I. Einwände
Wir leben in einer Zeit schnell wechselnder Urteile. Vormals war es ein Gesprächsspiel, wenn man über den Bestand der DDR-Literatur hin und wieder diskutierte. Man konnte natürlich fragen, ob sie Teil einer einheitlichen deutschen Literatur sei oder nicht. Gelegentlich wurde sie als sich selbst unter Schmerzen hervorbringende sozialistische Literatur in Deutschland bestimmt, ein andermal wurde ihre Geschichte als die der Unterdrückung einer solchen Bestimmung bewertet. Es wurde auch vorgeschlagen, sie als Regionalliteratur, Kind der Provinz, inmitten der Moderne, zu beschreiben. Das alles aus der Außenperspektive. In der DDR selbst ist die Literatur nominalistisch als Beweis ihrer eigenen Existenz genommen worden. Das heißt, der Titel statuierte einen Besitzstand der DDR. Ob der zugehörige Textkorpus dieser attributiven Zuordnung entsprach, spielte dabei keine Rolle, ebensowenig wie der Umstand der teilweise schnellen Veränderungen dessen, was unter dem Namen DDR-Literatur gefaßt worden ist.
Aber an der Existenz der DDR-Literatur zweifelte niemand. Es galt nicht als diskriminierend für einen Autor, wenn er dazu gerechnet wurde. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, den Abdruck einiger später Gedichte Bertolt Brechts in einer Anthologie mit DDR-Lyrik zu untersagen, während es heute ein Verlag für tunlich im Interesse seines Ansehens hält, sein Veto gegen ihren Abdruck einzulegen. So als wäre das Gedicht „An meine Landsleute“ nicht „Wilhelm Pieck, dem Präsidenten des ersten deutschen Arbeiter-und Bauernstaates" gewidmet
Zweifellos kann man streiten, ob die Literatur, die bis Ende der fünfziger Jahre in der SBZ und DDR geschrieben worden ist, als DDR-Literatur angesehen werden kann. Gerade die bedeutenderen Autoren und Texte, in der Lyrik zum Beispiel, wurzeln in der Literatur der zwanziger Jahre oder beziehen ihren ästhetischen Standard aus der europäischen Moderne. Dagegen fallen die Versuche, Traditionen der proletarisch-revolutionären Literatur wiederaufzunehmen, unglücklich aus. Verlängerungen von Schreibkonzepten des Exils führen nicht selten zu Abschwächungen. Jene Literatur aber, die auf die kulturpolitischen Anforderungen antwortet, ganz gleich, ob diese nun ideologisch oder aber alltagsweltlich vermittelt sind, dürfte zu Recht weitgehend vergessen worden sein. Sie war pragmatisch konzipiert, ihre Inhalte waren moralisch-didaktisch und ihre Autoren hilflos, weil mit der Konstruktion eines hypothetischen Lesers umgehend, die die Einstellungen und Voraussetzungen des ostdeutschen Publikums nicht tangierte.
Diese Schichtung in der Literatur, die in der DDR begann, ist seinerzeit bis in die späten fünfziger Jahre hinein registriert worden. Die Rezensenten und Publizisten solcher Zeitschriften wie dem „Sonntag“ und der „Neuen Deutschen Literatur“ bemerkten immer wieder, daß die Literatur, die das „neue Leben“ gestalte, leider epigonal und zweitrangig sei, bis zwischen 1957 und 1959 die Kunstkritik verboten wurde. Peter Hüchel, Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, demonstrierte durch sein Auswahlprinzip, daß er dem so beschaffenen Neuen die Anerkennung verweigerte. Er mußte 1962 sein Amt aufgeben. Die ganze, das literarische Leben in der DDR bewegende Diskussion fand 1956 ihren Höhepunkt in einer Äußerung des Leipziger Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, der in einem Vortrag formulierte, Höhe und Opulenz der Literatur der zwanziger Jahre seien nicht mehr zu erreichen Das erregte allen erdenklichen Widerspruch, weil es dem Paradigma von der generellen Überlegenheit der sich ausbildenden neuen Gesellschaft zuwiderlief
Die Auffassung, daß die DDR-Literatur sich erst seit dem Ende des ersten Jahrzehnts (um 1959) ausgebildet habe, vertreten Literaturwissenschaft- ler aus der DDR seit längerem; unter anderem ist sie Dieter Schlenstedts „Wirkungsästhetischen Analysen“ eingeschrieben. Auf die Anlage der beiden literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellungen, die in der DDR verfaßt worden sind, hatte das allerdings keinen Einfluß Als repräsentative Literaturgeschichten waren sie strengen Normen unterworfen, und es wurde kontrolliert, ob sie Verteilungskämpfe um Einflußsphären und symbolisches Kapital respektierten. Denn sie wurden als Bestandteil der Geschichtsschreibung angesehen. Welche Prozeduren dabei abliefen, ist von Stefan Heym im „König David Bericht“ (erschienen 1972) zwar satirisch, aber kaum überspitzt, beschrieben worden. Es geht natürlich nicht um Periodisierungsfragen. Mit den sechziger Jahren verbindet sich eine als Generationsaufbruch verstandene literarische Bewegung, die mit dem Anspruch auf Mitbestimmung ein Modell basisdemokratischer Kommunikation über Gestaltung und Umgestaltung der Gesellschaft entwarf. Unverkennbar kehrten diese Ideen der sechziger Jahre noch einmal wieder an den „Runden Tischen“ und in den Anhörungskommissionen von 1989/90, an denen so viele Schriftsteller sich beteiligten, wohl weil ihnen die „Träume ihrer Jugend“ wiederbegegneten. Doch gilt auch das Gegenteil; die kurze Blüte der Basisdemokratie zeigte, daß nicht bei den Schriftstellern allein im Verborgenen das Wunschbild einer Gesellschaft fortlebte, die sich in freier Assoziation zu organisieren vermag, so daß dem Staatsapparat die Entscheidungsbefugnis zugunsten der Mehrheit entzogen und er selbst durch eine kluge Verwaltung ersetzt werden kann. „Es war“, mit Heine zu sprechen, „ein Traum“.
Belletristik als Mangelware trotz hoher Auflagen, leidenschaftliche Gespräche der Leser nicht über Romane, sondern über deren Figuren (!), überfüllte Säle bei Lesungen -sogar wenn es sich um Lyrik handelte -, der Satz von der Unentbehrlichkeit der Literatur ging leicht von den Lippen. Seinerzeit lautete die interne, inzwischen gängige Erklärung, daß die schöne Literatur die fehlende Öffentlichkeit ersetzt habe.
Bücher wie Christoph Heins „Der fremde Freund“ (ursprünglich: „Drachenblut“), oder Christa Wolfs „Kassandra“ haben wohl auch tatsächlich so gewirkt. Insgesamt sind solche Erklärungen jedoch impressionistisch. Erst Untersuchungen des Subsystems . Literatur* innerhalb des Gesellschaftssystems -und möglichst auf empirischer Basis -können Aussagen liefern. Dagegen versperrt die Formel von der „kritisch-konformen“ Literatur, die die frühere vom Medienersatz abgelöst hat, den Zugang zum Verständnis. Denn sie besagt, streng genommen, daß die Literatur der DDR nicht als das hätte existieren dürfen, was sie war. Das wiederum kommt einer Verstoßung gleich, weil damit die zentrale Funktion der modernen Literatur seit der Aufklärung, ihr Wirken auf die Freisetzung emanzipatorischer Ansprüche hin, in Abrede gestellt wird. Der Vorwurf der Konformität, mag er auch mit dem Zusatz , kritisch* versehen sein, macht der DDR-Literatur den Status eines universell kritischen Systems streitig, den die Literatur in der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft hat. Träfe die Charakteristik zu, wäre die Literatur der DDR durch eine pragmatische Bestimmung gezeichnet, geeignet, Verhaltensnormen zu stabilisieren, wie es etwa die Lustspiele Christian F. Gellerts oder die Arbeiterdichtung des 19. Jahrhunderts zum Ziele hatten. In diesem Falle wäre sie allerdings nicht nur künftig überflüssig, sondern sie müßte untergehen, nachdem die Gesellschaftsordnung, der sie zugehörte, nicht mehr besteht. Was allenfalls überdauern dürfte, wären ein paar Texte, die infolge eines ästhetischen Überschusses oder -wie die Literaturkritik sagen würde -wegen ihrer „literarischen Qualitäten“ über die provinziell pragmatische Funktion hinausreichen, denen man also ihre frühere Zugehörigkeit zur DDR-Literatur nicht anmerkt.
Zweifellos werden Urteile und Ansichten über DDR-Literatur, auch über einzelne Autoren, den veränderten machtpolitischen Gegebenheiten und kulturellen Wertigkeiten angepaßt werden. Symbolische Repräsentanz, die vordem schlechthin respektiert, also nicht befragt wurde, ist hinfällig geworden; und keiner weiß, wie der Anschluß eines literarischen Feldes an ein bestehendes, prädisponiertes vor sich gehen sollte. Aber im tatsächlichen Prozeß zeigt sich ein alter Mangel der politischen Kultur, wenn die Voraussetzungen des Anderen, in diesem Falle die eines anderen Habitus des Schriftstellers, nicht kritisch kontrovers erwogen, sondern annulliert werden. Dann wird zu einem Komplott mit der Macht, was unter den Bedingungen der DDR der Versuch war, sich ein Anrecht auf Mitsprache offen zu halten.
II. „Königsadressen“
Als Bettina von Arnim eine Schrift über die Mißstände in Preußen unter die Überschrift „Dieses Buch gehört dem König“ (1843) setzte, durfte sie sich durch das angestammte Recht des Adels, beim König in Angelegenheiten des Staates vorstellig zu werden, legitimiert fühlen. Natürlich war ihre Idee, das Privileg des Aristokraten für das soziale Anliegen einer Schriftstellerin in Anspruch zu nehmen, ein wenig listig und ganz und gar durchdrungen von romantischem Geist. Zum Adel war sie erst durch Heirat gekommen, die Hoffnungen auf die Wirkungsmacht des Wortes und die Mission des Poetischen dürften dagegen in der Luft ihrer rheinischen Heimat gelegen haben. Gerade die Mischung der Motive ergibt beinahe ein Modell des Selbstverständnisses und der Beziehung zur politischen Führung, die nicht wenige DDR-Schriftsteller im Jahre 1976 zu einer Appellation an das Politbüro der SED veranlaßte, in der sie vor den Folgen der Ausweisung von Wolf Biermann warnten und ihr Anliegen mit einem Text von Karl Marx bekräftigten, in dem die rücksichtslose Selbstkritik als eigentlicher Kraftquell sozialistischer Revolutionen bezeichnet wird. Der Wortlaut der Erklärung vom 17. November 1976: „Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter -das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens’ , 18. Brumaire 1, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.“
Erstunterzeichner des Protestes waren Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf, Jurek Becker und Erich Arendt
Nun hätten die Verfasser und Subskribenten, fast alle namhafte Autoren, eigentlich wissen können, daß an der Güte der Argumente nichts gelegen war. Seit dem ZK-Plenum der SED über den Formalismus von 1951 war klar, daß historische oder ästhetische Begründungen gegen kulturpolitische Beschlüsse, deren Wortlaut stets im voraus feststand, nichts vermochten. Brecht ging zu jenem Plenum, obwohl geladen, gar nicht erst hin; während Arnold Zweig mit seinem Versuch, für die Qualitäten der Brecht/Dessau-Oper „Das Verhör des Lukullus“ (1951) gute Worte einzulegen, nichts ausrichtete
Seitdem hatte es viele Gelegenheiten, nicht zuletzt das 11. Plenum des ZK der SED im Herbst 1965, gegeben, bei denen zu lernen war, daß die Sprache der Maßnahmen von einem ebenso zielstrebigen wie rücksichtslosen Pragmatismus diktiert wurde. Auch waren einige der Beteiligten selbst der Parteiführung nahe genug gewesen, um zu wissen, daß auf politische Spannungen reagiert wurde oder Machtverhältnisse sich umschichteten, wenn Direktiven zur Kultur erlassen wurden.
Trotzdem waren die Schriftsteller sich 1976 in höchstem Grade treu, als sie sich nicht auf praktische Erwägungen einließen, sondern auf die Geschichtsphilosophie von Marx beriefen. Das feierliche Wort aus dem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ diente auch nicht als Autoritätsbeweis oder gar als Devotionsgeste. Vielmehr verschaffte es ihrem Schreiben das Pathos, das für den Status des Manifests unerläßlich war. Man findet es schon ausgeprägt in einem „Brief an den Kulturminister“ in dem Franz Fühmann nach der ersten Bitterfelder Konferenz (1959) beteuert, daß es Aufrichtigkeit sei, die ihn hindere, dem Auftrag zur Darstellung des Arbeiterlebens nachzukommen, der damals an alle Schriftsteller ergangen war. Stephan Hermlin intervenierte ebenso uneigennützig und mit seiner Persönlichkeit; die „Erste Berliner Begegnung zur Friedensförderung (Dezember 1981), ein damals unerhörtes Ereignis, war ein Ergebnis. Wie es zuging, wenn Schriftsteller von Politbüromitgliedern empfangen wurden, das Gespräch also doch wohl suchten, hat VolkerBraun in seinem Gedicht „Empfang“ beschrieben
„Empfang Er empfängt mich früh um zehn In seinem fast leeren Raum. Er begrüßt mich Wie einen alten Bekannten. Er ermuntert mich Durch sein Beispiel und seine enormen Sessel Die gewohnte militärische Ordnung meines Körpers Aufzulösen. Er lächelt zufrieden.
Er macht einige vertrauliche Bewegungen Auf meine Herzgegend zu, die mich locker machen.
Er sieht sich geduldig an, was mir auf den Nägeln brennt.
Er betrachtet interessiert meinen unförmigen Kopf Der mich am Reden hindert Und will veranlassen, daß mir die Pommersche Mütze Abgenommen wird und die Spanischen Stiefel Die ich höflich unter dem Tisch Verborgen hielt. Ich deute aus dem Fenster Auf die verwickelten Gänge des Lebens, wo sich Meine Hoffnung verlaufen hat. Er bewegt nur Das Kinn, und sie findet sich wieder ein.
Er beschließt in einem Satz von circa zehn Worten Eh ich mich entschließe auszuatmen Meine Angelegenheiten in den verrotteten Städten Zu regeln. Verstrickungen An Ort und Stelle unentwirrbar für einen wie mich Löst er mit einem Strich auf der Manschette.
Er nimmt mir alle Sorgen vom Ast Mit einem Kaffeelöffel, den er auf den Tisch haut. Als er mich hinausgeleitet, umarmt er mich.
Als ich auf die Straße trete, schrumpfe ich auf die Größe einer Maus.“
Daß auch in der folgenden Zeit noch immer auf die „Königsadressen“ gesetzt wurde, erklärt sich aus dem Ethos eines Gruppenbewußtseins, das sich selbst dynamisierte. Sein Bezugspunkt lag in der mehr als ein Jahrzehnt andauernden Ambivalenz von zugewiesener und akzeptierter Funktion der Literatur in der DDR und dem Kodex, den die Autorinnen und Autoren in den Freundeskreisen und Gruppen pflegten, die seit den sechziger Jahren immer wieder entstanden. Er war eine Reaktion auf den Gesamtzustand der politischen Kultur in der DDR und auf die üblichen Formen der Konfliktaustragung, denen er entgegengesetzt wurde. Vor dem Jahre 1976 waren Schriftsteller der DDR in ihrer Selbstinterpretation zuständig für das soziale, mentale, kulturelle Fortkommen der gesamten DDR-Gesellschaft. Dabei wurde immer vorausgesetzt, daß diese von ihrem gegenwärtigen Zustand fortkommen müsse, um tatsächlich eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Deutschland zu werden, aber eben auch geglaubt, daß diese Perspektive einigermaßen gewiß sei. Wer dablieb, befand damit, er sei zuständig, und zwar besonders für die Einlösung eines Versprechens, das eigentlich nie gegeben worden war, das aber über fünfundzwanzig Jahre hinweg der DDR einen, wie sich dann herausstellte, geborgten Glanz verliehen hatte; gemeint ist die sittliche Gemeinschaft, in der die geistige Erbschaft der Arbeiterbewegung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit usf., mit dem klassisch-frühbürgerlichen Postulat der Subjektwerdung (Selbstverwirklichung usf.) verschmelzen sollte.
Mit ihren Appellen an die politische Führung vergewisserten sich die Schriftsteller einer Identität, die sie durch ihr Handeln selbst aufstellten, in dem sie sich als Anwälte für eine sprachlose Mehrheit verstanden.
Die Faszination nicht der Macht, aber des Kontakts zur Macht hat ihre eigenen Konfigurationen hervorgebracht. Eine Aufwertung der Bedeutung ihrer Träger blieb nicht aus in jenen Texten, die auf den oberen Ebenen spielen. Dazu gehören Franz Fühmanns Erzählung „Drei nackte Männer“, das Duo Hinze und Kunze in Volker Brauns gleichnamigem Roman, vor allem Christa Wolfs „Kassandra“, deren Krise der Desillusionierung sich nicht zuletzt als Abtrennung der Lieblings-tochter vom Vater (!) darstellt. Sogar Heiner Müller hat, erstaunlich spät noch, bekannt gemacht, daß der Staat als Widerspruch zur kommunistischen Utopie deren unabdingbarer Bestandteil sei und darin nach wie vor Konstellationen von weltgeschichtlicher Tragik liegen. In „Wolokolamsker Chaussee“ geschrieben als Vorspiel zu einer Inszenierung von Johannes R. Bechers „Winterschlacht“ (1985), ist das Prinzip des Staates die einzige Rettung vor dem Ansturm der Barbarei. In vier weiteren Texten unter demselben Titel werden Entscheidungskonflikte von Angehörigen der Führungseliten im Sozialismus ausgetragen. Nur einer, der letzte Text, thematisiert die Machtfülle ingrotesken Figurationen.
III. Abgesänge
In dem kleinen Zyklus „Wiepersdorf“ (erschienen 1977 als Teil der Gedichtsammlung „Rückenwind“) hatte Sarah Kirsch das Moment der Naivität in den „Königsadressen“ schon ironisch behandelt:
„Dieser Abend, Bettina, es ist/Alles beim Alten. Immer/Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben/Denen des Herzens und jenen/Des Staats. Und noch/erschrickt unser Herz/Wenn auf der andern Seite des Hauses/Ein Wagen zu hören ist.“
Der Schluß enthüllt die intendierte Unmittelbarkeit der Botschaft in der Verbindung von Liebesbrief und Königsbrief als eine Selbsttäuschung, die der Staat, auf seine Weise, durch repressive Maßnahmen, beantwortet.
Revolutionärer Terror als Mittel des Klassenkampfes war immer ein Thema der sozialistischen Literatur; die Verarbeitung dieser Erfahrung lädierte nicht das Ansehen des Sozialismus; sie konnte durchaus auch zu dessen heroischer Erhöhung beitragen. Eine andere Sache war die allgemeine und alltägliche Anwendung des repressiven Instrumentariums, die an die Stelle der Austragung von Konflikten trat und tendenziell alle sozialen und kulturellen Bewegungen lahmlegte. Sie wurde zögernd zur Kenntnis genommen, vielleicht gerade weil sie unabweislich das Bild von der immer noch werdenden Gesellschaft beeinträchtigte und sich ganz und gar nicht in dieses integrieren ließ.
Volker Braun signalisierte mit der „Unvollendeten Geschichte“ (1975), in der zumindest im Pathos noch der Gestus des warnenden Appells anklingt, äußerste Gefahr, indem es hier die junge Generation ist, gleichsam das gesellschaftliche Innovationspotential, die ins Sicherheitsbedürfnis der Führungsschicht verwickelt, ausgesaugt und zerstört wird. Immer in Beziehung auf die Utopie der alternativen Gesellschaft, aber noch weitaus abweisender, haben dann Ulrich Plenzdorf mit dem Roman „Legende vom Glück ohne Ende“ (1979) und später Christoph Hein in zwei seiner Erzählungen, „Einladung zum Lever Bourgeois“ und „Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert“ (1980) die Beziehung zur Macht aller königlichen Züge entkleidet.
Besonders merkwürdig ist, daß alle, Kritiker und Publikum, am springenden Punkt vorbeilasen oder sich einig schienen, daß es lästige Alltagserscheinungen gebe, die hier verstohlen bezeichnet, nicht etwa angeklagt würden. Die Autoren dürften daher die Erfahrung mitgenommen haben, daß die Macht des Bestehenden, so unvernünftig es auch sein mag, den Wirklichkeitssinn der meisten Menschen diktiert.
Andererseits verlangte die Aufrechterhaltung der Utopie von den Schriftstellern selbst viel Wahrnehmungsselektion. So war der arge Widerspruch zu bewältigen, daß nicht alle Individuen, deren gemeinsame Zukunft die neue Gesellschaft sein sollte, freiwillig in dem Land lebten. Als Folge dieser Unvereinbarkeiten sind jene Empfindungen ständigen Leidens, unmäßiger Anstrengung und großer Kraftvergeudung anzusehen, über die fast alle Autoren geklagt haben. Trotz annehmbarer, zum Teil guter sozialer Positionen und einem hohen symbolischen Kapital, wird die schriftstellerische Existenz von ihren Trägern als ständige Krise, als Kampf mit der Sinnlosigkeit, als Balance am Rande der Möglichkeit angesehen. Das klingt oft so mutlos wie in Heinz Czechowskis Gedicht „An Friedrich Hölderlin“: „(...) So flüchtig/Gehn wir dahin/Mit unseren Magengeschwüren, /Den Depressionen/Die wir mit Lithium bekämpfen, und/Unserem waffenlosen Gedenken/An dich hoher Dichter.“
Damit ist ein Grundton der DDR-Literatur getroffen. Schon um 1970 beschrieb Volker Braun die Permanenz dieses Lebensgefühls in dem Zweizeiler: „Jeder Schritt, den ich noch tu, /reißt mich auf.“ Darum ist es auch akzeptiert worden, daß nicht jede oder jeder an diesem „unlebbaren Leben“ (Fühmann) festhalten, Rückschläge der Ernüchterung an sich erfahren und den zermürbenden Kampf mit der doppelt ausgestatteten Behörde -jede Stelle in der staatlichen Administration wurde durch eine im Parteiapparat verdoppelt -durchstehen mochte oder das überhaupt für sinnvoll hielt. (Nie habe ich gehört, daß ein Schriftsteller einen andern getadelt hätte, weil der es in der DDR nicht mehr ausgehalten hat.)
Im Falle der Ausweisung von Wolf Biermann war die Bedeutung der DDR-Literatur aufs Spiel ge-setzt. Obwohl es abzusehen gewesen wäre, daß die Adressaten weder das persönliche Format noch den politischen Handlungsspielraum zu einer Korrektur ihres Fehlers hatten, wirkte das Ergebnis wie ein Schlag. Die Skala der Reaktionen war breit; sie reichte vom plötzlichen Bruch mit der DDR über die endgültige Entscheidung nach lange sich anbahnenden Zweifeln bis zur lebhaft empfundenen Ohnmacht, dem Rückzug aus der Öffentlichkeit. Die Begleitumstände ihrer Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ (1979) beschreibend, spricht Christa Wolf von einer persönlichen Situation, die sie veranlaßt habe, „den Zusammenhang von gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur“ zu untersuchen. Die Antwort findet ihre Figur Kleist in der Erzählung in sich selbst: „Er dagegen, der Gedanke kommt ihm zum erstenmal, hat nicht in einem wirklichen Gemeinwesen, sondern in seiner Idee von einem Staat gelebt.“
Das trifft es wohl und korrespondiert mit einem Satz, der viel später, 1991, in einem völlig prosaischen Kontext, nämlich in einer Diskussionsrunde zum Thema „Erfahrung mit Zensur“ fiel. Ein Journalist fragte ungehalten, wie es denn käme, daß zensierte Schriftsteller und der zensierende ehemalige Minister miteinander über die kulturpolitischen Gepflogenheiten in der DDR plaudern könnten. Auf diese Intervention entgegnete Klaus Schlesinger, das werde der Frager „nie verstehen, und ich werde es Ihnen nie erklären können“
IV, Vorspiele des Untergangs
Von 1976 an begann der Zerfall der DDR-Literatur. Mit der Hoffnung auf eine Lernfähigkeit der Führung war es vorbei. Die Vorahnung einer Krise des Staatswesens breitete sich aus. 1975 noch hatte Karl-Heinz Jakobs das Ethos, aus dem DDR-Literatur geschöpft hatte, exemplarisch formuliert, wenn auch mit deutlicher Akzentuierung eines radikal-demokratischen Verständnisses von Anwaltschaft, das nicht alle Autoren geteilt haben mögen: „Der sozialistische Schriftsteller wird auf jeden Fall auf der Seite der Schwachen stehen. Auf der Seite dessen, dem Unrecht geschehen ist.“ Diese Zuständigkeit als habituelle Konstante schriftstellerischen Selbstverständnisses war ein Jahr später nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Auf dem VIII. Schriftstellerkongreß im Mai 1978 gab es, vor allem mit Stephan Hermlins Rede, noch einige, weitaus schwächere Versuche, die Führung davon zu überzeugen, daß sie sich jetzt umstellen und Dissensbereitschaft entwickeln müsse. Diese symbolische Eingabe ist strikt zurückgewiesen worden, und zwar schon im Vorfeld verbaler Antworten. Im Umfeld des Kongresses, der zeigte, daß der Schaden sich nicht mehr beheben ließ, ist dann auch die nüchterne Erkenntnis von einem möglichen Ende der DDR ausgesprochen worden.
Seit dieser Zeit nahm die Darstellung von Untergängen ganzer Staatswesen und Kulturen zu. Gespielt hatte man mit Parabeln über das Ende asiatischer Despotien oder sonstwie stockende Gesellschaftszustände schon lange. Jetzt war es ernst gemeint, gerade weil die Vorgänge sich lächerlich präsentierten, und zwar mit ausgeprägten Referenzen auf die Gebrechen der DDR: „Ja, ich liebe das Absurde/Wie sichs öffentlich gebärdet/Denn verschweigt es wie es wurde/Offenbart es wie ihr werdet/Könntet ihr es nur entschlüsseln (... .)“
In der dialogischen Wendung von Karl Mickels „Ravenna“ (das meint die ehemalige Hauptstadt des Reiches der Goten) ist das Bezeichnete eindeutig genug. Ebenso setzt in Volker Brauns „Machu Picchü“ (das meint die versunkene Hauptstadt des Reiches der Inka) die Sprache das Bestehen-wollen im gegenwärtigen Zustand ganz unverhohlen der Lächerlichkeit aus: „Dies Verschwinden/(...) seh ich kalt/Und ohne Trauer. Dies Versinken ganz/Ins Nichts hinweg, und nicht Zyklopenmauern/Halten das Leben, dasden Tod in sich hat. /Hab ich gesagt: so wars. Ich sehe etwas/Das du nicht siehst Genosse (.. .)“ Autoren der jüngeren Generationen, Bert Papenfuß-Gorek, später Stefan Döring, Jan Faktor, Rainer Schedlinski, arbeiteten nicht minder an der Destruktion der symbolischen Stützen der Gesellschaftsordnung, aber durch die Kritik am Niedergang der Sprachlichkeit ihrer öffentlichen Kultur. Obwohl das emotionale Engagement verschiedenartig gewesen sein muß, da die in den fünfziger Jahren geborenen Autoren dem geistigen Zerfall, den ihre Texte zeigten, keine Träne nachweinten, ergaben sich in dieser Phase durch Nähe oder Berührung der Einsichten und Intentionen noch einmal verhältnismäßig viele Gemeinsamkeiten, wenn auch unter anderen Vorzeichen als vor 1976. In schriftstellerischen Aktionen, Zusammenkünften und Gruppen der achtziger Jahre würde ich jedoch nicht mehr den Ausdruck eines besonderen, an die DDR gebundenen Selbstverständnisses sehen. Die neuen Gruppenbildungen gleichen den gewöhnlich in literarischen Feldern anzutreffenden Zusammenschlüssen von gleichgesinnten oder sich sozial unterstützenden Autoren.
Doch bewirkten sie einen hohen Grad an innerem Zusammenhalt, besonders auch zwischen den Generationen. Die jüngeren Autoren waren auf ihre Gruppierungen angewiesen, schon deshalb, weil Vorurteile und politische Vorsichten der Verlage sie isolierten. So entließ der Verlag Neues Leben, der das Periodikum „Auswahl. Neue Texte -Neue Namen“ und die Reihe „Poesiealbum“ herausgab, kurzerhand den zuständigen Lektor, Richard Pietraß, wegen dessen Engagements für seine jungen Kollegen. Damit begannen ihre Entwürfe zu einer Subkultur, als die man die sogenannte „Szene“, wie es dann hieß, wohl ansehen kann. Sie entstand in solidarischen Gruppen, die aber anders als bei den parallelen Vorgängen der sechziger Jahre ihre Außenpositionen nicht zugewiesen erhielten, sondern selbst festlegten. Zu ihnen verhielten sich viele etablierte Autoren kooperativ; und in ihre Teilnahme mischte sich sogar Bewunderung für die Jüngeren, deren Schreibkonzepte keine Fortsetzung, sondern einen anderen Anfang darstellten, der den Kontakt mit den Leitbildern der offiziellen geistigen Kultur der DDR tatsächlich aufkündigte. Die Generation der „Hineingeborenen“ hat sich das entsprechende schriftstellerische Selbstver-ständnis nicht mehr zu eigen gemacht, sondern es im Gegenteil darauf angelegt, sich herauszuarbeiten. Uwe Kolbe brachte 1981 einen verschlüsselten Text in einem Almanach des Mitteldeutschen Verlages unter, wohl wissend, daß Skandal und Verstoßung folgen würden, denn die Auflösung des Akrostichons lautete: „Eure Maße sind elend/Euren Forderungen genügen Schleimer/Eure ehmals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch (.. •)“ Damit setzte er in seiner Sache ein deutliches Zeichen. Noch einmal erscheinen die „alten Genossen“ als Adressaten, nun in der pejorativen Wendung.
Diese Art Polemik ist eine Ausnahme. Die Autoren um die selbstverlegten Zeitschriften, „Ariadnefabrik“ zum Beispiel, hatten eine andere, meist artifizielle Literatur im Sinn, während das Rhetorische unter Ideologieverdacht gestellt wurde. Rainer Schedlinski äußerte 1989 über die DDR und ihre Literatur: „beiden diskursen, dem herrschenden und dem protestierenden, geht eine gemeinsame erfahrung und kultur voraus, der sie die tatSachen entnehmen, die nur erkannt werden können, weil ihnen ein gemeinsamer sinn zugrunde liegt, der ihnen zu kommunizieren gestattet (.. .)" Ihre Texte wiesen bald die Tendenz zu einer grundsätzlichen Kritik der Sprache der Botschaften auf, die Distanzierung von dem ganzen semantischen Feld, dessen Fokus die Vokabel „das Land“ war, ging voran. Der zugleich einsetzende Themenwechsel konnte, solange man den Maßstab der früheren DDR-Literatur anlegt, als eine Abwendung von den „Themen der Zeit“ verstanden werden. Der Bruch mit der DDR-Literatur ist auch programmatisch formuliert worden: „Ein heute zunehmend als wesentlich erkannter Teil der Dichtung in der DDR hat sich von solchen in der Geschichte der Literatur an sie herangetragenen Ansprüchen wie Repräsentanz, Moral, Ideologie usw. getrennt. Engagement für oder gegen Dinge außerhalb ihrer Verfügbarkeit (also außerhalb der Worte) liegt ihr fern -gerade das macht sie zu einer engagierten Literatur.“ Daß radikaler werdende Sprachkritik und verweigertes Nachrükken in die institutionalisierten Räume der Literatur in der DDR viel mehr als bloß politische Opposition waren, haben außerhalb der Gruppen nicht viele verstanden. Zu den wenigen gehörte Elke Erb, die das nicht allein durch die Herausgabe der 1985 in der Bundesrepublik erschienenen Antholo-gie „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ (zusammen mit Sascha Anderson) zeigte Sie hat seitdem nicht aufgehört, sich darum zu kümmern daß Formen der Selbstorganisation der neueren jungen Autoren weiterleben oder entstehen. Damit erhält sie wohl ein authentisches Element von DDR-Literatur.
V. Bedeutungsverluste
Es wird einen Schriftstellertypus nicht mehr geben, wie ihn Franz Fühmann repräsentierte, den grimmigen Rationalisten, der in seinen Konzepten unerschütterlich, unmodern blieb und den das Unverständnis des Publikums mit seinem wechselnden Geschmack immer nur bestätigt hat. Daraus folgend, könnten auch bestimmte Formen der Assoziation von Schriftstellern überflüssig werden oder sind es schon geworden. Das meint nicht den Schriftstellerverband, der sich selber degradiert hatte beim Spagat zwischen Interessenvertretung der Autoren und Durchsetzung der innenpolitischen Sicherheitsdoktrin. Ohnehin sperrte dieser Verband sich geistig wie organisatorisch gegen die innovatorischen Impulse nachrückender Generationen, deren Integration ihm nicht gelang und die er als seine Aufgabe auch nicht begriff.
Doch wird literarisches Leben insgesamt anders orientiert werden, da auch jene „Notgemeinschaft“, die sich unter verschiedenen Dächern, unter anderem dem der Kirche ausgebildet hatte, ihre Bestimmung verlieren und lockerer, auch zufälliger werden.
Damit endet eine Reihe, auf der Traditionen weitergehen konnten. In den Gruppen verlief das nicht autoritär oder vormundschaftlich. Ein Meister-Schüler-Verhältnis bestand nicht zwischen Franz Fühmann und Uwe Kolbe, nicht zwischen Karl Mickel und Bert Papenfuß. Es lag auch nicht in den Intentionen von Adolf Endler, Elke Erb, Wulf Kirsten, Richard Pietraß, Gerhard Wolf, die alle zumindest zeitweise in solchen Dialogformen standen. Trotzdem haben diese ihren jüngeren Kollegen Rollenvorschläge gemacht, etwa wenn Fühmann Uwe Kolbes Auftreten als die Geburt eines Dichters feiert, ihn als „Hans im Glück“ begrüßt oder Mickel Bert Papenfuß einen „Meister der nicht-grammatischen Syntax“ nennt, ihn gelegentlich sogar an Georg Heym gemessen hat.
Das Stück Erinnerung an einen auratischen Dichtertyp, das unter den Bedingungen der Selbstbehauptung im Zeichen eines subkulturellen Ansatzes angenommen werden konnte, wird im neuen literarischen Feld kaum produktiv sein. Besonders da Literatur, verglichen mit ihrer Rolle in der DDR, einen Bedeutungsverlust gerade in bezug auf die Zuständigkeit des Autors erfahren wird. Auch die emphatische Dichtungssprache, die etwa unter dem Einfluß Heiner Müllers, in der Dramatik noch verwendet wurde (Harald Gerlach, Lothar Tuczinsky), ändert unter diesen Bedingungen ihren Charakter. Sie kann nun nicht mehr als Zeichen für eine Dichterschule, die des geschichtsphilosophischen oder heroischen Lehrstücks, verstanden werden, sondern sie wird als Eigentum des Autors Heiner Müller an ihn zurückfallen. Auch die Unmöglichkeit von kritisch-konzeptioneller Nachfolge ist eine Form von Bedeutungsverlust.
Es steht zu befürchten, daß davon auch das „soziale Drama“ betroffen wird, das nicht an einen Autorennamen gebunden war, aber in der DDR mit Autoren wie Uwe Saeger, Albert Beetz, Jürgen Groß, dem jung verstorbenen Georg Seidel und mit Manuela Wiens seinen Platz gehabt hat, sogar auf dem Theater. Auch wenn es nur kleine Bühnen oder Probebühnen waren, sie protegierten die Fortsetzung eines Genres, dessen kritisch-demokratische Wirkungsmöglichkeiten und Brisanz unmittelbar zwischen Spiel und Zuschauer umgesetzt werden müssen. Wegen der Herkunft vom Rührstück und bürgerlichen Trauerspiel müßte es unter dem Zugriff der Bildmedien, als Fernsehspiel und Serienstoff, unweigerlich verschlissen werden und zugrunde gehen.Schließlich wird auch eine Regionalisierung einsetzen. Als die „sächsische Dichterschule“ sich ihren Namen gab, meldeten die zugehörigen Autoren damit den Anspruch auf einen Rang in der Geschichte der deutschen Literatur an, der sich über den Platz, den sie in der DDR-Literatur einnahmen, vermittelte. Wenn der kommunikative Zusammenhang der DDR-Literatur nicht mehr existiert, werden Autoren, denen nach Jahrzehnten, in denen sie behindert und kaum veröffentlicht wurden, langsam Gerechtigkeit widerfuhr, ein weiteres Mal vergessen werden. Dazu gehören Alfred Matusche, der Dramatiker, oder der Lyriker Uwe Greßmann. Jene, die die traurige Ge-schichte der Landschaften in der DDR aufgezeichnet haben, werden nunmehr Dichter aus Thüringen, der Lausitz oder aus Sachsen sein. Aber das Sterben der Dörfer in Mitteldeutschland war eine Erfahrung aus der DDR; ebenso wie die Verwandlung der Lausitz aus einem Refugium zu einem Schauplatz primärer Industrialisierung. Eine ganze Schicht von Bedeutungen, die die eigentlich poetische war, bricht weg, wenn Bilder vom sterbenden Erzgebirge oder den Betonbauten Marzahns weiter nichts bezeichnen als die ökonomische Krise, statt wie zuvor das uneingelöste Versprechen einer gesellschaftlichen Alternative zu konnotieren.
VI. Bleibendes
Die DDR-Literatur endet nicht wie Antäus, der vom Boden gerissen werden mußte. Vielmehr schwächte sich der symbolisch verstandene Zusammenhang von „Land und Literatur“ in einer langen Krise ab. Durch jede Entscheidung, daß dieser Weg nicht mehr gangbar sei, verlor sie an Substanz. Bei der wievielten Lossagung begann die Auflösung? Wir, das meint die Literaturwissenschaftler in der DDR, vermieden es zu zählen und hielten uns gern an das Beiwort „zeitweilig“, das die Frage offen hielt, die Heimkehr verlorener Töchter und Söhne als Möglichkeit bestehen ließ.
Der Auflösungsprozeß enthielt retardierende Elemente. Die Nachrüstungsdebatte und das Debakel ihres Ausgangs kompensierten das dumpfe Gefühl des Verlustes zeitweilig. Etwas von der beweglichen Anmut und dem freundlichen Schein der Utopie fiel noch einmal auf das „Land“, denn was ein Schicksal hat, kann nicht hohl sein. Ebenso wirkten die Anfänge der Reformbewegung in der Sowjetunion; der Wirklichkeitsschwund des Sozialismus schien aufgehalten. Heiner Müllers Inszenierung des „Lohndrückers“ (1988 in Berlin) bekundete dies mit ihrer Lesart der Geschichte der Arbeiterbewegung und dem Platz der DDR darin.
Und schließlich war da die Euphorie des Jahres 1989, als durch Massenumzüge, Foren unter freiem Himmel, Anhörungen der Machtträger die Korrektur einer erstarrten Partei und ihrer Politik mit den ureigenen Mitteln der Arbeiterbewegung zu erfolgen schien. Die Hoffnung, daß ein Volk sich anschickte, die ihm gemäße Gesellschaftsform selbst auszubilden, lebte auf und mit ihr zeigte sich das Urbild vom unmittelbar wirkenden, poetischen Wort greifbar nahe. Es war ein Schein: „Allerletztes aus der DADAer“, wie Steffen Mensching und Hans E. Wenzel ihren satirischen Abgesang genannt haben
Bleiben wird die DDR noch in der Literatur, als Stoff, aus dem Erfahrungen sind. Die Generation, die sich ohnehin nicht mehr heimisch fühlte, wird ihre Abrechnungen vornehmen. Vielleicht werden diese Autoren den Augenschein einer grandiosen Entfremdung nicht annehmen, sondern den Versuch machen, die Väter (und Mütter) zu befragen und auf persönlich Schuldigen bestehen. Andererseits sind bereits in den zurückliegenden Jahren gerade diejenigen Verfahren ausgebildet worden, mit denen Texte der Realgroteske entsprechend begegnen. Allein die Verflüchtigung des Volkseigentums, einschließlich solcher massiv gegenständlichen Bestandteile wie Boden und Wald, verlangt nach grandioser Groteske, in Korrespondenz und im Gegenzug etwa zu dem Filmszenarium „Volksentscheid“ von Karl Mickel. Eine Phase der Ernüchterung, auch Desillusionierung ist auf jeden Fall zu erwarten; schon deshalb weil die Bedingungen der materiellen Subsistenz die Entscheidung für Literatur als Lebensform erschweren werden.
In der Blütezeit der DDR-Literatur waren im Selbstverständnis der Schriftsteller durchaus elitäre Züge anzutreffen. Heiner Müller urteilt Mitte der siebziger Jahre vernichtend über den Standard der „westdeutschen Dramatik“: Ohne theoreti-sches Niveau keine wesentliche Dramatik und keine politische Wirkung: „Wenn in zwanzig Jahren die Welt untergeht, weil der Kapitalismus nicht abgeschafft ist, möchte ich nicht daran schuld sein.“ Hier spricht die Überzeugung, daß langfristiges theoretisches Denken in der DDR-Literatur besonders ausgebildet, Schreibkonzepte konsequent zu Ende gedacht und auf die Konstellationen der Epoche bezogen seien.
In der Wertschätzung der geistig-rationalen Analyse macht sich das Erbe des Marxismus geltend. Die DDR-Literatur war dadurch vor Irrtümern und unzulässigen Schlüssen nicht gefeit. Auch ist durch die Affinität zu Geschichtsphilosophie und unentwegter Interpretation des Weltganzen die kritische Selbstreflexion insofern zu kurz gekommen, als die Realitätsnähe der Entwürfe und Handlungsmodelle ungeprüft blieb. Aber die Verpflichtung, historische Perspektive zu suchen, die auch aus dem Marxismus kommt, kann nicht ausgedient haben. Ohne Bezug auf die Idee eines universell gültigen Gleichheitsanspruches wären Irmtraud Morgners Laura-Romane nicht denkbar vor dem Horizont des Denkens in der Kategorie der historischen Gerechtigkeit hat die Frauenliteratur die bloße Artikulation von Befindlichkeit hinter sich gelassen. Ihre Abwendung von den Utopien ist beispielhaft dafür, daß Literatur auf Veränderung sozialer Praxis orientiert sein kann, ohne sich an überalterte Gesellschaftsmodelle zu binden. Vorstellbar ist ein Zukunftsdenken ohne Utopien; unentbehrlich dagegen bleibt die Formulierung emanzipatorischer Ansprüche.