I. Die Verfassungsordnung in der Bewährungsprobe
Nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der Republik am 8. Mai 1988 löste Francois Mitterrand die Nationalversammlung auf. Aus den Parlamentswahlen vom 5. und 12. Juni 1988 ging die Sozialistische Partei (PS) zwar als die mit Abstand stärkste Partei hervor, aber sie erreichte mit 275 von 577 Sitzen nicht die absolute Mehrheit der Mandate. Da die sozialistisch-kommunistische Linksunion nur noch als Wahlbündnis f und 12. Juni 1988 2) ging die Sozialistische Partei (PS) zwar als die mit Abstand stärkste Partei hervor, aber sie erreichte mit 275 von 577 Sitzen nicht die absolute Mehrheit der Mandate. Da die sozialistisch-kommunistische Linksunion nur noch als Wahlbündnis für den zweiten Wahlgang fortbestand, als Regierungskoalition aber nach dem Ausscheiden der Kommunisten (PCF) aus der Regierung (Juni 1984) zerbrochen war, und die von Mitterrand avisierte Öffnung zur bürgerlichen Mitte nicht zu einer förmlichen Koalition gedieh, bildete die PS eine Minderheitenregierung.
Nach dem „präsidentialistischen Absolutismus“ (infolge der Kongruenz zwischen präsidentieller und parlamentarischer Mehrheit von 1958 bzw. 1962 bis 1986) sowie der neuartigen Gewaltenteilung der „cohabitation" (1986 bis 1988, als ein linker Staatschef und eine rechte Parlamentsmehrheit koexistierten) 3), entstand nun eine neue Konstellation. Zwar existierte eine Minderheitsregierung der Form nach während der ersten Legislaturperiode (1958-1962) der V. Republik, doch bildete damals der Algerienkrieg, für dessen Beendigung die Parteien und die „politische Klasse“ General de Gaulle brauchten, eine Art Mehrheitsersatz. Eine vergleichbare Zwangslage besteht seit 1988 nicht. Damit ist der Fall eingetreten, für den die Verfassungsbestimmungen des „rationalisierten Parlamentarismus“ 4) gedacht sind: Sie sollen verhindern, daß inkohärente und instabile parlamentarische Verhältnisse zu gouvernementaler Instabilität, zu politischer Blockierung und zu Immobilismus führen. Diesen Bestimmungen kommt eine stabilisierende und mehrheitsfördernde Funktion zu, um in einer solchen Situation eine dauerhafte und handlungsfähige Regierung zu ermöglichen 5). 1. Politische Stabilität und Handlungsfähigkeit durch die Verfassung In den drei Jahren seit der Wiederwahl Mitterrands und der Bildung der sozialistischen Minderheitsregierung mit Premierminister Michel Rocard hat es keine Regierungs-oder gar Verfassungskrisen gegeben. Entlassungen und Rücktritte einzelner Minister -und seien sie so spektakulär wie der des Verteidigungsministers Jean-Pierre Chevönement am 29. Januar 1991, aus Protest gegen die französische Politik im Golfkrieg -und Regierungsumbildungen gehören in jeder Demokratie zur politischen Normalität. Auch der „Rücktritt“ Rocards am 15. Mai 1991 war keine Krise, denn er war nicht Folge eines parlamentarischen Mißtrauensvotums; er war vielmehr Ergebnis der zwar nicht verfassungsrechtlich, wohl aber faktisch bestehenden Verantwortlichkeit des Premierministers gegenüber dem Staatspräsidenten, der den „Rücktritt“ (tatsächlich handelte es sich um eine Entlassung) herbeiführte. Die rasche Ernennung von Premierministerin Edith Gresson, der ersten Frau in diesem Amt, und die reibungslose Regierungsbildung verdeutlichen, daß diese Auswechslung keinerlei krisenhafte Züge trug.
Die Regierungen Rocard und Cresson überstanden (bis zum 31. Juli 1991) elf Mißtrauensanträge: fünf „spontane“ nach Art. 49 Abs. 2 und sechs „provozierte“ nach Art. 49 Abs. 3. Ein Mißtrauensantrag konnte freilich nur Erfolg ha- ben, wenn neben der bürgerlichen Opposition der Gaullisten (RPR) und der Liberalkonservativen (UDF) auch die Zentristen, die sich nach den Parlamentswahlen von 1988 von der UDF-Fraktion getrennt hatten und eine eigene Fraktion (UDC) bildeten, sowie die Kommunisten und zumindest einige der fraktionslosen Abgeordneten zustimmten. Diese heterogene und rein negative Koalition fand sich lediglich einmal zusammen und gefährdete fast die Existenz der Regierung Die sozialistische Minderheitsregierung verdankt ihre Stabilität also dem politischen Umstand, daß die Opposition allenfalls eine arithmetische, aber keine politische Mehrheit bildet, sowie den in der Verfassung (Art. 49) niedergelegten erschwerten Bedingungen für die Annahme eines Mißtrauensvotums (namentlich das Erfordernis der absoluten Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung).
Daß die Regierung effektiv regieren und insbesondere ihre Gesetzentwürfe über die parlamentarischen Hürden bringen konnte, verdankt sie der parteipolitischen Konstellation und dem verfassungsrechtlichen Instrumentarium, das ihr zur Verfügung steht. Zum einen regierte sie mit wechselnden Gesetzgebungsmehrheiten: Sie reichten von der bei einer entsprechenden Zahl von Enthaltungen ausreichenden relativen Mehrheit allein der PS über eine rein linke Mehrheit (PS und PCF), eine Mehrheit mit Teilen oder der gesamten bürgerlichen Opposition bis zur Einstimmigkeit Insgesamt hat Rocard mit dem Zentrum und der Rechten viel häufiger „regiert“ als mit den Kommunisten so daß sich bei der Gesetzgebung sowohl die Öffnung zur bürgerlichen Mitte wie auch der Zerfall der Linksunion als Regierungsformel materialisiert. Es wird einmal mehr deutlich, daß sich auch in einem politischen System mit einem vorwiegend kompetitiven Oppositionsmuster gerade bei der Gesetzgebung die kooperativen Elemente noch häufig durchsetzen.
Wenngleich detaillierte empirische Untersuchungen fehlen, kann man doch annehmen, daß die einzelnen Fraktionen für ihre Zustimmung der Regierung jeweils Zugeständnisse abhandelten. Der parlamentarische Einfluß auf die Gesetzgebung hat also zugenommen, auch wenn dies nur teilweise in der Statistik mit den angenommenen Änderungsanträgen zum Ausdruck kommt. Über ihre Nebenrolle im politischen Prozeß ist die Nationalversammlung dennoch nicht hinausgekommen; von einem mitregierenden Parlament kann in der V. Republik nach wie vor keine Rede sein. Weitergehende parlamentarische Emanzipationsversuche kann die Regierung durch einen Rückgriff auf die dafür zur Verfügung stehenden Verfassungsbestimmungen zurückweisen.
Die zahlreichen Maßnahmemöglichkeiten des „rationalisierten Parlamentarismus“, von denen die Regierung ohne Skrupel die geeigneten Instrumente anwandte, sind der zweite Grund, warum sie Gesetze durchbringen konnte Der oppositionelle Senat konnte jederzeit übergangen werden, indem die Regierung den Mechanismus des „Vermittlungsaussghusses" (commission mixte paritaire) in Gang setzte und im Falle der Nicht-Einigung die Nationalversammlung gemäß Art. 45 Abs. 4 den endgültigen Beschluß faßte.
Wichtiger und schwieriger war es, eine Mehrheit in der Nationalversammlung zu erzwingen, wenn sie sich nicht freiwillig zusammenfand. Zu diesem Zweck stehen der Regierung bzw.dem Premierminister vor allem zwei von den Parlamentariern gefürchtete Hilfsmittel zu Gebote. Das erste ist das „vote bloqu" nach Art. 44 Abs. 3, d. h. die Abstimmung über eine Vorlage insgesamt und nicht über die Änderungsanträge im einzelnen -wobei die Regierung frei entscheiden kann, welche dieser Änderungsanträge sie in die Vorlage übernimmt. Während in der Legislaturperiode mit einer absoluten Mehrheit der PS (1981-1986) gemäß einem Versprechen Mitterrands (proposition Nr. 146 aus seinem Wahlprogramm von 1981) die Anwendung dieser Verfassungsbestimmung stark eingeschränkt wurde, ist sie seit 1988 wieder sehr häufig geworden. Insbesondere für die Verabschiedung des Haushalts erwies sich das „vote bloque“ als unentbehrlich
Ist mit dem Art. 44 Abs. 3 eine Mehrheit für die Vorlage nicht zu erzwingen, so bleibt als letzteReserve der Art. 49 Abs. 3: Der Premierminister verbindet die Vorlage mit der Vertrauensfrage; wird kein Mißtrauensantrag eingebracht oder findet er nicht die erforderliche Mehrheit, so gilt die Vorlage als angenommen, ohne daß über sie eigens abgestimmt wird. Diese Bestimmung war bei den Verfassungsberatungen 1958 von Vertretern des „klassischen“ Parlamentarismus -insbesondere Paul Reynaud -vehement abgelehnt worden. Selbst die Gaullisten wollten von dieser Möglichkeit nur in seltenen Notfällen Gebrauch machen und sie nicht als normale Methode bei der Gesetzgebung anwenden. Die Linke kritisierte häufig die Praxis, ohne indes die Streichung dieses Verfassungsartikels zu fordern. Die Sozialisten hatten jedoch selbst mit einer klaren absoluten parlamentarischen Mehrheit den umstrittenen Artikel von 1981 bis 1986 elfmal -für fünf Vorlagen -angewandt. Allerdings ist hierzu anzumerken, daß es dabei meist um die Beendigung der Obstruktion der parlamentarischen Opposition ging
Von 1988 bis zum 31. Juli 1991 hat der Premierminister 28mal die Vertrauensfrage im Zusammenhang mit Gesetzes-oder Haushaltsberatungen gestellt, für zwölf verschiedene Vorlagen Damit haben Rocard und Cresson alle vorherigen Regierungen weit übertroffen, denn die gaullistisch-liberalkonservativen Regierungen griffen bis 1981 nur 18mal zu diesem parlamentarischen Notbehelf. Zwar hatte Mitterrand beim Neujahrsempfang 1990 den Präsidien der Nationalversammlung und des Senats erklärt, diese „Bequemlichkeit“ (des Art. 49 Abs. 3) gebe es zwar, aber davon dürfe nicht „ein permanenter Gebrauch“ gemacht werden Heute spricht man jedoch zu Recht von'einer „banalisation" des Art. 49 Abs. 3, einer normalen, alltäglichen Praxis. Trotz seiner grundsätzlichen Bedenken hatte Mitterrand aber hinzugefügt, er habe „seinen“ Premierministern nie verboten, von dieser „verfassungsmäßigen Waffe“ Gebrauch zu machen Auch ihm ist zweifellos klar, daß eine Minderheitsregierung ohne dieses „Sicherheitsnetz“ (so Rocard über den Art. 49 Abs. 3) jederzeit gestürzt werden könnte, da sie für viele ihrer Vorlagen keine parlamentarische Mehrheit finden würde. „Die Auswirkungen unserer ständigen politischen Unruhe“, also Parteienzer-Splitterungund instabile Verhältnisse, müßten durch die Institutionen „kompensiert“ werden, wie de Gaulle schon in seiner Rede von Bayeux am Juni 1946 programmatisch gefordert hatte 16). Dieses Ziel wird in einer de Gaulle und den Verfassungsvätem von 1958 vorschwebenden politisch-parlamentarischen Situation mit dem Art. 49 Abs. 3 durchaus erreicht. Er gibt einer schwachen Mehrheit den nötigen Halt und ermöglicht erst eine stabile Regierung. 2. Staatspräsident und Premierminister Das Verhältnis zwischen dem Staatspräsidenten und dem Premierminister seit 1988 führt insofern die Tradition der V. Republik fort, als die dominierende Stellung des Präsidenten gewahrt bleibt und der Premierminister weiterhin nur „der zweite Mann an Bord“ (de Gaulle) ist. Nur während der „cohabitation" bestand die präsidentielle Dominanz in dieser Form nicht. Auch Rocard hat sich mit einer untergeordneten Position begnügen müssen; mit der durch den Verfassungstext nicht geforderten, aber von Rocard akzeptierten Entlassung durch den Staatschef ist diese Hierarchie erneut sichtbar geworden. Innerhalb dieser unveränderten Rollenverteilung gibt es aber, soweit eine Beurteilung schon möglich ist, gewisse Neuakzentuierungen. Die Außen-und die Sicherheitspolitik gilt seit de Gaulle als ein dem Staatspräsidenten vorbehaltener politischer Bereich, in dem der Premierminister besonders wenig mitzureden hat, wenn er nicht sogar ganz aus dem Entscheidungsprozeß herausgehalten wird. Die Ereignisse und Konflikte in der internationalen Politik seit 1989 haben dazu geführt, daß Zeit und Arbeitskraft des Staatschefs davon in erheblichem Maße in Anspruch genommen worden sind. Um die Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik, um die Innen-und Bildungspolitik konnte er sich folglich nicht umfassend kümmern. Hinzu kommt, daß in diesen Bereichen in aller Regel Gesetzesbeschlüsse erforderlich sind. Bei einer nur relativen sozialistischen Mehrheit in der Nationalversammlung sind langwierige Gespräche und Verhandlungen nicht nur mit der eigenen, sondern vor allem mit anderen Fraktionen nötig. Dieser Teil der Regierungstätigkeit -einschließlich der Vorbereitung, parlamentarischen Beratung und Verabschiedung des Haushalts -istdas Feld, das vorzugsweise dem Premierminister und den Ressortministern überlassen ist.
Daraus darf freilich nicht geschlossen werden, der Präsident sei hier völlig untätig. Aufgabe des Präsidenten sei es, wie Mitterrand einmal ausführte, fortwährend „Scheite ins Feuer zu legen“, „die Dinge voranzutreiben“, „über alles zu wachen, um der Regierung einige Richtlinien zu geben“. Darüber hinaus überlasse er der Regierung die Verantwortung So hat Mitterrand, obwohl der Präsident laut Verfassung keinerlei Kompetenzen bei der Gesetzesinitiative besitzt, durch verschiedene Interventionen im Ministerrat und durch öffentliche Erklärungen legislatorische Aktivitäten angeregt oder vorangebracht -er hat sich in einen „prsident-lgislateur" verwandelt Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem Premier werde er sich durchsetzen, so Mitterrand unmißverständlich Seine „Einmischung“ bei den Schülerunruhen im Herbst 1990 -er richtete eine sehr „verständnisvolle“ Botschaft an die Demonstranten und empfing eine Delegation -bewies, daß er auch eine öffentliche Bekräftigung seines Primats nicht scheute.
Gleichwohl handelt es sich eher um punktuelle Interventionen -vorzugsweise in der Sozial-, Bildungs-und Kulturpolitik -, nicht um ein tagtägliches Hineinregieren in den Bereich des Premierministers. Dies war noch bei seinen Vorgängern im Präsidentenamt, Valöry Giscard d’Estaing und Georges Pompidou, die beide vor ihrer Wahl zum Präsidenten schon eine langjährige Regierungserfahrung besaßen, der Fall gewesen. Mitterrands präsidentielle Praxis ist in dieser Hinsicht am ehesten der de Gaulles vergleichbar. Mit dieser relativen Zurückhaltung wirkt Mitterrand auf die Mehrheit der Franzosen wie ein Schiedsrichter, diese Rolle weist ihm im übrigen Art. 5 der Verfassung zu, nicht wie ein „Chef“ -was die Mehrheit indes wünscht
In der Außen-und Sicherheitspolitik hingegen agiert der Präsident als der unbestrittene Chef, der allein die wichtigen Entscheidungen fällt. Ein Wort mitzureden haben allenfalls noch der Außen-und der Verteidigungsminister und die Berater des Präsidenten. Während der Golfkrise und des Golf-krieges ist diese „nukleare Monarchie“ (so der Titel des bekannten Buches von Samy Cohen) fast in Extremform zutage getreten Der Präsident ergriff die Initiativen, traf die Entscheidungen und erläuterte sie in Fernsehauftritten den Bürgern. Die außenpolitische Entscheidungsstruktur in der V. Republik ist, wiederum ungeachtet des Verfassungstextes (Art. 20 und 21), keine „Dyarchie“, nicht zweigeteilt (und sei es mit klarer Über-und Unterordnung), sondern sie ist eine besonders scharf ausgeprägte Monokratie. 3. Der Verfassungsrat Aus dem Komplex des institutioneilen Gefüges und seiner Entwicklung verdient der Verfassungsrat noch eine besondere Erwähnung, zumal er in den achtziger Jahren des öfteren im Mittelpunkt der politischen Debatten gestanden hat und 1990 Gegenstand eines -allerdings gescheiterten -Versuchs einer Verfassungsänderung war.
Dem Verfassungsrat war in der V. Republik ursprünglich vor allem die Rolle eines Wächters über die Prärogativen der Exekutive zugedacht. Nach dem Rücktritt de Gaulles (1969), der in einer Stärkung des Verfassungsrates eine Beeinträchtigung der Rolle des Staatspräsidenten als Hüter der Verfassung (Art. 5) gesehen und sie deshalb abgelehnt hatte, dehnte der Verfassungsrat selbst mit seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 16. Juli 1971 seinen Kompetenzbereich auf die Präambel der Verfassung aus; diese verweist ihrerseits auf die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte von 1789 und die sie in sozialer Hinsicht ergänzende Präambel der Verfassung von 1946 (einen eigenen Grundrechtskatalog enthält die Verfassung der V. Republik nicht).Damit hatte sich der Verfassungsrat die Möglichkeit geschaffen, als Verteidiger der Grundrechte und Grundfreiheiten zu wirken. Mit der Entscheidung hatte er außerdem unter Beweis gestellt, daß er zu größerer Unabhängigkeit gegenüber der politischen Führung, namentlich gegenüber dem Staatspräsidenten, entschlossen war. Die von Präsident Giscard d’Estaing initiierte Verfassungsreform von 1974, die das Anrufungsrecht faktisch der Opposition einräumt (60 Abgeordnete oder 60 Senatoren; vgl. Art. 61 Abs. 2), führte die begonnene Emanzipation des Verfassungsrates zur vollen Entfaltung. Mit einer wesentlich gesteigerten Aktivität -und mit kompetenterer Besetzung -wurde er ein echtes Verfassungsgericht, wenngleich er mit seinen Kompetenzen hinter dem italienischen, spanischen oder deutschen Verfassungsgericht zurückbleibt Als Hüter der Rechte des Parlaments und der politischen Minderheiten sowie als Beschützer der individuellen und kollektiven Rechte der Bürger übernahm er eine zentrale Rolle im politischen Prozeß.
Der einschneidende Machtwechsel von 1981 brachte dem Verfassungsrat nicht die vielfach erwartete oder befürchtete Krise, sondern einen neuerlichen Bedeutungszuwachs und, unbeschadet gelegentlicher Kritik, eine allgemeine Anerkennung. Obwohl er der Linksregierung -wie auch der späteren bürgerlichen Regierung unter Jacques Chirac -verschiedentlich lästig war und von manchen als ein Ärgernis empfunden wurde blokkierte er nicht die Reformpolitik der Linken, sondern sorgte für die Einhaltung der durch die Verfassung (freilich in seiner Interpretation) gezogenen Grenzen. Der von ihm wiederholt explizit abgelehnten Versuchung, an die Stelle des Gesetz-gebers zu treten, ist er nicht erlegen; zu einem in Frankreich immer wieder beschworenen „gouvernement des juges“ ist es nicht gekommen. Der Verfassungsrat hat mit seinen Entscheidungen letztendlich befriedend gewirkt und vor allem die heftig angefochtene Politik der Linksregierungen legitimiert. Er hat außerdem verdeutlicht, daß sich auch ein politisch radikaler Machtwechsel innerhalb der Grenzen der strikt interpretierten Verfassung bewegen muß, wodurch dieser für manchen Wähler akzeptabler erscheinen mag.
Seine seit 1988 geringer gewordene Aktivität bedeutet nicht, daß er mit seiner Kontrolle nachgelassen hätte oder daß er der politischen Mehrheit wieder gefügig geworden wäre. Vielmehr wird man darin einen Beleg für seine Wirksamkeit sehen dürfen: Die Möglichkeit -und Wahrscheinlichkeit -, daß er von der Opposition angerufen wird, hat zur Folge, daß seine Existenz und eventuelle „Zensur“ in die Überlegungen der politischen Mehrheit bei der Vorbereitung eines Gesetzes bereits eingehen. Diese exakt nicht zu bestimmende Präventivkontrolle dürfte nicht geringer zu veranschlagen sein als die sichtbare Kontrolle durch seine Entscheidungen.
Ein auf eine Anregung des Präsidenten des Verfassungsrates, Robert Badinter, zurückgehender Entwurf einer Verfassungsänderung sollte die konkrete Normenkontrolle (par voie d’exception) ermöglichen, die dem Verfassungsrat bisher nicht zusteht. Auf Antrag jeder an einem Rechtsstreit beteiligten Streitpartei -nicht des Gerichts, im Unterschied zu Art. 100 GG -, die sich durch das anzuwendende Gesetz in ihren Grundrechten verletzt fühlt, kann dieses Gesetz nach dem Durchlaufen mehrerer „Filter“ dem Verfassungsrat zur Überprüfung vorgelegt werden, wenn dieser vor dem Inkrafttreten des Gesetzes nicht schon angerufen worden war. Damit könnte ein verfassungswidriges, aber gültiges Gesetz annulliert werden, was bisher nicht möglich ist, da der Verfassungsrat vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes angerufen werden und entscheiden muß. Auch eine „Zensur“ durch die internationale Gerichtsbarkeit, vor allem durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, könnte dann vermieden werden.
Der Senat, der bei Verfassungsänderungen ein absolutes Vetorecht besitzt (Art. 89 Abs. 2), erklärte sich zwar „im Prinzip“ mit der angestrebten Verfassungsänderung einverstanden, wollte aber seine Zustimmung von einer deutlichen Stärkung seiner Position gegenüber der Nationalversammlung abhängig machen Da diese jede weitgehende Veränderung des Zweikammersystems ablehnte, ist die Verfassungsänderung zunächst blokkiert. Ob damit, wie verschiedentlich geäußert wurde, der weitere Aufstieg des Verfassungsrates gebremst ist, ist keineswegs ausgemacht. In jedem Fall bleibt die Bedeutung des Verfassungsrates alsdas wirksamste institutioneile Gegengewicht gegen den kompakten Machtverbund von Präsident der Republik und Mehrheit in der Nationalversammlung ungeschmälert.
Problematischer und fragwürdiger denn je erscheint dagegen die Rolle des Senats. Als wirksames Element der Regierungskontrolle besitzt er nicht genügend Kompetenzen; eine Vertretung der Regionen kann er aufgrund des Wahlmodus nicht sein; seine Machtbefugnisse bei einer Verfassungsänderung hat er hingegen einmal mehr benutzt, um sie zu vereiteln. In beiden Fällen hat er, trotz der eigenen schwachen demokratischen Legitimationsbasis, gegen den Wunsch einer klaren Mehrheit der Franzosen entschieden: 1984 hat er sich einer Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten der Bürger entgegengestellt, und 1990 hat er die Schließung einer Lücke im Rechtsstaat verhindert. Er erscheint als ein fast schon archaisches, jedenfalls dringend reformbedürftiges Element der Verfassungsordnung. Festzuhalten bleibt, daß sich die Institutionen der V. Republik nach dem Machtwechsel von 1981 und der „cohabitation" in einer neuerlich schwierigen Konstellation -eine nur relative Mehrheit der Regierungspartei in der Nationalversammlung -bewährt haben. Die Franzosen anerkennen diese Qualität, denn sie haben mit deutlicher Mehrheit Vertrauen zu den Institutionen insgesamt (60 zu 21 Prozent) wie auch zu den einzelnen Staatsorganen
II. Die Parteien in der Krise
1. Keine Auflösung des bipolaren Parteiensystems Die Präsidenten-und Parlamentswahlen von 1988 schienen das Ende des seit 1962 bipolar strukturierten Parteiensystems einzuläuten Mitterrands Wiederwahl erfolgte unter den Stichworten Konsens und „einiges Frankreich“; vom „Bruch mit dem Kapitalismus“ oder einer Grundentscheidung über eine neue Gesellschaftsordnung wie 1981 war nicht mehr die Rede.
Als die PS bei den Parlamentswahlen nur eine relative Mehrheit erreichte und an eine Neuauflage einer PS-PCF-Regierungskoalition nicht zu denken war, gab Mitterrand die Parole einer „Öffnung zur Mitte“ aus. Der neue Premierminister Rocard schien dafür der geeignete Mann zu sein, denn von allen sozialistischen Politikern genießt er -zusammen mit dem EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors -bei den bürgerlichen Parteien das höchste Ansehen. Außerdem hatten sich die Zentristen (CDS) von der gemeinsamen UDF-Fraktion getrennt; darin konnte ein Signal gesehen werden, ihrerseits die Öffnung zu versuchen, d. h. eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten zu beginnen. In die Regierung Rocard wurden denn auch einige Minister berufen, die dem bürgerlichen Lager angehörten oder ihm nahestanden. In der Nationalversammlung kam es, wie erwähnt, häufig zu. Gesetzgebungskoalitionen der PS mit dem CDS (mitunter ausgedehnt auf Teile der Liberalkonservativen UDF und der Gaullisten).
Die politischen Einstellungen in der Bevölkerung boten eine tragfähige Grundlage für eine Konsens-politik und die Überwindung des Links-Rechts-Schemas denn bei den wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Problemen zeigte und zeigt sich weiterhin ein Trend zur Mitte Kommentatoren sprechen vom „Frankreich des Monsieur Nini“ Hinzu kam, daß nach dem nahezu permanenten Wahlkampf von 1988 und 1989 für die Jahre 1990 und 1991 keine „Hauptwahlen“ bevorstanden. Gleichwohl ist die Öffnung nicht weit gediehen; daß sie eine Regierungsformel werden könnte, erscheint gegenwärtig ausgeschlossen. Die Vorbehalte erwiesen sich auf beiden Seiten, besonders bei den Sozialisten, als zu groß; die sozialstrukturellen Faktoren (pesanteurs sociologiques), die bei den Wahlen wirken, halten die zur Mitte streben-den Kräfte im linken bzw. rechten Lager fest. Damit ist der Hauptgrund für eine wirkliche politische Öffnung angesprochen: Die Institutionen der V. Republik und das System der absoluten bzw. romanischen Mehrheitswahl stehen der politischen Umsetzung konvergierender ideologischer und gesellschaftlicher Tendenzen entgegen, indem sie eine Koalition der rechten und der linken Mitte verhindern, zumindest äußerst erschweren. Selbst die zahlreichen Nach-und Nebenwahlen des Jahres 1990 haben die Wirkung dieses Faktors gezeigt. Da 1992 Regional-und Kantonalwahlen sowie 1993 Parlamentswahlen anstehen, wird sich die Bipolarisierung wieder verstärken. Die Ernennung Edith Cressons zur Premierministerin, von den Kommunisten freundlich, von den Zentristen kritisch-ablehnend aufgenommen, ist als eine stärkere Reorientierung an der Linksunion (als Wahlbündnis) im Hinblick auf diese Wahlen zu verstehen Ebenso dürfte sich die 1990 bereits begonnene Rückwendung der Zentristen zum Bündnis mit den Giscardisten und den Gaullisten fortsetzen. 2. Das linke Lager Betrachtet man die einzelnen Parteien, so fällt zunächst eine Gemeinsamkeit auf (die jedoch nicht für die „Außenseiter“, die rechtsradikale Front National/FN und die GRÜNEN gilt): Alle haben mehr oder weniger große Schwierigkeiten, befinden sich in einem Schwäche-, einem krisenhaften Zustand und sind sehr unpopulär (dies gilt auch für die FN)
In besonderem Maße trifft dies für die einst so mächtige Kommunistische Partei (PCF) zu, die in den achtziger Jahren einen spektakulären Niedergang erfuhr Die nach dem Desaster in den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen von 1981 von der Parteiführung gegebene Erklärung überging die wichtigsten Faktoren: ihre eigenen Fehler und ihr Unvermögen, vor allem aber die wesentlichen kommunistischen Prinzipien, nämlich eine archaische und den politischen und gesellschaftlichen Problemen der heutigen Zeit nicht angemessene Doktrin, ein autoritäres Sozialismuskonzept und eine bürokratische Parteiorganisation, die nicht gerade ein Engagement förderte. Da man folglich auch nur an Symptomen kurierte, folgten erneut Wahlniederlagen, ein weiterer Rückgang der Mitgliederzahlen und eine alarmierende Mobilisierungsschwäche (crise du militantisme).
Die Entwicklung der Sowjetunion unter Gorbatschow, zu dem die Parteiführung um Georges Marchais unübersehbar auf Distanz ging, und der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Ostmitteleuropa stellten die PCF vor neue Herausforderungen. Sie reagierte geradezu mit einer Realitätsverweigerung: „Das Scheitern dieser sozialistischen Gesellschaften ist nicht das Scheitern des Sozialismus.“ Am kommunistischen Ideal versucht sie nach wie vor festzuhalten, indem sie es radikal von der Wirklichkeit trennt. Aus den einschneidenden Veränderungen im ehemals kommunistischen Teil Europas bezieht die PCF keine neue Kraft; diese beeinträchtigen vielmehr zusätzlich ihre Glaubwürdigkeit und drohen sie weiter zu schwächen
Die zweite Herausforderung, die bereits in den siebziger und achtziger Jahren immer wieder auf-kam, kommt aus der Partei selbst: Die innerparteiliche Opposition gegen den Kurs der Parteiführung vertieft sich. Der 27. Parteitag vom 18. bis 22. Dezember 1990 und seine Vorbereitung boten den Opponenten eine gute Gelegenheit, sich zu artikulieren. Charles Fiterman, von 1981 bis 1984 Minister in der Koalitionsregierung mit den Sozialisten und inzwischen Gegenspieler von Georges Marchais, legte -ein Novum in der Parteigeschichte -der den Parteitag vorbereitenden ZK-Sitzung (20. -22. September 1990) einen Gegenentwurf zum Leitantrag der Parteiführung vor. Die Parteiführung lehnte es allerdings ab, ihn zur Abstimmung zu stellen. Wenn auf dem Parteitag die Diskussionen auch offener und kontroverser waren, als es in der Partei üblicherweise der Fall ist, so konnte sich die Führung doch mühelos und mit den gewohnt einstimmigen (bzw. nun fast einstimmigen) Ergebnissen durchsetzen. Indem sie sich die Organisationsregeln des „demokratischen Zentralismus“ mit einem fortbestehenden und strikt gehandhabten Fraktionsverbot zunutze machte, gelang es der Parteiführung noch stets, die innerparteiliche Opposition niederzuhalten, sie zu marginalisieren und sich so gegen sie zu behaupten. Im Entwurf des Leitantrages zum 27. Parteitag wird die entscheidende Frage gestellt, ob die PCF weiter eine kommunistische, d. h.dem Marxismus-Leninismus verpflichtete Partei sein solle. Mit dem nicht mehr zu ignorierenden Problem des Überlebens einer sich revolutionär verstehenden Partei in einer liberal-demokratischen Gesellschaft konfrontiert, entscheidet sich die PCF-Führung bisher gegen den italienischen Weg, d. h. gegen das Abwerfen des gesamten marxistisch-leninistischen Ballasts. Sie ist entschlossen, die überkommene kommunistische Identität zu behaupten. Daß sich die PCF mit dieser Haltung den Weg in eine bessere Zukunft eröffnen könnte, wie ihre Führung mit angestrengtem Optimismus weiterhin verkündet, erscheint allerdings als ausgeschlossen. Das rasche Scheitern des Putsches in der Sowjetunion vom 19. August 1991 und das sich abzeichnende Ende des kommunistischen Regimes im von der PCF verehrten „Mutterland des Sozialismus“ hat die Existenzkrise der Partei noch verschärft.
Als einzige französische Partei blieb die Sozialistische Partei (PS) vom allgemeinen Vertrauensverlust lange Zeit verschont Diese privilegierte Stellung hat sie 1990 eingebüßt, denn ihr Image hat sich drastisch verschlechtert. Zwar haben die Franzosen von ihr immer noch eine bessere Meinung als von den bürgerlichen Parteien und der PCF, aber die GRÜNEN sind deutlich populärer Der Popularitätsschwund hat naheliegende Gründe: Die PS erfährt zunächst die Enttäuschung jeder Regierungspartei, die nicht alle Erwartungen erfüllen kann. Da die Diskrepanz bei einer sozialistischen Partei besonders groß ist, fallen Ernüchterung und Enttäuschung entsprechend aus Sodann ist die PS in eine Reihe von Skandalen im Zusammenhang mit der Parteienfinanzierung verwickelt, und die Öffentlichkeit erhält den Eindruck, die PS benutze ihre Macht als Regierungspartei, um die geforderte Aufklärung zu verhindern. Schließlich beeinträchtigen die persönlichen Rivalitäten in der Partei, die auf dem Parteitag von Rennes vom 16. bis 19. März 1990 besonders kraß zutage getreten sind, ebenfalls ihr Ansehen. Dabei geht es kaum, jedenfalls nicht primär um Auseinandersetzungen über den politischen Kurs der Partei; man streitet nicht mehr, wie noch in den siebziger Jahren, um politische Inhalte. Die verschiedenen Gruppierungen (courants) in der Partei stehen nicht mehr für unterschiedliche politische Entwürfe, sondern sie dienen als Startrampen für ihren jeweiligen Leader für die Präsidentschaftskandidaturen. Worin sich die Vorstellungen der Delors, Fabius, Jospin oder Rocard unterscheiden, ist kaum auszumachen.
Die durch die Präsidentenwahl hervorgerufenen und auf sie hin orientierten persönlichen Rivalitäten (die nicht für Auseinandersetzungen über den politischen Kurs der Partei stehen) verdeutlichen, in welchem Maße die französischen Parteien „präsidentialisiert" sind (Portelli). Nach den bürgerlichen Parteien ist nunmehr auch die PS von diesem Phänomen erfaßt; denn Mitterrand, der 1981 und 1988 als Kandidat zwar formal innerparteilich ausgewählt, faktisch aber lediglich bestätigt und akklamiert wurde, wird 1995 nicht noch einmal antreten (obwohl es ihm die Verfassung erlauben würde). Die französischen Parteien, die einen oder auch mehrere Präsidentschaftskandidaten präsentieren können -PS, UDF und RPR -, sind Wahlkampfmaschinen, „Präsidentenwahlvereine“. Auch die PS ist kaum noch eine Programmpartei und sie ist auch keine Mitglieder-und „Aktivistenpartei“ (parti de militants) Eher als mit sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien Europas ist sie mit den amerikanischen Demokraten vergleichbar. Den Umfragedaten für die einzelnen Prätendenten muß logischerweise eine größere Bedeutung beigemessen werden als den inhaltlich ohnehin kaum unterscheidbaren Programmen. Dabei schneiden naturgemäß die Kandidaten, die auch im bürgerlichen Lager eine gewisse Zustimmung finden (Rocard und Delors), besser ab als jene, die in der Partei zwar eine größere Hausmacht besitzen, aber gerade, weil sie zu sehr als Parteipolitiker erscheinen, außerhalb der Partei weniger Anklang finden (Fabius, Jospin, Mauroy). Paradoxerweise haben also die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten die größten Schwierigkeiten, sich in der Partei durchzusetzen Geblieben ist der PS ihr Strategieproblem bzw.
Strategiedilemma. Die Linksunion ist noch die offizielle Parteilinie, und die Wahl vieler PS-Abgeordneter und vor allem lokaler Mandatsträger ist vom (Wahl-) Bündnis mit der PCF abhängig. PS-Politiker betonen denn auch immer wieder die Verankerung ihrer Partei im linken Spektrum. Das Bündnis mit den Kommunisten, das den Sozialisten in der V. Republik durch das Wahlsystem praktisch aufgezwungen ist, das in den siebziger Jahren bis zur programmatischen Einigung (1972) weitergeführt und 1981 mit der Bildung einer Koalitionsregierung gekrönt wurde, wirft für die PS gleichwohl eine Reihe von Problemen und Schwierigkeiten auf.
Auch als einfaches Wahlbündnis, das lediglich dazu dienen soll, jeder der beiden Parteien zu einem möglichst guten Abschneiden bei den Wahlen zu verhelfen, wird sie nicht mehr das angestrebte Ergebnis bringen, wenn die Stimmenübertragung im zweiten Wahlgang (die „republikanische Disziplin“) allzu sehr zu wünschen übrig läßt. Die Auseinanderentwicklung der Parteien hat in dieser Hinsicht negative Auswirkungen Nach dem Bruch der Linksunion 1977 und dem Ausscheiden der PCF aus der Regierung 1984 ist das erstmalige Votum der Kommunisten für einen Mißtrauensantrag der bürgerlichen Opposition gegen die Regierung Rocard am 19. November 1990 ein Alarmsignal. Der Wechsel im Amt des Premierministers und die näherrückenden Wahltermine lassen aber ein Arrangement wieder wahrscheinlicher erscheinen, wie das Treffen von Mauroy mit Marchais am 6. Juni 1991 zeigt.
Die Anhänger beider Parteien wünschen das Bündnis nur noch halbherzig, vor allem mit unterschiedlicher Intensität: zwar wollen es immerhin noch 67 Prozent der Kommunisten, aber nur noch 12 Prozent der Sozialisten (25 Prozent sind für ein Zusammengehen mit den Zentristen, 48 Prozent mit den GRÜNEN) Innerhalb der PS ist die Linksunion sehr umstritten: zwischen den einzelnen „courants“, aber vor allem zwischen den Parteikadem, die sie immer noch massiv unterstützen, und Prozent mit den GRÜNEN) 46). Innerhalb der PS ist die Linksunion sehr umstritten: zwischen den einzelnen „courants“, aber vor allem zwischen den Parteikadem, die sie immer noch massiv unterstützen, und den Wählern, die kaum dafür zu begeistern sind 47).
Noch gravierender ist der Umstand, daß Mitterrands Vorhaben, die PCF zu schwächen und die PS zur stärksten Kraft auf der Linken zu machen, so gut gelungen ist, daß die Linke insgesamt nun nur noch mit Mühe (wenn überhaupt) die Mehrheit im Parlament erreichen kann. Ob die GRÜNEN die PCF als eventueller Koalitionspartner der PS ersetzen können, ist noch nicht zu erkennen. Aber auch wenn die Linksunion die Parlamentswahl 1993 gewinnen sollte -was z. Z. ziemlich unwahrscheinlich ist -, bleibt das Problem der Regierungsmehrheit. Da eine Koalition mit der PCF wohl nicht in Frage kommt, jedenfalls solange diese ihren Kurs beibehält, bliebe nur die Fortsetzung einer sozialistischen Minderheitsregierung, die während einer weiteren Legislaturperiode als eine kaum praktikable Lösung erscheint, oder eine Koalition mit den Zentristen, die die PS vor eine Zerreißprobe zu stellen droht 48). 3. Das bürgerliche Lager
Die gaullistische Partei (RPR), die sich bisher als eine geschlossen hinter ihrem Führer Chirac stehende, fast monolithisch wirkende Partei dargestellt hatte, ist ebenfalls in eine Krise geraten und muß nun lernen, wie andere Parteien auch mit innerparteilichen Gruppen und Flügeln zu leben
Die Formierung einer innerparteilichen Opposition und Parteiaustritte einiger Prominenter sind eine direkte Folge der Niederlage Chiracs bei der Präsidentschaftswahl 1988. Beim Parteitag von Le Bourget am 11. Februar 1990 wurde erstmals gegen den Leitantrag der Parteiführung ein Gegenantrag vorgelegt. Obwohl Chirac seine Kandidatur für den Parteivorsitz von einem klaren Votum für den Leitantrag abhängig gemacht hatte, stimmten immerhin 31, 4 Prozent der Delegierten für den Antrag der innerparteilichen Opposition. Nur durch die Einführung eines gewissen Maßes an innerparteilicher Demokratie in Form verschiedener Strömungen -die, ähnlich wie in der PS, in den Parteigremien vertreten sind -gelang es Chirac, die Einheit des RPR und seine eigene Führung zu retten.
Die innerparteiliche Opposition um den „rechten Haudegen“ Charles Pasqua (ehemaliger Innenmi- nister) und den „Linken“ Philippe Sguin (ehemaliger Arbeitsminister) eint das Bestreben, die Partei wieder stärker an die gaullistischen Ursprünge zurückzuführen. Statt die Unterschiede zur UDF zu verwischen oder gar den Gaullismus als eine Variante des Liberalismus zu bezeichnen soll das RPR durch die Betonung genuin gaullistischer Positionen in der Innen-(rigorose Einwanderungspolitik, starker Staat), Außen-(nationale Unabhängigkeit) und Sozialpolitik (Partizipation der Arbeitnehmer) eigenes Profil gewinnen. Dahinter steht die Hoffnung, durch einen populistischen Gaullismus von der Rivalin auf der äußersten Rechten, der Front National (FN), potentielle Wähler abzuziehen.
Von dieser innerparteilichen Opposition ist die „Revolte der Jungen“ zu unterscheiden. Ihr Bestreben geht dahin, die Partei zu verjüngen und Lösungen für die neuen Probleme zu suchen, ohne dabei auf die reine Lehre des Gaullismus fixiert zu sein. Vielmehr streben sie ein Zusammengehen mit gleichgesinnten und ebenfalls gegen die „alten Parteibosse“ revoltierenden Jüngeren in der UDF an Sie streben vor allem einen klaren Trennungsstrich zur FN Jean-Marie Le Pens an Durch ihren Parteiaustritt (Michöle Barzach, ehemalige Gesundheitsministerin, und Michel Noir, Oberbürgermeister von Lyon, am 6. Dezember 1990) bzw.den Rücktritt vom Parteivorsitz (Franois Lotard als Vorsitzender der liberalen PR im Herbst 1990) haben sie zu erkennen gegeben, daß sie eine Reform der bürgerlichen Parteien von innen heraus als wenig aussichtsreich ansehen. Sie können sich zwar auf beachtliche kommunalpolitische Erfolge (neben Michel Noir etwa Alain Cari-gnon, Oberbürgermeister von Grenoble) stützen, und Michel Noir ist als Präsidentschaftskandidat bereits populärer als Chirac ob ihnen allerdings eine grundlegende und erfolgreiche Erneuerung der bürgerlichen Opposition oder gar „ein nationales Aufbäumen“ (Noir) gelingen wird, erscheint nach der bisher begrenzten Resonanz ihres Vorhabens sehr zweifelhaft.
Die Liberalkonservativen der UDF, vor der Parlamentswahl 1978 gegründet, um den kleineren Parteien innerhalb des bürgerlichen Lagers durch ihren Zusammenschluß ein größeres Gewicht gegenüber den dominierenden Gaullisten zu geben, bilden allenfalls formal eine Partei, sind aber faktisch nur eine Konföderation von selbständig gebliebenen Parteien und Clubs Damit ist auch schon ihr altes wie neues Hauptproblem genannt: Solange ihre einzelnen Mitgliedsparteien ihre „Souveränität“ nicht an sie abzugeben bereit sind, und solange sie darauf achten, daß keine einzelne Partei eine Führungsrolle übernimmt, solange kann die UDF nicht mehr sein als ein lockerer Dachverband -mit nur beschränkter Handlungsfähigkeit, ohne wirkliche Führung und ohne kohärentes Programm (namentlich auf dem Gebiet der Wirtschafts-und Sozialpolitik).
Zusätzlich eingeschränkt werden die Aktionsmöglichkeiten der UDF durch die persönlichen Rivalitäten der Präsidentenanwärter, von denen es mehrere in ihren Reihen gibt. Seit dem UDF-Vorsitzenden Valry Giscard d’Estaing als Führer einer erfolgreichen RPR-UDF-Liste (ohne die Zentristen) bei den Europawahlen vom 18. Juni 1989 ein politisches Comeback gelang, gehört er ebenfalls zu den aussichtsreichsten Prätendenten.
Erfolg oder Mißerfolg bei den kommenden Wahlen hängen entscheidend davon ab, wie UDF und RPR ihr Verhältnis gestalten können. An Versuchen, ihre gegenseitigen Querelen zu beenden, hat es seit der letzten Präsidentschaftswähl nicht gefehlt. Ein Zusammenschluß zu einer einzigen Partei, wie er etwa von Giscard d’Estaing favorisiert wird, stößt auf so große Widerstände, insbesondere in der RPR-Führung daß dieses ehrgeizige Projekt als illusorisch erscheinen muß. Realistisch ist allenfalls eine Art Konföderation, die die Eigenständigkeit der Parteien nicht antastet, oder sogar nur eine geregelte „friedliche Koexistenz“. Von dieser Art ist die Union pour la France (UPF), die die bürgerlichen Oppositionsparteieneinschließlich der Zentristen -am 26. Juni 1990gegründet haben. Auf diesem Weg sollen die Ziele einer programmatischen Annäherung oder sogar Einigung, der Aufstellung gemeinsamer Kandidaten bzw. Listen bei den Parlaments-und Regionalwahlen und insbesondere der Regelung der Kandidatenfrage bei den Präsidentenwahlen erreicht werden.
Die Verständigung über eine programmatische Plattform, die schon in der Vergangenheit gelungen war, dürfte die geringsten Schwierigkeiten bereiten Einmal liegen die Positionen der Parteien in den Grundfragen nicht allzu weit auseinander; zum anderen sind Programme für bürgerliche Parteien von geringerer Bedeutung als für die Linke. Auch die Aufstellung gemeinsamer Kandidaten dürfte, wiewohl schon ein heikleres Unterfangen, in ähnlich zufriedenstellender Weise gelingen, wie es in der Vergangenheit möglich gewesen ist. Der „Stein des Anstoßes“ ist nach wie vor die Präsidentenwahl.
Mitterrand hat seine beiden Siege von 1981 und 1988, auch der Uneinigkeit des bürgerlichen Lagers zu verdanken. Um so vordringlicher ist eine Einigung der Opposition in dieser Frage. Der entscheidende Schritt schien getan, als man sich im Herbst 1990 auf ein System von Vorwahlen ä la franfaise (primaires) einigte Damit sollte erreicht werden, daß die Opposition bereits im ersten Wahlgang nur einen Kandidaten aufstellt. Reibereien, die im Wahlkampf zwischen mehreren Kandidaten unvermeidlich entstehen und die ein geschlossenes Auftreten im zweiten Wahlgang zugunsten des im ersten Wahlgang Bestplazierten belasten würden, sollten so erst gar nicht aufkommen. Das Argument, daß der Kandidat der Rechten bei den Präsidentenwahlen von 1974, 1981 und 1988 im zweiten Wahlgang nie das Gesamtergebnis aller bürgerlichen Kandidaten des ersten Wahlgangs erreicht hat, ist von entscheidendem Gewicht.
Nach dem Modell der amerikanischen Vorwahlen sollten sich die „Sympathisanten“, also nicht nur eingeschriebene Parteimitglieder, der Oppositionsparteien in Listen zugunsten eines bestimmten Bewerbers eintragen und so den gemeinsamen Kandidaten schon für den ersten Wahlgang ermitteln. Das Verfahren würde zwar aufwendig werden, aber es demokratisierte die Kandidatenauswahl durch eine Ausdehnung des Kreises der Be-teiligten selbst die partizipationsfreundliche PS besitzt keine so weitgehenden Bestimmungen. Die im November 1990 vorgesehene öffentliche Besiegelung dieser Übereinkunft scheiterte zunächst, da Giscard d’Estaing, aufgeschreckt durch für ihn ungünstige Umfragen zu diesen Vorwahlen, einen Rückzieher machte. Im neu entflammten „Krieg der (bürgerlichen) Häuptlinge“ schien wieder der sozialistische Kandidat der lachende Dritte zu werden.
Angesichts dieser Perspektive und unter dem Druck einer auf eine Einigung drängenden Basis kam es im Frühjahr 1991 doch noch zu einer Verständigung. Die UPF beschloß am 12. Juni 1991 eine Charta die das bereits erreichte Abkommen hinsichtlich Programm und Kandidaten-bzw. Listenaufstellung für Parlaments-und Regionalwahlen bekräftigte und die eine Regelung für die Präsidentenwahl hinzufügt: Finden sie zum normalen Zeitpunkt statt, so werden die vorgesehenen „primaires“ organisiert; sollte es zu vorgezogenen Präsidentenwahlen kommen, dann hätte das Zentralkomitee der UPF das geeignete Verfahren vorzuschlagen. Dieses Gremium soll auch eingeschaltet werden können, falls der „demokratische Wert“ der Vorwahlen zweifelhaft erscheint, falls etwa die Beteiligung zu gering ausfiele. Die Einigung ist also noch keineswegs definitiv und perfekt, sondern läßt für den Ernstfall durchaus noch Kontroversen und die bekannten persönlichen Rivalitäten erwarten. 4. Die Parteien außerhalb der beiden Lager Die Situation der bürgerlichen Opposition ist komplizierter und schwieriger geworden durch den Aufstieg und den zwar begrenzten, aber dauerhaften Erfolg der Front National Die großen Er- Erfolge, die die Partei Le Pens 1990 bei verschiedenen Nachwahlen erzielt hat, müssen jedoch relativiert werden, denn bei derartigen Wahlen schneiden Protestparteien immer besonders gut ab; andererseits berechtigt nichts zu der Annahme, die Chancen der FN könnten sich drastisch verschlechtern. Rückgänge in Meinungsumfragen -etwa nach der Schändung des jüdischen Friedhofs in Carpentras, in der Nacht vom 9. zum 10. Mai 1990, oder nach den Äußerungen Le Pens zur Golfkrise, mit denen er die französische Politik scharf kritisierte -erwiesen sich als vorübergehend. Auch in Zukunft kann die FN mit Ergebnissen zwischen 10 und 15 Prozent rechnen. Ihr Potential ist noch größer, wenn man die Zustimmung zu den wichtigsten Themen berücksichtigt
Die rechtsextreme Partei stellt die gemäßigte Rechte vor schwierige Probleme. Sie schwächt die bürgerliche Opposition, weil sie von ihr Stimmen abzieht. Die Parteien der bürgerlichen Opposition sind in sich und untereinander uneins in der Frage, wie sie mit der FN umgehen sollen. Ein Bündnis, und sei es nur als Wahlabkommen, kommt schon deshalb nicht in Frage, weil eine breite Mehrheit in der Bevölkerung die rechtsextreme Partei als nicht koalitionsfähig ansieht Auf parlamentarischer oder gar Regierungsebene stellt sich die Frage zwar nicht, da das Mehrheitswahlsystem die FN von der Nationalversammlung femhält (sie hat z. Z. eine Abgeordnete, die das Mandat in einer Nachwahl gewann). Aber beim zweiten Wahlgang oder bei der (Präsidenten-) Stichwahl kann die FN, wenn sie von den anderen Rechtsparteien offen bekämpft wird, so viele Stimmen blockieren -und sei es durch Enthaltung -, daß in einem Teil der Wahlkreise RPR und UDF kein Mandat erringen können bzw. sie die Präsidentschaftswahl verlieren. Machen sie der FN aber zu große Zugeständnisse, so drohen ihnen Stimmeneinbußen in der Mitte. Jeder Ausweg aus diesem Dilemma ist mit Risiken und Verlusten verbunden.
Auch die Sozialisten haben Konkurrenz erhalten durch eine neue Partei, die ebenfalls außerhalb der -in der alten Form nicht mehr bestehenden -bipolaren Struktur des Parteiensystems steht: Die GRÜNEN haben sich mit einiger Verzögerung gegenüber der Bundesrepublik auch in Frankreich als relevante politische Kraft etabliert. Die freilich nicht zu überschätzenden Erfolge bei den Nachwahlen des Jahres 1990 haben die Erfolge der Kommunalwahlen vom März 1989 und der Europawahlen vom 18. Juni 1989 (10, 6 Prozent) bestätigt Die Partei hat sich offenbar erfolgreich konsolidiert; ihr kommt zugute, daß die öffentliche Meinung auch in Frankreich für Umweltprobleme immer sensibler wird Die interne Auseinandersetzung um den politisch-strategischen Kurs wurde zugunsten der von Antoine Waechter vertretenen „autonomen Linie“ entschieden: Bei den Wahlen soll eine strikte Autonomie gegenüber allen Parteien gewahrt werden, selbst wenn dadurch gelegentlich die FN begünstigt werden sollte, denn die Distanz in umweltpolitischer Hinsicht sei zu allen Parteien prinzipiell gleich groß
Die PS kann also die GRÜNEN zwar nicht von vornherein als sicheren Verbündeten vereinnahmen, aber sie wird nicht vor ähnlich schwierige Probleme gestellt wie die bürgerlichen Parteien durch die FN. Bei den Sozialisten gibt es keinen grundsätzlichen Streit darüber, mit den GRÜNEN in der einen oder anderen Form zusammenzuarbeiten. Außerdem steht die öffentliche Meinung den GRÜNEN -im Unterschied zur FN -inzwischen sehr positiv gegenüber, so daß ein Bündnis mit ihnen von den Wählern nicht bestraft werden würde. Die positiven Äußerungen Mitterrands am 14. Juni 1990 über die GRÜNEN können als Signal verstanden werden: Da das rechte Lager stärker ist als das linke sind die Sozialisten auf die Unterstützung der GRÜNEN angewiesen, wollen sie auch aus den nächsten Parlaments-und Präsidentenwahlen als Sieger hervorgehen.
III. Starke Institutionen als Ersatz für schwache Parteien?
Die politischen Parteien sind in Frankreich sehr unpopulär; sie gelten als inkompetent und korrupt, zumal sie sich nun sogar mit Steuergeldern bereichern Nach Auffassung vieler Bürger beschäftigen sie sich mehr mit sich selbst und mit den Plänen ihrer ehrgeizigen Führer für die nächste Präsidentenwahl als mit den Problemen, die dem Durchschnittsfranzosen auf den Nägeln brennen: Einwanderung, Arbeitslosigkeit, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen (oft nordafrikanischer Abstammung) und der Polizei in den Großstädten und ihren Vororten, Kriminalität, Unzulänglichkeiten im Schul-und Ausbildungswesen, soziale Sicherheit etc. Die zunehmende Wahlenthaltung, das gute Abschneiden von Protest-bzw. Antisystemparteien (FN, GRÜNE), die schrumpfenden Mitgliederzahlen und die nachlassende Mobilisierungsbereitschaft sind unübersehbare Indizien für die tiefe Krise, in der die traditionellen Parteien und die von ihnen verkörperten Formen von Politik stecken.
Die französischen Parteien sind organisations-, finanz- und mitgliederschwache Gebilde, deren Beitrag zur Lösung der politischen und gesellschaftlichen Probleme sehr gering erscheint. Die „cohabitation" und vor allem die Minderheitsregierung seit 1988 können als Hinweis verstanden werden, daß die Parteien bzw. das Parteiensystem auch nicht mehr -wie zwischen 1962 und 1986 -in der Lage sind, durch kohärente und stabile parlamentarische Mehrheiten die Politik des Präsidenten und seiner Regierung zu tragen.
Aufgrund ihrer zu schwachen gesellschaftlichen Verankerung und auch infolge ihrer Schwierigkeiten, ihre Rolle als Regierungsparteien zu lernen, erscheint es kritischen Beobachtern nicht möglich, das politische System in Frankreich auf die Parteien zu gründen Die V. Republik wäre demnach zwar eine Demokratie mit Parteien, die beschränkte Funktionen wahrnehmen -Wählermobilisierung; Kandidatennominierung, mit erheblicher Einschränkung bezüglich der Präsidentenwahl; Programmformulierung, allerdings mit geringer politischer Relevanz -, aber keine Parteiendemokratie Der starke, parteipolitisch nur schwach eingebundene Staatschef, „die parteipolitische Neutralisierung der Regierung“ (Hans Gangl) und die ausgefeilten Regeln des „rationalisierten Parlamentarismus“ entfalten eine zweischneidige Wirkung: Einerseits übernehmen sie teilweise die Funktionen der Parteien, die diese gar nicht oder nur höchst unzulänglich zu erfüllen in der Lage sind; dazu gehört vor allem, sachadäquate Lösungen für die anstehenden Probleme zu entwickeln und für eine einigermaßen stabile und auch möglichst effiziente Regierungsweise zu sorgen. Andererseits behindern sie eben dadurch, daß sie diese Funktionen in zufriedenstellender Weise erfüllen, einen dringend notwendigen Lernprozeß der Parteien. Ob jedoch das Korsett robuster Institutionen auf Dauer derart schwache Parteien und ein seine frühere Stabilität und Funktionalität verlierendes Parteiensystem nicht nur stützen, sondern praktisch ersetzen kann (Präsident, Art. 49 Abs. 3), muß indes bezweifelt werden.