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Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR | APuZ 41-42/1991 | bpb.de

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APuZ 41-42/1991 Soll das Vergessen verabredet werden? Eigenständigkeit und Eigenart der DDR-Literatur Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR Jenseits der „Gesinnungsästhetik“. Was bleibt von der Literatur aus der DDR? Neue Verlage und Zeitschriften in Ostdeutschland

Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR

Manfred Jäger

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wer die Lenkung und Planung der Literatur in der DDR mit dem Wort Zensur bedachte, galt lange Zeit als böswilliger Verleumder. Seine Manuskripte veröffentlichungsfähig zu gestalten, gehörte zur Aufgabe des Schriftstellers, von dem politisches Verantwortungsbewußtsein oder wenigstens taktisches Gespür für das jeweils praktisch Machbare erwartet wurden. Die Druckgenehmigungspraxis basierte auf der freiwilligen Zustimmung, der Bereitschaft, sich der „guten Sache“ unterzuordnen. Insofern war Selbstzensur keineswegs immer bewußt kalkulierte Konfliktvermeidungsstrategie. Ein Gefühl der Zugehörigkeit ließ viele Autorinnen und Autoren vor dem radikalen Nein zurückschrecken. Es erhielt sich der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems und die Einsichtsfähigkeit der Funktionsträger. Die Künstler hatten in dem ungleichen Spiel die schlechteren Karten, weil sie sich auf Partnerschaft einlassen mußten, solange sie im offiziellen Kulturbetrieb wirksam bleiben und sich nicht aus dem Lande drängen lassen wollten. Die Zensur verlangte die Zustimmung zu ihren Eingriffen und wahrte formal das Urheberrecht. In einem zähen Kleinkrieg suchten die Schriftsteller den Instanzen immer mehr Freiräume abzutrotzen und wandten unterschiedliche Methoden an, der Versuchung zur Selbstzensur zu entgehen. Zur gelenkten Literatur gehört auch die abgelenkte Zensur. Umstritten ist der form-und sprachbildende Einfluß, der von der Zensur ausging. Nicht nur die Reibungsverluste beim Durchsetzen von Texten werden mittlerweile in den Vordergrund gerückt, auch der „Hang zu penetranten Anspielungen“ wird jetzt häufig als Form der Fremdbestimmung gewertet. Die am Ende der achtziger Jahre immer deutlicher werdenden öffentlichen Interventionen gegen die Zensur zeigten indirekt, daß der ideologische und machtpolitische Verfall schon viel weiter fortgeschritten war, als viele ahnten. Wer sich nicht mit der (immer widerrufbaren) liberaleren Handhabung der institutioneilen Aufsicht begnügen oder abfinden wollte, mußte einsehen, daß die staatlich sanktionierte Zensur erst mit dem Staat verschwinden konnte, der ohne sie nicht auskommen wollte.

I. Die offizielle Abneigung gegen das Wort Zensur

Das Wort Zensur gehörte selber zu den Tabus, die von der Zensur in der DDR bewacht wurden. Denn daß eine Zensur existierte, wollten die Machthaber nicht wahrhaben, die Machthaber, die auch nicht hören wollten, daß sie Machthaber waren: „Die die Macht haben, haben eine starke Abneigung dem Terminus , Machthaber gegenüber. Das Wort ist ihnen wohl zu direkt. Das notierte der Leipziger Gedankensplitterer Horst Drescher als schlichte Beobachtung unter der Überschrift „Merkwürdige Aversion“. Die Aller-obersten bestritten zuweilen unverfroren oder realitätsblind, daß überhaupt eine Zensur existierte. Als 1968 während des Prager Frühlings die Abschaffung der Zensur in der SSR gefordert wurde, erklärte Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz in Karlovy Vary, er sei überrascht davon, daß es so etwas im tschechoslowakischen Bruderland gebe -in der DDR jedenfalls bestehe keine Zensur. Ganz ähnlich äußerte sich Erich Honecker in einem Interview mit Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg nach dem Umsturz: „Wir hatten ja keine Zensur. Zensur bedeutet, man muß die Druckfahnen bringen, und dann werden sie durchgeschaut. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, hatten wir im Unterschied zu anderen sozialistischen Ländern keine Zensur.... Bei uns gab es sie nur kraft des Bewußtseins. Und wenn einer , mal Mist gebaut hatte, dann ist er kritisiert worden, oder man glaubte, er hat Mist gebaut -dann ist er auch kritisiert worden.“ Honecker meinte die Kontrolle der Presse, bei der man in aller Regel ohne die Technik der Vorzensur auskam. Die von den Landeskirchen herausgegebenen Blätter mußten freilich vor der Auslieferung dem Presseamt beim Ministerpräsidenten vorgelegt werden. Es wurden einzelne Artikel oder auch ganze Ausgaben verboten, durchaus im Sinne der klassischen Vorzensur.

Noch unklarer gab Honecker Auskunft zur Literaturzensur, die keine Rücksicht auf tagesaktuelle Bedürfnisse nehmen mußte: „Was die Sache mit den Buchverlagen betrifft, die sich nach oben so zu verhalten hatten, ergab sich das wahrscheinlich kraft des Kulturministeriums, daß das exerziert hat. Das wäre für mich egal gewesen. Ich habe den Stefan Heym vollkommen drucken lassen, ohne Beschluß.“

Merkwürdige Sätze, aber keineswegs ohne Informationswert. Honecker ergeht sich in der Vermutung, ein Kulturministerium habe etwas praktiziert, was andere Zensur nennen. Das hat auch nach seiner Ansicht existiert, aber das treffende Wort dafür, eben Zensur, will ihm nicht über die Lippen. Ja, der einst mächtige Generalsekretär geht sogar auf eine gewisse Distanz zu „diesem Kulturministerium“. Ihm sei Literaturzensur egal gewesen. Dunkel erinnert er sich, daß er irgendwann einmal dafür sorgte, daß das eine oder andere lästige Buch Stefan Heyms erscheinen konnte, nur auf seine Anweisung hin, ohne daß es dafür einen Beschluß parteioffizieller Gremien oder staatlicher Instanzen gab. Jürgen Kuczynski hat davon berichtet, daß sein Buch „Dialog mit dem Urenkel“ nur durch Honeckers Entscheidung -nach einem langen persönlichen Gespräch -zugelassen wurde. Stephan Hermlin und andere Auserwählte, die das Ohr des Hochgestellten erreichten, suchten ihn in diesem oder jenem Einzelfall zu literaturfreundlichen Entscheidungen zu überreden. Mittlerweile scheint Honecker sich nur noch an diese nach fürstlicher Manier erteilten Gnaden-erweise zu erinnern. Wieviel kräftiger wären Literatur und Künste erblüht, hätte es nur dieses verfluchte Kulturministerium nicht gegeben! Dies scheint die verwirrende Quintessenz eines verwirrten alten Mannes zu sein, der sich auch in Sachen Zensur zu rechtfertigen und von Schuld freizusprechen sucht.

Damit werden offenkundige Sachverhalte vertuscht. Selbst in den internen Stasi-Akten blieb die Buchzensur eine böswillige Erfindung. So vermerkt ein Dossier der Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29. April 1975 über „negative Aktivitäten“ Stefan Heyms: „Heym trat Ende 1974 mit massiven Angriffen gegen die Kulturpolitik unserer Partei auf. Er forderte die Abschaffung einer angeblich in der DDR existierenden Zensur und eigene Verlage und Massenmedien für Künstler, um dieser angeblichen Zensur ausweichen zu können.“ Die öffentliche Selbstdarstellung wurde dadurch belastet, daß die SED-Führung sich ähnlich verhielt wie reaktionäre Regime der Vergangenheit es im Umgang mit progressiven Autoren vorgemacht hatten. Franz Fühmann ist es gelungen, schon Anfang der achtziger Jahre, versteckt in einem Band der Werkausgabe, grundsätzlich und in einem historischen Kontext die Zensur anzuprangern und sogar das eigentlich unzulässige Wort dabei zu benutzen: „Wir preisen zum Beispiel Heine als einen furchtlosen Satiriker. Wir fühlen uns in seiner Tradition, wenn wir ihm Ruhm und Ehre darin, aber auch nur darin zollen, was er zeitbezogen geleistet hat. Also: Er war ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Zensur, und wir verengen sofort in der Konkretisierung: gegen die Zensur Metternichs. Die ist verwerflich, da sind wir großartig; und darin ehren wir dann Heine. Aber damit verfehlen wir ihn, da machen wir aus ihm ein Denkmal. Wir sollten ihn darin ehren, daß wir uns anschicken, Zensur abzubauen. ... Will man Satire, so muß man wollen, oder zumindest ertragen können, oder zumindest dulden lernen: das Salz in der Wunde, das Skandalen, das Empörende, das Schlechterzogene -oder man soll sagen, daß man Satire nicht will. Dann aber soll man sich auch nicht auf Heine berufen. Dann ist Heine nicht unser Ahne, dann ist Lichten-berg nicht unser Ahne, dann ist Tucholsky nicht unser Gefährte, dann gehören Aristophanes und Lukian und Swift nicht in unsere Tradition.“

Vielleicht wurde das schlechte Gewissen derer, die sich nicht offen zu ihrer Zensurpraxis bekennen wollten, auch von dem Zwiespalt geprägt, den Fühmann benannte. Die Repressionsmechanismen blieben hinter bürokratischen Formulierungen versteckt, hinter Floskeln wie „Lenkung und Leitung und Planung des Literaturprozesses“. Die Sprache bringt jedoch vieles an den Tag, was ins gnädige Dunkel gehüllt werden soll: Das Wort Prozeß verriet mehr als gewollt war, denn leicht läßt sich eine Anklagebank hinzudenken. Sie mußte ja nicht immer gleich im Gerichtssaal aufgestellt werden. Das Sitzmöbel paßte auch in Sitzungszimmer, Arbeitsräume und Verbandssäle. Darauf mußten Autoren Platz nehmen, die bestimmte für notwendig erachtete Eigenschaften vermissen ließen, Verantwortungsbewußtsein, parteiliches Denken oder auch taktisches Gespür für das jeweils praktisch Machbare. Wer der SED angehörte, konnte kurz und knapp auf die Parteidisziplin im Sinne der jeweils gültigen Linie verwiesen werden.

II. Die Selbstzensur als gefährlichste Kontrollstufe

Das brutale Wort für Disziplin aus taktischen Erwägungen wurde freilich auch nicht gerne gehört. Es heißt „Selbstzensur“. Noch in den Zeiten, als darüber nicht mehr nur intern geklagt werden konnte, redeten viele weiter um den Sachverhalt herum. So umschrieb eine Kritikerin 1988 die Verschweigetechnik mit deren Mitteln: „Eine Unkultur der Unterstellungen, gewisse Erfahrungen mit . Organen* spielen bei der Zurückhaltung von Wissen zweifellos mit.“ Mit den Organen war nicht gemeint, daß die Galle vor Ärger überlief oder die Magenschmerzen sich ins Unerträgliche steigerten, obwohl es nicht völlig abwegig ist, auch an solche Beschwerden zu denken. Es ging um Erfahrungen mit Presseorganen und wohl auch mit sogenannten Machtorganen.

Das Wort von der Selbstzensur markiert die unterste Stufe des Kontrollvorgangs und wohl auch die gefährlichste. Pauschal haben das viele Schriftsteller eingeräumt. Kaum je sind sie ins einzelne gegangen. Denk-und Schreibverbote, die jemand über sich selbst verhängt, gehören sicher zu den besonders lästigen, unbequemen Themen. Es ist leicht, im allgemeinen einzuräumen, daß man zu früh haltmachte. Es ist schwer, im Detail darzustellen, an welcher Stelle man selber feige war und wieso andere früher zu besseren Einsichten kamen. Die Furcht vor dem, was zutage tritt, wenn man sich ernstlich auf die eigenen Verstrickungen einläßt, wirkt auch heute weiter. Von Christa Wolf gibt es viele Äußerungen zu diesem Problemkreis. In einem 1984 vor Medizinern gehaltenen Vortrag zum Thema „Krankheit und Liebesentzug“ sagte sie zum Beispiel: „Immer, wenn mich ein besonders starker, besonders hartnäckiger und zugleich diffuser Widerstand daran hindert, zu einem bestimmten Thema , etwas zu Papier zu bringen* -immer dann ist Angst am Werke, meist die Angst vor zu weitgehenden Einsichten oder/und die Angst vor der Verletzung von Tabus.“ Übrigens wirkte auch Selbstzensur bei der Abfassung ihres Vortragsmanuskripts mit: Sie nennt die angstbesetzten Themen nicht, und sie läßt auch aus, an welchem Maßstab gemessen werden könnte, wann Einsichten zu weit gehen.

Selbstzensur -im engeren politischen Sinne -war keineswegs immer bewußt kalkulierte Konfliktvermeidungsstrategie. In Erinnerung bleiben die freiwillige Zustimmung, die Bereitschaft, sich der „guten Sache“ zu beugen, übergeordnete Gesichtspunkte zu beachten, sich das richtige Bewußtsein zu erarbeiten und dem Subjektivismus zu entsagen. Vermutlich hat mindestens in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1945 eine Mehrheit der Kulturschaffenden diese Position verinnerlicht. Die aus der Emigration zurückgekehrten Klassiker der sozialistischen Literatur arbeiteten sogar ihre alten Bücher im Lichte ihrer neuen Erkenntnisse um. Willi Bredel, Bodo Uhse, Ludwig Renn, Hans Marchwitza und andere brachten manchen Roman in Übereinstimmung mit der nach 1945 gültigen Parteigeschichte. Gewiß hat das Beispiel solcher Väter-und Mütterfiguren manchen Nachgeborenen in der Überzeugung bestärkt, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Einladung, als Erzieher und Umerzieher des Volkes tätig werden zu dürfen, schmeichelte und gab zugleich das Gefühl, gebraucht zu werden. Dafür wollten viele auch Opfer bringen.

Die junge Christa Wolf schrieb 1958, also vor mehr als 30 Jahren, den Aufsatz „Kann man eigentlich über alles schreiben?“ Sie war damals Redakteurin der Monatsschrift des Schriftstellerverbands, .. Neue deutsche Literatur“. Ihr Schreibtisch wurde damals -wie der anderer Lektoren auch -von, wie sie schreibt, pessimistischen Geschichten überschwemmt, die sogar auf authentischen Fällen beruhten. Nachdem sie sich von den Lektoren distanziert hatte, die die Autoren für solche Geschichten lobten und zugleich mitteilten, der Abdruck sei nicht möglich, erklärte sie unumwunden parteilich, warum sie dieses Verhalten nicht billigen konnte: .. Dadurch trägt man nur dazu bei, die Legende am Leben zu halten, wonach die Wahrheit zu schreiben verboten sei. Es ist ja nicht die Wahrheit, was sie schreiben. Sie halten es nur dafür. Und man druckt sie nicht, weil es in manchen Situationen gefährlich ist, die Unwahrheit oder auch nur die halbe Wahrheit zu verbreiten. Zu dieser Einsicht muß man ihnen verhelfen.“

Der letzte Satz klingt drohend. Die Drohung lag in der Logik einer Argumentation, die nur eine Wahrheit zuließ und die Entscheidung, ob die gefunden oder verfehlt wurde, den Hütern der Ideologie vorbehielt. Es führte zu weit, jetzt nachzuweisen, daß Christa Wolf diese autoritäre Mahnung auch gegen sich selbst richtete. Sie konnte solchen Dogmatismus nicht durchhalten, auch nicht in modifizierter, abgeschwächter Form, und spätestens mit „Nachdenken über Christa T.“ legte sie ein Jahrzehnt danach ein literarisches Gegen-modell von Bedeutung vor, das der Zensur höchst bedenklich vorkam, eine Verlagskrise erzeugte und ihr die Mahnung eintrug: „Besinn dich, Christa, auf dein Herkommen.“ Damit war nicht die soziale Herkunft gemeint, sondern die politische, die sie in der ersten Hälfte der sechziger Jahre für kurze Zeit zu einer Kandidatin des SED-Zentral-komitees hatte werden lassen. Die Mahnung aus dem Munde des Kollegen Max Walter Schulz, der einer der Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes war, klang grotesk und arrogant. Aber sie pochte auch darauf, daß eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten nicht einfach verlassen werden dürfe.

Selbst wer sich aufgrund bitterer Erfahrungen loslösen wollte, blieb doch an alte Grundüberlegungen gebunden, die er nicht preisgeben mochte. Denn die politische Sozialisation einer ganzen Generation hatte ein so kräftiges Gefühl der Zugehörigkeit entstehen lassen, daß viele vor dem radikalen und definitiven Nein zurückschreckten. Es erhielt sich der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems und damit auch der Glaube an die Beiehrbarkeit der tonangebenden Funktionärs-schicht. Immer wieder beteuerten viele Autorinnen und Autoren, daß sie mißverstanden würden, daß ihre Vorschläge und Ratschläge der großen gemeinsamen Sache nur nutzen würden Solche Treuebedürfnisse und Zugehörigkeitswünsche konnten Widerstandskräfte auch lähmen. Christa Wolf hat in „Kassandra“ gezeigt, wie die Macht diese Disposition ausnutzte. Als Eumelos, der Mann der Sicherheit, Sonderbefugnisse für die Kontrollorgane verlangt und erhält, will Kassandra ihm diese harte Politik ausreden, weil man sich selbst damit mehr schade als dem Gegner: „. Aber glaub mir doch! Ich will doch das gleiche wie ihr’. ... Er zog die Lippen hart zusammen. Den konnte ich nicht gewinnen. Er sagte förmlich: Ausgezeichnet. So wirst du unsere Maßnahmen unterstützen. Er ließ mich stehen wie ein dummes Ding.“

So sah die vielbeschworene Einheit von Geist und Macht aus. Die Autorin hatte ein Abhängigkeitsverhältnis durchschaut und gezeigt, wenn auch in historisierender und mythischer Verkleidung. Auf diese Weise konnte sie das Schiff, das die Konterbande mit sich führte, gleichsam ohne Lichter und ohne Flagge an den Klippen der Zensur vorbei-steuern. Auf ihre seriös elegische Art drehte auch sie den Aufpassern die Nase. Aber selbst solche Erfolge blieben Pyrrhussiege in einem ungleichen Kampf. Die Künstler hatten in dem letztlich unwürdigen Spiel deswegen die schlechteren Karten, weil sie sich auf Partnerschaft einließen und wahrscheinlich einlassen mußten, solange sie im Sinne einer Fürstenaufklärung auf die Einsichtsfähigkeit der Mächtigen hofften. In den guten alten Zeiten der Zensur, im 19. Jahrhundert etwa, gab es dagegen klare Frontstellungen. Der Autor konnte sich lustig machen über die Dummheiten und Frechheiten des Zensors, der in der Regel die von ihm bekämpfte reaktionäre Richtung vertrat.

In der DDR hingegen wurden die Zensurmaßnahmen auf der Basis des prinzipiellen Jas zur sozialistischen Sache als Diskussion unter den Beteiligten getarnt. Beliebt war die Rede von der Überein-stimmung zwischen innerem und äußerem Auftrag. Die fatalen Folgen müssen unter der gegebenen Konstellation als unvermeidlich gelten. Die Zensur verlangte nämlich die Zustimmung des Autors zu ihren Eingriffen, also zu den geforderten Auslassungen, Streichungen und Umformulierungen. Am Ende lief alles auf Selbstzensur hinaus, denn der Urheber des Textes mußte billigen oder billigend in Kauf nehmen, was ihm mit sanftem oder kräftigem Druck vorgeschlagen wurde. Auch in der konkreten Auseinandersetzung um ein Manuskript, ja um ein einzelnes Wort, setzte sich formell Selbstzensur fort. Die Auseinandersetzung konnte freilich erst beginnen, wenn ein Gedanke oder ein Sprachbild Schrift geworden war. Was gar nicht erst formuliert wird, steht auf einem anderen Blatt. Was keinem mehr einfällt, kann auch keinen anderen mehr heiß machen. Über die Denkverbote, die gar nicht ins Bewußtsein treten, läßt sich nicht einmal im Verborgenen, in der Nische reden.

Erst allmählich kommen daher jetzt verdrängte Fragen auf: Warum wurde das Recht auf antisozialistische Gesinnung nicht eingefordert? Warum blieben die Abtrünnigen oft Objekte der Berührungsfurcht? Warum wurden die Gemeinsamkeiten zwischen der Ordnung, in der man lebte, und faschistischen Staaten nicht oder nur ganz selten zum Thema Nur weil es gesetzlich verboten und somit Schlimmes zu gewärtigen war? Oder auch deswegen, weil wenigstens die antifaschistische Grundlage, die humanistische Staatsräson vom Friedensstaat DDR heil bleiben sollte? Erst nach dem entschiedenen Bruch, aber noch in der DDR, schrieb Reiner Kunze das Titelgedicht seiner epigrammatischen Sammlung „Zimmerlautstärke“: „Dann die zwölf jahre durfte ich nicht publizieren sagt der mann im radio Ich denke an X und beginne zu zählen.“

Es gab unter Schriftstellern der DDR, vor allem unter SED-Mitgliedern, aber nicht nur unter ihnen, eine tiefe Abneigung gegen die radikale Abkehr.

Sie wurde als Renegatentum verteufelt oder wenigstens als eine Art Fahnenflucht mißbilligt.

Die Treuegefühle zu „der Sache“, der man selbst in jungen Jahren enthusiastische Hoffnungen entgegengebracht hatte, wuchsen sich zum Treue-komplex aus. Dazu kam ein berechtigtes Interesse daran, sich nicht aus dem Lande zwingen oder ekeln zu lassen, auch weil viele davon überzeugt waren, daß das Widerstandspotential trotz aller gelebten Kompromisse durch Weggehen geschwächt würde. Es wurde auch geschwächt durchs Bleiben und Bleibenwollen, weil auch dafür mit Nachgiebigkeit gezahlt werden mußte. Aber wer wollte hier messen? Wie so oft im Leben vermischen sich gute und weniger gute Gründe. Sicher -ist, daß die offizielle Politik diese prekäre Lage bei ihrem Umgang mit Künstlern und Schriftstellern ausnutzte. Eine im Berliner Literaturhaus gestaltete Ausstellung mit den Akten der Hauptverwal-tung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur belegt dies anschaulich. Die Aufpasser entwickelten konkrete Psychogramme für den individuellen Umgang mit den schwer lenkbaren Verfassern. Auch nach allerlei Änderungen blieb manches Buch mißliebig. Nur aus „autorenpolitischen Gründen“ wurde es zugelassen. Vorschläge, an einem bestimmten Punkt die Auseinandersetzung mit einem Autor abzubrechen, wurden gelegentlich vom Amte damit begründet, daß der Betroffene bei einem weiteren Änderungsgespräch durchdrehen könnte.

III. Versuche, der Verführung zur Selbstzensur zu widerstehen

Ein Autor war genötigt, sich auch vorzustellen, was in den Köpfen der Kontrolleure vorgehen mochte, studierten sie sein Manuskript. Der sehnlichste Wunsch eines Schreibers ist, daß sein Werk erscheinen möge. Er kam also nicht um die taktische Frage herum, wieviel er in einer bestimmten Situation den Instanzen zumuten könne, damit es publiziert werde. Immer konnte er so der Verführung erliegen, sich selbst gleichsam ins Wort zu fallen und das allzu Kecke wegzunehmen, weil es doch nur Ärger bringe und am Ende im fertigen Buch doch nicht drin stehe. Schriftsteller von unterschiedlichem Lebensalter und mit höchst unterschiedlichen Biographien haben allerlei Gegenmittel und Tricks benutzt, um sich vor Versuchungen, so gut es ging, zu schützen. Ich gebe dafür drei Beispiele.

Widerstandskraft gegen vorauseilende Selbstgenügsamkeit konnte gewinnen, wer die Erfahrung der opportunistischen Anpassung durchlebt und durchlitten hatte. Die überschüssige Bahn, auf der das eigene Talent nur zugrunde gerichtet werden konnte, durfte nicht wieder betreten werden, obwohl andere meinten, da habe einer das erwünschte Ziel erreicht. Siegerehrung und Preisverleihung durften die Selbsterkenntnis nicht paralysieren. Die Rede ist von Günter de Bruyn und seinem ersten Roman „Der Hohlweg“. Das 1963 erschienene Werk stellte den Weg der Kriegsgeneration in die fortschrittliche Aufbauzeit gemäß den Erwartungen dar. Verfaßt nach den Klischees des sozialistisch-realistischen Entwicklungsromans, erhielt es den angesehenen Heinrich-Mann-Preis. In seinem schon 1974 erschienenen Essay „Der Holzweg“ zeigte de Bruyn, schonungslos mit sich selbst umgehend, wie er das Thema ans Schema verraten und das in seinen Tagebüchern dokumentierte Lebensgefühl absichtsvoll unterdrückt habe: »Noch fehlte mir die Erfahrung, daß nur gut werden kann, was man, sich selbst gehorchend, schreiben muß, nicht was man will oder soll. Demoralisierend wirkte der Verlagsvertrag: ein Stück Selbst wurde zum Objekt eines Geschäfts. Geld, Termine, gute und schlechte Ratschläge verfremdeten Eigenes. Das Bewußtsein des Sich-verkauft-Habens machte die Arbeit zur Fron. Unmerklich trat an die Stelle der Frage , Ist das die Wahrheit? 1 die: , Nimmt man mir das ab? ‘ Da man sich zum Teil eines Apparates gemacht hatte, dessen Arbeit ganz auf Veröffentlichung gerichtet ist, wurde diese einem selbst zum höchsten Ziel -bis es erreicht war. Als das Buch gedruckt war, war es für mich tot.“

Alles habe er einem Ziel untergeordnet, sagt de Bruyn, er wollte gedruckt werden, und er nennt diesen Grund zugleich „verständlich und verächtlich“. Kräftige Willensstärke wurde verlangt, wenn man dem aus dieser Erfahrung herrührenden Anspruch an sich selbst künftig genügen wollte. Mit seinen Prosaarbeiten „Märkische Forschungen“ und „Neue Herrlichkeit“ ist de Bruyn seinen Einsichten durchaus gefolgt. Der Verbotsskandal um das letztgenannte Buch lieferte dafür auch eine offizielle Bestätigung. 1983 wurde die Druckgenehmigung für das Manuskript erteilt. Freilich hatte der Autor notgedrungen zuvor einigen Änderungswünschen nachgegeben. Der Vater der Hauptfigur wurde von der höchsten Funktionärs-ebene heruntergenommen, um die Nomenklatura nicht zu sehr zu reizen. In dem besonders heiklen Kapitel, das im Altersheim spielt, entfernte de Bruyn den Halbsatz „Tabletten verkürzen das Leben“, an einer anderen Stelle wurde eihe Bemerkung übers „Eingesperrtsein“ gestrichen. Das System ließ nicht zu, ein Manuskript ohne jeden Eingriff zum Druck zu befördern. Jedenfalls hat sich bisher noch kein Autor mit kritischem Anspruch gemeldet, der von sich behaupten könnte, ihm sei eben dies gelungen. Die Kunst -eine Kunstfertigkeit jedenfalls -bestand ja längst darin, ein Manuskript anzubieten, das durch Wegnahme eines Tabuworts oder eines Halbsatzes nicht wirklich zu domestizieren war. Öfters findet sich in den Hausmitteilungen der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel die Klage darüber, daß Heraus-nähme oder Weglassung „höchstens die Grundtendenz schwächen, sie doch nicht beseitigen kann“

Nachdem die Lizenzausgabe des Romans „Neue Herrlichkeit“ im Westen früher vorlag als die Edition in der DDR, was nur an der geringen Druck-kapazität lag, widerrief die Hauptverwaltung die bereits erteilte Druckgenehmigung, weil die bundesdeutschen Rezensenten den kritischen Wagemut des Verfassers hervorgehoben hatten. Am 20. Juni 1984 begründete die Hauptverwaltung ihr Verbot u. a. so: „Nach gründlichem Abwägen wurde entschieden, von einer Herausgabe des Buches , Neue Herrlichkeit 1 von Günter de Bruyn in der DDR abzusehen. Die Gründe für diese Entscheidung liegen in der ungenügenden politisch-ideologischen Qualität des Romans, der über weite Strecken ein einseitiges Bild unserer Wirklichkeit vermittelt und subjektivistisch zugespitzte Wertungen enthält, die die entwickelte sozialistische Gesellschaft der DDR in einem pessimistischen Lichte erscheinen lassen. Unsere kritischen Einwände richten sich vor allem gegen die folgenden gravierenden politisch-ideologischen Mängel, die einer Veröffentlichung des Buches im Wege stehen: 1. Die negativ verzeichnete Darstellung des Schicksals alter Menschen und der Verhältnisse im Pflegeheim. ... 2. Viele handelnde Personen, besonders die Angehörigen der jungen Generation, sind durch unsozialistische Haltungen geprägt.“ Alt und jung sind also verzeichnet, aber das Wort „Verbot“ wird ebenso vermieden wie das Wort Zensur. Das Amt verbietet nicht, es sieht nur von einer Herausgabe ab. Ein Jahr später, 1985, steht einer Herausgabe nichts mehr im Wege, ohne daß der Autor an der im S. Fischer Verlag längst vorliegenden ursprünglichen Druckfassung etwas geändert hätte. Das Beispiel Günter de Bruyn zeigt: Freie, radikale Selbstkritik gegenüber eigenen einst begangenen literarischen Irrwegen stärkte die Widerstandskraft gegen die immerwährende Versuchung, den latenten und offenen Angeboten zur Selbstzensur anheimzufallen.

Erich Loest versuchte die eigene Standfestigkeit gegenüber dem inneren Wächter dadurch zu stärken, daß er sein brisantes Romanmanuskript „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ nicht selber wie eine verdächtige Geheimsache behandelte. Er gab es möglichst vielen Leuten zum Lesen, ehe er es seinem Verlag vorlegte. Er weihte Freunde und Bekannte ein und bat sie um Kommentar und Kritik, aber eins ließ er nicht zu: „Niemand darf zu mir sagen: Was Du da geschrieben hast, druckt sowieso keiner! Ich kann jetzt keinen inneren Zensor gebrauchen.“ Er wollte nicht, daß das „kleine grüne Männchen im inneren Ohr“ am Trommelfell kratzte und ein schmerzhaftes „So nicht!“ verlauten ließ. Trotz seiner Mahnung wurde ihm die allgemeine Ansicht der bevorzugten Erstleser zugetragen: „Ist ja gut und schön, was der Erich da macht, aber ein Buch wird das nie!“ Diese skeptisch-realistische Einschätzung der Kollegen hat den Autor seinerzeit wohl kaum überrascht. Er mußte während des Jahres 1976 in manchem Gespräch zähneknirschend vielen Streichungen zustimmen, ehe -immerhin! -ein Buch daraus wurde. Aber er hatte den Romanplan publik gemacht, weil die Mitwisser ihm einen gewissen Schutz boten. Sie halfen ihm indirekt, bei der Stange zu bleiben und den Kampf um die Veröffentlichung offensiv zu führen.

Ein drittes Beispiel für den Kampf mit der Selbstzensur liefert der alte Erwin Strittmatter. In seinen nach der Wende, im Jahre 1990, ausschnittweise veröffentlichten Tagebüchern, „Die Lage in den Lüften“, beschreibt er die Entstehung des abschließenden Bandes seiner „Wundertäter“ -Trilogie. Er wollte, wie er am 8. März 1975 notierte, „eine literarische Bombe mit Langzeitzündung“ drehen. Er suggerierte sich die Freiheit des Schreibens, indem er die Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten selbst nicht für möglich hielt. Weil er in ein Morgen hineinschrieb, auf das er Hoffnungen setzte, traute er sich, Respektlosigkeiten zu formulieren und auch stehenzulassen. Am 11. September 1974 notierte er: „Man weiß, daß das was man niederschreibt, weil man es für die Wahrheit hält, nicht heute und nicht morgen vor den Zensoren liegen wird.“

Im Sommer 1975 radikalisiert er diese Position noch. Immer, wenn die Schreibanstrengung lähmen könnte, setzt Strittmatter auf Zeitgewinn: „Manchmal fange ich an, mich zu ängstigen, wenn ich dran denke, wieviel Zeit ich noch brauchen werde. Dann beruhigt mich der Gedanke, daß ich den Roman nicht hier und jetzt werde drucken lassen können. Für den Roman ist das Zeitvergehen nur günstig, und auch bei mir wird es kein Bangen um Zeit mehr geben, sobald ich gestorben bin. Es gilt, sich das Bangen bei Lebzeiten abzuerziehen. Wenn der Roman Wundertäter III fertig sein wird, werde ich ihn nicht herausgeben. Wes-halb soll ich die Kraft, die es kosten würde, ihn durchzusetzen, meiner Arbeitskraft entziehen?“

War das eine produktive Selbsttäuschung? Vermutlich ja, denn die Arbeitshypothese, auf absehbare oder sogar auf unabsehbare Zeit nur für die Schublade zu arbeiten, verschaffte Freiräume. Es ist bedauerlich, daß Strittmatters Werkstattbericht in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielt. Offenbar passen weder seine Offenheit noch seine Eingeständnisse in eine Zeit, in der viele prominente Autoren schweigen oder sich in die Schmollecke zurückziehen, um blauäugig die getäuschten oder gutgläubigen Idealisten zu spielen. Wo bleiben die Schriftstellerkollegen, die sich und uns das „Bangen bei Lebzeiten“, also die Folgen des angstbesetzten Schreibens, zum Problem machen? Strittmatter mochte in seiner ländlichen Zurückgezogenheit leichter zur Selbstbeobachtung fähig sein als andere. Aber warum sollte nur er schmerzlich erfahren haben, wie sehr „Sklavendenken und Gehorsam“ behindern konnten? Der vom Kulturbetrieb der SED doch auch lange Zeit hochgeehrte Mann quält sich damit herum, daß es ihm schwerfällt, nach siebenundzwanzigjähriger Parteizugehörigkeit aus dem „GedankenZoo“ auszubrechen.

Nicht einmal dem Tagebuch glaubt er seine Ansichten in aller Schärfe anvertrauen zu können -er hat längst keine Illusionen mehr über die Praktiken des Staatssicherheitsdienstes, aber er scheut dennoch nicht davor zurück, die Linksdiktatur mit der Rechtsdiktatur auf eine Ebene zu stellen, ohne Furcht davor, einer reaktionären „TotalitarismusDoktrin“ zu verfallen. Am 13. September 1980 notiert er: „Meine Reife-und Schreibjahre fallen in die Zeit von zwei Diktaturen, die einander ablösten. Die zweite der Diktaturen war eine, die ich nach anfänglichem Zögern für einige Jahre bejahte, bis ich erkannte, daß sie nicht die Diktatur einer Klasse, sondern wie die vorhergehende Diktatur, die Diktatur einer Clique war. Sie zwang mich, nach dem Schema: Eins hin -zwei im Sinn -zu schreiben, und die Zwei im Sinn konnte ich noch nicht einmal mit voller Schärfe ins ganz und gar persönliche Tagebuch schreiben. Ich mußte an Haussuchungen und heimliche Schnüffler denken. Auch jetzt natürlich, da ich das hinschreibe.“

Es versteht sich, daß Strittmatter den Gedanken an die Nachwelt ganz schnell vergißt, nachdem er die Arbeit an dem Roman abgeschlossen hat. Publikationsgierig, wie Schriftsteller nun einmal sind und sein müssen, drängt er auf rasche Veröffentlichung. Er wird ungeduldig, als die Behörden ihn hinhalten und vertrösten. Sie zeigen ohne Vorbehalt, wie wenig ihnen der Text schmeckt. Stritt-matter findet nichts dabei, direkt bei dem obersten Kulturchef, bei Kurt Hager, vorzusprechen und wartet nach der Audienz auf die versprochene Auflistung der Änderungswünsche. Beim Schreiben mochte die Hypothese genutzt haben, man müsse nicht Rücksicht nehmen, weil man zunächst nur für die Schublade schreibe, am Ende überlieferte man sich doch wieder den Regeln und nutzte aus, daß ein Strittmatter immerhin prominent genug war, um von Hager vorgelassen zu werden. Es gab im Teufelskreis der Literaturkontrolle letztlich doch kein Entrinnen. Ein gestandener Mann wie Erwin Strittmatter, kein Anfänger, sondern im Rentenalter, fühlt sich klein und verloren, abhängig und mies, nachdem sein Manuskript aus dem Haus gelangt ist. Er kommt sich vor wie ein Grundschüler, dessen Aufsatzheft eingesandt wurde und der nun wartet, was der Lehrer ihm alles anstreichen werde. Am 8. April 1978 notiert er: „Der Roman ist abgegeben, aber ich gehe umher wie ein Mörder, der bangt, daß man seine Tat bald entdecken wird.“

IV. Über Gutachten und Lesehilfen

Wer dem „Leseland DDR“ nachtrauert und die vermeintliche „Literaturgesellschaft“ nostalgisch zu feiern gedenkt, sollte solche Wertungen nicht leichthin wegschieben. Auch für Strittmatter begann nun das lange Warten. Gutachten mußten eingeholt werden. Strittmatter hatte in Heinz Plavius einen verständnisvollen Fürsprecher. Aber es gab auch bösartige Verhinderer wie Werner Neu-bert oder Mathilde Dau, die im Hinterhalt lauerten und als dogmatische Märtyrer auf Anonymität pochten. Denn die Gerechtigkeit gebietet anzuerkennen, daß es eine Vielzahl von Experten gab, die als Fürsprecher der Bücher auftraten. Hatte ein Verlag sich entschlossen, ein Buch auch gegen Widerstände durchzusetzen, bat er Gutachter um Mitarbeit, die sich aller Voraussicht nach für das Buch einsetzen würden. Die fachliche Autorität und der bekannte Name waren dabei wichtiger als die Argumentation in der Sache. Die Gutachten dienten der Absicherung. Im besten Falle verharmlosten sie die Texte, übersahen sie absichtsvoll die ihnen innewohnende Sprengkraft, betonten sie die angebliche Übereinstimmung mit kulturpolitischen Zielsetzungen

Im Fall historischer Romane wurde zum Beispiel die Exaktheit der Darstellung, also der korrekte Umgang mit den Quellen herausgestellt. Die Verlagerung der Handlung in die Vergangenheit war aber oft nur ein Trick, um im anachronistischen Gewände, sozusagen historisch bemäntelt, in Wahrheit von der DDR zu erzählen. Bekannte Beispiele dafür sind Stefan Heyms „Die Schmähschrift“ und sein „König David Bericht“, Christa Wolfs schon zitierte Erzählung „Kassandra“ oder auch Joachim Walthers Roman „Bewerbung bei Hofe“ über das Leben des Barockdichters Johann Christian Günther. Von den Parallelen zur Gegenwart war in den Gutachten, die der Publikation voranhelfen wollten, natürlich nicht die Rede. Nicht weil der zur Vorkritik aufgeforderte Spezialist den Text mißverstanden hatte, sonder weil er -der Sache wegen -taktisch argumentierte. Wer nicht einer Legendenbildung Vorschub leisten will, sollte einräumen, daß hier ein Nährboden für Heuchelei und Zynismus, für Doppelgleisigkeit und Intrigen bestellt und gepflegt wurde. Das Gutachter-Unwesen war insgesamt eine absurd-bürokratische Ausgeburt der Bevormundung von Autoren und -nicht zuletzt -auch von Lesern.

Dieter Schlenstedt ironisierte und kritisierte seine eigene Rolle als sogenannter Erstgutachter in einer Textmontage, die Volker Brauns „Hinze-KunzeRoman“ 1985 beigegeben wurde, als Anhang unter der Bezeichnung „schöngeistige Lesehilfe“. Der Germanist stellte dabei den grotesken Vorgang heraus, daß auch bei einem so bekannten Autor wieder und wieder geprüft werden sollte, ob er eigentlich schreiben könne, ob überhaupt ein literarischer Wert vorliege. Er, Schlenstedt, beharre unverdrossen auf der Überzeugung, die Leute, die Leser, seien für solche Urteile zuständig. Mit Wortspielen wie Bös-Achten und Schlecht-Achten lästerte Brauns Freund über den papierlastigen Wirrwarr, in dessen Netzen und Haken Zeit und Energie verlorengingen

Je nach Sujet konnte auch im Landwirtschaftsministerium, bei der Reichsbahn oder beim Turn-und Sportbund eine Stellungnahme eingefordert werden. Bei Krimis mischten sich das Ministerium des Innern oder die Generalstaatsanwaltschaft ein. Das Außenministerium mochte in Reisebüchern nichts Kritisches über die Sowjetunion, über die osteuropäischen Nachbarn oder über die Staaten der Dritten Welt lesen. Mit der Floskel von der unzulässigen „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ wurden die eigenen Einmischungen in die literarischen Expeditionen begründet. Ärger mit der Volksrepublik China wurde Fritz Rudolf Fries prophezeit, wenn er auf seinem Romantitel „Verlegung des Reichs der Mitte“ bestehe. Mit „Verlegung eines mittleren Reiches“ konnten die Bedenkenträger sich abfinden. Nicht jeder vermochte so spielerisch-distanziert auf die Zumutungen zu reagieren wie Fries, der sich manchmal den Spaß machte, Einwände von Zensoren eigenen Figuren in den Mund zu legen.

V. Vom Mitspielzwang und von kleinen Siegen im ungleichen Kampf

In aller Regel war der Zwang zum Mitspielen keineswegs komisch. Die Frontlinien blieben nämlich undeutlich. Sie waren im ohnehin unübersichtlichen kulturpolitischen Gelände nicht markiert.

Die Veränderungen im Text wurden den Autoren zwar abgerungen, aber sie waren doch ihrer Zustimmung bedürftig. Formal wurde das Urheberrecht gewährt. Der Zensurvorgang war eine abartige Abart der „Arbeit mit den Menschen“. Nur wer sich dem Kulturbetrieb prinzipiell verweigerte, konnte der Überzeugungsprozedur unter Ungleichen entgehen. „Auf einen Vertreter der Macht oder Gespräch über das Gedichteschreiben“ heißt ein Epigramm von Reiner Kunze:

„Sie vergessen, sagte er, wir haben den längeren arm Dabei ging es um den köpf.“ Entwürdigend und demütigend mußte der Zwang zur Zustimmung wirken. Wider besseres Wissen mußte Ja gesagt werden zur Verstümmelung des eigenen Textes. Auch wessen Körper nicht mit Magengeschwüren und Nervenzusammenbrüchen reagierte, hatte Mühe damit, die Belastungen zu verdrängen. Kleine Siege im zähen Kleinkrieg wurden so von den Betroffenen gern überschätzt. Das verletzte Selbstbewußtsein brauchte Trost.

Im Jahre 1973 -Reiner Kunze lebte noch im thüringischen Greiz -erschien unter mühsamen Geburtswehen sein Gedichtband „brief mit blauem siegel“. Welch ein Sieg, daß darin die Über-schrift stehen durfte: „Aus . Variationen über die Post“ * und nicht bloß „Variationen über die Post“. Das kleine Wörtchen „Aus“ signalisierte dem eingeweihten Leser, daß mehr zu dem Gedichtzyklus gehören mußte, daß einiges Heikle entfallen war. 1983 erschien ebenfalls bei Reclam, Leipzig, eine Auswahl von Texten Wolfgang Hilbigs, „stimme stimme“ betitelt. Die Abschnitte des Gedichts „das meer in sachsen“ hatte der Autor numeriert. Die Leipziger Zählung sprang von Nummer 2 gleich auf Nummer 4 -den Abschnitt 3 hielt die Zensur für unzumutbar. Daß schließlich drei Pünktchen erlaubt wurden, wo gestrichen werden mußte, war das wirklich ein Erfolg auf dem mühsamen Aufstieg zu den Höhen des freien Wortes?

Christa Wolfs Frankfurter Poetik-Vorlesungen über ihre Erzählung „Kassandra“ lagen im Westen, bei Luchterhand, längst vollständig vor, während die Ausgabe des Ostberliner Aufbau-Verlags noch immer klemmte. Das Plädoyer für einseitige Abrüstung auf östlicher Seite und weitere sechs Textpassagen waren für die SED-Spitze nicht opportun. Jeweils drei Pünktchen und der Vermerk „Gekürzte Fassung“ verweisen auf die Kürzungen in der ersten Auflage der DDR-Edition. War die Kompromißbereitschaft der Autorin berechtigt? Vielleicht ja. Es wurde Neugierde geweckt auf das, was fehlte. Die West-Ausgabe existierte, den zensierten Stellen wuchsen besondere Aufmerksamkeit und Neugierde zu. Es gab in evangelischen Studentengemeinden Seminare zu „Kassandra“, bei denen Pfarrer oder Studienleiter dafür sorgten, daß die Streichungen in Kopien verfügbar waren. Vielleicht war die Nachgiebigkeit der Autorin aber auch falsch. Verlagsdirektor Elmar Faber war gelegentlich so keck zu behaupten, er hätte lieber den ganzen Text gedruckt, die Autorin habe sich jedoch mit der Streichung einverstanden erklärt. Es hätte nur noch gefehlt, daß er ein „leider“ eingefügt hätte. Sturheit statt Kompromißbereitschaft -es war jedenfalls eine Alternative. Nicht oft wurde sie von der älteren oder mittleren Generation der Etablierten in Anspruch genommen.

Erst die spätgeborenen Außenseiter vom Prenzlauer Berg und aus verwandten Bezirken, die ihre halblegalen Zeitschriften in kleiner Auflage und ihre illegalen Lesungen in Privatwohnungen organisierten, verweigerten das Mitspielen. Freilich wurde ihnen solche Abstinenz dadurch erleichtert, daß die offiziellen Türhüter ihnen den Zutritt verwehrten. Immer gab es auch innerhalb dieses genau beobachteten Bereichs Versuche der Vereinnahmung. In der Spätphase der DDR soll ein Verantwortlicher zu einem jungen Autor sinngemäß gesagt haben: „Wir werden Ihre letztlich staatsfeindlichen Gedichte drucken, es genügt uns, daß Sie sie überhaupt vorgelegt haben und daß sie unser Druckgenehmigungsverfahren anerkennen“. Der Staatsfeind von des Staates Gnaden stand am Endpunkt der grotesken Selbstzerstörung. Noch heute -in der Rückschau -setzt sich die einst praktizierte Ungerechtigkeit notgedrungen fort. Die Rede kann nur von jenen Autorinnen und Autoren sein, deren Werke von den Verlagen akzeptiert und dem Literatur-Hauptamt vorgelegt worden sind. Nur der Umgang mit ihnen und ihrem Werk wurde aktenkundig. Wer im Vorfeld verstoßen wurde, mußte damit rechnen, als Hochstapler oder Asozialer behandelt zu werden, dem gar nicht zustand, sich Schriftsteller zu nennen

Horst Drescher, Jahrgang 1929, als junger Mann gefördert, Student der Arbeiter-und Bauernfakultät, zog sich zurück in die innere Emigration, als er sah, daß seine Wahrheiten nichts gelten durften. Da betrieb er lieber mit seiner Frau eine Blumen-und Kranzbinderei auf dem Leipziger Südfriedhof. Eine solche Entscheidung mußte provokatorisch wirken auf alle, die sich mehr oder weniger arrangierten. „Immer dann, wenn mir ein Künstler allzu lautstark verkündet, daß er völlig ohne Netz arbeite und daß man das ja gehörig mit Bewunderung und Vertrauen honorieren möge, immer dann kommt mir der Verdacht, daß der Künstler an einem feinen Seil hängt, an einem feinen Seil, das hoch oben über Rollen hinter die Kulissen führt.“

Diese Beobachtung findet sich in Dreschers erstem Buch, einer Sammlung mit ausgewählten Notizen aus den Jahren 1969 bis 1986. Es durfte, nochunvollständig genug, 1987 erscheinen, da war der Verfasser 58 Jahre alt. Das feine Seil läßt sich auch vergessen, und die lange Leine drückt erst ins Fleisch, wenn man zu hastig zu weit läuft. So gibt es viele wahre Geschichten und Anekdoten, wie der Zensur allerlei Schnippchen geschlagen werden konnten. Der kleine Schreiber konnte den gewaltigen Apparat auch einmal hereinlegen. Erich Loest berichtet, wie aus seinem mißtrauisch beäugten Knastroman „Schattenboxen“ das Reiz-wort Bautzen, der Name der Haftanstalt, entfernt werden sollte. Er überließ die saure Arbeit der befreundeten Lektorin. Beim Lesen der Korrekturfahnen bemerkte er, daß der Ort Bautzen zweimal stehengeblieben war. Versehen oder Absicht, wer konnte es wissen? Loest schrieb den schlimmen Namen nunmehr noch zweimal hinein, und niemand merkte etwas

Unter Lyrikern war es üblich, ein paar hochprovokative Texte mitzuliefern, die aller Voraussicht nach die Hürden nicht würden nehmen können, damit Aufmerksamkeit absorbiert wurde. Innerhalb von Romanen fügten die Autoren, um Luft zu gewinnen, hier und da zehn Zeilen ein, die zunächst beruhigen sollten, die aber in einem späteren Arbeitsgang dann leise wieder gestrichen werden konnten, als letztlich doch angeklebt und unpassend wirkende, entbehrliche Zusätze. Ob die Tricks nun als Provokation oder zur zeitweiligen Ruhigstellung der Aufpasser gedacht waren, sie erinnern an das Modell „kleines weißes Hündchen“, das der kommunistische türkische Dichter Nazim Hikmet schon Anfang der fünfziger Jahre erfand. Bevor die Kommission zur Begutachtung kam, malte der Künstler ein weißes Hündchen zusätzlich auf die Leinwand. „Dann kommt die Jury. Ohne weißes Hündchen würde es nun sofort losgehen: , Aber, aber, Kollege Künstler! Solche Menschen gibt es nicht! Wo bleibt die Perspektive, die Lebensfreude, überhaupt das Schöne? ... So aber stolpern alle nur über das weiße Hündchen. Was soll denn nur dieses weiße Hündchen auf dem Schornstein da bedeuten? ... Nach einer Stunde erbitterten Ringens sage ich: , Ich gebe zu, das weiße Hündchen ist -na, also, ich werde es etwas kleiner malen! 4 Nach zwei Stunden: , Mir scheint jetzt auch, das weiße Hündchen ist ein Fehler. Ich werde ein ganz kleines Hündchen in Grau daraus machen! 4 Nach drei Stunden schließlich: , Gut, ihr habt mich überzeugt, ich lasse das Hündchen weg. 4 Daraufhin wird mein Bild ohne weitere Diskussion angenommen. "

VI. Stilbildende Wirkungen von Zensur

Auch die Literaten ließen ihre weißen Hündchen von der Leine. Zur gelenkten Literatur gehört die abgelenkte Zensur. Aber die vielen humoristisch gefärbten Anekdoten darüber wirken heute oft begütigend -harmlos. Sie verkleistern die Sicht auf die eklatanten Schäden, die Zensur angerichtet hat. Zu ihren gefährlichsten Folgen gehört die Lähmung des Autors, der wie das Kaninchen die Schlange Zensur beäugte. Günter Kunert hat diese zerstörerische Ablenkung von den ureigenen kreativen Möglichkeiten beschrieben: „Bevor der Autor zu sich selber kommen kann, zu jener notwendigen Selbsterforschung, aus der er die Themen und Masken seiner Texte bezieht, lenkt ihn die Zensur von sich selber ab. Sie hockt als unsichtbares Gespenst auf seiner Schulter, ein dem Schlaf der Vernunft in die Realität entwichenes Ungeheuer, und verlangt von ihm Zuwendung, Auseinandersetzung, den inneren Dialog mit ihr.“

Sowjetische Schriftsteller haben solche Sachverhalte radikaler benannt als die in der DDR verbliebenen Autoren, die sich bisher vor allem in der ausweglosen Mechanik von Anklage und Rechtfertigung verfangen. Was Wiktor Jerofejew in seinem Abgesang „Letztes Geleit für die Sowjetliteratur“ über die „liberale Literatur“ seines Landes schrieb, dürfte auch für den reformsozialistischen Hauptstrom der in der DDR entstandenen Bücher gelten: „Die grundlegende Absicht der liberalen Literatur bestand in dem Wunsch, soviel Wahrheit wie möglich auszusprechen, im Widerstand gegen die Zensur, die diese Wahrheit nicht genehmigte. Auf diese Weise übte die Zensur einen formbildenden Einfluß aus: Durch den Kampf mit ihr pervertierte sie die liberale Literatur und impfte ihr den Hang zu penetranten Anspielungen ein, doch die Zensur pervertierte auch die Leser, die jedesmal in Begeisterung verfielen, wenn sie beimSchriftsteller ein verstecktes , Nasedrehen 1 vermuteten. Der Schriftsteller begann, sich aufs , Nase-drehen 1 zu spezialisieren, und verlernte das Denken...“

Solange der Druck erlebt und erlitten wurde, verschaffte das „Nasedrehen“ Entlastung und Erleichterung. Die Leser, immer auf der Suche nach frechen und aufmüpfigen Stellen, beteiligten sich an der Aufdeckung und Entschlüsselung eifrig und enthusiastisch und freuten sich über die Mutproben und Anspielungen, ohne dadurch aus einer passiven Rezeptionshaltung gerissen zu werden. Es wird immer Ansichtssache bleiben und nie objektiv geklärt werden können, ob die kritische Literatur in der DDR insgesamt eine eher stabilisierende Funktion erfüllt hat, im Sinne eines Ventils, das Druck abbaute, oder ob sie eher dazu beitrug, die Ordnung zu schwächen und aufzulösen. Die Wirkungen von Literatur sollten weder in der einen noch in der anderen Richtung überschätzt werden. Sicher ist wohl, daß die Faxenmacherei nach dem Zusammenbruch der Diktatur weniger glanzvoll aussieht als zu ihren Lebzeiten. Auch dies hat der hellsichtige Horst Drescher frühzeitig bemerkt: „Die Faxenmacher in der Kunst haben ihre besten Zeiten, wenn die Faxenmacherei behördlicherseits streng untersagt ist. Wird das Faxenmachen in der Kunst nicht mehr untersagt, wird es gar ausdrücklich erlaubt behördlicherseits, dann gibts sehr schnell ernste Gesichter. Denn nun sind die Faxenmacher in der Kunst nur noch, was sie sind.“

Günter de Bruyn hat sich in seinem Essay „Unparteiische Gedanken über die Zensur“ gegen die nicht totzukriegende Sage gewandt, die Zensur habe einen günstigen Einfluß auf die Schreibweisen. Auch ein künftiger Forscher werde keinen Beweis für eine durch die Zensur bewirkte Hoch-blüte der Ironie finden, sagt de Bruyn und schiebt dann -wohl doch etwas unsicher -ein merkwürdig pädagogisches Argument nach: „Und wenn er diesen Beweis gegen alle Erwartung noch zu finden glaubte, müßte er ihn aus moralischen Gründen unterschlagen, um der Sinnlosigkeit nicht auf diese Weise Sinn zu unterschieben. Zensur darf nicht stilbildend sein.“ Wenn sie es nun aber doch wäre? Nicht durch einen Gewinn an Subtilität, sondern durch die Steifheit des Drumherumredens? Oder durch das simple Spiel mit der niedrigen Wirkungsgrenze? Wenn der Dichter nur bimbim sagt, klingt es unter den Bedingungen der Zensur wie bum-bum. Kluge Kabarettisten haben es in der DDR beklagt, daß geistvolle Geschliffenheit gar nicht gefragt war, weil in einem Lande ohne Medienöffentlichkeit die bloße Nennung von Tabuworten ausreichte, um grelle Lacher zu erzeugen.

Auch unter den Zensoren gab es Faxenmacher; die Akten des Kulturministeriums eröffnen dem unvoreingenommenen Betrachter einen Abgrund von Komik. Germanisten werden sich in Ruhe damit beschäftigen, ursprüngliche und mit Hilfe der Zensur aufbereitete Fassungen zu vergleichen. Viele Rätsel werden dabei ungelöst bleiben. Was zum Beispiel hatte die Behörde gewonnen, wenn sie sich -zum Exempel -gegen die Diskriminierung der Beamten im Strafvollzug wandte, wie sie in der Aussage eines Häftlings, „sie waren wie Tiere“, zum Ausdruck kommt, sich aber dann damit zufrieden gab, daß der Autor von „Horns Ende“, Christoph Hein, daraus „sie waren brutal“ machte?

Günter de Bruyn hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Dummköpfe im Zensurbüro die gefährliche Konterbande nicht erkennen, die Kenner jedoch als Liebhaber der Literatur womöglich nicht mit der nötigen Härte zuschlagen. Der ideale Zensor sei folglich schwer zu finden. Aber der elitäre Freund der Künste im Aufsichtsamt genießt ja schon die freie Lektüre. Was kann es ihm ausmachen, das gemeine Volk vor Schädlichem zu schützen? Als dem Schriftsteller Boris Djacenko, einem in der DDR lebenden Letten, der zweite Teil seines Romans „Herz und Asche“ verboten worden war, lud ihn der Zensor zu einem privaten Gespräch. Heiner Müller nahm den Vorfall zum Anlaß für einen Textmonolog des unterdrückten Autors: „Und der beamtete Leser zeigte mir stolz das verbotne Typoskript in kostbares leder gebunden SO LIEBE ICH DEIN BUCH DAS ICH VERBIETEN MUSSTE IM INTERESSE DU WEISST ES UNSERER GEMEINSAMEN SACHE In der Zukunft sagte Boris Djacenko werden die verbotnen Bücher gebunden werden IM INTERESSE DU WEISST ES UNSERER GEMEINSAMEN SACHE In Leder gegerbt aus den Häuten der Schreiber Halten wir unsere Häute intakt sagte Boris Djacenko Damit unsre Bücher in haltbarem Einband Überdauern die Zeit der beamteten Leser.“

Das geschah in den harten fünfziger Jahren, und ein Trick, wie ihn sich Uwe Kolbe 1981 ausdachte, um die Zensur hereinzulegen, hätte damals lebensbedrohende Folgen gehabt. (Die gravierenden Unterschiede im jeweiligen Grad der Repression müßte eine differenziert historische Betrachtung immer im Blick behalten. Mir kam es mehr auf die Typologie im Wechselspiel zwischen Zensur und Selbstzensur an.) Kolbe lieferte für eine Anthologie einen in fünf Abschnitte gegliederten und nur aus aneinandergereihten Substantiven bestehenden Text mit dem Titel „Kem meines Romans“. Niemand im Mitteldeutschen Verlag und im Berliner Literaturamt konnte ahnen, daß die Anfangsbuchstaben hintereinander gelesen eine äußerst unangenehme konterrevolutionäre Losung ergaben: „Eure Maße sind elend.

Euren Forderungen genügen Schleimer.

Eure ehemals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch.

Eurem Heldentum den Opfern widme ich einen Orgasmus.

Euch mächtige Greise zerfetze die tägliche Revolution.“

Sinn machte die Unternehmung freilich nur, wenn der Autor unter der Hand eine Anleitung zur Auflösung des Rätsels unter die Leute brachte. Der heimliche Triumph in der einsamen Poeten-stube konnte nicht genügen. Damit freilich erfuhr auch die Staatsmacht von der unwissend verbreiteten Konterbande.

VII. Zensur war innerhalb des Systems nicht abschaffbar

Die radikale Verfluchung des Politbüros hatte ein knappes Jahrzehnt danach sogar Erfolg; Hexenmeister Kolbe erlebte eine destruktive Langzeit-wirkung seines riskanten Scherzes. Mit solcher Unbefangenheit konnte nur ein in die DDR Hin-eingeborener reden -Kolbe war damals Anfang zwanzig. Die Schriftsteller der älteren und mittleren Generation mühten sich hingegen noch am Ende der achtziger Jahre, die Zensur innerhalb des Systems abzuschaffen oder wenigstens zu reformieren. Das war nötig und verdienstvoll, aber auch halbherzig und aussichtslos. Christoph Heins auf dem Schriftstellerkongreß des Jahres 1987 gehaltene Rede gegen die Zensur, die er überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar nannte, bleibt eine unvergeßliche, bravouröse rhetorische und kulturpolitische Tat. Gleichwohl hätten die von ihm idealisierten staatlich eingesetzten und also abhängigen Verlagsleiter die eigentlich gewünschte freie Literaturproduktion nicht gewährleisten können. Noch stärker als vorher wäre die Kontrolle auf die Schreibtische der Lektoren verlagert worden.

Die Überwachung der übrigen Medien von der Presse bis zum Fernsehen erfolgte ja schon vorwiegend über eine straffe Kaderpolitik. Die Interventionen gegen das System der Zensur waren dennoch wichtig und mutig. Diese Vorstöße der Autoren zeigten indirekt, daß der ideologische und machtpolitische Verfall in der DDR und in der „realsozialistischen Staatengemeinschaft“ insgesamt in Wahrheit schon viel weiter fortgeschritten war, als viele wußten oder wissen wollten. Auch die Zensur konnte erst verschwinden mit dem Staat, dem sie notwendigerweise zugehörte, der ihrer immer bedurft hatte und der ihrer immer bedurft hätte.

Es versteht sich, daß trotz der geschilderten kulturpolitischen Bedingungen in der DDR bedeutende Werke entstanden sind, die aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte nicht wegzudenken sind und auch künftig gelesen werden. Vielleicht läßt sich der Autor aus der DDR mit dem sprichwörtlichen Frosch im Milchfaß vergleichen, der sich durch Strampeln aufs Trockene retten konnte und dabei auch ein brauchbares Produkt herstellte. Zweierlei darf dabei freilich nicht vergessen werden: Mancher, dem die Kräfte dabei erlahmten, ist untergegangen, und es gibt andere, einfachere Methoden, Butter herzustellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Horst Drescher, Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969— 1986, Berlin-Weimar 1987, S. 85. Eine um fast 100 Seiten erweiterte Neuausgabe erschien 1990, ebenfalls im Aufbau-Verlag.

  2. Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin-Weimar 1990, S. 324.

  3. Emst Wichner/Herbert Wiesner (Hrsg.), Ausstellungsbuch Zensur in der DDR, Literaturhaus Berlin 1991, S. 112.

  4. Franz Fühmann, Essays-Gespräche-Aufsätze, Rostock 1983, S. 489.

  5. Marianne Oy, in: Weimarer Beiträge, 34 (1988) 6, S. 1029.

  6. Christa Wolf, Die Dimension des Autors II, Berlin-Wei-mar 1986, S. 271.

  7. Dies., Kann man eigentlich über alles schreiben?, in: Neue Deutsche Literatur, 6 (1958) 6, S. 3 ff.

  8. Max Walter Schulz, Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur, in: VI. Deutscher Schriftstellerkongreß 1969, Protokoll, Berlin-Weimar 1969, S. 56.

  9. Vgl. Andrea Jäger, Schriftsteller-Identität und Zensur, in: Text und Kritik, Sonderband Literatur in der DDR, München 1991, S. 137-148.

  10. Christa Wolf, Kassandra, Darmstadt-Neuwied 1983, S. 117.

  11. Eine solche Ausnahme stellt Christoph Heins Roman „Homs Ende“ dar. Im Lektorat des Aufbau-Verlags wurde die Gleichsetzung von Justiz und Strafvollzug der fünfziger Jahre mit der Nazizeit als unhaltbar betrachtet. Vgl. E. Wichner/M. Wiesner (Anm. 3), S. 103.

  12. Reiner Kunze, Zimmerlautstärke, Frankfurt a. M. 1972, S. 38.

  13. Zit. nach Gerhard Schneider (Hrsg.), Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk, Berlin-Weimar 1974, S. 142f.

  14. E. Wichner/H. Wiesner (Anm. 3), S. 182.

  15. Ebd., S. 148.

  16. Erich Loest, Der vierte Zensor, Köln 1984, S. 9.

  17. Erwin Strittmatter, Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern, Berlin-Weimar 1990, S. 59.

  18. Ebd., s. 95.

  19. Ebd., S. 232.

  20. Ebd., S. 155.

  21. Subjektiv verstanden sich auch manche Angestellte der Zensurbehörde als Beschützer der Literaten, die sie vor Dummheiten und Bedrohungen aus dem SED-Zentralkomitee bewahren wollten. Vgl. Robert Darnton, Aus der Sicht des Zensors, in: Lettre International, Heft 10, Herbst 1990, S. 6-9.

  22. Anhang zu Volker Braun, Hinze-Kunze-Roman, Halle-Leipzig 1985, S. 197-223. In einem Gespräch, das Dieter Schlenstedt mit Frauke Meyer-Gosau unter den Stichworten „Integration-Loyalität-Anpassung“ führte, räumt er inzwischen ein, daß in seiner Anrufung des zuständigen, mündigen Lesers Idealisierung, „Projektionen von Erwünschtem“, steckten. Vgl. Text und Kritik (Anm. 9), S. 169-183.

  23. R. Kunze (Anm. 12), S. 40.

  24. Lutz Rathenow stellte am 19. November 1990 Strafanzeige gegen den seinerzeitigen „Bücherminister“ Klaus Höpcke. Vgl. in: Andreas W. Mytze (Hrsg.), Europäische Ideen, (1991) 76, S. 19-24.

  25. H. Drescher (Anm. 1), S. 57.

  26. Vgl. Erich Loest, Der Zorn des Schafes, Künzelsau-Leipzig 1990, S. 60.

  27. Nazim Hikmet, Hat es Iwan Iwanowitsch überhaupt gegeben?, Bühnenmanuskript, Berlin o. J., zit. nach: Erich Brehm, Die erfrischende Trompete, Berlin/DDR 1960, S. lOOf.

  28. Günter Kunert, Das Gespenst auf der Schulter, in Die Zeit, Nr. 21 vom 17. Mai 1991, S. 53 f.

  29. Kopfbahnhof Almanach 2: Das falsche Dasein. Sowjetische Kultur im Umbruch, Leipzig 1990, S. 52-65, Zitat S. 62.

  30. H. Drescher (Anm. 1), S. 119.

  31. Günter de Bruyn, Nachwort zu: Heinrich Hubert Houben, Hier Zensur -wer dort? -Der gefesselte Biedermeier, Leipzig 1990, S. 474.

  32. Heiner Müller, Kulturpolitik nach Boris Djacenko, in: Neue Rundschau, 101 (1990) 2, S. 101.

  33. Zit. nach Brigitte Böttcher (Hrsg.), Bestandsaufnahme 2, Halle-Leipzig 1981, S. 82f.

Weitere Inhalte

Manfred Jäger, geb. 1934; freier Publizist in Münster. Veröffentlichungen u. a.: Sozialliteraten. Funktion und Selbstverständnis der Schriftsteller in der DDR, Opladen 1973; (zus. mit E. Schütz und J. Vogt) Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Opladen 1977/80; Kultur und Politik in der DDR, Köln 1982; zahlreiche Aufsätze und Rundfunk-beiträge zu kulturpolitischen und literaturwissenschaftlichen Themen.