieses neuen Rekrutierungsreservoirs für politische Positionen hatte zugleich erhebliche Rückwirkungen auf die hohe Beamtenschaft: Sie führte zu ihrer Politisierung Der Eintritt in eine hohe Verwaltungslaufbahn, insbesondere die Aufnahme in ein Grand Corps, gilt nunmehr als direkter Weg in politische Führungspositionen. Die Ministerialstäbe werden zur Zugangsschleuse in Regierungsämter, aber auch zur Drehscheibe für den Weg in die staatliche und private Wirtschaft einerseits und für die wichtigsten Stellungen innerhalb der Ministerialverwaltung andererseits. Das Verlassen der Verwaltung in Richtung Politik und Wirtschaft gilt als Ausweis einer erfolgreichen Karriere, der Verbleib in ihr als Zeichen des Mißerfolgs. Auf diese Weise wurde die hohe Verwaltung zu einem Personalreservoir für politische Karrieren, das insgesamt einen Kreis von etwa 1500 Personen umfaßt: die Ministerialstäbe (600), die politischen Beamten (Abteilungsleiter der Ministerien, Präfekten, Botschafter, Rektoren der Akademien: 500), die Direktoren der staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen und Unternehmen (100) und ein Teil der Angehörigen der Grands Corps (300). Die Nähe zum von der Regierung bzw. von einzelnen Ministern verfolgten politischen Programm wurden neben der Sachkompetenz, der Corps-Zugehörigkeit und der Verbindung zu einflußreichen politischen Führungspersönlichkeiten zu einem Faktor für den Karriereerfolg innerhalb der Ministerialverwaltung und insbesondere für den Übertritt in Politik und Wirtschaft. Diese ersten Ansätze zu einem System politischer Beamter -ähnlich dem „spoils System“ amerikanischer Prägung -erhielten in den siebziger Jahren durch den Präsidenten Giscard d’Estaing eine offizielle Sanktion
Die Politisierung der Verwaltung war nicht mit einem Zustrom verwaltungsfremden Personals verbunden. Der Personalaustausch zwischen Verwaltung, Politik und Wirtschaft ging nur in eine Richtung. Um so bedeutsamer sind die Kanäle und Kriterien, die den Zugang zur hohen Verwaltung steuern. 3. Elitenselektion: Kriterien und Kanäle Das zentrale Element der Elitenbildung in Frankreich ist die Dualität der Hochschulausbildung an Universitäten einerseits und „Großen Schulen“ (Grandes Ecoles) andererseits, die für alle Disziplinen mit Ausnahme der Rechtswissenschaften und der Humanmedizin gilt. Während die Universitäten die große (stetig zunehmende) Masse der Studenten ohne besondere Zulassungsvoraussetzungen (außer dem Abitur) aufnehmen und auf einen ungewissen Arbeitsmarkt entlassen, rekrutieren die Grandes coles nach äußerst harten Auslesekriterien eine seit Jahrzehnten gleiche, kleine Zahl von „Schülern“, die sie nach einer strikt berufsbezogenen Ausbildung in die Spitzenstellungen von Staat und Gesellschaft entsenden.
Die Führungspositionen im Staatsapparat sind fast ausschließlich über die Grandes Ecoles zu erreichen. Das Rekrutierungsmonopol für die administrativen Grands Corps, die Ministerialverwaltung, die Diplomatie, die Territorialverwaltung und die Verwaltungsgerichte hat die Verwaltungshochschule Ecole Nationale d’Administration (ENA) dasjenige für die technischen Grands Corps liegt bei der cole Polytechnique. Am Ende der zwei-oder dreijährigen Ausbildungszeit der ENA wird eine Leistungsrangordnung erstellt. Die Erstplazierten haben die Möglichkeit, aus der Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Positionen zu wählen, die schlechter Plazierten haben die Wahl nur noch aus.den noch nicht vergebenen Stellungen. Die Bestplazierten entscheiden sich in aller Regel für die administrativen Grands Corps (an der Spitze: Inspection des finances), es folgen das Außenministerium, die Präfektenlaufbahn und das Finanzministerium. Die am schlechtesten Plazierten müssen sich mit einer Position in einem Ministerium geringeren Prestiges begnügen. Die Präferenzen spiegeln die unterschiedlichen Start-vorteile wider, die mit dem Eintritt in die einzelnen Corps bzw. Ministerien sowohl für Karrieren innerhalb des zentralen Staatsapparats als auch für den Weg in Politik und Wirtschaft verbunden sind.
Schulische Leistungskriterien entscheiden nicht nur über die beruflichen Startchancen sondern auch über die Aufnahme in die ENA und damit über den Zugang zu einer hohen administrativen Karriere überhaupt. Die Zulassung zur ENA nach Bestehen des Auswahlwettbewerbs für Studenten (Altershöchstgrenze 1986: 25 Jahre) ist der Endpunkt einer langen Kette von Selektionsprozessen. Zusätzlich wird ein variabler Anteil (zwischen einem Viertel und der Hälfte) der pro Jahrgang etwa 100 ENA-Schüler über einen gesonderten Auswahlwettbewerb für Beamte rekrutiert.
II. Die Ära Mitterrand: eine Republik der Parteiaktivisten?
1. Ziele und Erwartungen Der erste Machtwechsel in der Geschichte der V. Republik war nach den Intentionen der neuen politischen Führung aus Sozialisten und Kommunisten mehr als ein in demokratischen Systemen normales Auswechseln einer Mehrheit durch eine andere. Die „alternance" sollte vielmehr eine grundlegende Reform der staatlichen Machtstrukturen und der gesellschaftlichen Verhältnisse in Gang setzen. In ihrer langen Oppositionszeit hatte die Linke die Entmachtung des Parlaments und die präsidentielle Regierungspraßis bekämpft. In ihrer Frontstellung gegen den Gaullismus hatte sie die Herrschaft der Gaullisten mit der Herrschaft der Technokraten gleichgesetzt und darin einen Verlust der staatlichen Legitimität gesehen. In der Phase der Linksunion zu Beginn der siebziger Jahre hatten die wichtigsten Strömungen der Sozialistischen Partei und die Kommunisten in der Theorie des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ ein theoretisches Fundament für ihre Staatskritik gefunden Das Gemeinsame Programm der Sozialisten und Kommunisten (1972) forderte den Bruch mit dem Kapitalismus als Konsequenz des Klassencharakters des Staates. Die Bindungen der hohen Verwaltung an die kapitalistische Klassen-herrschaft sollten gebrochen, die Verwaltung durch ihre Demokratisierung zu einem Instrument der Transformation der Gesellschaft gemacht werden. Auch ohne diese marxistische Fundierung kam seit den sechziger Jahren die Kritik der Linken am demokratiefeindlichen „Imperialismus der Technokraten“, in dem sie Dekadenz des republikanischen Staates sah zu ähnlichen praktischen Konsequenzen: Um die Legitimität des Staateswiederherzustellen, muß er in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden, und das ist nur durch eine Demokratisierung der Verwaltung möglich.
Die Konkretisierung dieser Forderungen betraf naturgemäß die ENA, das Schlüsselelement der Personalrekrutierung. Nachdem in den sechziger Jahren führende Sozialisten (zugleich ENA-Absolventen) die ENA der Förderung des Elitismus, des Konformismus und der Politisierung der Verwal-tung bezichtigt hatten zog das sozialistische Parteiprogramm („Changer la vie“, 1972) daraus die Konsequenz mit der Forderung, die ENA von der Rekrutierung der hohen Verwaltung auszuschließen. Das Gemeinsame Programm von 1972 formulierte vorsichtiger und forderte eine „demokratische Reform der ENA und das Ende der Privilegien der Grands Corps“, eine Linie, die vom sozialistischen Wahlprogramm 1980 („Projet socialiste“) fortgeführt wurde: Demokratisierung der Verwaltung durch „Veränderung der Rekrutierung, der Besoldung und der Laufbahnen“. 2. L’elite rose
Zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik stammten 1981 weder der Präsident, noch der Premierminister, noch der Direktor des Präsidenten-stabs aus der hohen Beamtenschaft. Francois Mitterrand war vor seiner politischen Karriere Anwalt, Pierre Mauroy war vor seinem Aufstieg in der Sozialistischen Partei Sekundarschullehrer und Piene Brgovoy war Ingenieur. Zeichen einer Trendwende, einer Zurückdrängung der Beamten auch in anderen Bereichen?
Für die 1981 gewählte Nationalversammlung scheint dies auf den ersten Blick nicht zu gelten: der Gesamtanteil der Beamten (47 Prozent) ist gegenüber der vorangegangenen Legislaturperiode noch deutlich angestiegen Jedoch haben sich die Gewichte innerhalb dieser Kategorie drastisch verschoben. Die Lehrer und Professoren, die schon in den siebziger Jahren ihren Anteil verdoppelt hatten, machen nun drei Viertel der Beamten in der Nationalversammlung, unter den Beamten der sozialistischen Fraktion mehr als vier Fünftel aus, das entspricht der Hälfte der sozialistischen Gesamtfraktion. Die Beamten der hohen Verwaltung hingegen erreichen nun weniger als die Hälfte ihrer früheren Stärke (8 statt 17 Prozent 1978), in der sozialistischen Fraktion nur 6 Prozent.
Die gleichen Tendenzen sind auf der Ebene des Regierungspersonals sichtbar Unter den Ministern und Staatssekretären nimmt 1981 der Anteil der hohen Beamten deutlich ab, der der Lehrberufe deutlich zu. Die Privatwirtschaft (Unternehmer, Leitende Angestellte, Freie Berufe), sieht ihren Anteil stark vermindert, eine Tendenz, die bis zur Gegenwart anhält. Deutlich verändert hat sich auch der Bildungshintergrund des Regierungspersonals. Vor 1981 überwogen die Absolventen der Grandes coles (ENA, Ecole Polytechnique, Ecole Normale Suprieure) und des Institut d’Etudes Politiques in Paris, während die meisten Mitglieder der Regierungen Mauroy und Fabius eine Universitätsausbildung, meist in den Geisteswissenschaften, genossen haben. Allerdings nimmt in den sozialistischen Regierungen der zweiten Amtszeit Mitterrands die Zahl der vornehmlich juristisch-administrativ ausgebildeten Absolventen der Grandes Ecoles wieder stark zu (und damit auch die der Angehörigen der Grands Corps), so daß die derzeitige Regierung Cresson das gleiche Bildungsprofil wie das der Regierungen vor 1981 aufweist.
Im Zeitverlauf abgeschwächt hat sich auch die für die Minister der Linken zunächst typische Laufbahn über Partei-und Gewerkschaftsarbeit. Der Weg über die Ministerialstäbe gewann unter den Regierungen Rocard und Cresson wieder an Gewicht. Dies erklärt sich dadurch, daß vor 1981 prononciert sozialistische Spitzenbeamte keinen Zutritt zum sensiblen Bereich der Stäbe hatten, und daß parteipolitisch farblose Beamte, die mit der alten Regierung zusammengearbeitet hatten, für ein Ministeramt nach 1981 nicht in Betracht gezogen wurden. Seit 1988 können Minister mit Stabserfahrung nachrücken, gewonnen während der ersten Amtszeit Mitterrands in den Regierungen Mauroy und Fabius.
Für die Ministerialstäbe hat der Machtwechsel von 1981 auf den ersten Blick keine einschneidenden Veränderungen mit sich gebracht. Auch die Minister der Linken haben ihre Mitarbeiter aus der hohen Beamtenschaft rekrutiert. Was das neue Personal der Ministerialstäbe gegenüber ihren Vorgängern jedoch auszeichnet, ist ihr Parteiengagement. Hier liegt der entscheidende Wandel. Der mit 15 Prozent stattliche Anteil der Partei-und Gewerkschaftsfunktionäre ist nur die Spitze eines Eisbergs. Fast zwei Drittel der Mitarbeiter der Stäbe von 1981 waren aktiv in der Parteiarbeit engagiert, weitere 30 Prozent sind einfache Parteimitglieder oder Sympathisanten, nur 9 Prozent geben keine Parteiaffiliation an. Dieser Einbruch der Parteipolitik in die Ministerialstäbe ist eine markante Wende in einem Bereich, in dem neben der Kompetenz zwar stets Loyalität gegenüber den Ministern sowie die Bereitschaft erwartet wurde, bei der Formulierung und Durchsetzung der Regierungsprogrammatik mitzuarbeiten, parteipoliti31 sches Engagement jedoch die Ausnahme war. Wie die Zusammensetzung der Stäbe unter der bürgerlichen Regierung Chirac (1986-1988) zeigt, hat diese Praxis Schule gemacht. Zwar finden sich hier wieder mehr hohe Beamte; der Anteil der Funktionäre, nunmehr der Gegenseite, bleibt jedoch konstant Dieser Anteil geht unter der sozialistischen Regierung Rocard nur scheinbar zurück -ein Teil der Funktionäre der ersten Amtszeit Mitterrands ist inzwischen in hohe Beamtenpositionen übernommen worden.
Die Parteipolitisierung blieb nicht auf die Ministerialstäbe beschränkt, sondern hat seit 1981 stärker als je zuvor die hohe Beamtenschaft insgesamt ergriffen. In der Verfolgung ihres Ziels, eine neue Gesellschaft zu schaffen, glaubte sich die sozialistisch-kommunistische Regierung auf eine aktive Mitwirkung des Beamtenapparats angewiesen. Ein administrativer Machtwechsel erschien somit als zwingende Konsequenz des politischen Machtwechsels. Zwar hat die Regierung dem Drängen der Regierungsparteien nicht nachgegeben, einer administrativen Sabotage ihres Programms durch eine sofortige massive und systematische Säuberung des Beamtenapparats vorzubeugen. Aber sie hat von ihrer Möglichkeit, die politischen Beamten auszuwechseln, großen Gebrauch gemacht. Das wichtigste Faktum dieses Personalwechsels war nicht sein Ausmaß, sondern die erstmals offen und systematisch praktizierte Anwendung parteipolitischer Auswahlkriterien. Ein Viertel der neuen Abteilungsleiter der Ministerien gab offiziell die Mitgliedschaft in einer Partei der Linken oder in einer Gewerkschaft an. Dabei war die Linke nicht gezwungen, „die Fachkompetenz auf dem Altar der Ideologie zu opfern“ Eine große Zahl hoher Beamter hatte während des Aufstiegs der Sozialistischen Partei in den siebziger Jahren, meist durch Mitarbeit in einer ihrer zahlreichen Expertenkommissionen, ihre Parteinähe unter Beweis gestellt. Deshalb mußte die neue Regierung ihre Spitzenbeamten nicht von außen rekrutieren, sondern konnte wie ihre Vorgänger auf das Reservoir der Beamten zurückgreifen (mit einigen Ausnahmen etwa unter den Botschaftern). Es überrascht daher nicht, daß das alte und das neue beamtete Führungspersonal sich in seiner sozialen Herkunft, in Ausbildung, Corpszugehörigkeit und Karriereverlauf fast völlig glichen.
Wie im Fall der Ministerialstäbe, so machte die Parteipolitisierung der hohen Verwaltung Schule. Die Regierung Chirac folgte 1986 dem Anfang der achtziger Jahre praktizierten Beispiel des Personalaustauschs, nur gebremst durch die Zwänge der „Cohabitation" mit einem sozialistischen Präsidenten. Nach nur zwei weiteren Jahren schlug 1988 das personalpolitische Pendel unter der sozialistischen Regierung Rocard wieder in die Gegenrichtung aus. 3.
Strukturreformen Läßt sich die Personalrekrutierungspolitik der Regierungen der Linken auf die wenig revolutionäre Formel bringen: „Rot, wenn möglich, aber vor allem kompetent“ so ist die Frage dennoch offen, ob in der Ära Mitterrand die in den siebziger Jahren nachdrücklich geforderten Strukturreformen stattgefunden haben, die mittel-und langfristig die Rekrutierungsmechanismen des politischen Personals ändern könnten.
Diese Frage betrifft zunächst das Schicksal der ENA. Die Ernennung des Kommunisten Anicet Le Pors zum Minister für den öffentlichen Dienst und die Verwaltungsreform ließen den Willen der Regierung Mauroy erkennen, eine Reform der ENA in Angriff zu nehmen. Die tatsächlich getroffenen Maßnahmen blieben jedoch bescheiden. Sie bestanden zum einen darin, der Rekrutierung der ENA aus der Verwaltung wieder größeres Gewicht zu verschaffen und steigerten damit die Chancen, Beamte auch aus bescheidenen sozialen Verhältnissen über die ENA in hohe Verwaltungspositionen zu bringen. Zum anderen wurde neben den bisherigen beiden Rekrutierungsfeldern (Studenten, Beamte) ein dritter Weg zur ENA (10 Plätze) für einen neuen Personenkreis eröffnet: Inhaber von lokalen und nationalen Wählämtern, Gewerkschafts-und Verbandsfunktionäre. Alle Maßnahmen zeigen, daß zwar eine Öffnung des Zugangs zur ENA eingeleitet wurde, daß aber ihr Rekrutierungsmonopol für die hohen Verwaltungslaufbahnen ebensowenig angetastet wurde wie die Gesamtarchitektur der hohen Verwaltung. Ein zweiter Komplex struktureller Veränderungen betrifft das Verhältnis von Politik und Verwaltung. Solange die politische Linke in der Opposition war, hatte sie stets die Autonomie der Verwaltung verteidigt und ihre Politisierung sowie den direkten politischen Eingriff in den Ablauf der Verwaltungskarrieren gebrandmarkt. Einmal an der Regierung, betrieb sie nicht nur eine Parteipolitisierung bislang unbekannten Ausmaßes, sondern leitete auch eine Reihe von Maßnahmen ein, die als institutionelle Absicherung dieser Praxis gelten könnten. Sie hat den Kreis der politischen Beamten (u. a.der Abteilungsleiter) stark ausgeweitet. Sie hat weiterhin das Ernennungsrecht der Regierung außerhalb der Rekrutierung über die ENA und außerhalb von Laufbahnvorschriften für einige Corps systematisch erweitert, neue Corps mit direktem Zugriff der Regierung geschaffen und ihr Kontingent politischer Berufungen in die Grands Corps (tour extrieur) statt zu deren Ausstattung mit kompetenten Kräften dazu benutzt, ehemalige Minister, deren Mitarbeiter oder Freunde hochgestellter Politiker zu versorgen, für geleistete Dienste zu belohnen oder vor . einem Machtwechsel in Sicherheit zu bringen Die personalpolitische Dispositionsmasse, über die Regierungen gleich welcher Richtung fortan verfügen können, wurde somit erweitert und abgesichert.
Eine der wichtigsten Strukturreformen der Ära Mitterrand, von der langfristige Veränderungen der Rekrutierungsmechanismen des politischen Führungspersonals ausgehen können, war die Dezentralisierung Anfang der achtziger Jahre. Sie schuf mit den Regionen eine neue Zwischenebene und übertrug ihren direkt gewählten Vertretern sowie den gewählten Körperschaften der Departements weitreichende Kompetenzen und umfangreiche finanzielle Mittel. Zu dieser Verlagerung von Entscheidungszentren in die Provinz kam 1985 eine gesetzliche Beschränkung der Ämterhäufung hinzu Von diesen Reformen wurde die Herausbildung von neuen lokalen/regionalen politischen Eliten erwartet, die nun mit der Aussicht auf reale politische Macht außerhalb von Paris auf eine nationale Karriere verzichten. Damit wäre der zentralisierende Schub zum Stehen gebracht, der von der Rekrutierung der Spitzenbeamten vornehmlich aus der Pariser Oberschicht in Verbindung mit der Verbeamtung der Regierung ausging, und der zur Verdrängung der lokalen Notablen zugunsten von Politikern aus der hohen Verwaltung führte, die in der Provinz einen Rückhalt suchen.
Die ersten Untersuchungen zu den Auswirkungen dieser Reformen haben jedoch gezeigt, daß die erwartete Differenzierung politischer Karrieren in lokale/regionale einerseits und nationale andererseits bislang nicht stattgefunden hat Standen Mandatsträger vor der Wahl, ein lokales/regionales oder ein Amt in Paris aufzugeben, fiel die Entscheidung stets für Paris aus (mit der einen Ausnahme von Dominique Baudis, Bürgermeister von Toulouse). Selbst die höchsten Positionen in Departement und Region werden in aller Regel nicht um ihrer selbst willen angestrebt: „Die lokalen oder regionalen Karrieren sind, verglichen mit dem Königsweg, der die lokalen Eliten ins Parlament führt, lediglich Landstraßen zweiter Klasse, unnötige Umwege, wenn nicht gar Wege in die Garage.“
III. Bilanz: Glanzpunkte und Problemfelder
1. Stabile Rekrutierungsmuster „Die Institutionen sind nicht nach meinen Vorstellungen geschaffen worden. Aber sie passen mir gut.“ So lautete die Antwort von Francois Mit-terrand wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf die Frage, ob er sich am Schreibtisch von General de Gaulle und in den von diesem hinterlassenen Institutionen wohlfühle. Nach zehn Jahren seiner Präsidentschaft läßt sich diese Einschätzung auch auf das politische Personal übertragen, das diese Ära geprägt hat. Die durch den Machtwechsel in einigen Bereichen bewirkten Verschiebungen in der Zusammensetzung des Führungspersonals haben sich im Zeitverlauf wieder abgeschwächt. Nach wie vor werden wesentliche Teile der politischen Spitzenpositionen mit Angehörigen der hohen Verwaltung besetzt, deren Politisierung dadurch einen entscheidenden Schritt vorangetrieben wurde. Mehr noch: Die institutioneilen Mechanismen der Elitenrekrutierung blieben in ihrem Grundmuster unverändert. Das bedeutet, daß in Frankreich nach wie vor zwei sehr ungleiche Karrierewege in die politischen Leitungspositionen führen: der eine „von unten“ mit einer in der Regel langsamen politischen Professionalisierung über lokale Mandate und/oder Partei-arbeit für die Gesamtheit der politisch aktiven Bevölkerung, der andere wesentlich schnellere „von oben“ über die systematische politische Professionalisierung in den Elitehochschulen und die oberen Ränge der Zentralverwaltung, ein Weg, der faktisch der Oberschicht Vorbehalten ist. Diese politische Führungsschicht ist das Gegenteil des von Dahrendorf für die deutschen Eliten der ersten Nachkriegszeit diagnostizierten „Kartells der Angst“: Die französische Elite ist selbstbewußt, offensiv, steht in Verbindung mit den anderen Teileliten in Wirtschaft und Gesellschaft, ist bestrebt, die gesellschaftliche Entwicklung unter Führung des Staates voranzutreiben. Aber ist sie auch den Herausforderungen politischen Handelns in einem ständig komplexer werdenden Umfeld gewachsen? 2. Die Qualifikation der, Jeunes messieurs" „Die Republik darf nicht eine Republik der Ingenieure, der Technokraten, nicht einmal der Gelehrten sein. Es ist reaktionär zu fordern, daß die politischen Führer des Landes aus der ENA oder aus der cole Polytechnique kommen sollen.“ Die Kritik des zweiten Präsidenten der V. Republik an der Technokratie und an den „jeunes messieurs“, wie Mendes-France sie abschätzig nannte, steht nicht allein. Die aus der Verwaltung hervorgegangenen Politiker verhielten sich im Ministeramt wie Super-Abteilungsleiter, neigten zu Konformismus, scheuten vor Neuerungen zurück und vermieden Risiken, kurz: statt einen politischen Willen durchzusetzen, zögen sie es vor, Politik zu verwalten
Diese Kritik beruht auf der Annahme, daß hohe Beamte sich auch dann, wenn sie in politische Ämter gelangt sind, als solche verhalten. Sie setzt weiterhin voraus, daß sie im hohen Verwaltungsdienst als Beamte im engeren Sinne tätig waren. Beide Annahmen sind fraglich. Es sind vor allem der institutionelle Kontext und die Rolle, die sie darin spielen, und weniger die berufliche oder soziale Herkunft, die das Handeln der Politiker bestimmen Wie die Beispiele der „ENArchen“
Pierre Joxe (ENA, Cour des comptes), Michel Rocard (ENA, Inspection des finances), Giscard d’Estaing (ENA, Inspection des finances) und Jacques Chirac (ENA, Cour des comptes) zeigen, hat ihre Tätigkeit in der hohen Verwaltung sie nicht daran gehindert, Vollblutpolitiker zu werden. „Die , ENArchen“, die Minister geworden sind, wollten das in ihrer Mehrzahl von Anfang an werden; und von ihrem Eintritt in die Verwaltung an haben sie an das gedacht, was ihnen für dieses Ziel nützt. Sie haben die Verwaltung mehr oder weniger als Vorzimmer... betrachtet... Da sie die Tätigkeit in Ministerialstäben der als Abteilungsleiter vorzogen, haben sie von der Verwaltungsarbeit nur das gesehen, was bis hierher gelangt.“ Was für eine Verwaltungskarriere zum Nachteil wird, ist für die des Politikers kein Schaden. Schon von der ENA zu . „Minister-Lehrlingen“ ausgebildet, nehmen sie aus ihrer Verwaltungspraxis das mit, was sie für ihre Politikerkarriere brauchen: Kenntnisse der Verwaltungsabläufe und ihrer komplexen Verzahnung mit dem politischen Entscheidungsprozeß sowie ein weitverzweigtes Netz von Kontakten.
Die Erfolgreichen unter den Politikern aus der hohen Verwaltung haben im Laufe ihrer Biographien ihren Aktionsradius auf die Parteien, lokale Wahlämter, das Parlament und bisweilen die staatliche wie private Wirtschaft ausgeweitet. Der Erfahrungshintergrund, über den sie verfügen, übersteigt denjenigen eines in die Nationalversammlung oder in den Senat gelangten lokalen Notabein oder Parteifunktionärs jedoch durch die Intensität und die Art ihrer politischen Professionalisierung um ein Wesentliches. Sie haben Politik vom Beginn ihrer Ausbildung an zum Beruf gemacht, haben bereits in den Elitehochschulen gelernt, verschiedene Denkweisen (die der Politik, der Verwaltung, des Rechts, der Wirtschaft) zu beherrschen und haben im Lauf ihrer Karriere sich zugleich gehütet, sich in einem dieser Bereiche übermäßig zu spezialisieren. Darauf beruht ihre Qualifikation als Spezialisten für Generelles, für politische Interessenvermittlung, für Aushandlungsvorgänge und Entscheidungsprozesse. Die Stärke dieser aus der Beamtenschaft hervorgegangenen politischen Führungsschicht liegt daher in ihrer intellektuellen Brillanz, in ihrer Fähigkeit, Probleme rasch zu erfassen, Entscheidungen vorzubereiten und durchzusetzen, in ihrem Sinn für Organisation. Ihre Schwäche gegenüber reinen Partei-und Interessenpolitikern besteht hingegen in ihrer sozialen Abschottung, in der größeren Notwendigkeit, ihre Autorität durch Leistung im- mer wieder neu zu erwerben und in vielen Fällen im Fehlen eines Charismas. 3. Die Kosten des Systems Das französische Elitenrekrutierungssystem hat weltweit Bewunderer gefunden. Spanien, Argentinien und Großbritannien haben sich bei ihren Verwaltungsreformen vom Muster der ENA inspirieren lassen. Dagegen steht in Frankreich selbst ein großer Chor von Stimmen, die auf seine Schattenseiten verweisen. Die Schwächen des Systems sind insbesondere in zwei Bereichen unübersehbar: im Bildungswesen und in der Verwaltung.
Der starre Dualismus im Hochschulbereich von Universitäten und Grandes coles bringt vor allem drei Probleme mit sich. Erstens führt er -zusätzlich zur sozialen Ungleichheit der Zugangschancen zu den beiden Bildungswegen -zu einer sehr ungleichen Förderung der Studenten. Eine kleine Anzahl der besten Abiturienten gelangt in die Grandes coles, wo diese Spitzengruppe unter bestmöglicher fachlicher Anleitung intensiv gefördert wird. Das Gros der mittelmäßigen bis schlechten Studenten, die eine intensive Betreuung wesentlich nötiger hätten, verbringt dagegen ihr Studium an den überfüllten und im Vergleich beträchtlich schlechter ausgestatteten Universitäten. Zweitens fügt das Nebeneinander von Eliten-bildung und Massenbildung den Universitäten schweren Schaden zu. Ihnen werden die leistungsstärksten Studenten vorenthalten. Die Studenten der vom Massenandrang überfluteten Universitäten, denen zudem der Zugang in viele höhere Berufspositionen verschlossen ist, stehen dem Lehrangebot oft wenig motiviert gegenüber und haben bisher eine Durchsetzung innerer Selektion zur Hebung des Ausbildungsniveaus verhindert. Schließlich führt das dualistische Hochschulsystem zu einer Schwächung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Zwar absorbieren die Elitehochschulen Jahr für Jahr aufgrund ihrer Auswahlkriterien die glänzendsten Nachwuchswissenschaftler. Durch ihre generalistische Ausbildung und mehr noch durch die von ihnen angebotenen Karrierechancen lenken sie den wissenschaftlichen Nachwuchs jedoch in Führungspositionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft.
Nicht weniger gravierend sind die Folgen des Elitenselektionssystems für die französische Verwaltung. Die Rekrutierung des Hauptkontingents der hohen Ministerialbeamten aus der ENA blockiert weitgehend den inneren Aufstieg in den Ministerien. Da die ENA-Absolventen wesentlich schneller in leitende Positionen aufrücken, empfinden sich die Absolventen anderer Bildungsgänge unter den Karrierebeamten auch heute noch als die armen Verwandten der Ministerialbürokratie Hinzu kommen erhebliche Unterschiede innerhalb der ENA-Absolventen. Hier haben wiederum die Bestplazierten der Abgangsranglisten, die in eines der Grands Corps aufgenommen wurden, die besten Karrierechancen. Sie beginnen ihre Ministeriallaufbahn oft in einem Ministeriaistab und besetzen von hier aus die Spitzenpositionen, wobei bestimmte Ministerien von einigen Corps geradezu als Erbhöfe behandelt werden.
Daß sich die Ministerialbürokratie aus Beamten mit sehr unterschiedlichen Startchancen zusammensetzt, bedeutet eine Durchbrechung des meritokratischen Prinzips. Eine der Folgen ist die vielbeklagte „Flucht der Gehirne“. Eine stetig zunehmende Zahl von Karrierebeamten ohne Zugehörigkeit zu den Grands Corps, die ihre Aussichten auf einen ehrenhaften Abschluß ihrer Laufbahn schwinden sehen, verlassen den Staatsdienst und gehen in die Privatwirtschaft. Eine weitere Folge besteht darin, daß die besten Beamten sich in einigen renommierten und unter karrierestrategischen Gesichtspunkten vielversprechenden sowie höherdotierten Ministerien (vor allem Finanzen und Wirtschaft) konzentrieren, während die Ressorts am Ende der Gehalts-und Prestigeskala (Landwirtschaft, Soziales, Erziehung) dem „Fußvolk“ überlassen bleiben.
Die „Flucht der Gehirne“ hat nicht nur die in ihren Karriereerwartungen enttäuschten unteren Ränge ergriffen, sondern inzwischen auch unter den Angehörigen der Grands Corps Ausmaße erreicht, die in den Corps selbst Besorgnisse über ihre eigene Funktionsfähigkeit auslösen Da die hohen Verwaltungspositionen als Rekrutierungsreservoir für Führungspositionen in Politik und Wirtschaft dienen, blockieren somit diejenigen die Ministeriallaufbahnen, die in ihnen nicht ihr eigentliches Ziel, sondern nur ein Sprungbrett sehen. Und schließlich, die in die Politik überwechselnden hohen Beamten haben gegenüber allen Konkurrenten aus anderen Bereichen ein entscheidendes Privileg: ihre berufliche Absicherung. 4. Reformen: Ansätze und Chancen Die Schwächen des französischen Elitenrekrutierungssystems haben eine Vielzahl von Reformvor- Schlägen und Reformversuchen provoziert. Der Tatsache Rechnung tragend, daß die Selektion durch die Grandes coles, die Stellung der Grands Corps innerhalb der Verwaltung und die Verflechtung der Karrieren in Verwaltung, Politik und Wirtschaft voneinander abhängige Bestandteile eines Gesamtsystems darstellen, sehen die umfassenderen der bislang anvisierten Reformprojekte bereichsübergreifende Maßnahmenbündel vor
Ihre Forderungen reichen von der quantitativen und qualitativen Öffnung der Grandes Ecoles und deren Integration in das Universitätssystem über die Aufhebung der starren Bindung der Karrierechancen an den Ausbildungserfolg (Beseitigung der Abgangsranglisten, Ausweitung bzw. Ausschließlichkeit der internen Rekrutierung der Verwaltung), die Abschwächung/Beseitigung der internen Statusunterschiede (gleiche Besoldungsgrundsätze für alle Ministerien, Neustrukturierung der Grands Corps bzw.deren Abschaffung) bis hin zu einer starken Begrenzung wenn nicht sogar Abschaffung der Möglichkeiten der Beurlaubung und Abordnung von Beamten, zu einer Verminderung des Berufsrisikos der Nicht-Beamten in Wählämtern und zu einer Begrenzung der Zahl der politischen Beamten.
Allen bisherigen Reformprojekten ist gemeinsam, daß sie scheiterten. Die entscheidende Ursache für ihren Mißerfolg liegt jedoch nicht im Widerstand der Grands Corps und der Absolventen der Grandes coles, sondern darin, daß ihre Zielsetzung einer tiefverwurzelten Tradition zuwiderläuft. Es ist kein Zufall, daß Jean-Pierre Chevönement, Mitte der achtziger Jahre sozialistischer Erziehungsminister, den Begriff des „republikanischen Elitismus" in die Debatte einführte Die Rolle der Schule als Instrument des sozialen Aufstiegs (cole liberatrice), die Ersetzung von Erblichkeit und Nepotismus durch das schulische Leistungsprinzip beim Zugang zu staatlichen Ämtern während der III. Republik gehören zu den historischen Grunderfahrungen gerade der republikanischen Linken. Die laizistische und die Auswahl der Besten garantierende Staatsschule erscheint als eine der zentralen republikanischen Errungenschaften, als Realisierung des Ideals der Französischen Revolution, das allein die Leistung gelten läßt. Es überrascht nicht, daß diese meritokratische Grundhaltung in Verbindung mit dem jakobinischen Etatismus, der nur im Staat den Garanten des Gemeinwohls sieht, den Mythos der Grandes coles zum „Bestandteil des genetischen Erbes“ der französischen Nation hat werden lassen und ihre Selektionsfunktion geradezu sakralisiert hat „Der Auswahlwettbewerb ist das demokratischste Selektionsverfahren“ dies ist das Credo eines der engagiertesten Verfechter einer Reform des Rekrutierungssystems.
Angesichts dieser festen Verankerung der Grundprinzipien des gegenwärtigen Systems bestehen wenig Aussichten auf seine Veränderung „von oben“. Indessen hat jedoch ein schleichender Wandel „von unten“ eingesetzt. In dem Maße, in dem sich die französische Wirtschaft der internationalen Konkurrenz stellt und sich internationalisiert, verlieren die Grandes Ecoles, die ENA eingeschlossen, als Hauptlieferanten ihres Führungsnachwuchses an Boden. Beschwörend fordert der Präsident Mitterrand von den Elitehochschulen eine Steigerung der Zahl und eine Verbesserung des Profils ihrer Absolventen. Was immer die Ermahnungen des Präsidenten fruchten, es zeichnet sich ab, daß die Öffnung Frankreichs insbesondere zu Europa eine Schubkraft entfalten wird, die über den Wirtschaftssektor hinausreicht. Sie könnte somit das Elitenrekrutierungssystem stärker verändern als alle bisherigen Reformbemühungen.