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Westeuropäische Integration und gesamteuropäische Kooperation | APuZ 45/1991 | bpb.de

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APuZ 45/1991 Westeuropäische Integration und gesamteuropäische Kooperation Ein föderalistisches Europa? Zur Debatte über die Föderalisierung und Regionalisierung der zukünftigen Europäischen Politischen Union Jugend und europäische Integration Einstellungen und Perspektiven Föderalismus und Subsidiarität. Betrachtungen zu einer deutschen und europäischen Frage

Westeuropäische Integration und gesamteuropäische Kooperation

Urs Leimbacher

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund paralleler Integration und Desintegration in West-und Osteuropa beleuchtet der Artikel zunächst kritisch die Perspektive des westeuropäischen Integrationsprozesses. Unterschiedliche Interessen innerhalb der EG hinsichtlich einer politischen Union werden herausgearbeitet. Gezeigt wird auch das Dilemma zwischen dem Wunsch nach einem Europa, das nach außen handlungsfähig ist, und dem nach wie vor bestehenden Interesse an der Erhaltung der Atlantischen Allianz. Den mit der Weiterentwicklung der EG verbundenen Herausforderungen stellt der Artikel die gesamteuropäische Dimension der Zusammenarbeit gegenüber. Der Wunsch der ost-und mitteleuropäischen Länder nach einer „Rückkehr nach Europa“ wird unter dem Aspekt der Auswirkungen auf die EG und auf die Sowjetunion kritisch dargestellt. Der Artikel zeigt auf, daß eine rasche Integration der Reformdemokratien in die bestehenden Strukturen weder im Interesse der EG noch in demjenigen dieser Länder liegt. Regionale Formen der Zusammenarbeit im politischen, aber auch im wirtschaftlichen Bereich verdienen Beachtung und Förderung. Die Wiedereingliederung der unabhängig gewordenen ost-und mitteleuropäischen Länder in die Völkergemeinschaft ist durch aktive, gleichberechtigte Mitwirkung im Rahmen des Europarats, der KSZE, aber auch der UNO zu bewerkstelligen. Der Artikel befürwortet eine variable Geometrie für die neue europäische Architektur. Nur sie ist flexibel genug, um sowohl die außenpolitischen Herausforderungen zu meistem, denen sich Europa in den neunziger Jahren gegenübersehen wird, als auch den sehr unterschiedlichen innenpolitischen Voraussetzungen zu genügen, die in den europäischen Staaten vorliegen.

nach:

I. Einleitung

Das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der europäischen Teilung haben in Ost und West eine diametral entgegengesetzte Dynamik hervorgerufen: Während die Vereinigung Deutschlands zu einer Beschleunigung des westeuropäischen Integrationsprozesses führte, zerfallen im Osten die aufoktroyierten militärischen und wirtschaftlichen Integrationsformen. Lange unterdrückte Konfliktherde treten hervor. Der Drang nach Souveränität und Selbstbestimmung bricht sich Bahn -im Baltikum und in anderen Teilen der Sowjetunion, wie auch in Jugoslawien.

Der Westen stellt dieser Entwicklung die Vision einer „gesamteuropäischen Friedensordnung“ (Deutschland) respektive einer „europäischen Konföderation“ (Frankreich) entgegen, die alle Staaten vom Atlantik bis zum Ural umfassen soll. Doch gleichzeitig bewegt sich die Europäische Gemeinschaft in eine Richtung, die die Einheit ganz Europas immer weiter in die Feme zu rücken scheint. Unter den zwölf Mitgliedern der EG wird im Hinblick auf die Schaffung der Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) die „Konvergenz“, die wirtschafts-und währungspolitische Homogenisierung, zum Schlüsselbegriff. Derweil greift in Osteuropa angesichts der Härten des Übergangs von der Plan-zur Marktwirtschaft Ernüchterung um sich. Anfängliche Illusionen vom raschen Anschluß an den Westen sind zerplatzt.

Vor diesem Hintergrund paralleler Integration und Desintegration in Europa geht die folgende Analyse zwei miteinander verwobenen Problemkreisen Zum einen sollen die Perspektiven des politischen Integrationsprozesses der Europäischen Gemeinschaft kritisch beleuchtet und die nach wie vor bestehenden konzeptuellen Divergenzen innerhalb der Zwölfergemeinschaft herausgearbeitet werden. Der Einblick in die unterschiedlichen Denkschulen und Zielvorstellungen innerhalb der Gemeinschaft macht verständlich, warum die Aufmerksamkeit der Zwölf durch den internen Integrationsprozeß gegenwärtig in so hohem Maße absorbiert wird, daß die gesamteuropäische Dimension derzeit offenbar die Kreise der EG stört. Frankreich und Deutschland nehmen in dieser Betrachtung einen besonderen Platz ein. Sicherlich bildet das Tandem Paris-Bonn nach wie vor die treibende Kraft der europäischen Integration, solange Großbritannien mit einem Auge über den Atlantik schaut; andererseits sind die bestehenden Unterschiede der europapolitischen Konzeptionen auf französischer und deutscher Seite -wie auch die Anstrengungen zu deren Überwindung -in vieler Hinsicht exemplarisch für die Problematik des westeuropäischen Integrationsprozesses.

Zum zweiten geht der Artikel der Frage nach, wie sich die traditionellen Ansätze westeuropäischer Zusammenarbeit in die neue gesamteuropäische Perspektive einfügen. Am Begriff der von der EG angestrebten Homogenität des Wirtschaftsraumes soll das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Erweiterung veranschaulicht werden. Hier ist auch auf die Gleichgewichtsprobleme einzugehen, die sich im Zusammenhang mit den Mitwirkungsund Integrationswünschen der Osteuropäer stellen, und zwar sowohl innerhalb der Gemeinschaft als auch im eurostrategischen Rahmen.

II. Die EG als Kern eines europäischen Sicherheitssystems?

In einer Rede vor dem Londoner Internationalen Institut für Strategische Studien plädierte EG-Kommissionspräsident Jacques Delors Anfang März 1991 unumwunden dafür, in den Vertragsentwurf zur Politischen Union eine Klausel über die gegenseitige Verteidigung aufzunehmen und so die EG zu einer Verteidigungsgemeinschaft zu machen. Damit ging er über den im Dezember 1990 von Bonn und Paris unterbreiteten Vorschlag für eine Europäische Union deutlich hinaus. Der fran3 zösische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler hatten angeregt, die EG solle eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik entwickeln. „Ihr Ziel sollte es sein, die wesentlichen Interessen und die gemeinsamen Werte der Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Geltung zu bringen, ihre Sicherheit zu stärken, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern und zum Frieden und zur Entwicklung in der Welt beizutragen.“ Die Politische Union sollte eine „echte gemeinsame Sicherheitspolitik umfassen, die am Ende zu einer gemeinsamen Verteidigung führen sollte

Diese ehrgeizige, aber auch recht allgemein formulierte Zielvorstellung täuscht über die Schwierigkeiten hinweg, die der Verwirklichung einer gemeinschaftlichen Außen-und Sicherheitspolitik selbst unter den veränderten Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Krieges entgegenstehen. Das organisatorische und institutionelle Verhältnis einer eigenständigen europäischen Verteidigungskomponente zur Atlantischen Allianz blieb nämlich bislang weitgehend ungeklärt. Die restrukturierte NATO wird sich weiterhin im wesentlichen auf den Schutz des Vertragsgebietes -und damit auf Westeuropa -konzentrieren Darauf bestehen vor allem die Franzosen; daran ändert auch die Hinwendung der NATO zu einer „politischen Rolle“ nichts. Die geographische Begrenzung umschreibt zugleich auch die formelle Zuständigkeit des Bündnisses für die sicherheitspolitische Diskussion. Der Wirkungsbereich der Allianz erstreckt sich weder auf das gesamte Europa noch auf alle Gebiete, in denen Europa verteidigungswürdige Interessen hat -etwa die Region des Mittleren Ostens. Eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft müßte aber die Wahrung europäischer Interessen unabhängig von der jeweiligen Region, vor allem auch außerhalb Europas, berücksichtigen.

Aus diesem Grund hat die Westeuropäische Union (WEU) in den jüngsten Vorschlägen zum Aufbau einer europäischen Sicherheitspolitik erneut an Gewicht gewonnen. Paris und Bonn haben vorgeschlagen, sie zum Instrument der gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft zu machen. Die 1948 gegründete 1954 um die Bundesrepublik und Italien, 1989 schließlich um Spanien und Portugal erweiterte Institution ist satzungsgemäß dazu berufen, „eine Beratung bei jeder Lage zu ermöglichen, die eine Bedrohung des Friedens, gleichviel in welchem Gebiet, oder eine Gefährdung der wirtschaftlichen Stabilität darstellt“ Die WEU erscheint demzufolge als europäisches Instrument des Krisenmanagements -auch in einer gesamteuropäischen Perspektive -, als geeigneter Kem zur Verwirklichung einer von den USA unabhängigen (aber mit den bestehenden Sicherheitsstrukturen der NATO verträglichen) sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der Europäer. In Ansätzen hat die WEU schon in der Vergangenheit ein abgestimmtes (wenn auch noch nicht gemeinsames) Handeln ihrer Mitglieder außerhalb Europas ermöglicht. 1987, im Zusammenhang mit dem irakisch-iranischen Krieg und 1990, nach der Invasion des Iraks in Kuweit, bot sie den Rahmen für die geographische und logistische Koordination der Marineoperationen ihrer Mitglieder im Golf.

Die Problematik dieses Ansatzes liegt indessen in der unterschiedlichen Mitgliedschaft in EG, WEU und NATO Warum sollte sich beispielsweise Norwegen als NATO-Mitglied in der Türkei engagieren, aber bei einer Krise im Baltikum als Nicht-mitglied der WEU von der Diskussion ausgeschlossen sein? Die Aufwertung der WEU zum operativen Instrument europäischer Sicherheitspolitik müßte entweder mit einer Erweiterung der Mitgliedschaft oder aber mit der Möglichkeit der flexiblen Assoziierung von Nichtmitgliedern einhergehen. Gerade die Erweiterung erscheint aufgrund der gegenüber dem NATO-Vertrag deutlich strengen (automatischen) Beistandsverpflichtung des WEU-Vertrags politisch nicht unproblematisch. Hinzu kommt, daß durch die Schaffung eines handlungsfähigen militärischen Reaktionsapparates in der WEU unweigerlich eine Parallelstruktur zur NATO -und damit ein Konflikt mit den USA -entstünde. Aufgrund dieses amerikanischen Mißtrauens gegenüber der WEU ist ein europäischer Entschluß zur Instrumentalisierung der WEU als verlängerter Arm der EG, wie er im Dezember 1990 von Bonn und Paris angeregt wurde, unwahrscheinlich Bundeskanzler Kohl selbst unterstrich im März 1991 die heikle Abgrenzung zwischen einer europäischen Verteidigungsidentität und der Atlantischen Allianz: „Wenn wir heute im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft... über eine gemeinsame Sicherheitspolitik nachdenken, die langfristig auch die gemeinsame Verteidigung umfaßt, so bedeutet dies in keiner Weise, daß wir etwa die NATO ersetzen könnten oder wollten.“

Einzelne WEU-Mitglieder, insbesondere Großbritannien und die Niederlande, legen größten Wert auf die Erhaltung der zentralen Rolle der Atlantischen Allianz. In der Debatte um die Schaffung einer Politischen Union Europas kehrt gleichsam der alte Gegensatz zwischen „Atlantikern" und „Europäern“ wieder, der die europäische Integration seit den fünfziger Jahren wie ein roter Faden durchzieht. Aber auch die Entwicklung in der Sowjetunion wird die Fortschritte der EG in Richtung einer Sicherheitsgemeinschaft beeinflussen. Erfolgreiche Reformen -in Verbindung mit weiteren Schritten in der Rüstungskontrolle -würden die Bedrohung in Europa weiter vermindern und die Bedeutung der NATO entsprechend relativieren. Das könnte die Schaffung einer eigenständigen europäischen Fähigkeit zum Krisenmanagement erleichtern. Eine Verhärtung des sowjetischen Kurses oder eine Destabilisierung jenes Raumes würde demgegenüber die Bedeutung der NATO erneut unterstreichen.

Zum Problem der institutionellen Organisation einer nach außen handlungsfähigen Gemeinschaft treten unterschiedliche innenpolitische Rahmenbedingungen innerhalb der Gemeinschaft hinzu. Ein erhöhtes Engagement Europas zur Verteidigung wichtiger Interessen außerhalb des NATO-Gebiets ist für jedes EG-Mitgliedsland nur dann möglich, wenn es innenpolitisch akzeptiert wird. Der Golfkrieg hat die unterschiedlichen Haltungen Frankreichs und Großbritanniens einerseits sowie der Bundesrepublik andererseits klar hervortreten lassen. Indem diese innenpolitischen Faktoren den Handlungsspielraum der außenpolitischen Solidarität begrenzen, hemmen sie die Fähigkeit der Gemeinschaft zum Krisenmanagement.

III. Problematik des Souveränitätsverzichts

Eine offene Frage im Zusammenhang mit der Ausbildung einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik ist schließlich diejenige nach der Bereitschaft der EG-Mitglieder zur Übertragung entsprechender Hoheitsbefugnisse auf die Gemeinschaft. Hier geht es um traditionelle Domänen staatlicher Souveränität. Frankreich und Deutschland nehmen deshalb in dieser Hinsicht -nicht zuletzt aufgrund ihrer historischen Erfahrungen -jeweils sehr unterschiedliche Haltungen ein. Für Frankreich ist die außen-und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit ein Element der nationalen Identität der von de Gaulle geprägten Fünften Republik. Für die Bundesrepublik bedeutet die Einbettung ihrer Außen-und Verteidigungspolitik in den Rahmen multilateraler Integrationsformen eine Garantie für die eigene Sicherheit, ein Mittel gegen das Entstehen von Mißtrauen sowie ein Instrument zur Vermeidung einer politischen Isolierung. Die Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf supranationale Institutionen ist im Grundgesetz ausdrücklich verankert. In Artikel 24 heißt es: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“

Im Hinblick auf die Schaffung der Politischen Union Europas bedeutet das für die Bundesrepublik folgendes: Die demokratische Legitimation der Gemeinschaft muß in ausreichendem Maße gestärkt werden, damit sie die Übertragung wesentlicher außen-und sicherheitspolitischer Befugnisse vor dem deutschen Volk zu rechtfertigen vermag. Aus diesem Grund hat Bundeskanzler Kohl unterstrichen, daß es für die Bundesrepublik nicht in Frage kommen kann, Fortschritte allein bei der Wirtschafts-und Währungsunion zu erzielen. Im Gegenteil: Der politischen Stärkung der Gemeinschaft kommt aus dem erwähnten Grund gleichrangige Bedeutung zu. Die Bundesrepublik wird deshalb nur eine parallele Weiterentwicklung der EG zur Politischen Union mittragen, die sowohl die wirtschaftliche wie auch die politische Komponente umfaßt Das Ziel einer Verbreiterung der demokratischen Legitimation der Gemeinschaft -insbesondere die Einrichtung eines Mitentscheidungs-und Initiativrechts des Europäischen Parlaments in allen Angelegenheiten der Gemeinschaft -unterstützen auch die kleineren EG-Mitglieder Belgien, Italien und die Niederlande. Sie sehen darin in erster Linie eine Garantie gegen das ständige Risiko einer Dominanz der Großen.

Der Zielkonflikt zwischen dem deutschen Interesse an der Verwirklichung der Politischen Union einerseits und dem Anspruch auf die Errichtung einer gesamteuropäischen Friedensordnung andererseits tritt zutage, wenn man die EG als konstituierendes Element einer solchen Ordnung betrachtet. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Beitritt neutraler Staaten aus der EFTA und längerfristig auch ost-und mitteleuropäischer Staaten die Schaffung einer nach außen handlungsfähigen Politischen Union verlangsamen würde. Dies jedenfalls dann, wenn nicht gleichzeitig institutionelle Anpassungen vorgenommen würden. Eine derartige Erweiterung müßte deshalb fast zwangsläufig zu einer variablen Geometrie führen.

Frankreich begegnete der Übertragung außen-und sicherheitspolitischer Kompetenzen auf die Gemeinschaft stets mit tiefer Skepsis, ja mit Ablehnung. Eine Formel von der Art der oben zitierten deutschen Verfassungsklausel wäre mit dem gaullistischen Verständnis von nationalstaatlicher Souveränität kaum vereinbar. Im verteidigungspolitischen Bereich ist dieses Beharren auf der nationalen Entscheidungsautonomie besonders ausgeprägt. Sie wird durch die nationale nukleare Abschreckungsstreitmacht versinnbildlicht. Hinzu kommt die besondere Ausgestaltung der französischen Verfassung von 1958. Ganz auf die Person General de Gaulles zugeschnitten, verleiht sie dem vom Volk gewählten Präsidenten eine Machtfülle, wie sie in den westlichen Demokratien einmalig ist. Es ist verständlich, daß der französische Präsident kein Interesse daran hat, diese umfangreichen Kompetenzen auf europäischer Ebene verwässert zu sehen. Frankreich zieht deshalb eine engere Zusammenarbeit auf Regierungsebene der Schaffung echter supranationaler Strukturen vor.

Die französische Präferenz geht konsequenterweise deutlich in die Richtung einer Stärkung des Europäischen Rates, der sich aus den Staats-und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik sollte nach französischer Auffassung ausschließlich im Europäischen Rat festgelegt werden, der in diesem Bereich grundsätzlich einstimmig beschließt. Damit würde sich Frankreich auf jeden Fall die Möglichkeit eines Vetos bewahren. Gemeinsam mit Bonn schlug Paris vor, die WEU im Falle einer institutionellen Verbindung mit der EG direkt dem Europäischen Rat zu unterstellen. Dieser Vorschlag läßt den Wunsch nach Erhaltung absoluter Kontrolle über die künftigen außen-und sicherheitspolitischen Entscheidungen der Gemeinschaft erkennen.

Trotz der deutlichen Beschleunigung des Integrationsprozesses bleiben damit schon innerhalb der Gemeinschaft wesentliche Fragen zum Konzept einer Europäischen Union -und damit auch eines nach außen handlungsfähigen Europas -offen. Unterschiedliche Prioritäten, Motivationen und Zielvorstellungen im Zusammenhang mit der Organisation einer europäischen Verteidigungsidentität innerhalb der EG greifen bremsend ins Getriebe des Integrationsmechanismus ein. Nach der Überwindung der europäischen Teilung tragen nun zusätzlich die Ost-und Mitteleuropäer ihre Hoffnungen und Erwartungen an die Gemeinschaft heran. Die gesamteuropäische Dimension durchdringt damit den bislang allein auf Westeuropa beschränkten Integrationsprozeß. Können die bestehenden Strukturen diese neue Dimension absorbieren, oder drohen sie von ihr gesprengt zu werden?

IV. Der Integrationsprozeß in gesamteuropäischer Perspektive

Die interne Dynamik, die durch die Regierungskonferenzen der EG erzeugt wird, entfaltet ihre Auswirkungen sowohl auf die westeuropäischen Nichtmitglieder der Gemeinschaft wie auch auf die souverän gewordenen ost-und mitteleuropäischen Staaten. Die komplexen Anforderungen der inter-nen Entwicklung der EG haben aber gleichzeitig den Wunsch nach einer Abschirmung gegenüber äußeren Herausforderungen geschaffen. Das momentane Verlangen der Gemeinschaft nach Konsolidierung steht in umgekehrtem Verhältnis zur wachsenden Attraktivität, die sie auf Außenstehende ausübt, und den daraus erwachsenden Erwartungen nach Öffnung, Neuorientierung und nicht zuletzt nach Hilfeleistungen. Das von Jacques Delors im Januar 1989 vorgeschlagene und am 22. Oktober 1991 in Brüssel vereinbarte Projekt eines Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) zielt darauf ab, potentielle westeuropäische Beitrittskandidaten aus der EFTA von einer Bewerbung um die EG-Mitgliedschaft vorläufig abzuhalten. Schon gegenüber derjenigen Staatengruppe, die von ihrer wirtschaftlichen Entwicklung her am leichtesten der Gemeinschaft beitreten könnte, will sich die EG mit dem EWR den Rücken freihalten, bis ihre innere Konsolidierung abgeschlossen ist. In umso höherem Maße gilt diese Zurückhaltung für Beitritts-kandidaten aus Mitteleuropa. Mehrere von ihnen stehen erwartungsvoll vor der Tür der EG. Der tschechoslowakische Präsident Havel erklärte bei seinem Besuch in Brüssel im März 1991, die SFR strebe eine EG-Mitgliedschaft bis zum Ende des Jahrzehnts an Er bekundete großes Interesse an der Perspektive einer Sicherheitsunion der Gemeinschaft. Gleichzeitig ließ er auch sein Bedauern erkennen, daß die NATO nicht beabsichtige, sich nach Osteuropa auszuweiten. Der polnische Staatspräsident Walesa bezeichnete einen Monat später vor dem Europäischen Parlament in Brüssel die Mitgliedschaft in der EG als wichtigstes außen-politisches Ziel Polens. Er warnte: „Wir haben einen Abgrund vor uns und wir haben Angst vor der Anarchie.“

Für die neuen Demokratien Ost-und Mitteleuropas gründet die Attraktivität der Gemeinschaft zweifellos vor allem in der Aussicht auf raschere wirtschaftliche Erholung. Die Gemeinschaft erscheint in den Augen dieser Länder als Rettungsanker beim Übergang von der Plan-zur Marktwirtschaft. Darüber hinaus verkörpert der Beitritts-wunschzur Gemeinschaft für die vom Kommunismus befreiten Länder in hohem Maße die „Rückkehr nach Europa“.

In diesen Versuchen, möglichst rasch den Anschluß an westeuropäische Integrationsformen zu finden, spiegelt sich gleichsam das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vakuum wider, in das die osteuropäischen Reformdemokratien durch das Ende der kommunistischen Herrschaft innerhalb kurzer Zeit geraten sind. Die Fesseln des War-schauer Paktes und die Zwänge des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) haben sie abgeschüttelt -die Sicherheit des Atlantischen Bündnisses und die Solidarität der Gemeinschaft bleiben ihnen -noch -verwehrt. Beides führt zu erkennbarer Enttäuschung. Die ehemaligen Satellitenstaaten streben nach einer Verankerung ihrer neugewonnenen Souveränität in Europa, ja darüber hinaus zumindest teilweise auch nach der Mitwirkung bei der Errichtung einer neuen Weltordnung. In ihrer vorbehaltlosen Bereitschaft zur Beteiligung an der außenpolitischen Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Institutionen liegt ein wesentlicher Unterschied zu den neutralen Ländern Westeuropas.

Die EG und die NATO müssen diese an sie gerichteten Wünsche indessen nach zwei Richtungen hin abwägen: Einmal geht es um die möglichen Auswirkungen einer engen Assoziation osteuropäischer Staaten auf die Stabilität der bestehenden Integrationsstrukturen. Zum zweiten müssen die Auswirkungen einer Ausdehnung der institutionalisierten wirtschaftlichen, politischen oder gar militärischen Zusammenarbeit mit Osteuropa auf die Sowjetunion erwogen werden.

V. Mangelnde Homogenität des Wirtschaftsraumes als Beitrittshürde

Die vielfältigen internen Ausgleichs-und Harmonisierungsbedürfnisse der Zwölfergemeinschaft sind für Außenstehende schwer einsehbar. Aus diesem Grund unterschätzen die Osteuropäer bei ihrem Drängen nach raschem Anschluß an die Gemeinschaft wohl die Risiken, die eine allzu rasche Erweiterung der EG in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht für beide Seiten bergen könnte. Die Süderweiterung der EG um Griechenland, Spanien und Portugal zeigte im Verlauf der achtziger Jahre, welche Herausforderung selbst die Auf-nähmevon Marktwirtschaften für die EG bedeuten kann. Die Beitrittsverhandlungen zogen sich über Jahre hin, und noch heute liegen diese Länder der Gemeinschaft als deren größte Beitrags-empfänger finanziell schwer im Magen. Wenn sich auch die Erweiterung zweifellos als eine politische Bereicherung erwiesen hat, so bleibt die beträchtliche wirtschaftliche Heterogenität der jüngsten EG-Mitglieder eine Tatsache.

Im Hinblick auf die zweite Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion -die ab 1994 in Aussicht genommene Schaffung einer Europäischen Zentralbank -wird heute offen die Frage gestellt, ob beispielsweise Griechenlahd und Portugal auf-7 grund ihrer vom EG-Mittel stark abweichenden wirtschaftlichen Rahmendaten (z. B. Inflationsrate, Realzinsen, Staatsverschuldung) diesen Schritt gleichzeitig mit den anderen Mitgliedstaaten werden vollziehen können. Schon innerhalb der Zwölfergemeinschaft könnten mithin die Anforderungen der weiteren Integration zu einer Aufsplitterung in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten führen. Das widerspricht zwar dem Grundsatz der angestrebten Homogenität des europäischen Wirtschaftsraumes. Es könnte sich aber für die erfolgreiche Realisierung der geplanten Integrationsschritte als unumgänglich erweisen.

Angesichts dieser Perspektive für die Konsolidierung der Zwölfergemeinschaft ist die Kühle verständlich, mit der die EG den Beitrittswünschen der Osteuropäer bisher begegnete. Zwar bekräftigten die EG-Außenminister im April 1991, daß die Vollmitgliedschaft der ost-und mitteleuropäischen Staaten als Endziel der Assoziierung zu betrachten sei. Es ist indessen unbestreitbar, daß der Schritt zur WWU durch die angestrebte weitere Homogenisierung des EG-Wirtschaftsraumes für die auf lange Sicht hinaus wirtschaftlich schwachen osteuropäischen Länder eine neue Hürde bedeutet Damit rückt ihre gleichberechtigte Mitgliedschaft in der EG weiter in die Feme. Die soge-nannten „Europaverträge“, die die EG mit den Reformdemokratien abschließen will, zielen denn auch ausdrücklich zunächst nicht auf eine EG-Mitgliedschaft der assoziierten Staaten

Die realistische Einschätzung der potentiellen Destabilisierungswirkung einer zu raschen Erweiterung liegt aber letztlich im wohlverstandenen Interesse beider Seiten. Es ist nämlich auch zu bedenken, daß die wirtschaftliche und politische Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft nach außen in hohem Maße eine Funktion ihrer inneren Homogenität darstellt. Mit anderen Worten: Je schwieriger es für die Gemeinschaft ist, intern zu einem (meist brüchigen) Konsens zu gelangen, desto mehr wird sie nach außen hin zögern, davon abzuweichen. Daraus resultiert im Verkehr mit Drittstaaten eine beträchtliche verhandlungspolitische Unbeweglichkeit. Das hat sich in jüngster Vergangenheit im Rahmen der Verhandlungen des Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommens (GATT) gezeigt, wo die EG -in den Augen der übrigen Verhandlungsteilnehmer -sehr stur an ihrer Verhandlungsposition zur Agrarpolitik festhielt. Die Erweiterung unter Beibehaltung der bestehenden Entscheidungs-und Konsultationsstrukturen könnte dieses Risiko einer Lähmung nach außen hin verstärken und den Eindruck eines EG-Blocks verschärfen.

Schließlich lassen die osteuropäischen Beitritts-wünsche auch außer Betracht, daß jede Erweiterung der Gemeinschaft ihre Gestalt maßgeblich verändert. Jeder Kandidat, der den Beitritt geschafft hat, wird der Aufnahme weiterer strukturell heterogener Länder aufgrund der damit verbundenen Belastungen skeptisch gegenüberstehen. Das gilt sowohl für die Nettozahler der EG als auch für die Nettoempfänger von Mitteln aus der Gemeinschaftskasse. Mit der wachsenden Belastung der einen ginge eine nachteilige Änderung des Verteilerschlüssels für die anderen einher. Ins Gewicht fallen in diesem Zusammenhang vor allem die veränderte Situation der Bundesrepublik und die wenig heiteren konjunkturellen Aussichten. Noch 1988 fanden die südlichen EG-Mitglieder in Bundeskanzler Kohl einen vehementen Befürworter der Verdoppelung des EG-Struktur-fonds In den neunziger Jahren wird die Bundesrepublik jedoch einen hohen Eigenkapitalbedarf für Investitionen in den neuen Bundesländern aufweisen. Erwägungen der wirtschaftlichen Stabilität innerhalb der Gemeinschaft könnten unter diesen Umständen gegenüber einer aus Gründen der politischen Stabilisierung wünschenswerten Erweiterung nach Osten überwiegen.

VI. Alternativen für die „Rückkehr nach Europa“

Aufgrund dieser Analyse muß bezweifelt werden, ob die (vorerst rein deklaratorische) Aussicht, über kurz oder lang Mitglied der Gemeinschaft zu werden, ein probates Mittel ist, um den ost-und mitteleuropäischen Staaten angesichts ihrer wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der unmittelbaren Zukunft genügend Halt zu ge-ben Zur wirtschaftlichen Gesundung Osteuropas -und damit auch zu dessen politischer Stabilisierung -können bilaterale Assoziierungsverträge besser beitragen als eine aus politischen Gründen vorgenommene verfrühte Eingliederung in die Gemeinschaft. Sie erlauben überdies eine individuelle Ausgestaltung für jedes einzelne Land.

Die von den Mittel-und Osteuropäern angestrebte politische „Rückkehr nach Europa“ kann überdies in anderen Gremien als in der EG besseren Ausdruck finden, namentlich im Europarat und in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Ungarn und die SFR sind bereits Mitglieder des Europarates geworden. Die Sowjetunion, Polen, Jugoslawien und Rumänien haben den Status von Sondergästen erhalten. Beide Gremien verkörpern besser als die ausschließlich auf Westeuropa begrenzten Integrationsformen die gesamteuropäische Dimension, die von den Osteuropäern angestrebt wird. Der Europarat vereinigt alle Demokratien Europas. In seiner Parlamentarischen Versammlung nehmen neue Mitglieder aus Osteuropa von Anfang an als gleichberechtigte Partner an der politischen Arbeit teil.

Die souveräne Gleichberechtigung aller Mitglieder ist auch eines der Grundprinzipien der KSZE, die nach der Aufnahme Albaniens jetzt alle europäischen Länder sowie die USA und Kanada umfaßt. Damit besteht in beiden Organisationen keine Gefahr, daß die Osteuropäer in den Status eines „Juniorpartners“ eingereiht werden, wie es bei der Angliederung an rein westliche Integrationsformen mindestens vorübergehend wahrscheinlich wäre.

VII. Regionale Ansätze außenpolitischer Zusammenarbeit

In der außenpolitischen Zusammenarbeit zeigen sich sodann in wachsendem Maße regionale Ansätze. Im November 1989 gründeten Italien, Österreich, Ungarn, Jugoslawien und die SFR in der sogenannten „Pentagonale“ ein Forum verstärkter regionaler politischer Kooperation. Der von Italien angeregte Zusammenschluß soll es den Teilnehmern ermöglichen, politisch und wirtschaftlich in Mittel-und Südeuropa eine aktivere Rolle zu spielen. Im Rahmen der KSZE wollen die fünf künftig „mit einer Stimme“ sprechen Inzwischen ist durch den Beitritt Polens die „Hexagonale“ entstanden. Im gleichen Sinn hielten im Februar 1988 Albanien, Griechenland, die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien die erste Balkankonferenz ab. Bestehende Konflikte in dieser krisengefährdeten Region sollen durch vertiefte Zusammenarbeit auf politischem Weg gelöst werden. Dazu sollen Expertentreffen nach dem Muster der KSZE beitragen.

An dieser regionalen außenpolitischen Zusammenarbeit fällt zweierlei auf: Zunächst haben ideologische und politische Blockgrenzen einem neuen Pragmatismus Platz gemacht. Sowohl in Ost-Westwie in Nord-Süd-Richtung werden traditionelle Abgrenzungen aufgegeben. Zum zweiten ist die Themen-Agenda dieser regionalen Konferenzen recht flexibel. Sie reicht in der „Hexagonale“ von Verkehr und Umwelt über Telekommunikation bis zur kulturellen Zusammenarbeit und zu Migrationsproblemen. In dieser regionalen Zusammenarbeit zeichnet sich für die souverän gewordenen Staaten Ost-und Mitteleuropas eine konkrete Möglichkeit ab, die Praxis der außenpolitischen Zusammenarbeit zu erlernen und zu vertiefen. Sie kann als Vorstufe jeder höheren Form zwischenstaatlicher Integration nur von Nutzen sein. Unter diesem Aspekt kommt ihr auch ein eminentes vertrauens-und sicherheitsbildendes Potential im zwischenstaatlichen Bereich zu. Die Krise in Jugoslawien zeigt indessen die Grenzen der Zusammenarbeit. Gegenüber innerstaatlichen Krisenherden bleibt sie weitgehend wirkungslos.

VIII. Europäische Integration und strategisches Gleichgewicht

Der zweite Aspekt, der im Zusammenhang mit den Wünschen osteuropäischer Staaten nach Anschluß an die westlichen Integrationsformen zu betrachten ist, liegt in den möglichen Auswirkungen auf die Sowjetunion. Nach dem Abschluß des ersten Abkommens über den Abbau der konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE I) war im Zuge der innenpolitischen Erstarkung der konservativen Kräfte wiederholt zu erkennen, daß die Sowjetunion dazu neigt, sich gegenüber dem Westen allein zu sehen. Das wurde besonders deutlich, als sich die Sowjetunion eine Interpretation des VKSE-Vertrags zu eigen machte, mit der sie auf die geschlossene Ablehnung aller übrigen Vertragsstaaten, einschließlich ihrer früheren Verbündeten, stieß Nach der Auflösung des Warschau-er Paktes steht ihr im Westen ein nach wie vor funktionsfähiges Verteidigungsbündnis gegenüber. Darin liegt in den Augen vieler sowjetischer Militärs eine Verschlechterung der strategischen Position der Sowjetunion. Sie warfen der politischen Führung vor, die Zugeständnisse Schewardnadses und Gorbatschows an den Westen hätten ein militärisches Ungleichgewicht zuungunsten Moskaus geschaffen.

Ob diese Perspektive gerechtfertigt ist oder nicht, ist ohne Belang; der Westen kommt nicht an ihrer Existenz vorbei. Es leuchtet ein, daß jede Erweiterung der NATO -und wahrscheinlich auch der WEU -auf mittel-oder gar osteuropäische Staaten in der Sowjetunion zumindest auf Vorbehalte stoßen würde. Ein hoher NATO-Beamter unterstrich deshalb im Zusammenhang mit dem Besuch des tschechoslowakischen Präsidenten Havel im NATO-Hauptquartier im März 1991, das westliche Verteidigungsbündnis werde bei allen politischen Schritten zur Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten die Interessenlage der Sowjetunion sorgfältig in Betracht ziehen. Es komme weder eine Ausdehnung nach Osteuropa in Frage, noch seien Beziehungen opportun, die in Moskau den Eindruck erwecken könnten, man pflege ein quasi-assoziiertes Verhältnis zu den ehemaligen War-schauer-Pakt-Ländern

Außenminister Genscher unterstrich aus demselben Grund die Bedeutung gesamteuropäischer kooperativer Sicherheitsstrukturen unter Einbezug der Sowjetunion: „Es wird wichtig sein, daß wir gesamteuropäische Strukturen der Sicherheit schaffen, in denen auch die Staaten Mittel-und Osteuropas ihren Platz finden können, und zwar ihren Platz in völliger Sicherheit. Das istidie angemessene neue Struktur. Deshalb sind alle diejenigen gut beraten in Mittel-und Osteuropa, die eine Mitgliedschaft im westlichen Bündnis nicht anstreben. Das entspricht auch der Haltung, die das Bündnis einnimmt, denn es ist nicht unser Interesse, daß die Veränderungen in Europa zu einer neuen Spaltung etwa des Kontinents führen, einer Spaltung, die sich diesmal entlang der sowjetischen Westgrenze vollzieht.“ Über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Einladung zu NATO-Tagungen -die auch der Sowjetunion offenstehen -hinaus dürfen die Osteuropäer somit zunächst nicht hoffen, ihre sicherheitspolitische Identität im westlichen Bündnis zu finden. Einmal mehr drängt sich demzufolge der regionale Ansatz auf. Wie den neutralen im bisherigen Ost-West-Gefüge, so fällt den ost-und mitteleuropäischen Ländern jetzt eine wichtige Funktion zu: diejenige der Schaffung eines Raumes stabiler Verteidigungsfähigkeit. Formten die Satellitenstaaten früher zwangsweise einen Sicherheitsgürtel für die Sowjetunion (und das Sprungbrett für den Marsch nach Westen), so können sie unter den Bedingungen wiedererlangter Souveränität und militärischer Entflechtung jetzt dazu beitragen, daß sich weder die Sowjetunion noch der Westen bedroht fühlen. Sie erfüllen mit anderen Worten eine wesentliche Pufferfunktion, solange die NATO als „Verteidigungsblock“ (der sie nie war, aber als der sie in Moskau gesehen wird), bestehen bleibt. In dieser Funktion finden die mittel-und osteuropäischen Staaten ihren wichtigsten Beitrag zu einem stabilen Frieden in ganz Europa.

Bisher haben diese Länder auf derartige Anregungen eher kühl reagiert. Sehen sie in einer solchen Pufferfunktion einen „Minderwert“ gegenüber der Mitgliedschaft in einem Verteidigungsbündnis? Unter dem Gesichtspunkt der sicherheitspolitischen Stabilität in Europa ist diese Ansicht verfehlt. Gerade die Erweiterung der im Westen bestehenden sicherheitspolitischen Integrationsstrukturen nach Osten könnte neue Instabilitäten verursachen, da die Sowjetunion zwangsläufig davon ausgegrenzt würde. Die Aufgabe, durch ausreichende Verteidigungsfähigkeit zur Stabilität in Europa beizutragen, stellt aber auch neue Herausforderungen an die Mittel-und Osteuropäer. Angesichts der Knappheit der verfügbaren Ressourcen und der absoluten Priorität des wirtschaftlichen Aufbaus wird es keine leichte Aufgabe sein, nach dem Abzug der Sowjettruppen die eigenen Streitkräfte zu Instrumenten umzugestalten, die in der Lage wären, einem etwaigen Aggressor einen hohen Eintritts-preis abzuverlangen Wird der Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis unter diesem Aspekt als eine billigere Ersatzlösung betrachtet? Aus dem oben erwähnten Grund ist diese jedenfalls nicht realistisch.

In der regionalen Zusammenarbeit im militärischen Bereich -wie auch in anderen -liegt ein wichtiger Faktor der Vertrauensbildung. Hier bestehen zwischen den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Paktes noch zum Teil erhebliche Defizite. Bisweilen scheint es, als ob es den Osteuropäern wesentlich leichter falle, mit dem Westen zusammenzuarbeiten als untereinander zu kooperieren. Vierzig Jahre „sozialistische Brüderschaft“ haben keinerlei westlichen Fortschritten vergleichbaren Beitrag zur historischen Aussöhnung ehemaliger Feinde gebracht. Die in ihrem Umfang einzigartige außen-und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich wurde z. B. bisher im Osten stets weitgehend unter dem negativen Aspekt einer „Militärachse“ betrachtet. Die historische Dimension der Aussöhnung ehemaliger erbitterter Gegner im Westen stößt deshalb vielerorts noch heute auf glattes Unverständnis. Das ist angesichts der systematischen Pflege des Feindbildes während der Zeit der sowjetischen Herrschaft nicht erstaunlich.

Die Ausweitung der Kontakte unter den neuen Demokratien Ost-und Mitteleuropas könnte in dieser Hinsicht die Grundlage für eine stabilisierende verteidigungspolitische Zusammenarbeit legen, von der auch die Sowjetunion, respektive einzelne ihrer Republiken, nicht ausgeschlossen bleiben sollten Schließlich werden die Reform-demokratien künftig zweifellos auch vermehrt die Gelegenheit wahrnehmen, sich im Rahmen der UNO an Aktionen zur Friedenssicherung zu beteiligen. Polen, Ungarn und die ÖSFR wirkten bereits Anfang 1991 mit logistischer Hilfe an der Koalitionsstreitmacht gegen Saddam Hussein mit. Auch darin liegt ein Weg, der in die souveräne Verantwortung im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zurückführt.

IX. Möglichkeiten und Grenzen der KSZE

Die oben erwähnten Formen regionaler Zusammenarbeit orientieren sich unverkennbar am Modell des KSZE-Prozesses. Dieser bildet den Überbau einer „gesamteuropäischen Friedensordnung“, respektive einer „europäischen Konföderation“. Die gesamteuropäische Dimension zieht aber gleichzeitig den Möglichkeiten der KSZE hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit Grenzen. Das wurde anläßlich der Krise in Jugoslawien schnell deutlich.

Kaum hatte sich der im November 1990 neu geschaffene Außenministerrat der KSZE-Länder bei seinem ersten Treffen im Juni 1991 in Berlin über einen Mechanismus zur Einberufung von Krisen-sitzungen geeinigt, als sich durch den Vollzug der Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens eine ernste Krise im KSZE-Raum anbahnte. Diese Krise ist „typisch europäisch“ in dem Sinne, daß es um eine Entwicklung geht, die europäische Interessen in hohem Maße berührt, amerikanische und sowjetische hingegen nur marginal. Indem 13 KSZE-Mitgliedstaaten eine Krisensitzung einberufen können, weicht man nun erstmals vom seit 1975 eifersüchtig gewahrten Konsensprinzip ab. Darin liegt ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt zu einer effizienteren KSZE. 13 KSZE-Länder können damit künftig das Argument zu Fall bringen, die Einberufung einer KSZE-Krisensitzung bedeute eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des betroffenen Mitglieds. Für alle Beschlüsse einer solchen Krisensitzung gilt aber weiterhin das Erfordernis der Einstimmigkeit. Immerhin darf die politische Wirkung nicht unterschätzt werden, die dadurch entsteht, daß die zwölf Mitglieder der EG mit Unterstützung eines weiteren Landes ein KSZE-Mitglied auffordern können, über sein Verhalten vor versammelter Runde Rechenschaft abzulegen. Dieser Mechanismus hat allerdings den Nachteil, daß er im Ernstfall zweifellos meistens zu spät aktiviert wird, den Ausbruch einer Krise also kaum verhindern kann. Das neugeschaffene Wiener Konfliktverhütungszentrum mußte der Zuspitzung der Krise in Jugoslawien tatenlos zusehen. Dies, obwohl man ihm in Berlin zusätzlich zu seiner ursprünglichen Funktion im Bereich der militärischen Verifikation auch jene der politischen Streitbeilegung übertragen hatte. Das Risiko einer Substanzentleerung, die die neuen Gremien der KSZE zur leeren Hülse machen würde, hat sich zwar durch den frischen Geist einer von Polemik freien politischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West wesentlich vermindert. Angesichts der nach wie vor bestehenden Veto-Möglichkeit des jeweils betroffenen Staates muß sich die KSZE aber auch nach der Einrichtung von Mechanismen zur rascheren Konsultation im wesentlichen auf politische Warnungen beschränken.

X. Für ein Europa mit variabler Geometrie

Eine variable Geometrie erscheint aus heutiger Sicht als die einzige, zugleich aber auch als die beste Lösung, um die Stabilität und Sicherheit ganz Europas, seine wirtschaftliche Gesundung und die Wahrnehmung seiner Verantwortung in der Welt zu verwirklichen. In Westeuropa sprechen unterschiedliche außenpolitische Interessen und innenpolitische Toleranzgrenzen gegen Gesamtlösungen im Sinne des Delors-Modells einer EG-Verteidigungsgemeinschaft. Die Homogenität, die die Gemeinschaft im wirtschaftlichen Sektor anstrebt, dürfte im politischen und militärischen Bereich kaum zu verwirklichen sein. Einem arbeitsteiligen Ansatz muß jedoch ein gemeinsames Konzept zugrunde liegen.

Wie weit aber die Gemeinschaft selbst noch von einem solchen Konzept zum Krisenmanagement entfernt ist, hat sich im Falle Jugoslawiens gezeigt. Gegenüber dem Wunsch der Kroaten und Slowenen nach Selbstbestimmung verhielt sich die EG zunächst zurückhaltend bis ablehnend. Außenminister Genscher betonte hingegen das Recht auf Selbstbestimmung. Demgegenüber bekundeten Frankreich, Spanien und Italien unverhüllt ihre Präferenz für die Erhaltung der staatlichen Einheit Jugoslawiens. Kommissionspräsident Delors drohte gar damit, daß Jugoslawien im Falle des Auseinanderbrechens keine Chance hätte, in die EG aufgenommen zu werden. Unter diesen Umständen mußte sich die EG darauf beschränken, die Konfliktparteien zum Gewaltverzicht aufzurufen.

Für die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft nach außen ist eine interne Organisation notwendig, die die innenpolitischen Grenzen der einzelnen Mitglieder berücksichtigt. Niemand wünscht die Schaffung einer deutschen Berufsarmee. Wenn aber für den Krisen-oder gar Kriegseinsatz außerhalb Europas nur Berufssoldaten in Frage kommen, so drängt sich eine Verteilung der Aufgaben geradezu auf. Frankreich und Großbritannien sehen im Gegensatz zu Deutschland in der Wahrnehmung militärischer Verantwortung im Ausland auch eine Bestätigung ihres globalen Ranges als nukleare Mittelmächte und als ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates. Die Fähigkeit der EG, im politischen Bereich flexibel nach außen zu reagieren, würde die Ausstrahlung Europas erhöhen und zugleich erlauben, diese nationalen Identitätsmerkmale zu bewahren. Schon im Falle Jugoslawiens wurde deutlich, daß von außen an die EG entsprechende Erwartungen gestellt werden.

Die Bundesrepublik wäre -das hat sie im Krieg gegen den Irak gezeigt -zweifellos bereit, im Rahmen eines EG-Krisenmanagements bedeutende logistische, medizinische und unter bestimmten Voraussetzungen sogar militärische Hilfe zu leisten. Bonn und Paris denken zur Zeit unter anderem über die Schaffung eines deutsch-französischen Transall-Transportgeschwaders nach. Wenn man sich auch nicht vorstellen kann, daß deutsche Soldaten in Afrika an der Seite ihrer französischen Kameraden militärische Aufgaben erfüllen, so scheint ein Zusammenwirken beim Transport entsprechender Kontingente im Falle einer Gefährdung (gemeinsam definierter) europäischer Interessen zumindest nicht ausgeschlossen.

Grundlage hierfür sind die gemeinsame politische Analyse und die abgestimmte Aktionsplanung. Eine derartige Arbeitsteilung, welche eher die enge Koordination als die Integration zum Leitprinzip macht, schließt auf längere Sicht eine solidarische Teilnahme von Ländern mit ein, die nicht oder nicht voll an der westlichen Integration beteiligt sind. Auch ohne eine Ausdehnung der Integrationsstrukturen könnte so eine gesamteuropäische Zusammenarbeit entstehen, die der Stabilität dient und Europa seiner regionalen und globalen Verantwortung gerecht werden läßt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Europa-Archiv, 46 (1991) 1, S. D 26f.

  2. Ebda., Hervorh. d. A.

  3. Vgl. „Neue Strukturen für die NATO-Streitkräfte", in: Neue Zürcher Zeitung vom 14. /15. April 1991.

  4. Gründungsmitglieder sind: Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande.

  5. Art. IV des modifizierten Brüsseler Vertrages, Text in: Europa-Archiv, 9 (1954) 23, S. 7127ff.

  6. Alle neun WEU-Staaten sind Mitglieder der EG und der NATO. Dänemark, Griechenland und Irland sind Mitglieder der EG, aber nicht der WEU; Dänemark, Griechenland, Island, Norwegen und die Türkei gehören zwar der NATO an, nicht aber der WEU.

  7. Vgl. die gemeinsame Botschaft Helmut Kohls und Franfois Mitterands an den Präsidenten des Europäischen Rates, Giulio Andreotti, vom 6. Dezember 1990, in: Europa-Archiv, 46 (1991) 1, S. D 25 ff.

  8. Rede vor dem „Forum für Deutschland“, Berlin, 13. März 1991, in: Stichiworte zur Sicherheitspolitik, Bonn, Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, 4 (1991).

  9. Vgl. ebda.

  10. Europäische Freihandelsassoziation. Mitglieder sind: Finnland, Island, Liechtenstein, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz.

  11. „Havel zu Besuch bei der EG in Brüssel“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22. März 1991.

  12. Zit. nach: Neue Zürcher Zeitung vom 6. April 1991.

  13. Insbesondere ist der Anteil der Landwirtschaft in diesen Ländern zum Teil noch erheblich. Gerade die Agrarpolitik gehört aber zu den größten Konfliktquellen innerhalb der EG.

  14. Vgl. dazu: Allgemeines Schema für Assoziationsabkommen mit den Ländern in Mittel-und Osteuropa, in: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, KOM, (90) 398, endg. F„ Brüssel, 27. August 1990.

  15. Der Strukturfonds dient dem Wohlstandsausgleich zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Mitglieder.

  16. Vgl. Theo Sommer, „Was geht uns schon Jugoslawien an?“, in: Die Zeit vom 17. Mai 1991, S. 1.

  17. Vgl. „Regionales Gipfeltreffen in Venedig“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 3. August 1990.

  18. Moskau behauptete, Küstenschutz-und Marineinfanterieeinheiten seien vom Vertrag ausgenommen.

  19. Vgl. „Havel zu Besuch bei der EG in Brüssel“ (Anm. 11).

  20. Interview mit dem Deutschlandfunk am 31. März 1991. Auszüge in: Stichworte zur Sicherheitspolitik, Bonn, Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, 4 (1991), Hervorh. d. A.

  21. Polen hat mit dieser Reorganisation bereits begonnen. Vgl. Michael Ludwig, Polen und die sicherheitspolitische Lage in Osteuropa, in: Europa-Archiv, 46 (1991) 4, S. 127ff.

  22. Im Januar 1991 haben die SFR und Ungarn ein bilaterales Abkommen über die Militärkooperation unterzeichnet. Es enthält unter anderem eine Klausel über die Verlegung starker Einheiten ins jeweilige Grenzgebiet.

Weitere Inhalte

Urs Leimbacher, Dr. s sc. pol., geb. 1962; Forschungsassistent am Programme d’tudes stratgiques et de scurit internationale des Institut universitaire de hautes Stüdes internationales in Genf; z. Zt. Research Fellow am Center for International Affairs, Harvard University. Veröffentlichungen u. a.: Die deutsch-französische sicherheitspolitische Zusammenarbeit, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, (1990) 3; Die Diskussion um die Abschaffung der Schweizer Armee, in: Sicherheitspolitik kontrovers, Bonn 1990.