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Jenseits der „Gesinnungsästhetik“. Was bleibt von der Literatur aus der DDR? | APuZ 41-42/1991 | bpb.de

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APuZ 41-42/1991 Soll das Vergessen verabredet werden? Eigenständigkeit und Eigenart der DDR-Literatur Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR Jenseits der „Gesinnungsästhetik“. Was bleibt von der Literatur aus der DDR? Neue Verlage und Zeitschriften in Ostdeutschland

Jenseits der „Gesinnungsästhetik“. Was bleibt von der Literatur aus der DDR?

Michael Braun

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Über den Beitrag der DDR-Schriftsteller(innen) zur Selbstlegitimation realsozialistischer Herrschaft ist im Jahr der deutschen Wiedervereinigung heftig gestritten worden. Im Zentrum des deutschen Literaturstreits standen jedoch nicht ästhetische, sondern moralisch-ethische Maßstäbe. Ulrich Greiners unscharfe Kategorie der „Gesinnungsästhetik“ degradierte nicht nur die staatsaffirmative DDR-Literatur, sondern alle gesellschaftskritisch motivierte Literatur zur Dichtung zweiter Klasse. Nach der deutschlandpolitischen Wende 1989 manifestiert sich die Ernüchterung sozialistischer Illusionen literarisch in melancholischen Reflexionen des Utopieverlustes. Die linke Melancholie der älteren DDR-Schriftsteller wird von den jüngeren Autoren nicht geteilt. Die politischen Umwälzungen fanden auch andere literarische Verarbeitungen, denen der Vorwurf ästhetischer Unzulänglichkeit nicht beikommt. Diese Literatur, der Realismus des Unheimlichen eines Wolfgang Hilbig, archaische Naturlyrik eines Wulf Kirsten oder rebellische Sprachzertrümmerung der „Prenzlauer-Berg-Connection“, ist kein Ergebnis der Wende. Lange vor dem Literaturstreit haben DDR-Autoren an der „Verteidigung künstlerischer Kriterien vor dem Anspruch der Gesinnung“ (Karl Heinz Bohrer) mitgewirkt. Meist unentdeckt von den westdeutschen Propheten des Ästhetischen, fand im Ausscheren aus den DDR-Literaturkonventionen, in der De-konstruktion der herkömmlichen Standards, zugleich der Bruch mit dem Diskurs der Macht statt. Die sprachschöpferische und die imaginative Kraft der DDR-Literatur kann sich nach dem Wegfall der Repressionen neu und impulsgebend bewähren.

„Hat die DDR-Literatur versagt?“: Mit solchen grobschlächtigen Fragestellungen, formuliert auf eilig anberaumten Symposien, wurde im Jahr der deutschen Wiedervereinigung der Abgesang auf die Literatur des untergehenden SED-Staats intoniert. Anläßlich von Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ entbrannte ein „Literaturstreit“, der sich rasch zu einem von einigen westdeutschen Kritikern angeführten Entlarvungsfeldzug wider vermeintliche „Staatsdichter“ und literarische Kollaborateure ausweitete. Manche polemischen Kommentare zum Ende des zweiten deutschen Staates erweckten den Eindruck, als seien buchstäblich über Nacht die literarischen Erzeugnisse aus vierzig Jahren DDR zu Makulatur geworden.

I. Rückblick auf den Literaturstreit

Bei näherer Prüfung der Argumente scheint es sehr zweifelhaft, ob der Literaturstreit diese Bezeichnung überhaupt verdient. Denn im Zentrum dieses Streits standen nicht literarische, sondern moralisch-ethische Kategorien. Man diskutierte ausgiebig über Mitverantwortung und Schuld der DDR-Schriftsteller am jahrzehntelangen Gedeihen realsozialistischer Herrschaft -und verlor darüber die Literatur aus den Augen. Nicht die ästhetische Qualität von Texten war gefragt, sondern die moralische Integrität von Autoren. Vom „autoritären Charakter“ (Frank Schirrmacher) und dem „Staatsdichtertum“ der Christa Wolf war die Rede, von „machtgeschützter Innerlichkeit“ und dem wirklichkeitsblinden Utopismus derer, die am Projekt eines demokratischen DDR-Sozialismus festhielten. „Keiner ist frei von Schuld“: Dem „Zeit“ -Redakteur Ulrich Greiner war es Vorbehalten, einen exponierten Richterspruch über die Literatur aus der DDR zu verhängen -Von den Attacken westlicher Kritiker existenziell gekränkt, stilisierten sich einige der befehdeten DDR-Autoren ihrerseits zu Opfern einer „Hetzjagd“ und feuilletonistisch ausgeheckten Verschwörungskampagne. Fritz Rudolf Fries sprach vom „Großen Fressen“ der Kritik und wähnte gar die DDR-Literatur vor ein Exekutionskommando gezerrt Was als posthume Aufarbeitung realso-zialistischer Literaturverhältnisse gedacht war, erstarrte rasch in der dogmatischen Bekräftigung gegensätzlicher Standpunkte. Im historischen Augenblick der Aufhebung der deutschen Teilung wechselte Frank Schirrmacher die Blickrichtung und startete einen Angriff auf einige zentrale Übereinkünfte westdeutscher Literaturhistorie Sein Rückblick auf die Literatur der Bundesrepublik versteht sich, wie seine Kritik an Christa Wolf, als ein Akt der Entzauberung.

Die Gruppe 47, so konstatiert Schirrmacher im krassen Gegensatz zum literaturhistorischen Konsensus, sei nicht der oppositionell-kritische Widerpart zum restaurativen Adenauerdeutschland gewesen, sondern geradezu „eine der Produktionszentralen des bundesrepublikanischen Bewußtseins“, gleichsam die Geburtsstätte eines einflußreichen kulturellen Milieus, das der Nachkriegs-gesellschaft ihre Legitimation verschaffte. Die repräsentativen Schriftsteller der Nachkriegszeit, von Heinrich Böll bis Peter Weiss, erscheinen so als unfreiwillige Agenten einer Legitimationsbeschaffung für die westdeutsche Identität. Geist und Macht, so Schirrmachers ketzerische Pointe, standen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR nicht in einem unaufhebbaren Gegensatz, sondern vielmehr in einem harmonischen Verhältnis: „Nicht nur die Literatur der DDR sollte eine Gesellschaft legitimieren und ihr neue Traditionen zuweisen; auch die Literatur der Bundesrepublik empfand diesen Auftrag und führte ihn gewissenhaft aus.“

Mit dieser kühnen argumentativen Volte hat Schirrmacher den Vorwurf des Staatsdichtertums auch auf die Literatur der Bundesrepublik ausgedehnt. Mit der Absicht, nicht nur überkommene Tabus der Literaturgeschichtsschreibung zu brechen, sondern auch das kritische Selbstverständnis der deutschen Schriftsteller zu entmythologisieren, nimmt er Zuflucht zu der absurden Behauptung, ein Großteil der westdeutschen Literatur -als Beispiele werden Günter Grass’ „Blechtrommel“ und Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ genannt -habe „den Raum der Geschichte nicht geöffnet, sondern ihn, ungewollt, versperrt“. Wenn jedoch, bei allen ästhetischen Unzulänglichkeiten, die Nachkriegsliteratur eine Leistung für sich beanspruchen kann, dann ist es gerade die beharrliche Thematisierung öffentlich verdrängter Geschichte, die formal-ästhetisch in den unterschiedlichsten Varianten vorgetragene Reflexion auf die Barbarei des Nationalsozialismus. Das gehört zu den unbestreitbaren Verdiensten nicht nur der „Blechtrommel“ und der „Deutschstunde“, sondern auch so formal radikaler Werke wie Peter Weiss’ „Ermittlung“ oder Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung“.

Auf welche literarischen Traditionen Schirrmachers sibyllinisch formulierte Kritik eigentlich gemünzt war, markierten in polemischer Deutlichkeit Ulrich Greiners Thesen zur „deutschen Gesinnungsästhetik“ Im Anschluß an einige Überlegungen von Karl Heinz Bohrer, der die Autonomie des Ästhetischen gegenüber den Ansprüchen von Politik und Moral einfordert, hält Greiner der gesellschaftskritischen bzw. engagierten Literatur der beiden Deutschländer ihre ästhetischen Defizite vor. Als „herrschendes Merkmal des Literatur-betriebs“ habe sich in beiden deutschen Staaten eine „Gesinnungsästhetik“ durchgesetzt, die den Kunstcharakter der Literatur an außerliterarische Zwecke verraten habe. Als Kategorie zur Beschreibung einer ganzen Epoche deutsch-deutscher Literaturgeschichte ist die polemische Formel „Gesinnungsästhetik“ jedoch unbrauchbar. Abgesehen davon, daß sie markante Differenzen der einzelnen Schreibweisen und Stile bewußt ausblendet, vermag sie nicht trennscharf anzugeben, was literarischen Gesinnungskitsch von einem avancierten gesellschaftskritischen Text unterscheidet. Oder will Greiner ernsthaft alle literari-sehen Traditionen, die das Ästhetische mit sozialen und politischen Kategorien konfrontieren, mit dem Etikett „Gesinnungsästhetik“ bekleben? Mag diese Vokabel die staatskonforme Literatur eines Dieter Noll, Harry Thürk oder Erwin Strittmatter auch angemessen beschreiben, so versagt sie jedoch bei Autoren wie Christoph Hein oder Uwe Saeger ihren Dienst. Oder soll gelten: Ob nun Max von der Grün oder Peter Weiss, ob Erik Neutsch oder Stefan Heym, das ist alles Jacke wie Hose? Eine gesinnungsästhetische Poetik ohne überzeugende Beispiele bleibt jedenfalls eine leere Drohung.

Die plakativen Thesen, die Schirrmacher und Greiner in die Debatte werfen, hat Karl Heinz Bohrer schon vor Jahren weitaus präziser vorformuliert. Angetrieben von seiner schier unerschöpflichen Lust an einer „Ästhetik des Schreckens“ und am „bösen Kunstwerk“, erörterte Bohrer bereits 1987 die Defizite deutscher Gegenwartsliteratur als einen fundamentalen Mangel an imaginativer Potenz, hervorgehend aus der Orientierung am „Regulativ des gesellschaftlich Guten“ Die repräsentativen deutschen Schriftsteller, so Bohrer, erschufen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein eine zwar moralisch-engagierte, aber ästhetisch dürftige Literatur, „deren Funktion vor allem in einer ganz bestimmten, metaphorisch zwar verstellten, aber immer sofort erkennbaren Form der säkularisierten Erbauung liegt“. Auch Bohrer behauptete, als handle es sich um ein literarischesNaturgesetz, eine unvermeidliche „Dialektik von moralischer Würde und Abstinenz ästhetischer Imagination“. Diese Thesen kehrten in vulgarisierter Form im „Literaturstreit“ wieder-mit entsprechenden Folgen: Mit dem Vollzug der deutschen Einheit wurde die gesellschaftskritisch motivierte Literatur des Engagements polemisch verabschiedet bzw. zur Dichtung zweiter Klasse degradiert. So heftig und verbal überhitzt er im Jahr der politischen Einigung Deutschlands ausgefochten wurde, so plötzlich erlosch auch wieder das Interesse am deutschen Literaturstreit. Weder wurden die aufgeworfenen Fragen nach dem Zusammenhang von Ästhetik und Moral, nach Modernität oder Zurückgebliebenheit der DDR-Literatur hinreichend beantwortet, noch verspürte man unter den ostdeutschen Autoren ein besonderes Bedürfnis, „den eigenen Anteil an der Verdunkelung der Wahrheit“ zu reflektieren, wie das Heinz Czechowski vorgeschlagen hatte Eine von der Ostberliner Kulturzeitschrift CONSTRUCTIV angeregte Debatte über Leistung und Fehlleistung der DDR-Intellektuellen geriet ins Stocken, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Es blieb bei einem kurzen Schlagabtausch zwischen dem Prenzlauer Berg-Dadasophen Jan Faktor und dem Lyriker Lutz Rathenow

Faktor mokiert sich in seinen provokativ zugespitzten Thesen über die westlichen Klischees vom bösen „Staatsdichter“ und vom guten Dissidenten. Daß beispielsweise Christa Wolf die Dissidenten-Rolle verschmäht habe, sei aus anderen Gründen geschehen, als im Westen vermutet: „Es war nämlich so billig und einfach, sich mit politischem Kram großzuspielen. Rathenow hat das jahrelang gemacht und mußte dafür den Preis bezahlen, daß ihn... differenziertere Leute nicht ernst genommen haben. Den großen Kämpfer zu spielen, war kein Problem; Leute mit Feingefühl haben es gerade deswegen nicht gemacht... Auch die inoffizielle literarische Szene der Jüngeren und der viel Jüngeren war, strenggenommen, apolitisch.“ Im Gegenzug wirft Lutz Rathenow seinem Kritiker eine „unglaubliche DDR-Borniertheit“ vor. Eine umfassende Diskussion über die Thesen Faktors wäre sehr lehrreich gewesen, zumal er mit seiner Polemik wider eine „demonstrativ kämpfende, Maßstäbe mißachtende und Argumente mit Gefühlsabsud bestreichende Politkunst“ durchaus an westliche Stimmen der Kritik anknüpft. Aber auf die Faktor/Rathenow-Kontroverse folgte -wie die CONSTRUCTIV-Redaktion ernüchtert einräumen mußte -betretenes Schweigen. Kein früherer kulturpolitischer Funktionsträger, kein prominenter ostdeutscher Autor meldete sich zu Wort. So steht zu befürchten, daß Lutz Rathenows Fazit dieser unterlassenen Debatte zutrifft: „Alles in allem verhinderte der Ekel voreinander und der Ekel vor jeder wirklichen Kontroverse über die DDR einen literarischen Wortaustausch... es wird in den nächsten Jahren keinen wirklichen Dialog geben. Der höchste Zugewinn an Sensibilität wäre: das genaue Beschreiben der Differenz. Damit klarer wird, wie viele Länder sich in diesem einen Land verborgen haben.“

II. Literatur nach der Wende: Linke Melancholie

Um sich der pauschalen Schuldvorwürfe zu erwehren, haben Stefan Heym, Christa Wolf und andere auf ihren literarischen Widerstand gegen die Machtanmaßung der SED verwiesen. In diesem Versuch trotzigen Standhaltens schwingt auch ein wenig Selbstheroisierung mit, zumal diese literarische Kritik an der Machtausübung der Partei, an Zensur und politischer Reglementierung stets systemimmanent, im Glauben an die Reformierbarkeit des DDR-Sozialismus befangen blieb. Gemeinsamkeit stiftete unter den Repräsentanten der DDR-Literatur stets die kollektive Geborgenheit in einem antifaschistischen Erfahrungs-und Interpretationsraum. In den Texten von Volker Braun oder Christa Wolf wird das Leiden an der schlechten sozialistischen Wirklichkeit manifest, gleichzeitig die Hoffnung auf einen besseren Sozialismus. Selbst im historischen Augenblick des Untergangs der DDR artikulierte sich, wie z. B.der gemeinsame Aufruf „Für unser Land“ zeigt, der Glaube an eine sozialistische Alternative. Auf die Ernüchterung dieser Illusion reagiert die ältere Schrifstellergeneration der DDR mit Melancholie. Ihre Literatur leistet in der zunehmenden Desillusionierung eine Trauerarbeit, in der noch einmal der Schmerz über den Utopieverlust aufscheint. Die Texte von Volker Braun, NHeiner Müller und Fritz Rudolf Fries, die zeitgleich zur politischen Wende in der DDR entstanden sind, dokumentieren diesen Schmerz über den irreversiblen Zusammenbruch des Sozialismusprojekts und den Verlust einer Epochenillusion. Volker Braun etwaentwirft das Bild des Liebhabers, der nach der Trennung von seinem geliebten Land in hoffnungsloser Vereinzelung zurückbleibt: „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. /KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄ-STEN/Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. /Es wirft sich weg und seine magre Zierde. /Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. /Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. /Und unverständlich wird mein ganzer Text/Was ich niemals besaß wird mir entrissen. /Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. /Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. /Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. /Wann sag ich wieder mein und meine alle.“

Das Gedicht erörtert in streng rhythmisierten und metrisch gegliederten Versen den Untergang der DDR als Triumph des BRD-Kapitalismus. Darauf verweist nicht nur die Umkehrung der alten Formel aus Georg Büchners „Hessischem Landboten“, sondern auch Brauns metaphorisch verschlüsselte Anspielung auf die Konsumbedürfnisse seiner Landsleute. Auf den Winter, die Aufbruchshoffnungen der Novemberereignisse 1989, folgt „der Sommer der Begierde“. In Paradoxien („Was ich niemals besaß wird mir entrissen“) und pathetischen Bekenntnisgesten („mein Land“, „mein Eigentum“) umkreist das Gedicht die enttäuschte Sehnsucht nach einem erneuerten Sozialismus. Auch hier erweist sich Volker Braun als „der schrecklich aufrichtige marxistische Student auf Lebenszeit“ (Uwe Kolbe) der seine Ideale verraten sieht. Desillusionierung wird nur dosiert zugelassen, die sozialistische Überzeugung bleibt unerschüttert.

Eine spezifisch linke Melancholie, in der das lyrische Subjekt den Verrat an der Utopie betrauert und sich auf verlorenen Posten zurückzieht, grundiert auch einige jüngere Fragmente Heiner Müllers Der Text „Selbstkritik“ konstatiert den Schock über den Verlust politischer Gewißheiten, über das Abhandenkommen historisch-materialistischer „Wahrheit“. Bei allem historischen Fatalismus, in den sich Müllers Texte zunehmend einüben, bekennt sich der Autor nach wie vor zur Unverzichtbarkeit der Utopie, wie aus dem Fragment „Für Gunter Rambow 1990“ hervorgeht: „Wegmarken durch den Sumpf, der sich schon damals zu schließen begann über dem vorläufigen Grab der Utopie, die vielleicht wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit.“

Das Prinzip Hoffnung hat also selbst bei Müller noch nicht ausgespielt. Daß sich die Schriftsteller aus der DDR nicht geschlossen in linker Melancholie über den Untergang der sozialistischen Utopie verzehren, sei an Gedichten von Bert Papenfuß-Gorek und Wolfgang Hilbig gezeigt. Nichts vom elegischen Ton eines Volker Braun oder Heiner Müller ist in Papenfuß-Goreks Gedicht „strafe macht frei, disziplin steht ins haus“ zu spüren. Statt dessen mobilisiert der Autor seinen aggressiven Sprachwitz, um in gewohnt klangassoziativer Methodik die nationale Euphorie als „totalen mumienschanz“ zur Kenntlichkeit zu entstellen. Auf die euphemistischen „Wir sind ein Volk“ -Parolen antwortet Papenfuß-Gorek mit einer höhnischen Verspottung aller nationalen Verbrüderungsgesten. Sein Gedicht entpuppt sich als anarchische Publikumsbeschimpfung; das als „historischer Augenblick“ beschworene Ereignis erscheint als Farce:

„strafe macht frei, disziplin steht ins haus alle schleusen offen, ob das alles noch ofen hat die plejaden versacken, die schlagbäume gehen hoch das große mondjahr ist rum, die kommentare sind übrig die deutschen überschlagen sich, legen sie sich zusammen oder hauen sie sich in die pfanne, bzw.den rest der weit die untoten roten öffnen die arme, volksfest ohne erbarmen jeder ausrutscher ein deutscher, sektgaben, freibier & gratissex nichts bereuen & alles obendrein, dies ist der totale mumienschanz“

Sowohl die lakonischen Notate Müllers als auch die spontanen Spottverse Papenfuß-Goreks sind literarische Dokumente des Übergangs -Gelegenheitspoeme, die sich direkt an die aktuellen politischen Ereignisse heranschreiben, ohne besonderen sprachschöpferischen Ehrgeiz. Im Gegensatz dazu ist Wolfgang Hilbigs langes Poem „prosa meiner heimatstraße“ ein hochkomplexer, pathetischer Text, der, inspiriert durch die „Cantos“ von Ezra Pound, die poetischen Visionen und Assoziationen frei schweifen läßt und mit kühner Metaphorik nicht geizt. Auf atemlose Beschwörungen von Kindheitserlebnissen und Traumgesichten folgen in schroffer Fügung Bilder aus Mythologie, Natur und Geschichte. Das Gedicht endet mit einem wortgewaltigen Hymnus auf die politische Umwälzung in der DDR und einer litaneihaften Anrufung der „schönen rebellion". Hilbigs Revolutionsgesang dementiert die traditionellen Heldenlieder, wirft die vertrauten Muster politischer Poesie durcheinander. Denn nicht die edle Rebellion der Unterdrückten und demokratischen Dissidenten wird besungen, sondern der Aufstand der Marginalisierten und Deklassierten: „schön ist ein volk in waffenlosem aufruhr. schön ist die revolution der Windhunde traumtänzer taschenspieler trickbetrüger und aller übrigen betrogenen. die revolution der aufschneider und verkrochenen der randexistenzen und der hektiker in den metropolen..." ,

Positiv besetzte Parolen werden ironisch unterlaufen und in ihr Gegenteil verkehrt: „wenn die phantasielosen in den aufstand gehn, ist die phantasie an der macht.“

Hilbigs bildersüchtiger, flackernder Text ist jedoch viel mehr als nur ein lyrischer Kommentar zur Wende. Inspiriert durch eine schier unerschöpfliche Einbildungskraft, zieht Hilbigs langes, rhapsodisches Poem den Leser mit auf die dunkel-phantastische Reise durch die Landschaften der Kindheit. Der metaphorisch fast überbordende Text evoziert frühe traumatische Erfahrungen des Autors. Von den stofflichen Selbstbeschränkungen politischer Dichtung hat sich dieser Text weit entfernt.

III. Künstlerischer Rang der DDR-Literatur

1. Wolfgang Hilbig: Realismus des Unheimlichen An der „Verteidigung künstlerischer Kriterien vor dem Anspruch der Gesinnung“ (Karl Heinz Bohrer) haben ostdeutsche Autoren schon lange vor der Wende in der DDR mitgewirkt -ohne jedoch von westdeutschen Propheten des Ästhetischen wahrgenommen zu werden. Hier ist an erster Stelle Wolfgang Hilbig zu nennen, dessen künstlerischer Rang erst seit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1985 erkannt worden ist.

Im Fall Hilbig ist zunächst jedoch nicht von den Versäumnissen des Westens, sondern vom jämmerlichen Versagen der DDR-Kulturpolitiker zu sprechen. Fast schon tragikomisch mutet es an, daß es mit Hilbig ein schreibender Arbeiter, ein proletarisches Literaturtalent aus dem sächsischen Meuselwitz war, der das Mißtrauen der beamteten Literaturpolizisten ob seiner kühnen Überschreitung jedweder Realismus-Vorstellungen auf sich zog. Zwar wurde Hilbig nicht, wie zuvor Wolf Biermann, Reiner Kunze oder Jürgen Fuchs, aus dem Lande gejagt, aber darauf beschränkt, ein literarisches Außenseiter-Dasein, fernab der offiziellen Literaturinstitutionen, zu führen. Während in der Bundesrepublik immerhin seit 1979 -mit zunächst allerdings schwacher Resonanz -seine Gedicht-und Erzählbände gedruckt wurden, erschien in der DDR nur ein einziger, sorgfältig entschärfter Auswahlband Seine exzeptionelle Stellung in der deutschen Gegenwartsliteratur verdankt Wolfgang Hilbig seiner kühn-visionären Bildsprache, seinem magischen Realismus des Unheimlichen, Bedrohlichen, der den Leser immer wieder in den Sog des Beschriebenen zieht. Wie neben ihm vielleicht nur Gert Neumann und Jayne Ann-Igel, die in ihren höchst komplexen, artifiziel-len Texten an einer sprachmystischen Poetik der „Klandestinität" arbeiten, versteht es Hilbig, die Elementarkräfte des Poetischen: Traum, Vision, Phantasie in seinen Gedichten und Erzähltexten fruchtbar zu machen. Auch Hilbigs jüngste Erzählung, „Alte Abdeckerei“ (1991), liefert ein weiteres Beispiel für dieses sinnlich-phantastische Schreiben, bei dem sich der Leser zwangsläufig im labyrinthischen Spiegelkabinett wechselnder Erzählebenen verliert

Welchen Weg auch immer Hilbigs jugendlicher Held auf seinen ziellosen Wanderungen einschlägt, er endet stets in toter Natur, in einer gespenstischen Ruinenlandschaft, verwüstet durch Krieg und industriellen Raubbau. Man mag in diesem Niemandsland aus zerstörten, von karger Vegetation überwucherten Industrieanlagen Hilbigs sächsische Heimat, das Braunkohlenrevier um Meuselwitz wiedererkennen. Aber dieser konkrete, geographisch fixierbare Ort verwandelt sich in Hilbigs grandioser Erzählung in ein allegorisches Terrain: Das verwüstete Gelände erweist sich als das blutige Terrain deutscher Geschichte, wo Menschen deportiert, verschleppt, getötet wurden. Auf seiner Hadeswanderung erreicht Hilbigs Protagonist ein halb verfallenes Backsteingebäude, eine alte Abdeckerei mit dem symbolträchtigen Namen „Germania II“, wo aus Tierkadavem Seife hergestellt wird. Die verwilderte Ruinenlandschaft mit „Germania II“ im Zentrum: Dieses grausige Bild kann als Allegorie deutscher Geschichte gelesen werden. 2. Wulf Kirsten, Harald Gerlach: Chronisten der verschwindenden Welt Schriftsteller von Rang, die bis zuletzt in der DDR geblieben sind, wurden von dem hektisch vor sich hinwurstelnden westdeutschen Literaturbetrieb selten in ihrer Bedeutung erkannt. Erst 1987 beispielsweise wurde der Lyriker Wulf Kirsten im Westen „entdeckt“; ein Autor, der sich seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1964 um die Weiterentwicklung des Naturgedichts verdient gemacht hat. Aufgewachsen in den linkselbischen Tälern zwischen Dresden und Meißen, hat Kirsten in seinen Gedichten eine für uns schon längst entschwundene bäuerliche Welt poetisch inventarisiert. Die Landschaften der sächsisch-meißischen Provinz, ihre archaischen Dorfwelten, altbäurischen Gebräuche sind in seinen Gedichten aufbewahrt.

Die Natur-Dinge poetisch vermessen heißt für Kirsten: sie „inständig benennen“ und damit vor dem Vergessen bewahren. So benötigt er keine dekorative Metaphorik, um die Natur-Dinge in seinen Gedichten zum Leuchten zu bringen. Er nennt die Dinge einfach bei ihren Namen: „auf wortwurzeln fasse ich fuß“, notiert Kirsten und verwandelt seine Gedichte in Archive seltener, vom Aussterben bedrohter Wörter. Die archivarische Besessenheit führt in manchen Gedichten dazu, daß sich die Wörter aus ihrem Naturzusammenhang lösen und zu phantastisch-bizarren Wortgebirgen auftürmen, zu reiner Poesie werden. So sind die poetischen Zeichen, die Kirsten in seinem Gedicht „Die Erde bei Meißen“ setzt, kaum noch lesbar. Denn welcher Nachgeborene aus den hochtechnisierten Industriegesellschaften weiß noch, was „schotterrunsen“ sind oder „runkelschläge"? Wer vermag sie noch zu identifizieren, die verschwindende Welt Wulf Kirstens: „krustige schwarzbrotränfte die huckel im schwartigen Stoppelsturz, wahllos hingebreitet im relief.

die schäläcker liegen satt im dust, glasiert von oktobergüssen. getüpfelt die kleiigen buchten von kraftworten mistfuderweise kohlrabenschwarz -

ein tiegel verbrannter speckgriefen. zur Elbe winden sich grüngeschuppt die fiedrigen täler wie deichselraine.

Schrotmühlen, die wäldischen einsiedler, längs den schotterrunsen im großväterhabitus, spielen in laubigen kühlen versteck.

um die schieferzwiebeln geduckt die Ortschaften des sprengels.

abseits am schlehenhack aufgedunsen die stänker:

rübensilos. hinter feldscheunen Strohhütten gefeimt.

mit zottelmähnen holpern die feldwege hinaus in die runkelschläge.“

Die Lyrik Wulf Kirstens ist nur ein Beispiel für avancierte Dichtung aus der alten DDR, die von den Argumenten des ostwestdeutschen „Literaturstreits“ verfehlt wird. Wie Wulf Kirsten versteht sich auch der ihm geistesverwandte Lyriker Harald Gerlach als ein poetischer Chronist seiner Herkunft. Seine ersten Gedichtbände umkreisen in emphatischen Bildern die Landschaften der schlesischen und thüringischen Provinz. In seinem jüngsten Gedichtband „Wüstungen“ (1989) den die westdeutsche Kritik bis heute nicht zur Kenntnis genommen hat, präsentiert sich Gerlach als grimmiger Lakoniker, der mit sarkastischem Sprach-witz allen Utopien und geschichtsphilosophischen Heilsideen eine Absage erteilt. Wie dem poetischen Anarchisten Günter Eich, der in seinen späten Gedichten jede sinnträchtige Botschaft verweigerte, geht es auch Gerlach darum, „mit List/die Fragen aufzuspüren/hinter dem breiten Rücken der Antworten“ (Günter Eich) Nicht nur der Status des Subjekts („Wer ist ich?“), sondern auch der Anspruch der Aufklärung stehen in seinen Gedichten zur Disposition. 3. Verborgene Traditionslinien Neben Harald Gerlach wären noch zahlreiche andere Autoren aus der alten DDR zu nennen, die ein ahnungsloser westdeutscher Literaturbetrieb bislang schlechterdings ignoriert hat. So weist auch die aktuelle Lyrik-Anthologie des Leipziger Literaturwissenschaftlers Peter Geist etliche Namen von Dichtern aus der DDR aus, von Hans Brinkmann bis Ulrich Zieger, die im Westen noch völlig unbekannt sind. Erst diese, im Unterschied zu ihren risikoscheuen Vorgängern ästhetisch kompromißlose Anthologie hat erstmals einen umfassenden Überblick über die avancierte Dichtung ostdeutscher Autoren ermöglicht. Hier ist auch Gelegenheit, der untergründigen Beziehungen zwischen der älteren Dichter-Generation der Karl Mickel, Volker Braun und Sarah Kirsch und den poetischen Sprachalchimisten vom Prenzlauer Berg gewahr zu werden. Adolf Endler hat in zwei wichtigen Aufsätzen zur „Prenzlauer-Berg-Connection“ auf diese Verbindungslinien zwischen einem so notorisch unterschätzten Autor wie dem deutsch-sorbischen Dichter Kito Lorenc und jüngeren Sprachakrobaten vom Range eines Bert Papenfuß-Gorek hingewiesen. Vergleicht man im Sinne Endlers Kito Lorenc’ poetologische Texte mit den Selbstdarstellungen von Papenfuß-Gorek, so wird deutlich, daß es den radikalen Traditionsbruch, der den Prenzlauer-Berg-Dichtern immer wieder nachgesagt wird, nie gegeben hat. So könnte Lorenc’ Beschreibung seiner poetischen Verfahrensweise auch aus dem Grundsatzprogramm eines Stefan Döring, Jan Faktor oder Andreas Koziol stammen: „Wie man ein , stehendes Heer’ von Wendungen, mit seinen Regeln entwaffnend regellos verfahrend, nach allen Regeln der Kunst aus der Fassung bringt, weil es mit seiner angemaßten Sonderstellung die allgemeine Bewegung und Bereitschaft der Wörter/Gedanken/Menschen behindert.. ,“ 4. Die Prenzlauer-Berg-Connection:

Abrißarbeit im Überbau Exakt diese Abrißarbeit im sprachlichen Überbau eines morsch gewordenen Staats, der sich mit einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ verwechselte, hat die „Prenzlauer-Berg-Connection“ zu der „vielleicht eigenwilligsten und signifikantesten Literaturbewegung“ gemacht, „die vom Terrain der DDR ausging“ Im Demontieren, Zerlegen, Umbauen und Verdrehen vorgefundener Redeteile artikulierte sich ein leidenschaftlicher Wille zur Sabotage der etablierten Sprachordnung. De-konstruiert wurde in diesen Gedichten nicht nur die standardisierte Sprache des Alltags und der Diskurs der Macht, sondern auch das lyrische Subjekt. Es löst sich auf in ein „multiples Ich“ (Helmut Heißenbüttel) ein vielfach gebrochenes Ich, das in wechselnden Masken zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem seinen Ort sucht. Das lyrische Ich verliert -in den Gedichten Sascha Andersons, Eberhard Häfners oder Rainer Schedlinskis -seine festen Konturen und wird zu einem „Bewegungsmoment der Sprächmaterie“ (Peter Geist)

Den Neo-Dadaisten und Surrealisten vom Prenzlauer Berg ging und geht es darum, der herrschenden „grammattigkeit" ein verbales Schnippchen zu schlagen und sich dadurch manipulativen Sprach-mustern zu entziehen. Die erste, historisch gewordene Phase der Rebellion charakterisiert der Essayist Peter Böthig als „formalen Anarchismus“ Inspiriert durch die aggressiven Rhythmen der Punk-Musik waren Autoren wie Thomas Roesler und Lothar Fiedler dazu übergegangen, die konventionelle Sprache nicht nur zu kritisieren, sondern sie in neodadaistischer Manier zu zerfetzen und die einzelnen Wörter regelrecht zu tranchieren. Auf diese Phase der wilden agrammatischen Attitüden folgten konstruktivere Schreibweisen: z. B. Jan Faktors systematisches Wörter-Recycling, das vorwiegend auf der gezielten Ausbeutung von Wörterbüchern basiert; Stefan Dörings wortspielverliebte „Poetik des Fehlers“ oder eben Papenfuß-Goreks assoziativ-spielerische Sprach-akrobatik. „Das Wort muß würgen“, heißt es in Papenfuß-Goreks „krampf-kampf-tanz-saga“, das Wort solle „in aller beweglichkeit einhergehen/aus Sinnlosigkeit in alle sinne“

Das Einzelwort wird also befreit aus seinen instrumenteilen Funktionen: Es soll sich als sinnlicher Textkörper oder -linguistisch gesprochen -als frei flottierender Signifikant emanzipieren vom Zwangssystem der Grammatik. Dem „Leseresel“, der sich gemütlich „wiederfühlen“ will, wird in den Gedichten von Döring, Papenfuß-Gorek, Faktor u. a. eine sprachnärrische Nase gedreht. Die Sprache des Gedichts verfährt nicht mehr mimetisch, sondern frei-imaginativ, antigrammatisch, zufalls-bestimmt. In den Essays des sprachphilosophisch versierten Rainer Schedlinski ist nachzulesen, welch großen Einfluß die Theoreme von Jacques Lacan, Michel Foucault und Roland Barthes auf die sprachkritischen Poetiken der Prenzlauer-Berg-Dichter gehabt haben. Lyrisches Schreiben ist für Schedlinski, und nicht nur für ihn, identisch mit der Produktion „textualer formen“, die „den blick von der Sache auf das Zeichen lenken“ Solche Gedichte fühlen sich denn auch weniger der Referenz auf außersprachliche Vorgänge oder Objekte verpflichtet, als vielmehr der Reflexion auf sprachimmanente Prozesse.

IV. Fazit und Perspektiven

Seit die alten Instanzen der Macht zerfallen und die realsozialistischen Sprachregelungen hinfällig geworden sind, müssen sich auch die Autoren vom Prenzlauer Berg neu orientieren. Nach dem Verschwinden des staatlichen Zensors, der die politisch unliebsame Literatur in die Nischen einer kleinen Gegenöffentlichkeit abdrängte, gilt es nun, ‘sich inmitten einer marktwirtschaftlich durchorganisierten Literaturindustrie zu behaupten, in deren kommerziellen Spektakeln alles Widerborstige, Sperrige gemeinhin untergeht. Es bleibt abzuwarten, ob das neugegründete Druckhaus Galrev in der Lage ist, der sprachschöpferischen Lyrik die notwendige Aufmerksamkeit zu sichern. Seit der Literaturbetrieb zur Tagesordnung übergegangen ist, droht der dezidiert sprachreflexiven Lyrik eine neue Indifferenz. „Gedichte aus der DDR verlieren ihren Reiz“: Mit dieser kuriosen These hatte der FAZ-Redakteur Thomas Rietzschel bereits im Februar 1990 der experimentellen Lyrik vorab den Totenschein ausgestellt Die von Rietzschel ausgesprochene Vermutung, daß sich in Glossolalie und Sprach-akrobatik übende Gedichte nach dem Wegfall von Zensur und Einparteienherrschaft überflüssig werden könnten, entspringt jedoch bloßer Lesefaulheit. Denn aufstellen wird eine solche Überflüssigkeits-These nur der, der in hermetisch anmutenden DDR-Gedichten immer nur nach versteckten Zeichen des Widerstands gefahndet hat, ohne ihre ästhetischen Qualitäten wahrnehmen zu wollen. Diese vulgärpolitische Lesart poetischer Texte ist nun glücklicherweise obsolet geworden. Kein Kritiker der Lyrik ostdeutscher Autoren braucht mehr einen Repressionsbonus zu vergeben. Statt dessen ist nun ein verschärfter Anspruch an das Sprachbewußtsein und die imaginative Kraft erzählender und lyrischer Texte zu stellen. Dabei könnte sich herausstellen, daß ostdeutsche Lyriker oder Erzähler diesen Ansprüchen eher standhalten als ihre westdeutschen Kollegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ulrich Greiner, Keiner ist frei von Schuld. Der Fall Christa Wolf und die Intellektuellen, in: Die Zeit vom 27. Juni

  2. Fritz Rudolf Fries, Linke Nostalgie und großes Fressen, in: Freibeuter, (1990) 45, S. 32-35.

  3. Vgl. Frank Schirrmacher, Abschied von der Literatur der Bundesrepublik, in: FAZ vom 2. Oktober 1990.

  4. Ulrich Greiner, Die deutsche Gesinnungsästhetik, in: Die Zeit vom 2. November 1990.

  5. Karl Heinz Bohrer, Die permanente Theodizee. Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein, in: Merkur, (1987) 458, S. 267-286.

  6. Heinz Czechowski, Ich will, daß der Schmerz wirklich schmerzt, in: Der Literaturbote, (1990) 19, S. 48-54.

  7. Nachzulesen in: CONSTRUCTIV, (1991) 2, S. 30-33.

  8. Lutz Rathenow, Die DDR-Literatur hat einen Feind: ihre Autoren, in: Kommune, (1991) 7, S. 66-67.

  9. Zitiert nach: Neues Deutschland vom 4. /5. August 1990; zur linken Melancholie vgl. Horst Domdey/Michael Rohr-wasser, Stalinismus und die Ausklammerung der Renegatenliteratur, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), MachtApparat-Literatur. Literatur und . Stalinismus“, München 1990 (= Text + Kritik, Nr. 108), S. 68-75.

  10. Uwe Kolbe, Der größte Anspruch. Über ein paar Zeilen bei Volker Braun, in: Neue Rundschau, (1990) 4, S. 46-52.

  11. Nachzulesen in: Neue Rundschau, (1990) 2, S. 101-104.

  12. In: tisk, Göttingen 1990, S. 67.

  13. Vgl. Neue Rundschau, (1990) 2, S. 81-99.

  14. Vgl. Wolfgang Hilbig, stimme stimme, Leipzig 1983.

  15. Vgl. Ders., Alte Abdeckerei, Frankfurt/M. 1991.

  16. In: Wulf Kirsten, Die Erde bei Meißen, Frankfurt/M. 1987, S. 13.

  17. Vgl. Harald Gerlach, Wüstungen, Berlin-Weimar 1989.

  18. Günter Eich, Fortsetzung des Gesprächs, in: Ders., Gedichte, Frankfurt/M. 1973, S. 99.

  19. Vgl. Peter Geist (Hrsg.), Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante. Lyrik der siebziger/achtziger Jahre von Dichtem aus der DDR, Leipzig 1991.

  20. Vgl. Adolf Endler, Den Tiger reiten. Aufsätze, Polemiken und Notizen zur Lyrik der DDR, Frankfurt/M. 1990.

  21. Zitiert nach ebd., S. 35.

  22. Heinz Ludwig Amold/Gerhard Wolf (Hrsg.), Die andere Sprache. Neue DDR-Literatur der 80er Jahre. München

  23. Helmut Heißenbüttel, Über Literatur, Olten 1966,

  24. P. Geist (Anm. 19), S. 387.

  25. Peter Böthig, Die verlassene Sprache, in: H. L. Arnold/G. Wolf (Anm. 22), S. 38-48.

  26. Vgl. das Gespräch zwischen Egmont Hesse und Stefan Döring, in: Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, herausgegeben von Egmont Hesse, Frankfurt/M. 1988, S. 96ff.

  27. Bert Papenfuß-Gorek, krampf-kampf-tanz-saga, in: Ders., dreizehntanz, Berlin-Weimar 1988, S. 183.

  28. Rainer Schedlinski, die rationen des ja und des nein, Berlin-Weimar 1988, S. 137.

  29. Thomas Rietzschel, Kalauer und geliehene Fragmente, in: FAZ vom 12. Februar 1990.

Weitere Inhalte

Michael Braun, M. A., geb. 1958; Studium der Germanistik und der Politischen Wissenschaft in Trier und Heidelberg; seit 1985 freiberuflicher Literaturkritiker und Essayist. Veröffentlichungen u. a.: Der poetische Augenblick. Essays zur Gegenwartsliteratur, Berlin 1986; (Hrsg, zus. mit Hans Thill) Punktzeit. Deutschsprachige Lyrik der achtziger Jahre, Heidelberg 1987.