I. „Letterleuchten“ am literarischen Horizont
Neue Zeiten beginnen mit neuen Büchern. Wie jede Umbruchzeit hat auch das Jahr 1989/90 seine Bücher und Verlage hervorgebracht. Zu den ca. 70 bestehenden Verlagen traten fast genausoviele neue. Von der Teilnahme an der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 1990 waren sie, von Ausnahmen abgesehen, noch ausgeschlossen. Hier wehte zum letztenmal der Geist einer Repräsentativkultur, der sich gegen die unübersichtliche Vielfalt des Neuen zu bewahren suchte. Das Domizil der neuen Verlage fand sich weitab vom offiziellen Messe-geschehen in einer alten Vorstadtvilla, die zu einer alternativen Buchmesse umgestaltet worden war. Wenige Monate später waren die Neuen zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 1990 wie selbstverständlich dabei: Die Berliner Verlage BasisDruck, Edition Fischerinsel, BONsaitypART, Constructiv, Druckhaus Galrev, LinksDruck, KONTEXT, Tacheles und die Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße (UVA), der Militzke-Verlag und Forum Verlag aus Leipzig, der Wamow-Verlag und die Dresdener Verlage Sesam und Octopus De iure existieren sie alle seit dem Frühjahr 1990, ihre Wurzeln reichen aber weiter zurück, zum Teil bis in die frühen achtziger Jahre. Viele der Verlagsgründer waren schon zu DDR-Zeiten an der Herstellung von Zeitschriften und hektografierten Heft-Editionen beteiligt, die in kleiner Zahl unter der Hand verbreitet, zwar keine übergreifende Gegenkultur, so doch ein regional gut funktionierendes kommunikatives Geflecht von Herausgebern, Autoren und Lesern geschaffen hatten, auf das nach dem Fall der Mauer zurückgegriffen werden konnte.
Wirkte die Vielfalt der Neugründungen nach dem Aufbrechen der monolithischen Verlagslandschaft so irritierend und bunt wie das Parteienspektrum der unmittelbaren Umbruchzeit, so lassen sich dennoch drei Typologien von Neugründungen unterscheiden. Die Neuen kamen teilweise aus bestehenden Verlagen, wie die Mitarbeiter der Verlage LinksDruck, Sachsenbuch-Verlag und der Verlagsbuchhandlung Ackerstraße, und brachten neben wichtigen Arbeitserfahrungen auch Autoren, Kontakte und zum Teil fertige Bücher mit. Eine zweite Gruppe entstammt der urbanen Subkultur der autonomen Literatur-und Kunstszene Dresdens, Leipzigs und Berlins, wie die Berliner Verlage Druckhaus Galrev und Warnke & Maas, die neugegründete Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig und der Dresdener Zeitschriftenverlag „reiterIn". Die dritte Gruppe ging aus der Arbeit der Bürgerbewegungen hervor, wie der Leipziger Forum Verlag und der Berliner Basis-Druck und KONTEXTvertag. Gemeinsames Anliegen aller Gründungen war der Wunsch, so schnell wie möglich in die Umbruchzeit hineinzuwirken und die Defizite aufzuarbeiten, die eine jahrelange kulturelle und politische Zensur hinterlassen hatte. Hinzu kam das Wissen um die einmalige Chance, die die kulturelle und politische Interimszeit des Jahres 1990 bot, in der sich die alten Strukturen zwar aufgelöst, neue aber noch nicht Fuß gefaßt hatten.
Unterdessen fällt den Neugründungen eine weitere Aufgabe zu: Sie entwickeln sich zu Auffangbecken für Autoren und Bücher, die von den alten Verlagen in ihrem Bemühen, auf dem gesamtdeutschen Buchmarkt Fuß zu fassen, abgestoßen wurden oder nach erfolgtem Verkauf durch die Treuhand nicht mehr in das Konzept der neuen Eigentümer passen. Die Kleinverlage entwickeln sich so zu Seismographen für die allgemeine kulturelle Situation in den neuen Bundesländern. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bleibt eine der wichtigsten Domänen vieler kleiner Verlage (zum Beispiel der Häuser Forum, BasisDruck, LinksDruck und KONTEXTverlag), neben dem Insistieren auf der Identität eines regionalen Kulturraumes (z. B. Sachsen im Sachsenbuch-Verlag und bei Forum). Neue Verlage, die sich wie das Druckhaus Galrev, Warnke & Maas oder der ebenfalls 1990 ins Leben gerufene Verlag Janus Press der literarischen Avantgarde verschreiben, die bei den Großen von jeher nur eine vorübergehende Heimat gefunden hätten, sind eine der interessantesten und bemerkenswertesten Entwicklungen. Nicht alle Verlage, die im Oktober 1990 als Neulinge auf die Frankfurter Buchmesse kamen, werden auch im Herbst dieses Jahres wieder dabei sein. Die Gründerzeiten sind vorbei. Inzwischen ist der Reiz des Neuen verblaßt, und mit dem langsamen Siechtum der Großen hat auch das schnelle Sterben der Kleinen begonnen. Die Berliner Verlage Tacheles und Tantalus haben ihre Produktion inzwischen eingestellt, von Octopus, Edition Fischerinsel und vielen anderen wurde nur noch wenig vernommen. Wo Mut, Engagement und schnelles Handeln in der ersten Hälfte des letzten Jahres noch ausreichen mochten, Aufmerksamkeit und mitunter traumhafte Verkaufsziffern zu erzielen, ist man nach Einführung der Währungsunion gezwungen, sich dem nun vereinten Buchmarkt zu stellen. Zur Konkurrenz durch die ostdeutschen Verlage kommt das erdrückende An-gebot der westdeutschen Buchindustrie. So befindet sich die Mehrzahl der Verlagsneugründungen mittlerweile in einer Situation, in der sich das Fehlen geeigneter Vertriebsstrukturen weitaus schwerwiegender auswirkt als der rapide Rückgang des Buchverkaufs. Das Buch kommt gar nicht erst in den Handel.
Zur sozialbedingten Änderung des Kaufverhaltens gerade bei jenen Lesern, an die sich die Neuen in erster Linie wenden, kommt der fast völlige Zusammenbruch des ehemals zentralgeleiteten Buchhandels. So ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast unmöglich, ein vollständiges Bild von der Situation neuer Verlage zu zeichnen. Im folgenden möchte ich eine Reihe wichtiger Verlage mit ihren Traditionen vorstellen und einige der Schwierigkeiten aufzeigen, denen ihre Arbeit in Ostdeutschland begegnet.
II. Der Buchmarkt: Bücher auf den Müll
Als sich die Gerüchte nicht verflüchtigen wollten, nahe Leipzig entsorge der Leipziger Kommissionsund Großbuchhandel. (LKG), ehemals einziger und zentralgeleiteter Buchvertrieb der DDR, seine Buchbestände auf den Müll, gingen am 1. Mai 1991 Studenten der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität auf einer Deponie in Hainichen bei Espenhain den Gerüchten mit Hacke und Schaufel auf den Grund. Unter faulen Kartoffeln, Bauschutt und Autowracks fanden sie einen Bücherberg. Was zum Vorschein kam, waren keineswegs nur Altlasten einer zu Ende gegangenen Zeit, SED-Schriften oder Honecker-Reden, sondern auch stapelweise Ausgaben von Goethe, Schiller, Shakespeare, Hegel, Rosa Luxemburg bis hin zu Kinderbüchern und Bänden von Helga Königsdorf und Christoph Hein. Bis zu fünfzigtausend Tonnen soll der LKG auf diese Weise entsorgt und damit eine der nahegelegenen Lagerhallen für den Verkauf leergeräumt haben. Insgesamt betrugen die unverkäuflichen Buchbestände des LKG im Mai 1991 noch über zweihundertfünfzigtausend Tonnen, und es stimmt keineswegs versöhnlicher, wenn ein LKG-Sprecher im nachhinein versicherte, in diesem Falle hätte es sich ausschließlich um wertlose altlastige DDR-systemkonforme Massenschriften gehandelt, an deren Weiterverarbeitung auch die Recycling-Industrie kein Interesse gehabt hätte Inzwischen hat sich auch das Bonner Bildungsministerium mit dem Phänomen des Leipziger Bücherberges beschäftigt und damit an eine deutsch-deutsche Phänomenologie erinnert, bei der die westdeutschen Fleisch-, Butter-und Trockenmilchberge um ostdeutsche Munitions-, Schulden-und Bücherberge zu vermehren wären. Der Deponiefund bei Espenhain ist seiner Ausmaße wegen zwar nicht typisch, zeigt aber schlaglichtartig den immensen Wertverfall, dem das Buch als Ware seit dem l. Juli 1990 unterworfen ist. Er zeigt den Zusammenstoß zweier verschiedener Kultursysteme. Der Umbruch des ostdeutschen Buchmarktes erweist sich als weitaus schwieriger und schmerzlicher als angenommen. Neben vielem anderen war auch das vielgerühmte Bild vom „Leseland DDR“ eine der Fiktionen, die nur so lange Bestand hatten, solange es die DDR gab. Mit der Öffnung der Grenzen ihres besonderen Bedingungsgefüges beraubt, fiel auch diese Fiktion in sich zusammen. Unmittelbar davon betroffen waren die Buchhandlungen, die des staatlichen Volksbuchhandels ebenso wie die wenigen privaten und kirchlichen oder die Läden der CDU-Buchhandelskette „Wort und Werk“. Sie alle müssen auf drei wesentliche Umstellungen reagieren: auf das völlig veränderte Kaufverhalten, auf veränderte Organisationsformen im Buchhandel und auf die Folgen der Privatisierung. Befragt man Buchhändler, so klagen sie übereinstimmend über den drastischen Rückgang der Kundschaft, den Zerfall des Stammkunden-kreises und über die damit verbundenen Umsatz-einbrüche. Bisher beliebte Titel werden nicht mehr gekauft; Belletristik so gut wie gar nicht, unabhängig, ob es sich dabei um ostdeutsche oder westdeutsche Autoren handelt, ebensowenig wie teure Neuerscheinungen, mehrbändige Ausgaben oder die bisher recht beliebten Bildbände. An ihre Stelle treten aktuelle Filmbücher, Unterhaltungsliteratur und Sachbücher, die Hilfe und Beratung in neuen Lebenslagen geben. Auch organisatorisch änderte sich viel. Wurden die Buchhandlungen zentral vom LKG beliefert -Volksbuchhandlungen von einer sogenannten Leitbuchhandlung in der jeweiligen Bezirksstadt -, ohne daß der Buchhändler letztlich Einfluß auf Umfang und Sortiment der Ware hatte, war man mit der Währungsunion an die Vertriebs-und Barsortimentsstrukturen (Buchgroßhändler zwischen Verlag und Buchhandlung) des westdeutschen Buchmarktes ange-schlossen.Nach dem l. Juli 1990 erübrigten sich die großen Lager. Für viele Buchhandlungen rächte sich jetzt die DDR-übliche Praxis, die mehrfache Menge zu bestellen, um wenigstens einen Bruchteil der gewünschten Titel zu erhalten. Viele Buchhandlungen waren so gezwungen, umfangreiche, erst nach dem l. Juli 1990 ausgelieferte Bestellungen abnehmen zu müssen. Durch die Privatisierung der Gebäude erhöhten sich die Mieten und Betriebskosten zum Teil so drastisch, daß Buchhandlungen bereits schließen mußten. Die meisten staatlichen Buchhandlungen der ehemaligen DDR wurden inzwischen verkauft. Läden des Volksbuchhandels, die wegen zu hohen Personal-standes, voller Lager und des unsicheren Kunden-verhaltens nicht privatisiert werden konnten, schlossen ihre Pforten. Mag die Übernahme besonders günstig gelegener Geschäfte durch Buch-handelsketten aus den alten Bundesländern für die Belegschaften auch günstig sein, da die neuen Eigentümer die schlecht laufenden Läden zur Zeit noch subventionieren -so Teile der CDU-Kette „Wort und Werk“, die von einer der großen deutschen Tageszeitungen übernommen worden sind -, für die neuen Verlage und ihre Vertreter bedeutet das, vom Verkaufsgeschehen ausgeschlossen zu sein. Teilweise werden diese Ketten zentral beliefert und waren zeitweilig -wie die ehemaligen Volksbuchhandlungen des Bezirkes Rostock -angewiesen, nichts von ostdeutschen Verlagen zu kaufen, oder sie haben wegen überfüllter Lager generellen Einkaufsstop. Bei Räumungsverkäufen werden Bücher zu Schleuderpreisen abgegeben. Das Buchhaus Leipzig verschenkte sogar seine Lagerbestände an die Passanten. Diese Vorgänge führen zu einer zusätzlichen Sättigung des Marktes, so daß Verlagsvertreter vielerorts erst wieder im Herbst von Buchhandlungen empfangen werden. Mit einer entspannteren Lage rechnen Buchhändler erst im Laufe des Frühjahres 1992.
Für kleinere neugegründete und für die in ihrer Existenz bedrohten alten Verlage sind das keineswegs beruhigende Aussichten. Wer konnte, glich die Verluste durch den Buchverkauf in den alten Bundesländern aus. Dafür bedurfte es aber des rechtzeitigen Aufbaus eines flächendeckenden Vertretemetzes, was vor allem von kleinen Verlagen nicht zu leisten war. Gibt es in den alten Bundesländern ein breites Netz von engagierten, alternativen oder Literatur-Buchhandlungen, die sich in einem hohen Maße für die Produktionen der Neuen interessieren, stoßen diese in den neuen Ländern nur auf ein eher begrenztes Interesse. Neue Buchhandlungen gibt es bisher nur vereinzelt, bei den alten herrscht neben der allgemeinen Unsicherheit das Gefühl von Ratlosigkeit vor, angesichts einer halben Million lieferbarer Titel das Verlagsprogramm eines Newcomers zu bewerten. Vielfach wird da auf Bewährtes zurückgegriffen, auf große Autoren-und Verlagsnamen, und die Offerten der Billiganbieter wurden zum Teil dankbar angenommen. Daß es sich hierbei vielfach um Remittenden und Uraltladenhüter handelte, die sich, nach anfänglichem Interesse auch im Osten nicht verkauften, ist eine schmerzliche Erfahrung, von der noch heute übervolle Lager und Verkaufsräume zeugen.
III. Verlagsarbeit bis 1989
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der alten Verlage gleichen denen des Buchhandels: Umsatzeinbrüche, Neugestaltung des Sortiments, Aufbau neuer Vertriebs-und Werbekonzeptionen, der generell zu hohe Personalbestand, die schlagartige Umstellung von Plan-auf Marktwirtschaft und die einsetzende Privatisierung lassen den Fortbestand der Unternehmen unsicher erscheinen. Man kann den ehemaligen DDR-Verlagen nicht vorwerfen, unökonomisch gewirtschaftet zu haben, im Gegenteil. Sie arbeiteten als Subventionsbetriebe genau nach den ihnen vom Ministerium für Kultur gesetzten Vorgaben und hatten innerhalb dieses Systems ihre Umsatz-und Valutapläne zu erfüllen, wie andere Betriebe auch. Vielfach wird vergessen, daß es innerhalb dieser starren Grenzen doch im kleinen Maße möglich war, dieses oder jenes Buch zusätzlich in das Programm zu schmuggeln. Uner-wähnt bleibt, daß es dem Geschick des Produktionsleiters oder dem Engagement des Verlagsleiters zu verdanken war, die Verlagsproduktion trotz erschöpften Papierkontingents doch noch fortzuführen, völlig unsinnige Anweisungen wie die dritte Nachauflage eines Buches, das sich bereits in der ersten nicht verkaufte, nach langen diplomatischen Winkelzügen abzuwenden und dergleichen mehr. Die Planwirtschaft produzierte ihre eigenen Prämissen und Paradoxien, und die Betroffenen übten sich in der hohen Kunst des Improvisierens. Nicht ganz ohne selbstironischen Stolz stellte ein ehemaliger DDR-Ökonom kürzlich fest, das eigentliche Wirtschaftswunder wäre die DDR. Eine Reihe von Schwierigkeiten, mit denen die alten Verlage heute zu kämpfen haben, sind ein Relikt der bis 1989 gültigen, starren und überdimensionierten Strukturen. So erklärt sich auch der hohe Personalbedarf aus den bis in die unterste Ebene differenzierten Organisationshierarchien, der vom westdeutschen Leitwert von 1: 7 im Verhältnis von Mitarbeitern zur jährlichen Buchproduktion doch bedenklich abweicht. So erreichte zum Beispiel der Verlag Neues Leben mit seinen 120 Mitarbeitern und 200 Neuauflagen ein Verhältnis von 12: 20, der Aufbau-Verlag sogar nur einen Wert von 18: 25.
An der Spitze der kulturellen Hierarchie stand die Abteilung Kultur beim Zentralkomitee der SED, diesem unterstand der Ministerrat (auch wenn alle offiziellen Selbstdarstellungen anders lauteten), dem wiederum das Ministerium für Kultur. Die Verlagsgeschäfte wurden hier von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel geführt, eine der Hauptverwaltungen neben der HV Film und der HV Theater. In dieser Hauptverwaltung, die auch für den zentralen Buchvertrieb durch den LKG und für die einzelnen Bezirksstellen des Volks-buchhandels und der Bibliotheken zuständig war, wurde die Produktion der Verlage beaufsichtigt und einem Genehmigungsverfahren unterworfen. Die Programme größerer Verlage wurden von mehreren Mitarbeitern der Hauptverwaltung betreut. Während beispielsweise der Verlag Neues Leben nur über einen Ansprechpartner verfügte, wurde die Produktionsplanung des Aufbau-Verlages von zwei Kräften verwaltet.
Diese Hierarchie setzte sich innerhalb des Verlages fort. An dessen Spitze stand der Verlagsdirektor, der im allgemeinen direkt vom Kulturministerium berufen bzw. abgesetzt wurde. Ihm unterstanden die einzelnen Lektorate, dann folgten in strenger Folge die künstlerische Redaktion und die Abteilungen Ökonomie, Absatz, Herstellung und Öffentlichkeitsarbeit. Mit diesem Aufbau waren zugleich die personelle Hierarchie und Sachkompetenz vorgegeben, von der auch inhaltliche Entscheidungen direkt betroffen waren. Nach der Bestätigung eines Buchtitels durch die wöchentlichen Lektoratssitzungen wurde ein Themenplan mit genauer tabellarischer Aufstellung (Titel, Autor, Auflagenhöhe, Anzahl der Nachauflagen, Papier-sorte, Umfang etc.) und kurzer Annotation und Gutachterresultaten etwa ein Jahr vor dem frühestmöglichen Zeitpunkt der Drucklegung zur HV Verlage und Buchhandel eingereicht. War der Titel bis zum endgültigen Manuskript fertiggestellt, erhielt die Hauptverwaltung eine Kopie, in der alle Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Manuskript akribisch ausgewiesen sein mußten. Mit der Bestätigung durch die Hauptverwaltung war die Erteilung der Druckgenehmigung verbunden. Ob das Buch sofort gedruckt oder aus Gründen des viel zu geringen Papierkontingents auf eine Warteliste gesetzt wurde, entschied dann der Verlag selbst. So hatten Bücher eine durchschnittliche Produktionsdauer von ca. zwei Jahren, die sich aus den verschiedensten Gründen erheblich verlängern konnte. Ende der Achtziger hatten fast alle Verlage „Überhänge“ aus den vorangegangenen Jahren. Das galt allerdings nicht für die „Schwerpunkttitel“, denen alles andere bis hin zur Papierzuteilung untergeordnet war. Schwerpunkt-titel waren im allgemeinen Bücher mit politischer Relevanz (wie die Honecker-Biographie „Aus meinem Leben“), Bücher von Autoren, die für den Verlag wichtig waren oder Bücher, die in KoProduktion mit westlichen Verlagen bzw. als Devisenbeschaffer ausschließlich für den westdeutschen Buchmarkt produziert wurden.
Eng mit der Organisationsstruktur des Verlages verbunden war die Praxis der Zensur. Man muß sich von dem Gedanken lösen, es hätte eine eigenständige Zensurabteilung innerhalb des Verlages oder der Hauptverwaltung gegeben. Zensur war Teil eines fest vorgeschriebenen Produktionsalgorithmus, den das Manuskript auf seinem Weg von der Lektoratssitzung bis zum Ministerium für Kultur durchlief. Im einzelnen ist heute kaum auszumachen, welche Ebene der Hierarchie ursächlich für die Verhinderung oder Veränderung eines Manuskriptes verantwortlich war. Natürlich lagen die letzten Konsequenzen bei der Hauptverwaltung, viele Entscheidungen wurden aber schon auf den unteren Ebenen getroffen. Passierte ein Buch die Lektoratssitzungen, war es bereits zwei Gutachtern und zwei Lektoren zur Bestätigung vorgelegt worden, die für die literarische Qualität, sachliche Richtigkeit und auch für die politische Loyalität bürgten. Zensurentscheidungen verlagerten sich zumeist auf mehrere Schultern und begannen letztlich schon beim Autor, der um diese Bedingungen wußte. Es ist bekannt, daß Lektoren fast immer aus diesen Zwangslagen heraus entschieden.
Was die Kulturtheoretikerin Antonia Grunenberg für die Literatur feststellte, gilt in besonderer Weise auch für die Verlage: „Die Zwangslagen der Literatur und der Literatinnen, die jetzt von westlichen Kritikerinnen so heftig... als , selbstverschuldete Unmündigkeit* kritisiert werden, waren seit dem Ende der siebziger Jahre offenkundig. ... Die Repression war nicht durchgängig; die SED-Führung operierte mit Zuckerbrot und Peitsche. In einem solchen Zustand konnte man sich einrichten.“ Natürlich gab es immer wieder spektakuläre Entscheidungen mit einschneidenden Folgen für Autoren und Verlage Im allgemeinen ist die Topographie der Zensur aber an die personelle und strukturelle Topographie des kulturellen Systems gebunden und paradoxerweise kaum an einem bestimmten Ort festzumachen. Hier steht eine fundierte Untersuchung eines der interessantesten Forschungsgebiete des kulturellen Lebens der DDR noch aus.
Organisationsstrukturen prägen das Selbstverständnis eines Verlages. Vielen alten Verlagen fällt es immer noch schwer, sich auf den Statuswechsel einzustellen. An das Bild verlegerischer Großbetriebe gewöhnt, versuchen ihre Verlagsleiter um jeden Preis, die Verlage als große Unternehmen zu halten. Anläßlich einer Ausstellung neuer Verlage in Ost-Berlin äußerte beispielsweise der Programmchef des Leipziger Kiepenheuer-Verlages noch im Februar 1991, daß sein Unternehmen keinesfalls ein „kleiner Liebhaberverlag mit vier oder fünf Leuten“ werden dürfe Noch nicht vertraut mit dem verlegerischen Erfolg auch kleinerer Auflagen, versucht der Aufbau-Verlag augenblicklich, sich von möglichst allen Projekten zu trennen, die keine Auflagenhöhen von 5000 erreichen. Anstelle literarischer Neuprofilierung hält man sich überwiegend an das Bewährte. Der Erfolg dieser Bemühungen bleibt eher ungewiß. „Am Ende“, so schrieb Thomas Rietzschel in einem Resümee, „laufen die alten DDR-Verlage bei dem hektischen Bemühen, sich im Überfluß der Nachahmung zu behaupten, immer nur Gefahr, ihren literarischen Ruf zu verspielen.“ Für ein abschließendes Fazit mag es zu früh sein, es zeigt sich aber, daß die Verlage in ihrem Bestreben, schnell ökonomischen Boden wettzumachen, viel von dem verlieren, was ihre bisherige Stärke ausmachte; gut ausgestattete, sorgfältig produzierte und qualitativ ansprechende Bücher anzubieten.
IV. Neue Buchverlage
Mit LinksDruck, BasisDruck und dem Leipziger Forum Verlag sind Sachbuchverlage entstanden, die aus der Tradition des Aufbruchs im Herbst 1989 kommen und, wie Forum und BasisDruck, zumindest in der Anfangszeit, den Bürgerbewegungen nahestanden. Zum anderen sind mit dem Druckhaus Galrev, Janus Press und Warnke & Maas reine Literaturverlage hervorgetreten. Eine dritte Richtung wird mit der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße deutlich, deren Programm sowohl Vertreter der literarischen Avantgarde, als auch Literatur des 19. Jahrhunderts und Computerbücher umfaßt und daher etwas unentschieden wirkt. 1. Christoph Links Verlag -LinksDruck GmbH Berlin Die Verluststatistik einer kürzlich in Leipzig-Connewitz gegründeten Buchhandlung weist das im LinksDruck Verlag erschienene Buch „Die Szene von innen“, das Skinheads, Grufties, Heavy Metals und Punks beschreibt, als das meist gestohlene Buch aus Die Gründer dieses Verlages, Christoph Links, Marianne Greiner und Peter Richnow, trafen mit ihrem politischen und aktuellen Sachbuchprogramm offensichtlich den Nerv der Zeit: „Es beschäftigt sich aus aktuellem Anlaß vorrangig mit der Aufarbeitung eines Teils der deutschen Geschichte und mit der Analyse der Realverhältnisse in der ehemaligen DDR“, so ver-meldet das Verlagsprogramm für 1991. Als erste private Neugründung zum Jahresbeginn 1990 in das Handelsregister eingetragen, wartet der Verlag mit einem Themenspektrum auf, das von der Stalinismusaufarbeitung bis zu Studien zur jüngeren DDR-Geschichte reicht Christoph Links, Sohn des bekannten Verlegers Roland Links (ehemals bei Kiepenheuer, Insel, Dieterich), machte seine verlegerischen Erfahrungen im Aufbau-Verlag, ließ sich bei Bertelsmann in einem Marketing-und Managerkursus schulen und baute, was vielen Neugründungen bisher nicht gelungen ist, einen funktionierenden Vertrieb auf, der sich jetzt, da der Verlag den weitaus größeren Umsatz in Westdeutschland erzielt, als eigentliches Standbein des Unternehmens erweist (Seit Juli 1991 firmiert dieses Unternehmen als Ch. Links Verlag -Links-Druck GmbH.) 2. Forum Verlag Leipzig Ebenfalls mit einem politischen Sachbuch machte der inzwischen recht bekannte Forum Verlag Furore. „Jetzt oder nie -Demokratie!“ ist ein Dokument des Leipziger Herbstes 1989 In ihm werden die Tage vom 25. September, der ersten größeren Demonstration in der DDR, bis zum 18. November 1989 in Wort und Bild nachvollzogen. 6500 Exemplare des Buches wurden mit einem Initialstart an einem Vormittag in der Leipziger Innenstadt verkauft, inzwischen erreichte das Buch eine Auflage von 25000. Mit weiteren Büchern zum Umbruch zur Stasi-Aufarbeitung und mit Dokumenten zu politischen Verfolgungen während der Stalinzeit stellt sich auch der Forum Verlag der jüngeren Zeitgeschichte. Bemerkenswert sind eine Reihe von Büchern zu Sachsen und Leipzig, die zwar regional ausgerichtet sind, damit aber eine verlegerische Chance nutzen, die andere nicht in gleicher Weise erkannt haben. Eine zunächst an den Verlag angeschlossene und kurzzeitig auch überregional bekannt gewordene politische Wochenzeitung „die andere Zeitung“ (daz) mußte Anfang 1991 nach herben Verlusten Konkurs anmelden. Der zu hohe Personalbestand aus der Anfangszeit und der nicht am Absatz orientierte Etat bedrohten die Zeitung seit längerem, deren Schicksal durch nicht eingehaltene Kreditgarantien des westlichen Partners endgültig besiegelt wurde. Die Kulturbeilage der Zeitung, „Connewitzer Kreuzer“, erscheint weiter als selbständiges Stadt-und Kulturmagazin Leipzigs in der 1990 gegründeten Connewitzer Verlagsbuchhandlung unter dem neuen Namen „Kreuzer“ 3. BasisDruck Verlag Berlin Das erste Buch eines unabhängigen Verlages in der DDR wurde vom Berliner BasisDruck Verlag vorgelegt, der mit dem unerwarteten Riesenerfolg seines Erstlings das weitere Jahresprogramm finanzieren konnte. Gegründet mit der Wochenzeitung „die andere“, konnte der Verlag im März 1990 mit den Befehlen und Lageberichten der Staatssicherheit: „Ich liebe euch doch alle...!“ über Nacht einen Bestseller landen. Bereits am ersten Tag wurden 25000 Exemplare von Lastwagen und fliegenden Ständen verkauft. Wenige Tage später war die gesamte erste Auflage von 50000 abgesetzt, bis heute hat das Buch mehr als 200000 Käufer gefunden.
In einem Hinterhaus in der Schliemannstraße, mitten im Stadtbezirk Prenzlauer Berg gelegen, hat sich das Unternehmen inzwischen zu einem größeren Kommunikations-und Verlagszentrum entwickelt, das längst nicht mehr nur den Buch-und Zeitschriftenverlag umfaßt. Neben der Wochen-zeitschrift „die andere“ werden vom Zeitschriftenverlag die Frauenzeitschrift „Ypsilon“ und der „Telegraf“ herausgegeben. Das Haus vereint inzwischen eine Buchhandlung, Caf, Umweltbibliothek und die Robert-Havemann-Gesellschaft. Eine Kinderzeitschrift mußte aus Kostengründen aufgegeben werden. Wie Forum und LinksDruck versucht der Verlag mit Büchern zur jüngsten DDR-Geschichte die Bedingungen von Repression und Gewalt zu analysieren, die zum friedlichen Umbruch von 1989 geführt haben. Fast fremd nehmen sich die Schriften aus dem Umfeld des ehemaligen Brecht-Zentrums aus, das Publikationsmöglichkeiten beim BasisDruck gefunden hat. Es bleibt anzuzweifeln, ob die Debatten um Hanns Eislers „Johann Faustus“ oder die Resultate der Theaterarbeit an Brechts „Maßnahme“ einen größeren Interessentenkreis erreichen Die Zukunft sieht der Verlag in einer breitangelegten Öffnung zu den Ländern Osteuropas, in einer Frauenbuchreihe und in der kritischen Begleitung der aktuellen Zeitgeschichte. „Im Mittelpunkt unseres verlegerischen Interesses stehen natürlich Bücher, die sich mit der Analyse der DDR-Geschichte und dem Alltag der Menschen in Osteuropa beschäftigen“, heißt es im Ankündigungsprogramm für 1991. Ob sich die Hoffnungen des Verlages bestätigen, bleibt abzuwarten. Besonders hervorzuheben ist eine Kooperationsbeziehung zum Literaturverlag Janus Press, durch die BasisDruck eine hervorragende Erweiterung seines Programmes erfährt. 4. Janus Press Berlin Gerhard Wolf, namhafter Herausgeber und Förderer neuerer Literatur -er betreute die im Aufbau-Verlag bis 1990 „Außer der Reihe“ erschienenen avantgardistischen Texte -versuchte nach der überraschenden Einstellung dieser Reihe, einen Teil der Autoren in seine Verlagsgründung zu integrieren. So sind nicht nur Bücher von Jan Faktor, Bert Papenfuß-Gorek und dem 1988 durch Freitod aus dem Leben gegangenen Dichter Frank Lanzendörfer angezeigt sondern mit Franz Mon auch einer der Altväter dieser Literatur, getreu dem Konzept des Verlages, das mit dem Bild des Janus-Kopfes umschrieben wird: „der köpf des janus blickt zurück auf eine frühere, voraus auf eine kommende literatur. mit seinem gegenwärtigen gesicht blickt er uns an.“
Die Kontakte zur jüngeren Autorengeneration, die aus den verschiedensten Gründen von den DDR-Verlagen ausgeschlossen war und in einer Reihe von selbstverlegten Kleinzeitschriften publizierte, reichen bis in die frühen achtziger Jahre zurück. Damals landete eine Kopie einer von Sascha Anderson und Uwe Kolbe zusammengetragenen und von Franz Fühmann initiierten Anthologie, nachdem sie nicht einmal als internes Studien-material in der Akademie der Künste Verbreitung finden durfte, auf dem Schreibtisch Gerhard Wolfs. Mitte der achtziger Jahre scheiterte Elke Erb mit dem Versuch, dem Aufbau-Verlag eine Anthologie wichtiger neuer DDR-Autoren anzubieten; das Buch erschien schließlich 1985 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln 1986 lud der Leiter des Aufbau-Verlages, Elmar Faber, einige der in dieser Anthologie vertretenen Autoren für eine neue Sammlung ein. Dieser Vorschlag wurde von den Autoren abgelehnt, da die Zeit der Anthologien vorbei sei. Von Papenfuß-Gorek lagen bereits seit Jahren abgeschlossene Manuskripte vor, Rainer Schedlinski reichte kurz darauf einen umfangreichen Band ein und auch der jüngere Prosaautor Reinhard Jirgl, von Heiner Müller an den Verlag vermittelt, hatte seit längerem einen Roman vorgelegt. Eine ganze Autorengeneration wartete inzwischen darauf, verlegt zu werden 1987 beschloß der Verlag, „Außer der Reihe“ jährlich vier Titel mit Debütanten herauszubringen, die nicht in sein repräsentativ ausgerichtetes Profil zu integrieren waren. Da sich keiner der Lektoren kompetent fühlte, wurde schließlich Gerhard Wolf, zu diesemZeitpunkt freier Mitarbeiter beim Verlag, um die Herausgabe dieser Reihe gebeten. Was nur „Außer der Reihe“ erscheinen konnte, blieb auch in der Folge ein Stiefkind des Verlages. Ohne Nachauflage, eine in der DDR bisher unübliche Verlagspraxis, und ohne Werbung, wurde die Reihe kurz nach der Währungsunion abgesetzt. Janus Press versteht sich als Fortsetzung dieser Tradition: „In den letzten Jahren entstand in der DDR in Konflikt und Kontrast zur offiziellen und traditionellen Kunstausübung eine andere Literatur, deren Dichter sich in kühnen, mit der Sprache experimentierenden Texten, ingeniös, frech und frei aussprachen. Janus Press nimmt sich dieser Literatur an.. ." 5. Druckhaus Galrev Berlin Von einem neuen Verlag werden entweder neue Konzeptionen oder neue Namen erwartet. Das im Frühjahr 1990 im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg gegründete Druckhaus Galrev hat beides: Neue Autoren und eine neue verlegerische Idee. Mit seinen zwischen 1953 und 1960 geborenen Dichtern ist es ein Verlag der Herausgeber, die bereits seit den frühen achtziger Jahren mit ihren Kleinzeitschriften und literarisch-grafischen Heft-Editionen im kulturellen Widerstand zur offiziellen Literatur verlegerische Erfahrungen sammelten. Aus den Herausgeber-und Autorenkreisen der Zeitschriften ARIADNEFABRIK (herausgegeben von Andreas Koziol und Rainer Schedlinski), BRAEGEN und CALIGO (herausgegeben von Vrah Toth), LIANE (herausgegeben von Michael Thulin, Heinz Havemeister, Susanne Schleyer, Volker Handloik), SCHADEN (herausgegeben von Egmont Hesse, Ulrich Zieger, Leonhard Lorek u. a.) und VERWENDUNG (herausgegeben von Egmont Hesse) entstanden, versteht sich das Druckhaus Galrev als Verlag für Lyriker und für herausgeberische Projekte, die mit einer neuen Sprache auf die sich wandelnde Umwelt reagieren. Das recht homogen wirkende Programm -ein Autor arbeitet immer mit einem Maler oder Grafiker zusammen -wird in bisher drei Verlagsreihen angeboten: Die Edition Galrev umfaßt jährlich zehn deutschsprachige Autoren, unter ihnen Sascha Anderson, Stefan Döring, Peter Waterhouse, Elke Erb und Bert Papenfuß-Gorek; die Edition Druckhaus widmet sich Übersetzungsprojekten: 1991 aus dem englischsprachigen Bereich (Paul Durcan, The Berlin Wall Cafe, AMLIT. Beispiele der neueren Literatur aus den USA), 1992 aus der Sowjetunion (Dmitri Prigov, Neue russische Literatur) und in der Reihe: Anthologie im Druckhaus Galrev werden wichtige, die Literatur begleitende Texte, theoretische Konzeptionen und Poetiken versammelt „Im Unterschied zu den großen literarischen Verlagen, die sich Dichtung fürs Image oder für die Ornamentik leisten, wird sich das Druckhaus Galrev ausschließlich mit Veröffentlichung und Verbreitung von Dichtem befassen“, heißt es im Verlags-prospekt. Angeschlossen an den Verlag ist ein Bereich Satz und eine Offset-Druckerei, die das finanzielle Standbein des ganz und gar nicht kommerziell ausgerichteten Programms bilden. Längerfristig versucht das Druckhaus Galrev mit seinen Produktionen ein „Archiv der poetischen Moderne“ zu versammeln. Für das nächste Jahr sind unter anderem auch Wolfgang Hilbig, Gert Neumann, Karl Mickel und Anemone Latzina angekündigt. Mit Eberhard Häfner und Elke Erb verfügt der Verlag über wichtige Autoren, die vom Aufbau-Verlag herübergewechselt sind Galrev -rückwärts gelesen: Verlag (Elke Erb: „wer es merkt, ist Kunde“) und das verlagseigene Literaturcafe „Kiryl“ sind die eigenständigste literarische Neugründung in der ehemaligen DDR. 6. Verlag Warnke & Maas Berlin „NIX“ heißt der sprachartistisch-antibürgerliche Bildungsroman Peter Wawerzineks, eines der Stipendiaten des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbes in Klagenfurt, der gleich einer ganzen neu antretenden Autorengeneration das Schlagwort gab: Die „Nix-Künstler“ sind im Kommen Neben Peter Wawerzinek legte der Verlag einen Band von Matthias Baader-Holst vor, einen Streifzug durch die signifikanten Trümmer des Post-Zeitalters; der Post-Moderne, des Post-Stalinismus, der post-industriellen Befindlichkeiten mit dem Titel: „traurig wie hans moser im sperma weinhold“ Literatur der Nach-Kriegs-zeit. Gegründet von einem west-und einem Ostberliner Verleger, steht der Verlag in der Tradition der westberliner Avantgarde und ostdeutschen Unikatliteratur. 1982 brachte Uwe Warnke, am 9. Mai 1991 mit dem V. -O. Stomps-Preis für Zeitschriften der Stadt Mainz ausgezeichnet, die erste Nummer der originalgrafischen Heft-Edition „Entwerter-Oder“ heraus, der mittlerweile dienstältesten „Untergrund“ -Zeitschrift der DDR. Wie andere Unikatproduktionen nach ihr, war auch „Entwerter-Oder“ auf die Abschriften seiner Autoren angewiesen, so daß das Heft nur in einer limitierten Auflage von 25 Exemplaren pro Nummer erscheinen konnte. Der Wirkungskreis war aber weitaus größer, da sich Bibliotheken und Archive (Sächsische Landesbibliothek, Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N.) schon früh um den Ankauf der Hefte kümmerten und diese einem aufmerksamen Leserkreis zur Verfügung stellten. Der im Mai 1990 ins Leben gerufene Verlag versucht nun mit Kleinauflagen an dieser Tradition festzuhalten, obwohl auch seine weitere Zukunft ungewiß ist. Das Problem sei, so Erich Maas, nach den Chancen eines Verlegers befragt, daß man davon nicht leben kann, andererseits produzieren muß, um den Verlag lebensfähig zu halten 7. Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße Berlin Da der Verlagsname inzwischen zu umständlich erschien -vielen ist er sowieso nur unter dem Kürzel: UVA bekannt -entschieden sich die Verlagsgründer Thomas Wieke und Dorothea Oehme für den nicht weniger kryptischen Namen „Fumfei“; auch eine Buchhandlung existierte 1990 nur für kurze Zeit. Verlagserfahrungen sammelten die Verleger bei der Zeitschrift „Temperamente“ und in der Reihe „Poesiealbum“ des Verlages Neues Leben. Die mit dem MaroLiteraturpreis ausgezeichnete Anthologie „Fluchtfreuden Bierdurst. Letzte Gedichte aus der DDR“ (1990) geht auf Vorarbeiten im Verlag Neues Leben zurück Auch Peter Wawerzineks Parodien zur DDR-Literatur, „Es war einmal“, lesen sich wie das ironische Who is Who einer untergegangenen Zeit Mit Adolf Endler wird das gegenwartsliterarische Programm abgerundet. Für eine Verlagsneugründung verblüffend sind die literarhistorischen Entdeckungen, die neben Ludwig Tieck Johann Wilhelm von Archenholtz, Heinrich Hubert Houben und Emily Dickson umfassen Es ist zu bezweifeln, ob diesen bibliophilen Fundstücken ein verlegerischer Erfolg beschieden sein wird. Auch die Computer-Literatur nimmt sich neben dem literarischen Programm fremd aus, hilft aber sicherlich, den Verlag zu erhalten. Letztlich sind alle Sorgen schon in dem neuen Editionsnamen enthalten: „Fumfei“ -jiddisch: „die Tasche leeren“.
V. Neue Zeitschriften und Zeitungen
Die literarische Zeitschriftenlandschaft der DDR war keineswegs so homogen, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erschien. Neben den drei offiziellen Literaturzeitschriften „Sinn und Form“ (herausgegeben von der Akademie der Künste), „Neue Deutsche Literatur“ (herausgegeben vom Schriftstellerverband der DDR), „Temperamente“ (herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend und vom Verlag Neues Leben) und der Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie „Weimarer Beiträge“ (herausgegeben vom Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar), entstanden im Laufe der achtziger Jahre über vierzig inoffizielle literarische Zeitschriften und Hefteditionen, deren wichtigste schon genannt wurden. Darüber hinaus gab es ein Dutzend politisch engagierter Zeitschriften, die wie „Ostkreuz“ und „Grenzfall“ unter dem Dach der Kirche oder in der privaten Wohnung vervielfältigt wurden. Auffallend ist, daß keine der literarisch-grafischen Zeitschriften und Heft-Editionen die Wende 1989/90 überdauern und sich zu einer auflagenstärkeren Literatur-und Kunstzeitschrift entwickeln konnte. Die Tradition der mit Fotos, Collagen, Malerei,Typoskripten, Grafiken und Partituren ausgestatteten ästhetisch hochinteressanten und künstlerisch wertvollen Kleinzeitschriften konnte sich nicht nur nicht fortsetzen, mir ist bis auf die Dresdener Kunstzeitschrift „reiterIn" auch keine Neugründung einer reinen Literatur-und Kunstzeitschrift bekannt. Dieses Abbruchphänomen einer wichtigen literarischen und künstlerischen Tradition wäre an anderer Stelle genauer zu untersuchen. Ganz anders verlief die Geschichte jener seibtverlegten Zeitschriften, die schon vor dem Umbruch 1989/90 politisch engagiert waren.
Die neuen Zeitschriften sind Revolutionskinder. Mit ihren Verlagen fast alle in den ersten Monaten des vergangenen Jahres entstanden, haben sie über ein Jahr lang der übermächtigen Informations-und Bilderflut des westdeutschen Blätterwaldes trotzen können. Doch ihre Blütezeit scheint inzwischen zu Ende gegangen zu sein.
Das Frühjahr 1991 begann mit einem allgemeinen Zeitschriftensterben. Nachdem bereits die „Temperamente“ ihr Erscheinen einstellen mußten, kündigte sich im März 1991 auch das Aus für die bisher im Henschel-Verlag Berlin erscheinenden, recht bekannten Zeitschriften „Melodie & Rhythmus“ und „Bildende Kunst“ an. Aber auch den Neugründungen erging es nicht besser. Die 1988 gegründete und im Raum der Kirche ohne offizielle Genehmigung herausgegebene Zeitschrift „KONTEXT“ mußte ihr Erscheinen unterbrechen. Eine Wiederbelebung dieses einstmals auflagenstärksten „Untergrund“ -Blattes ist eher unwahrscheinlich. Der „SONDEUR“, ein zunächst viel beachtetes, unterhaltsames und gern gelesenes literarisches „Monatsboulevard für Kultur und Politik“ stellte mit der März/April-Nummer 1991 sein Erscheinen ein. Andere Neugründungen wie die Kulturzeitschrift „CONSTRUCTIV", das Annotationsorgan „Index“ (UVA) oder die Wochenzeitung „die andere“ hatte rapide Umsatzeinbußen hinzunehmen.
Der Grund dieses Einbruchs lag im einschneidenden Wechsel des Vertriebssystems. Hatte der Postzeitungsvertrieb bisher das Monopol und die meist umfangreichen Anfangsauflagen (SONDEUR 30000; Index 15000; KONTEXT 10000) komplett abgenommen, so wirkte sich die Einstellung des Postzeitungsvertriebes zum 31. März 1991 verheerend aus. Anstelle eines einzigen Vertriebspartners waren nun Verträge mit 20 verschiedenen Grossisten zu schließen, deren Bedingungen wesentlich schlechter ausfielen als die der Post. Ebenso verheerend wirkte sich aus, daß die Post mit Einstellung ihres Vertriebes die Abonnentenlisten nur in den seltensten Fällen und dann in codierter Form herausgab. Ohne Abo-Liste war es den Zeitschriften aber nicht möglich, weiter ihre Leser zu erreichen. Diese und andere Vorfälle, wie das Remittieren ganzer Auflagen, die nachweislich nicht ausgeliefert wurden, trugen der Post eine Flut von gerichtlichen Nachspielen ein, die das Sterben engagierter Blätter allerdings kaum rückgängig machen dürfte. 1. KONTEXT Die im Februar 1988 von Torsten Metelka und Ben Roolf als Antwort auf das Vorgehen der Staatsmacht gegen oppositionelle Demonstranten der Rosa Luxemburg-Karl Liebknecht-Gedenkdemonstration am 17. Januar gegründete Zeitschrift KONTEXT war die weitestverbreitete Publikation des sogenannten „Untergrundes“. Beraten wurden die Herausgeber von den Bürgerrechtlern Peter Bickhardt, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß. Den besonderen Reiz der „Beiträge aus Politik, Gesellschaft, Kultur“ -das ursprünglich anstelle der „Politik“ stehende Legitimationsattribut „Kirche“ wurde ab 1990 weggelassen -macht ihre Gratwanderung zwischen den verschiedenen Sichtweisen aus, in deren Brennpunkt die Anatomie der DDR-Gesellschaft stand. Was da an ökonomischen, literarischen, politischen und historischen Beiträgen versammelt wurde, versuchte ein kritisches Bild der Zeit zu geben. Thematisch und personell der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ verpflichtet, versuchte die Zeitschrift, wie es in einem Editorial heißt, zur „Freiheit“ und „Verantwortung“ zu ermutigen: „Verantwortlich sein kann nur der mündige Mensch, der die Folgen dessen, was er sagt und tut, bedenkt und abwägt. Wer also Pressefreiheit will, muß verantwortlich schreiben, reden und drucken.“ An anderer Stelle heißt es rückblickend: „Wir wollten versuchen, ungeachtet der tiefsitzenden Angst, die viele am Schreiben hinderte, positive Ansätze produktiver und freier Kommunikation aufzugreifen und zu fördern, authentische Analysen, Diskussionen, Aufsätze, Essays und Literatur durch Veröffentlichung aus ihrer marginalen Existenz herauszuführen.“
Ein Sammelband mit wichtigen Beiträgen aus den ersten sieben Zeitschriften liegt inzwischen unter dem Titel: „Alles ist im Untergrund obenauf... Einmannfrei“ vor, einem Vers aus einem Gedicht von Bert Papenfuß-Gorek Nach einer an Max Webers Definition des Protestantismus geschulten Darstellung der Rolle der evangelischen Kirchen im Umbruch 1989 sind weitere Titel geplant, teilweise in limitierter Auflage und mit Original-grafiken versehen. Angekündigt ist auch eine Fortsetzung der politischen Essay-Reihe. 2. CONSTRUCTIV Gegründet im März 1990 als „Organ der radikalen Demokratie“, so das Manifest des ersten Heftes, gibt sich die Monatsschrift für Politik und Kultur von Anfang an „ökologisch, demokratisch, pazifistisch“. Der Ostberliner Akademie der Künste nahestehend, von Ulrich Herold herausgegeben, kann die Zeitschrift auf einen Redaktionsbeirat verweisen, in dem mit Stephan Hermlin, Walter Jens, Robert Jungk, Heiner Müller, Nuria Quevedo, Friedrich Schorlemmer wichtige Namen des deutschen Kultur-und Geisteslebens aus Ost und West vertreten sind. Bis zum Oktober 1990 mit 60000 in der DDR und 10000 in Westdeutschland verkauften Exemplaren, war „Constructiv“ sehr schnell ein großer verlegerischer Erfolg beschieden. Konzeptionell sehr europäisch angelegt (einzelne Länder werden in thematischen Heften vorgestellt), allgemein linksorientiert und mit intellektuellem und sprachlichem Widerstand gegen die Strukturen der Macht antretend, versucht das Monatsblatt Orientierung und Ausblicke in einer schwierigen Ost-West-und Nord-Süd-Situation zu geben. Das Autorenspektrum der Anfangszeit mit Bärbel Bohley, Vaclav Havel, Jens Reich, Friedrich Schorlemmer und Wolfgang Ullmann, die vor allem Zeitreflexion aus der Sicht der Bürgerbewegungen einbrachten, wurde schnell um Namen wie Rudolf Bahro, Peter Bender, Adam Michnik, Günter Gaus, Fritz Pleitgen, Nicolaus Sombart, Ernst Ludwig von Thadden erweitert. Besonders hervorzuheben sind die monatlichen Interviews und Gespräche zur Lage der Zeit u. a. mit Björn Engholm, Robert Jungk, Friedrich Schorlemmer und dem schwedischen Außenminister Sten Anderson. Eine der verlegerischen Stemstunden landete „Constructiv“ mit dem Abdruck einer am 14. Oktober 1990 in der Akademie der Künste in Berlin geführten Diskussion mit Edith Clever, Heiner Müller, Hans Jürgen Syberberg, Bernhard Sobel, Werner Stötzer, Susan Sontag und Klaus Theweleit zum Thema „Glanz und Elend des Irrationalismus in Deutschland“ (Heft 2/1991). Von der Autorenauswahl her sehr europäisch angelegt, lassen Texte von Daniil Granin, Michel Tournier, Elke Erb, Tibor Dry, Walter Jens u. a. die Lektüre immer wieder anregend werden. 3. die andere Unter anderem von Professor Jens Reich initiiert, einem der Mitbegründer des Neuen Forums, und organisiert von Klaus Wolfram, Bernd Holtfreter und Stefan Ret, startete die im Zeitschriftenverlag des BasisDruck Verlages erscheinende Wochen-zeitung am 27. Januar 1990. Die Gründer stammten überwiegend aus dem Kreis des Neuen Forums. Auch wenn sich die Zeitung unterdessen als parteipolitisch unabhängig versteht, ist sie thematisch und personell eng mit den Bürgerbewegungen verbunden. Inhaltliche Schwerpunkte der „anderen“ sind die Information über die Ziele und Arbeit der Bürgerbewegung, Beiträge zur Stasi-Aufarbeitung und zur jüngeren DDR-Geschichte, Information über Osteuropa und Minderheitskulturen. Eine spektakuläre Resonanz fand die Zeitung mit der Veröffentlichung der Gehaltslisten der Offiziellen Stasi-Mitarbeiter (die andere, Nr. 12 u. 13/1990) und mit der Offenlegung der Diensteinheitenschlüssel der Stasi, mit denen ein wichtiger Schritt zur Aufdeckung der Sicherheitsstrukturen möglich war. Inzwischen werden konzeptionelle Ermüdungserscheinungen sichtbar, die auch zu internen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Zeitung geführt haben, in deren Folge Bernd Holtfreter, einer der Geschäftsführer des Unternehmens, den Verlag verlassen hat.
Umsatzeinbußen entstanden durch den Wechsel vom Postzeitungsvertrieb zum Pressegrosso: „Die Übernahme der Post-Abos“, so wandte sich die Redaktion im Februar 1991 an ihre Leser, „war alles andere als komplikationslos. Immerhin ist es durch die Hilfe unserer Leser gelungen, 60% der Adressen zu entschlüsseln“ Die inhaltliche Fixierung auf DDR-Themen und das Festhalten an einem inzwischen stereotyp wirkenden Blick auf die DDR-Vergangenheit machen es der „anderen“ schwer, neben gleichartigen Publikationen wie der westberliner Tageszeitung („taz“), der Monatsschrift „Constructiv“ und der aus dem ehemaligen Ostberliner „Sonntag“ und dem westberliner „Volksblatt“ entstandenen „Freitag“, dem wohl gewichtigsten Konkurrenten, zu bestehen. So wollen die Herausgeber mit dem Nachdenken über die gewandelte Rolle der Opposition auch das Konzept ihrer Zeitung überdenken. Es ist zu befürchten, daß „die andere“ bis zum Jahresende ihr Erscheinen einstellen wird. Auf ähnliche Traditionen kann „Der Telegraf“ verweisen, der aus den 1986 gegründeten „Umweltblättern“, dem Informationsorgan der Ostberliner Umweltbibliothek, entstanden ist. Nach den Oktoberereignissen 1989, so der Herausgeber und Leiter der Umweltbibliothek, Wolfgang Rüddenklau, „wurde eine Veränderung an Layout und Namen der Zeitschrift notwendig. Von nun an wurden unterdrückte Nachrichten und aufgedeckte Schweinereien unter einem neuen Titel veröffentlicht“ Die Umweltbibliothek, Ausgangspunkt mehrerer spektakulärer Protestaktionen für Pressefreiheit und mehr Demokratie, hatte ihren ursprünglichen Sitz in der Ostberliner Zionsgemeinde im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. In die Schlagzeilen geriet die Umweltbibliothek, als in einer Nacht-und Nebelaktion der Staatssicherheit Mitte Oktober 1987 mehrere Mitglieder verhaftet und die dort per Hand hergestellten Zeitschriften „Umweltblätter“ und „Grenzfall“ konfisziert wurden. 4, Ypsilon Die 1990 gegründete Frauenzeitschrift „Ypsilon“ ist eines der interessantesten Experimente auf dem ostdeutschen Zeitschriftenmarkt. Sie ist mit einem klaren ästhetischen Konzept (sparsamer Vierfarbdruck, fast keine Werbung, ausgestattet mit Grafiken und Fotos) das unverwechselbarste Produkt des BasisDruck Verlages. Ihre Präsentationsweise ist sehr persönlich, fast individuell; das Gespräch nimmt einen großen Raum ein; wichtige Themen werden unspektakulär behandelt, wohl das wichtigste Unterscheidungskriterium zur westdeutschen Frauenzeitschrift „EMMA“. Ihr Inhalt ist, im Gegensatz zu den männlich dominierten Publikationen des Verlages, weder DDR-nostalgisch, noch DDR-zentriert und durch ihre Sachbezogenheit kaum politisch abqualifizierbar. Im Vordergrund stehen Diskussionen um die Indikationslösung, Lebensläufe und Alltag, Frauen und Macht, Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit und dem Umbruch der letzten Monate.
Nach einer mehrmonatigen Pause erschien „Ypsilon“ im April 1991 wieder: „Es gibt nichts, was nicht, Frauenthema 1 ist“, versichert eine der neuen Redakteurinnen. „Hier sollen unwiederholbare Erfahrungen von DDR-Frauen dem Verdrängen und Vergessen entrissen werden. ... Und es wird wichtig werden, Erfahrungen von Westfrauen zu vermitteln, deren Lebensarten und -entwürfe kennenzulernen, um die eigenen deutlicher zu machen und erweitern zu können. ... Ypsilon soll Spaß machen. Im Spannungsfeld von Frauenlust, Frauenrecht und Frauenalltag will die Zeitschrift warmherzige Lebenshilfe, wahrheitsgetreue Information und ehrliche Diskussion miteinander verbinden.“ 5. Die Zaunreiterin Mit ähnlichem Anspruch tritt 1990 die Leipziger „Zaunreiterin“ an, die sich als „Zeitschrift von Frauen für Frauen“ versteht. Auch hier finden sich ähnliche Themen wie in der Berliner „Ypsilon“: Debatten um den Paragraphen 218, ein Gespräch mit den „EMMA“ -Redakteurinnen, die Problematisierung der Institution Ehe und die Verständigung über Alltagserfahrungen. Doch die Voraussetzungen sind unvergleichlich schwieriger. Haben die „Ypsilon“ -Frauen einen großen Verlag im Hintergrund, der die immensen Produktionskosten aufzufangen hilft, stehen die wechselnden Redakteurinnen der „Zaunreiterin“ immer wieder vor dem Nichts. In einem Editorial heißt es darum: „... die Zaunreiterin entsteht immer noch neben Beruf, Haushalt, Kindern und ohne finanzielle Unterstützung. Zudem mußten wir schmerzlich zur Kenntnis nehmen, wie wenig Frauen es sind, die ihrem Frausein auf der Spur sind, die Probleme bewußt empfinden, und diese auch auszudrücken wagen, die aufgebrochen sind aus dem Schweigen. ... Wir müssen gestehen: vieles haben wir unterschätzt ...“ 6. SONDEUR Gegründet von Asteris Kutulas, kamen die ersten Hefte dieses handlichen Monatsboulevards für Kunst und Politik schon lange vor der Währungsunion -Anfang April 1990 -heraus, was, bedingt durch die Herstellung, zunächst in Format, Layout und Umfang in gefährliche Nähe zur ehemaligen „Weltbühne“ führte. Mit einer Verkaufsauflage von 30000 -tatsächlich wurde etwa die Hälfte abgesetzt -konnte das Monatsblatt sehr schnell in Anspruch nehmen, eine der beliebtesten literarisch-kulturellen Zeitschriften zu sein. Während andere Publikationen mit der Stasi-Aufarbeitung beschäftigt waren, versuchte das Blatt ein Podium für Turbulenzen zu geben und einzuladen, mit dem Boulevardspaziergang eine längst vergessene literarische Tradition wieder aufzunehmen oder einfach unverkniffen zu sein, wie der Mitherausgeber, Tilo Köhler, betont. Dabei konnte der „Sondeur“ durchaus auf eine längere literarisch-publizistische Tradition verweisen. 1988 gründete Asteris Kutulas mit der Autorenzeitschrift „Bizarre Städte“ eine jener Heft-Editionen, die die Funktion einer „Ergänzungskultur“ (Peter Böthig) hatten Nachdem verschiedene Versuche, diese Heft-Edition durch die Herausgabe in einer Institution (Akademie der Künste, Schriftstellerverband) zu legalisieren, fehlgeschlagen waren, war der „Sondeur“ der zweite Versuch, eine Zeitschrift zu gründen, die ganz verschiedene Inhalte und Stilrichtungen zusammenbringt. Hervorhebenswert sind eine Fülle von Beiträgen zur erotischen Literatur, zu Pornographie und der Vernunft der Sinne -unter anderem durch die Tübinger Konkursbuch-Verlegerin Claudia Gehrke vermittelt -zum Abschied von der DDR und ein monatlicher literarischer Börsenbericht aus Frankfurt, der in immer neuen Variationen die Idee eines „Literarischen Aktienindex“ (LAX) ins Leben rief. In einem von Tilo Köhler verfaßten Editorial heißt es: „Einer unserer solidarischen Grundsätze: Im Gegensatz zu vergleichbaren Unternehmungen, die es einleuchtenderweise nicht geben kann, zwingen wir die Autoren nicht mit Geld für unsere Zeitschrift, also für ihr Renommee zu arbeiten -wir honorieren Freiwilligkeite Unser Programm: her mit den Tabus, fort mit dem Rückgrat, wir wollen gekrümmt sein vor Amüsement übers Bigotte!“ Auch der „Sondeur“ überlebte die Umstellung des Zeitschriftenvertriebs nicht, er versuchte sie nicht einmal. Seines Platzes in der Literaturgeschichte der Umbruchjahre sicher, verabschiedete er sich mit der 12. Nummer von seinen Lesern: „Solcherart ist , Sondeur'ein Kind des Übergangs, vielleicht sein schönstes gewesen.“