I. Hitler und die Folgen: Die Entlegitimierung des deutschen Nationalismus
Für den deutschen Nationalismus bedeutet das Jahr 1945 die tiefste Zäsur seiner Geschichte überhaupt. Der Nationalsozialismus hatte sich der Welt als die bislang extremste Erscheinungsform des Nationalismus präsentiert. Die Politik des „Dritten Reiches“, die 1945 zum Zusammenbruch Deutschlands führte, wirkte folgerichtig als Entlegitimierung des deutschen Nationalismus. Als Integrationsideologie, die für die Loyalität gegenüber der Großgruppe „Nation“ absoluten Vorrang vor allen anderen Loyalitäten beansprucht, war dem Nationalismus in Deutschland fortan das moralische Fundament entzogen
Die extreme Übersteigerung des deutschen Nationalismus in den Jahren 1933 bis 1945 hatte Ursachen, die teilweise eng mit seiner Entstehung im frühen 19. Jahrhundert Zusammenhängen. Das erste konstituierende Moment des deutschen Nationalismus war der Kampf gegen die Fremdherrschaft und Hegemonie des napoleonischen Frankreich, die in den Augen vieler Deutscher auch die universalen Werte diskreditierten, mit denen sich der französische Nationalismus legitimierte: die Ideen von 1789. Das zweite konstituierende Moment war das Gefühl der wirtschaftlichen Unterlegenheit gegenüber England. Der deutsche Nationalismus entstand als Abwehrideologie.
Da es den deutschen Nationalstaat erst noch zu errichten galt, konnte der frühe deutsche Nationa-lismus sich nicht an einer eigenen, subjektiv als vorbildhaft empfundenen politischen Ordnung ausrichten. Er berief sich vielmehr auf vermeintlich objektive Größen wie Volk, Sprache und Kultur, die dem politischen Wollen gleichsam vorgelagert waren
Die innere Stoßrichtung des frühen deutschen Nationalismus war gleichwohl eine freiheitliche. Das Ziel, die deutsche Kulturnation in eine Staatsnation zu verwandeln, schloß in sich die Wendung gegen die partikularstaatliche Zersplitterung Deutschlands, die den Vorkämpfern der nationalen Bewegung als feudales Relikt erschien. Nationale Einigung war, so gesehen, nur ein anderer Ausdruck von bürgerlicher, später auch proletarischer Emanzipation. Erst nachdem der deutsche Nationalstaat -anders als von seinen Befürwortern geplant, nämlich von „oben“, in Gestalt der Bismarckschen Reichsgründung -verwirklicht worden war, änderte sich der soziale Gehalt des deutschen Nationalismus. Die nationale Parole wurde in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre von der politischen Rechten „entdeckt“ und als Waffe gegen die bisherigen Träger der nationalen Einheitsbewegung -von den Liberalen bis hin zu den Sozialisten -benutzt. Antisemitische Agitatoren machten hinter der „roten“ Internationale der Arbeiter und der „goldenen“ Internationale des Bankkapitals einen gemeinsamen „Drahtzieher" aus: das „internationale Judentum“. Hatte „national“ sein bisher bedeutet, für Freiheit und Fortschritt einzutreten, so hieß es fortan in erster Linieanti-international und sehr häufig auch bereits antisemitisch sein
Einen Wandel vom „linken" zum „rechten", vom emanzipatorischen zum integralen Nationalismus hat es in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in anderen Ländern und nicht zuletzt im Ursprungsland des modernen Nationalismus gegeben. Aber in Frankreich waren seine demokratischen Wurzeln sehr viel stärker als in Deutschland, die Transformation des Nationalismus infolgedessen eine weniger vollständige. Folgte in Deutschland auf die Reichsgründung von 1871 die konservative Wende der „inneren Reichs-gründung“ von 1878/79, so erlebte die Dritte Republik 1906 eine Art Neugründung mit dem Ausgang der Dreyfus-Affäre, einem Sieg der republikanischen und linken Kräfte. Der „linke“ Nationalismus blieb in der französischen Gesellschaft über den Ersten Weltkrieg hinaus ungleich stärker verankert als in der deutschen
Die Radikalisierung des deutschen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg läßt sich nicht einfach •aus der militärischen Niederlage und der Härte des Vertrags von Versailles erklären. Entscheidend war, daß sowohl die deutsche Verantwortung für die Auslösung des Krieges als auch die Politik Deutschlands während des Krieges nicht kritisch aufgearbeitet, sondern aus dem Bewußtsein verdrängt wurden. Diese kollektive Verdrängung bildete den Nährboden für das rasche Erstarken einer militanten Revanchestimmung. Aber der radikale Nationalismus erfüllte weiterhin auch innere Funktionen: Er diente dem Kampf gegen die marxistische Linke, der die Rechte aller Schattierungen seit 1918 die Schuld an der Niederlage zuschob („Dolchstoßlegende“). Hitler ließ an diesem innenpolitischen Zweck seines Nationalismus keinen Zweifel. „Der marxistische Internationalismus", erklärte er 1924, „wird nur gebrochen werden durch einen fanatisch extremen Nationalismus von höchster sozialer Ethik und Moral.“
Eine funktionale Erklärung des extremen Nationalismus kann die Bedingungen aufhellen, die die Wahlerfolge des Nationalsozialismus ermöglichten. Dazu gehörte namentlich die Neigung der Mittelschichten, ihre Vorstellungen von Moral mit der gesellschaftlichen „Normalmoral" gleichzusetzen und sich selbst als die eigentliche Nation zu betrachten. Der damit verbundene Anspruch auf ein besonderes Sozialprestige wurde durch den politischen Aufstieg der Arbeiterbewegung und die wirtschaftlichen Erschütterungen der Weimarer Jahre -erst die Inflation und dann die Depression -nachhaltig in Frage gestellt. Wenn Hitler der Furcht vor dem sozialen Abstieg die Beschwörung des nationalen Wiederaufstiegs entgegenstellte, fand das nirgendwo so viel Widerhall wie in den von Statusängsten heimgesuchten Mittelschichten. Die Aufwertung der Nation war zugleich ein Beitrag zur Hebung des kollektiven Selbstgefühls dieses Teils der Gesellschaft
Der Nationalismus war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die sozialpsychologischen Bedürfnisse der von den Nationalsozialisten umworbenen Schichten bringenließen. Der radikale Antisemitismus der NSDAP dagegen sprach nur Teile ihrer Wählerschaft an. Kleinhändler und Bauern, Studenten und Angehörige der freien Berufe waren durch antijüdische Parolen leichter zu mobilisieren als Handwerker oder gar Arbeiter. In der Wahlpropaganda der Jahre 1930 bis 1932 spielten nationalistische Schlagworte infolgedessen eine größere Rolle als Aufrufe zum Kampf gegen die Juden. Für die Binnenintegration der nationalsozialistischen Bewegung hatte der Antisemitismus jedoch eine zentrale Bedeutung. Vor allem stand er -und hier enden alle Versuche, Nationalismus funktional zu erklären -im Zentrum des Denkens von Hitler selbst
Die Rückführung der Nation auf die rassisch „artgleiche" Abstammungsgemeinschaft bedeutete die absolute Verneinung des „westlichen", an die Ent-Scheidung des einzelnen appellierenden Verständnisses von Nation. Radikal waren aber auch die Unterschiede zwischen der Rassennation und dem, was bislang mit dem deutschen Begriff der „Kulturnation“ verbunden gewesen war. Die Umsetzung des nationalsozialistischen Axioms in die Praxis gipfelte in der Ermordung der europäischen Juden. Mit der „Endlösung der Judenfrage“ trat die Selbstzerstörung des deutschen Nationalstaates in ihre letzte Phase. Ihr Ende war erreicht, als das Deutsche Reich am 8. Mai 1945 vor den Alliierten bedingungslos kapitulierte.
Anders als nach 1918 stießen nach 1945 Dolchstoß-und Kriegsunschuldlegenden nur auf schwache Resonanz. Zu offenkundig war, daß das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselt und während des Krieges Verbrechen begangen hatte, die alles menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Die Einsicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunft innerhalb der westlichen Zivilisation haben würde, wenn es sich von dieser Vergangenheit distanzierte, erleichterte den moralischen Bruch mit dem „Dritten Reich“.
Doch die öffentliche Moral war nicht auf sich allein gestellt. Internationale Politik und Ökonomie halfen ihr kräftig nach. Der „Kalte Krieg“ führte zu einer Umkehrung der Allianzen und zur raschen Integration der beiden Staaten, die aus der Konkursmasse des Deutschen Reiches hervorgingen, in die neuen Blocksysteme. Die Wirtschaftshilfe des Marshallplans unterschied sich vorteilhaft von den Reparationen, die die erste deutsche Republik fast bis zu ihrem Ende hatte bezahlen müssen. Der Wirtschaftsaufschwung der fünfziger Jahre entzog sozialen Abstiegsängsten, an die Hitler einst so erfolgreich appelliert hatte, zusehends den Boden. Die Eingliederung der Heimatvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft ließ das größte Reservoir nationaler Ressentiments kontinuierlich schrumpfen.
Was den politischen Rückhalt des deutschen Nationalismus angeht, so vollzog sich in den fünfziger Jahren nichts Geringeres als eine Umkehrung der Fronten: Die gemäßigte Rechte, repräsentiert durch Adenauer und die Unionsparteien, betrieb eine Politik der supranationalen Integration, während die gemäßigte Linke in Gestalt der Sozialdemokratischen Partei unter Schumacher und Ollenhauer den nationalen Part übernahm und sich als Partei der deutschen Einheit profilierte. Fritz Rene Allemann hat in diesem Rollentausch bereits 1956 einen der fundamentalen Unterschiede zwischen Bonn und Weimar erkannt Es wäre gewiß eine karikierende Übertreibung, in diesem Zusammenhang von einer Rückentwicklung vom rechten zum linken Nationalismus zu sprechen. Und doch läßt sich, worauf zurückzukommen sein wird, innerhalb der deutschen Linken eine bis in die Gegenwart fortdauernde Tendenz beobachten, „deutschen Interessen" einen höheren Stellenwert einzuräumen, als es die Kräfte der rechten Mitte in der politischen Praxis zu tun pflegen.
Faßt man die Gründe für die Abschwächung des Nationalismus im Nachkriegsdeutschland zusammen, so sind es vor allem drei: Erstens wirkte die Zeit des Nationalsozialismus als Anschauungsunterricht nach. Der Untergang des „Dritten Reiches“ war das große „argumentum e contrario“ gegen die traditionelle Verachtung der westlichen Demokratie und damit gegen jeden künftigen „deutschen Sonderweg“. Weil der Nationalismus in Deutschland extremere Erscheinungsformen angenommen hatte als irgendwo sonst, ging auch die Denationalisierung Deutschlands tiefer als in anderen Ländern. Zweitens trat das westliche Deutschland nach 1950 in die Phase des „Massenkonsums“ ein, und was immer man sonst von W. W. Rostows Theorie der Stadien des wirtschaftlichen Wachstums halten mag, so spricht doch viel für seine These, daß Gesellschaften auf dieser Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung für aggressiven Nationalismus weniger anfällig sind als in früheren, von Massenarmut gekennzeichneten Phasen des Industrialisierungsprozesses. Drittens konnte der Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, anders als nach dem Ersten, nicht mehr als Betäubungsmittel gegen soziale Abstiegsängste dienen. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches war der soziale Abstieg für die meisten Deutschen eine vollendete Tatsache. Angst riefen nicht soziale Unruhen im Innern hervor, sondern das Gefühl der Bedrohung durch die Rote Armee, die einen Teil Deutschlands bereits fest unter ihrer Kontrolle hatte. Eine Politik der nationalen Isolierung konnte das Sicherheitsbedürfnis der Westdeutschen nicht befriedigen, wohl aber die Politik der Westintegration -das Konzept des überzeugten Antinationalisten Konrad Adenauer
II. Zwei Staaten, eine Nation? Die Entwicklung bis 1989
Wenn wir von einem Funktionsverlust des Nationalismus im Nachkriegsdeutschland sprechen können, so gilt das zunächst im Hinblick auf den Hauptstrom der offiziellen Politik und der veröffentlichten Meinung, Die privaten Meinungen, die sich in Umfragen niederschlugen, blieben, teilweise bis Mitte der sechziger Jahre, sehr viel „deutschnationaler“, als es der praktischen Politik der von Adenauer geführten Bundesregierungen entsprach. Noch 1955 fanden die kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot mehr Anklang bei den Bundesbürgern als die Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold (43 Prozent : 38 Prozent). Mit der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße wollten sich noch 1966 54 Prozent der Befragten nicht abfinden; nur 27 Prozent akzeptierten die Endgültigkeit der Ostgrenze. Auf die Frage, ob Adenauer ein hypothetisches sowjetisches Angebot, die Wiedervereinigung Deutschlands mit freien Wahlen gegen den endgültigen Verzicht auf Schlesien, Pommern und Ostpreußen, annehmen solle oder nicht, sprachen sich im August 1955 67 Prozent für Ablehnung und zehn Prozent für Annahme aus. Nach ihren Ansichten über führende Männer des „Dritten Reiches“ befragt, äußerten sich im Juli 1952 42 Prozent positiv über Hjalmar Schacht; eine gute Meinung hatten über Göring 37 Prozent und über Hitler immerhin noch 24 Prozent
Ausgeprägt national blieb auch über die fünfziger Jahre hinaus und quer durch alle Parteilager hindurch die politische Rhetorik. Adenauer hätte für seine Politik der Westintegration keine Mehrheiten gewonnen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sie als den einzig gangbaren Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands darzustellen. Im September 1956 nannten bei einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie noch 53 Prozent der Befragten die Teilung Deutschlands unerträglich (mit einem bemerkenswerten regionalen Gefälle freilich: 84 Prozent in West-Berlin gegenüber 44 Prozent in Süddeutschland), während 32 Prozent (in West-Berlin: 12 Prozent, in Süddeutschland: 38 Prozent) meinten, man habe sich allmählich daran gewöhnt. Wäre es in den fünfziger Jahren, etwa auf Grund von Verhandlungen über Stalins Deutschlandnote vom 10. März 1952, zu einer Wiedervereinigung in den Grenzen von 1945 gekommen, hätte jede deutsche Regierung mit dem starken Protestpotential derer rechnen müssen, die eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze strikt ablehnten. Hätte Adenauer nicht genügend andere Gründe gehabt, entsprechende sowjetische Vorschläge zurückzuweisen -allein die Furcht vor einem radikalen Nationalismus der Heimatvertriebenen wäre ausreichend gewesen, um ernsthaften Verhandlungen über eine Wiedervereinigung lieber aus dem Weg zu gehen
Einen allmählichen Bewußtseinswandel bewirkte erst der Bau der Berliner Mauer im August 1961. Die Behauptung, die Westintegration werde zur Wiedervereinigung führen, ließ sich angesichts der buchstäblichen Zementierung der deutschen Teilung kaum noch aufrechterhalten. Von den Berliner Sozialdemokraten um den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt ausgehend, gewann die Ansicht an Boden, daß es ohne eine zumindest faktische Anerkennung der DDR keine menschlichen Erleichterungen für die bislang benachteiligten Deutschen geben könne. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit verlor an Gewicht gegenüber dem Ziel, die Einheit der Nation aufrechtzuerhalten. Diese Maxime lag bereits dem ersten Berliner Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 zugrunde. Es war der erste Schritt auf dem Weg zu jener Revision der. bisherigen, auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik beruhenden Deutschlandpolitik, die in den Ostverträgen der Regierung Brandt -Scheel von 1970 bis 1972 ihren Abschluß fand.
Die politisch brisantesten Elemente der neuen Ostpolitik, die weitgehende Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze, waren innenpolitisch nur durchsetzbar, weil sich in den sechziger Jahren ein weithin generationsbedingter Meinungswandel vollzogen hatte. Im November 1987 gab es in Umfragen erstmals eine relative Mehrheit, die bereit war, sich mit der Oder-Neiße-Grenze abzufinden (46 Prozent : 35 Prozent). Die Frage, ob die Bundesrepublik die DDR als Staat anerkennen solle, blieb umstrittener. Zwischen November 1967 und Januar 1971 sank die Zahl der Gegner von 61 auf 46 Prozent; die der Befürworter stieg von 27 auf 42 Prozent. Das eigentliche Plebiszit über die Ostpolitik war die Bundestagswahl vom 19. November 1972, in der die sozialliberale Koalition eine breite Mehrheit erhielt und die SPD, das einzige Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, die stärkste Partei wurde
Mit der schrittweisen Umorientierung in der Ost-politik korrespondierend, begann sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auch das innere Selbstverständnis der Bundesrepublik zu wandeln: Der westdeutsche Staat verabschiedete sich allmählich von der Vorstellung, nur auf Abruf zu existieren, und richtete sich auf Dauer ein. Symptomatisch für das neue Selbstgefühl war bereits das Wort vom „Ende der Nachkriegszeit", das Bundeskanzler Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung vom 10. November 1965 prägte. Im Sommer 1967 löste der Publizist Burghard Freudenfeld mit einem Aufsatz unter dem Titel „Das perfekte Provisorium“, der in der katholischen Zeitschrift „Hochland“ erschien, eine lebhafte Diskussion aus. Die Identität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich, in welchen Grenzen auch immer, schließe die Identität mit sich selbst aus, lautete die Hauptthese. „Dieser Staat ist nicht auf den Anschluß seiner fehlenden Teile (Kern-staat), sondern auf Ergänzung seines Wesens (Teilstaat) angelegt. Es fehlt ihm also nicht ein legitimer Teil seines Geltungsbereichs, sondern die Qualität einer Staatsnation. Er ist ein substantieller, kein geographischer Torso.“ Freudenfeld hielt diesen Zustand für gefährlich und plädierte für die Preisgabe des Provisoriums-Vorbehalts, der die Entwicklung eines bundesrepublikanischen Staatsbewußtseins erschwere: „Man lebt nämlich nicht ohne tiefere'Beschädigungen in Surrogaten; die öffentliche Lebenslüge ist für Gemeinschaften nicht weniger gefährlich als für Individuen.“
Zwei eher konservative Politikwissenschaftler gingen begrifflich noch einen Schritt weiter. Hans Buchheim forderte 1967, „unser Nationalbewußtsein ohne jeden Vorbehalt mit diesem Staat“, der Bundesrepublik, zu identifizieren. Waldemar Besson erklärte es 1970 für nötig, daß die Bundesrepublik auch im Bewußtsein ihrer Bürger als Definitivum anerkannt werde, was die „Entwicklung eines westdeutschen Patriotismus“ voraussetze. Auf sozialdemokratischer Seite riefen derartige Versuche, ein westdeutsches Nationalbewußtsein zu schaffen, scharfen Widerspruch hervor, Helmut Schmidt, damals Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, nannte es 1968 in einem Aufsatz für das „Hochland“ zwar notwendig und legitim, in der Bundesrepublik das Staatsbewußtsein zu stärken. Es wäre aber, fügte er hinzu, „eine riskante Vergewaltigung der Geschichte unserer Nation, auf den Geltungsbereich dieses Staatsbewußtseins auch das Nationalbewußtsein reduzieren zu wollen. Darum wende ich mich gegen die Flucht in die Idylle einer bundesdeutschen Nation.“ Verhaltener fiel der Einspruch des neuen Bundesvorsitzenden der FDP aus. Den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik jetzt aufzuheben, schrieb Walter Scheel 1968, ebenfalls im „Hochland“, hieße den Status quo zu bestätigen. „Wir müssen lernen, in der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Europa ein Provisorium zu sehen. In deutsch-deutscher Perspektive bedeutet dies, daß wir den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik nicht länger als Kampfansage an die , DDR‘ verstehen dürfen, sondern als in der Verfassung vorausgegebene Aufforderung an alle Deutschen.“ ’
Mehrere Faktoren kamen zusammen, die Ende der sechziger Jahre dem Ruf nach einem bundesdeutschen Patriotismus zu einer gewissen Resonanz verhalfen. Erstens blieb der traditionelle gesamtdeutsche Patriotismus, den der stellvertretende Vorsitzende der CDU, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, seit 1965 neu zu beleben versuchte, auf die konkreten Fragen der deutschen Teilung die Antwort schuldig. Zweitens war es spätestens seit der Rückkehr Charles de Gaulles an die Macht klar, daß der von vielen Deutschen erhoffte europäische Bundesstaat einstweilen nicht zu verwirklichen war, die absehbare Zukunft vielmehr von einem „Europa der Staaten“ geprägt werden würde. Drittens setzte eine nachlassende Konjunktur die bewährte „Reserveverfassung des Wirtschaftswunders" außer Kraft, die bisher mehr als alles andere die Identifikation der Bundesbürger mit ihrem Staat gewährleistet hatte. Die Große Koalition, eine politische Konsequenz der Krise, förderte ungewollt die Radikalisierung an den Rändern des politischen Spektrums. Von rechts wurde die Bundesrepublik durch die Nationaldemokratische Partei, von links durch die Studenten-bewegung und die Außerparlamentarische Opposition in Frage gestellt. Eine Modernisierung des bundesdeutschen Selbstverständnisses schien in dieser Situation manchen Autoren am ehesten geeignet, den erschütterten Konsens wiederherzustellen
Einen wirklichen Durchbruch konnten die konservativen Erneuerer jedoch nicht erzielen. Die seit 1969 regierende Sozialdemokratie hielt sich an die von Bundeskanzler Brandt geprägte Formel von den zwei Staaten in Deutschland, die für einander nicht Ausland sein könnten. Ein auf die Bundesrepublik beschränktes Nationalbewußtsein war mit diesem Credo nicht zu vereinbaren. Die Unionsparteien griffen die sozialliberale Ostpolitik vor allem mit nationalen Parolen an, konnten sich also schon aus diesem Grund nicht für einen westdeutschen Patriotismus stark machen. Die Bayerische Staatsregierung klagte gegen den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR und erstritt am 31. Juli 1973 jenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das es allen Verfassungsorganen untersagte, die Wiederherstellung der staat-liehenEinheit aufzugeben, und sie verpflichtete, in ihrer Politik auf dieses Ziel hinzuwirken. Damit war eine nationalstaatliche Lösung der deutschen Frage in verbindlicherer und restriktiverer Form festgeschrieben, als dies 1949 durch den Parlamentarischen Rat geschehen war. Erreicht hatte dieses Ergebnis dieselbe CSU, deren Vorsitzender, Franz Josef Strauß, sieben Jahre zuvor in einem Interview mit der ZEIT und dann ausführlicher in seinem Buch „Entwurf für Europa" als erster bundesdeutscher Poliker einem deutschen Nationalstaat -und sei es auch nur in den Grenzen der vier Besatzungszonen -eine klare Absage erteilt hatte
So strittig die Chancen und die Wünschbarkeit eines deutschen Nationalstaates trotz oder gerade auch wegen des Karlsruher Urteils blieben, so bestand doch unter den maßgeblichen politischen Kräften der Bundesrepublik weiterhin Konsens darüber, daß es nur eine deutsche Nation gebe. Als die SED 1970/71 die bisher auch von ihr beschworene Einheit der Nation aufgab und nunmehr von der DDR als einem „sozialistischen deutschen Nationalstaat" und dem „Prozeß der Herausbildung einer sozialistischen Nation“ sprach (so Ulbricht am 17. Dezember 1970), war die Zurückweisung dieser Doktrin in der Bundesrepublik völlig einhellig. Dasselbe galt für die Änderungen, denen die DDR 1974 ihre aus dem Jahre 1968 stammende Verfassung unterzog: Seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 7. Oktober 1974 war die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr ein „sozialistischer Staat deutscher Nation", sondern nur noch ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern". Die These von der Herausbildung einer bürgerlichen und einer sozialistischen deut- sehen Nation hatte damit auch ihren staatsrechtlichen Niederschlag gefunden
In Frage gestellt wurde der bundesdeutsche Konsens in Sachen Einheit der Nation seit Beginn der siebziger Jahre von einigen Autoren, die Anhaltspunkte für eine zunehmende „Bi-Nationalisierung“ Deutschlands gefunden zu haben glaubten. Unter Berufung auf die Theorie von Karl W. Deutsch, wonach eine Nation vor allem durch eine hohe Innenkommunikation auf allen Gebieten charakterisiert wird, schrieb Lutz Niethammer 1972, die „Bevölkerungen der DDR und der BRD zusammen" entsprächen diesem Begriff nicht mehr, „wohl aber in wachsendem Maß jede einzeln, wenn auch im Fall der DDR mit einer deutlichen Phasenverzögerung". In einer Untersuchung über „Nationalbewußtsein in der BRD und der DDR" kam Gebhard Schweigler 1973 zu dem Ergebnis, daß die Bundesrepublik „auch und vor allem im Bewußtsein ihrer Bevölkerung ein nahezu voll ausgebildeter Nationalstaat" sei und daß sich, analog hierzu, auch im anderen deutschen Staat „eine Art DDR-Nationalbewußtsein“ entwickelt habe. Eine breitere Öffentlichkeit nahm von diesen Thesen erst mit erheblicher Verspätung, Anfang 1981, Notiz -im Zusammenhang mit der kontroversen Debatte um den Vorschlag des ehemaligen Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus, die westdeutsche Seite solle im innerdeutschen Dialog den umstrittenen Begriff „Nation" besser aus dem Verkehr ziehen
Soweit die Bundesrepublik in Frage stand, konnten die Vertreter der These von der „Bi-Nationalisierung“ Belege für ein entwickeltes Staatsbewußtsein ins Feld führen, die sie im Sinne ihrer Prämissen als Nationalbewußtsein deuteten. Zwar schnitten die Bundesdeutschen bei international vergleichend angelegten Untersuchungen über Nationalstolz (Frage: „Sind Sie stolz darauf, Deutscher, Italiener, Franzose usw. zu sein?“) regelmäßig schwach ab, aber es gab durchgängig ein hohes Maß an Zustimmung zum politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik. Was die DDR anging, versuchten die Verfechter der „Bi-Nationalisierungs“ -These, allen voran Schweigler, die fehlende empirische Evidenz von Staats-oder gar Nationalstaatsbewußtsein durch höchst subjektive Impressionen und Spekulationen zu ersetzen. Tatsächlich blieb die DDR auch in Perioden relativer Entspannung zwischen Regime und Bevölkerung, etwa in den ersten Jahren nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker im Mai 1971, eine von der Bevölkerung nicht legitimierte Parteidiktatur. Das wechselseitige Verhältnis der beiden deutschen Vergleichsgesellschaften konnte infolgedessen nur eine „asymmetrische Beziehung“ sein. Zugespitzt ausgedrückt: In der Bundesrepublik hatte sich eine „Staatsnation“ entwikkelt, der nichts fehlte als das offizielle Bewußtsein, eine zu sein. Der DDR hingegen fehlte zur „Staatsnation“ alles außer dem Anspruch der Offiziellen, eine solche zu vertreten
Wenn M. Rainer Lepsius 1968 im Zusammenhang mit der von Burghard Freudenfeld angestoßenen Diskussion von einer „unbestimmten Identität der Bundesrepublik" gesprochen hatte, so galt das grundsätzlich auch noch für die achtziger Jahre. Eine Umfrage im Juli 1986 erbrachte, daß 37 Prozent der westdeutschen Bevölkerung unter „Nation" die Bundesrepublik, 35 Prozent die Bundesrepublik und die DDR zusammen verstanden. Ein knappes Viertel hatte einen weiter reichenden Begriff von deutscher Nation: zwölf Prozent rechneten auch die ehemaligen Ostgebiete dazu, elf Prozent sogar alle deutschsprachigen Gebiete. Auf die Frage, ob die Deutschen in der Bundesrepublik und die Deutschen in der DDR ein Volk oder zwei Völker seien, entschieden sich im Frühjahr 1987 78 Prozent für die erste und 21 Prozent für die zweite Lesart. Ein Drittel der Bundesbürger bejahte, zwei Drittel verneinten, daß die DDR für sie Ausland sei. Zum Ziel der Wiedervereinigung bekannten sich auch nach der Ratifizierung der Ost-verträge in allen Umfragen große Mehrheiten, die meist um 80 Prozent lagen. Aber nur neun Prozent der Befragten erklärten Mitte 1987, sie rechneten damit, die Wiedervereinigung noch zu erleben; 72 Prozent verneinten die entsprechende Frage. Eine Wieder Prozent für die zweite Lesart. Ein Drittel der Bundesbürger bejahte, zwei Drittel verneinten, daß die DDR für sie Ausland sei. Zum Ziel der Wiedervereinigung bekannten sich auch nach der Ratifizierung der Ost-verträge in allen Umfragen große Mehrheiten, die meist um 80 Prozent lagen. Aber nur neun Prozent der Befragten erklärten Mitte 1987, sie rechneten damit, die Wiedervereinigung noch zu erleben; 72 Prozent verneinten die entsprechende Frage. Eine Wiedervereinigung noch in diesem Jahrhundert hielten zur selben Zeit nur acht Prozent für möglich, während 79 Prozent sie ausschlossen 20).
Sprachen die Gesamtergebnisse eher gegen als für die These von einem spezifisch bundesdeutschen Nationalbewußtsein, so fallen doch starke, generationsbedingte Unterschiede ins Auge. Von den Bundesbürgern im Alter von 14 bis 29 Jahren fühlten sich im Jahre 1987 nur 65 Prozent (gegenüber 90 Prozent der über Sechzigjährigen) als Angehörige eines deutschen Volkes. Immerhin 34 Prozent der jungen Bundesbürger gingen von der Existenz zweier deutscher Völker aus. Zwischen 1976 und 1987 empfanden in der Gruppe der über Sechzigjährigen im Durchschnitt 15 Prozent die DDR als einen ausländischen Staat; bei den jungen Bundesbürgern war es gut die Hälfte. Eine Auswertung der entsprechenden Daten im „Deutschland Archiv" mündete 1989 in die Schlußfolgerung, die DDR werde von einem großen Teil der jungen Generation als fremder Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil Deutschlands wahrgenommen. „Dies führt zu einem Abbau des Bewußtseins einer nationalen Gemeinsamkeit und macht stetiger Entfremdung Platz.“ 21)
Aber auch positive Stellungnahmen zur Wiedervereinigung ließen sich nicht ohne weiteres als Beleg des Gegenteils, nämlich eines Gefühls intensiver Verbundenheit mit den Deutschen in der DDR, deuten. Ein vorwiegend älteres, national-konservativ gestimmtes Segment der bundesdeutschen Wählerschaft erwartet von den Politikern solche Bekenntnisse. Der Ruf nach der staatlichen Einheit hatte, so gesehen, in erster Linie eine taktische und rituelle Bedeutung. Das galt erst recht für die Beschwörung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, auf die Politiker der CSU -zuletzt noch ihr Vorsitzender, Bundes-finanzminister Theo Waigel, auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier in Hannover am 2. Juli 1989 -nicht verzichten zu können meinten. Was zählte, war nicht der Realitätsgehalt des Postulats, sondern sein erhoffter innenpolitischer Effekt. Es war ebendiese, bis in die fünfziger Jahre zurückreichende Instrumentalisierung der deutschen Frage, die Kritiker veranlaßte, von der Wiedervereinigung als der Lebenslüge der Bundesrepublik zu sprechen. Amtlich wurde der Begriff „Wiedervereinigung" seit der Ratifizierung der Ostverträge kaum noch verwandt. Wenn sich die staatliche Trennung Deutschlands auf absehbare Zeit nicht überwinden ließ, so doch zu einem Teil deren Folgen. Das war die Devise, von der die sozialliberale Koalition ausging und die nach dem Machtwechsel von 1982 auch die Deutschlandpolitik des christlich-liberalen Regierungsbündnisses prägte. In den jährlichen Berichten zur „Lage der Nation“ war zwar von der „Überwindung der deutschen Teilung“ und der „Verwirklichung der deutschen Einheit“, aber nicht mehr von der „Wiedervereinigung" die Rede. Auch in der Ansprache, die Bundeskanzler Helmut Kohl am 7. September 1987 anläßlich des Staatsbesuches von Erich Honecker in der Godesberger Redoute hielt, fehlte dieser Begriff
In den achtziger Jahren zeichnete sich somit ein gewisser Konsens ab: Die Ostverträge wurden von den Unionsparteien ebenso als Grundlage der bundesdeutschen Politik akzeptiert, wie die SPD dies ab 1959 im Hinblick auf die Westintegration getan hatte. Helmut Kohl sprach zwar häufig von der Einheit der Nation, fügte aber bereits während des Bundestagswahlkampfes von 1983 hinzu, dies bedeute nach seiner festen Überzeugung keine Lösung des „Zurück in den Nationalstaat einer vergangenen Zeit". Der Tenor der Deutschlandpolitik blieb unter Kohl derselbe wie unter den Kanzlern Brandt und Schmidt: Da die staatliche Einheit nicht auf der Tagesordnung stand, kam es darauf an, die deutsch-deutschen Beziehungen im Interesse der Menschen so gut wie möglich zu gestalten
Links von der Mitte war die Diskussion über die deutsche Frage mittlerweile weitergegangen. In der linksliberalen Publizistik, bei den Sozialdemokraten und erst recht bei den Grünen fiel die Absage an einen neuen deutschen Nationalstaat sehr viel deutlicher aus als im Regierungslager; sie wurde zum einen mit dem katastrophalen Scheitern des ersten deutschen Nationalstaates, zum anderen mit der immer deutlicher werdenden Unzulänglichkeit des Nationalstaates als Ordnungsmodell überhaupt begründet. Dazu kam die -rechts von der Mitte kaum'je ausgesprochene, in der Praxis indes durchaus beherzigte -Einsicht, daß die Entspannungspolitik auf dem Gleichgewicht zwischen Ost und West und dieses auf der Teilung Deutschlands beruhte
An der Entspannungspolitik festzuhalten schien den Sozialdemokraten vor allem deswegen geboten, weil sie in ihr die Bedingung der Möglichkeit weiterer menschlicher Erleichterungen im geteilten Deutschland sahen. Das deutsche Interesse an einem guten Verhältnis zur Sowjetunion war so stark, daß die Bonner Proteste gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 sehr viel schwächer ausfielen als im übrigen Westeuropa. Egon Bahr, der eigentliche Architekt der sozialdemokratischen Entspannungspolitik, ordnete 1982 den Anspruch der Polen auf Selbstbestimmung dem deutschen Interesse an europäischer Stabilität eindeutig unter und bejahte das Recht der Sowjetunion, gegen einen etwaigen Austritt Polens aus dem Warschauer Pakt gewaltsam vorzugehen Den Kampf gegen die „Nachrüstung" der NATO mit Mittelstreckenraketen, das beherrschende Thema des Bundestagswahlkampfes von 1983, bestritt die SPD mit der Parole „Im deutschen Interesse".
Die Hinnahme der Zweistaatlichkeit war also durchaus vereinbar mit nationalen, im Grenzfall nationalistischen Positionen. Günter Gaus, der Anfang 1981 noch den Begriff „Nation" zur Disposition gestellt hatte, erklärte im November desselben Jahres auf einem Parteitag der Berliner SPD, daß Deutschland der „Mittelpunkt unserer Politik“ sein müsse. Im gleichen Monat unterzeichneten einige Sozialdemokraten, die meist auch in der Friedensbewegung aktiv waren, jenen Offenen Brief Robert Havemanns an Leonid Breschnew, in dem der Ost-Berliner Physiker den Abschluß von Friedensverträgen mit beiden deutschen Staatenund den Abzug aller Besatzungstruppen forderte, um dann wörtlich fortzufahren: „Wie wir Deutsche unsere nationale Frage dann lösen, muß man uns schon selbst überlassen.. Heinrich Albertz, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und einer der ersten Unterzeichner des „Havemann-Briefes“, näherte sich im Streit um die „Nachrüstung" einem sonst nur im Umfeld der NPD und der „National-und Soldaten-Zeitung" üblichen Sprachgebrauch: Er bezeichnet die Bundesrepublik als „besetztes Land"
Die Kontinuitätslinien des „linken" Nationalismus der achtziger Jahre lassen sich bis in die frühen fünfziger Jahre zurückverfolgen; im Falle der SPD bis zu Kurt Schumachers Kampf gegen den „Bundeskanzler der Alliierten", im Falle der evangelisch geprägten Friedensbewegung bis zu Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei. Beide bekämpften Adenauers Politik, weil dieser der Westintegration der Bundesrepublik unbedingten Vorrang vor dem Streben nach deutscher Einheit einräumte. Waren die Gegenpositionen Schumachers und Heinemanns noch ganz dem deutschen Nationalstaat verhaftet, so bildete dieser für ihre nationalen „Enkel" keinen Bezugspunkt mehr. Wohl aber nahmen „deutsche Interessen" im Denken der Friedensbewegung wie bei Teilen der Nach-Schmidt-SPD einen ähnlich zentralen Platz ein wie bei den Widersachern des ersten Bundeskanzlers. Damit einher ging eine Distanz zum Westen, die, zu Ende gedacht, zu einem Bruch mit dem atlantischen Bündnis, also einem neuen „deutschen Sonderweg", führen mußte.
Der „Historikerstreit“ der Jahre 1986/87 hat indes deutlich gemacht, daß es auch so etwas gibt wie eine posthume Adenauersche Linke. Die Westbin-düng der Bundesrepublik ist von kaum einem Autor so emphatisch gerechtfertigt worden wie von Jürgen Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Nolte. Adenauers Skepsis gegenüber einem souveränen deutschen Nationalstaat wurde zunehmend auch von Sozialdemokraten geteilt. Das Bekenntnis zu einem an universalen Werten orientierten „Verfassungspatriotismus", das Dolf Stemberger 1982 als erster formulierte und das Habermas 1986 aufnahm, wurde zum Erkennungszeichen einer parteiübergreifenden Partei der Antinationalisten
Die Deutschen in der DDR wurden durch den „Verfassungspatriotismus“, wie er sich in den achtziger Jahren formierte, nicht ausgeschlossen. Aus dem Grundgesetz ergab sich ja auch der Auftrag, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Daß die Deutschen in der DDR denselben Anspruch auf Freiheit hatten wie die Bundesdeutschen, war prinzipiell ebenso unstrittig wie die Pflicht der Bundesrepublik, auf dieses Ziel hinzuwirken. Die Einheit freilich wurde in den achtziger Jahren immer weniger staatlich oder gar nationalstaatlich verstanden. Das Insistieren auf der staatlichen Einheit Deutschlands erschien vielen sogar als kontraproduktiv, weil es den Gegnern Gorbatschows in OstBerlin die Chance eröffnete, sich der Sowjetunion gegenüber als die einzige Alternative zur Wiedervereinigung zu präsentieren und mit ebendiesem Argument grundlegende Reformen zu blockieren. Eine konsequente Demokratisierung der DDR und auf dieser Grundlage eine neue Qualität der deutsch-deutschen Zusammenarbeit: Das war noch im Sommer 1989 das Äußerste an konkreter Utopie, was in der Bundesrepublik und in der DDR diskutiert wurde
III, Der unverhoffte Nationalstaat: Perspektiven des Einigungsprozesses
Die friedliche Umwälzung, die sich im Herbst 1989 in der DDR vollzog, wurde möglich, weil die Sowjetunion die „Breschnew-Doktrin“, die Lehre von der eingeschränkten Souveränität der Staaten des Warschauer Paktes, außer Kraft gesetzt hatte. Der Verzicht auf den Interventionsanspruch gab der nationalen Emanzipation dieser Staaten freie Bahn. Als die Sowjetunion sich im Oktober 1989 weigerte, der SED-Führung gegen die immer mehr anschwellenden Straßendemonstrationen in Leipzig und anderen großen Städten der DDR militärisch beizustehen, war der „point of no return" erreicht. Der Kreml zog mit dieser Entscheidung die Konsequenz aus der Tatsache, daß die DDR sich in einen internationalen Krisenherd zu verwandeln drohte. Eine destabilisierte DDR konnte nicht mehr die geostrategische Funktion erfüllen, die dem zweiten deutschen Staat seit seiner Gründung zugefallen war: Es war das Unterpfand des sowjetischen Anspruchs auf weltpolitische Parität mit den USA. Fast über Nacht trat das ungeschriebene Gesetz außer Kraft, das vier Jahrzehnte lang die große Politik bestimmt hatte: die Maxime, wonach der Friede in Europa auf dem Gleichgewicht der Weltmächte und dieses auf der Teilung Deutschlands beruhte. Indem Moskau die DDR zur Disposition stellte, nahm es Abschied von seinen weltpolitischen Aspirationen und leitete so das definitive Ende der Nachkriegszeit ein
Die Straßendemonstrationen in der DDR verfolgten zunächst keine nationalen Ziele. Ihre Forderungen zielten auf das innere Selbstbestimmungsrecht für die DDR, nicht auf die deutsche Einheit. Erst nach der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 wurde der demokratische Sprechchor „Wir sind das Volk“ allmählich durch andere Rufe überlagert: „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland". Die nationale Parole war das Losungswort der bisher schweigenden Mehrheit, nicht das der aktiven, überwiegend intellektuellen Opposition. Die Parole war erfolgreich, weil sich in ihr bündeln ließ, was die Massen der DDR ausdrücken wollten: negativ ihre Absage sowohl an das gescheiterte System des real existierenden Sozialismus als auch an Versuche, dieses System zu reformieren oder einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus einzuschlagen, positiv ihren Anspruch auf materielle Gleichberechtigung mit den privilegierten Deutschen in der Bundesrepublik
Die Umwälzung in Ostdeutschland widerlegte schlagartig alles, was im Westen über die Entwicklung eines eigenen DDR-Nationalbewußtseins geschrieben worden war. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte sich zwar in dem System einzurichten versucht, dieses aber nie legitimiert. Das „DDRBewußtsein" war immer an der Vergleichsgesellschaft Bundesrepublik ausgerichtet und daher von einem Gefühl der Diskriminierung geprägt; „positiv“ artikulierte es sich allenfalls gegenüber ökonomisch weniger entwickelten sozialistischen Gesellschaften wie der polnischen -im Sinne einer kompensatorischen Überhebung. Die Identifikation mit dem System blieb auf die freilich nicht kleine Gruppe von Funktionsträgern beschränkt, deren Dienste mit materiellen und immateriellen Privilegien vergolten wurden. In dem Augenblick, wo die allgegenwärtige Repression nicht mehr wirkte, enthüllte sich die Wirklichkeit: Die Mehrheit hatte die DDR nur insoweit getragen, als sie sie ertragen mußte. Die Chance der Selbstbestimmung wurde genutzt, um diesen Staat zu liquidieren und mit seinem Gebiet der Bundesrepublik beizutreten
Der Zusammenbruch der SED-Herrschaft hatte aber auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik. Der Anspruch der Ostdeutschen auf materielle Gleichberechtigung erinnerte die Bundesdeutschen daran, daß nicht sie, sondern die Deutschen in der DDR die eigentlichen Verlierer des Zweiten Weltkrieges waren. Während der vier Jahrzehnte der staatlichen Trennung war dies immer das stärkste Argument zugunsten des Festhaltens am Begriff der deutschen Nation gewesen: Dieser Begriff stand für die Solidarität mit den Deutschen, denen die Hauptlast einer gemeinsamen Vergangenheit aufgebürdet worden war. Mit dem Begriff „Kulturnation", der traditionell auch Österreich und die deutschsprachige Schweiz einschloß, war dieser spezifischen Dimension des deutsch-deutschen Verhältnisses nicht beizukommen. Die besondere Beziehung zwischen Bundesdeutschen und Deutschen in der DDR ergab sich aus der politischen Geschichte Deutschlands seit der Reichsgründung von 1871. Zu einer abgeschlossenen Episode der deutschen Geschichte hätte der erste Nationalstaat nur werden können, wenn sich die Deutschen in der DDR in freier Selbstbestimmung dafür entschieden hät-ten, eine eigene Nation zu bilden. Da sie dies nicht konnten und nicht wollten, fehlte auch der Bundesrepublik das Recht, sie und sich selbst aus der gemeinsamen deutschen Nation zu entlassen.
Mit der Vereinigung der beiden Staaten am 3. Oktober 1990 hörte die Bundesrepublik Deutschland auf, jene .. postnationale Demokratie unter Nationalstaaten" zu sein, als die sie Karl Dietrich Bracher 1986 bezeichnet hat. Das vereinigte Deutschland ist wieder ein Nationalstaat, und zwar -da es auf seinem Territorium keine ungelösten Nationalitätenprobleme gibt -ein homogenerer als das Reich von 1871. Vom ersten deutschen Nationalstaat trennt den zweiten auch sonst vieles: Er ist, sozusagen a priori, eingebunden in supranationale Zusammenschlüsse wie Europäische Gemeinschaft und NATO und hat von vornherein in bestimmte qualitative und quantitative Beschränkungen seines militärischen Potentials eingewilligt. Vom Idealtyp des klassischen Nationalstaates ist das neue Deutschland mithin weit entfernt. Als funktionsfähige parlamentarische Demokratie ist das vereinte Deutschland auch frei von jenem Erbe des Bismarckreiches, an dem der erste deutsche Nationalstaat letztlich gescheitert ist: der historischen Verschleppung der Freiheitsfrage.
Aber es gibt auch Kontinuitäten zwischen dem ersten und dem zweiten Nationalstaat: Als Bundes-, Rechts-und Sozialstaat steht das vereinte Deutschland in einer Tradition, die älter ist als die 1919 geschaffene Demokratie. Noch augenscheinlicher ist eine räumliche, den Geltungsbereich des Begriffs „deutsche Nation" bestimmende Kontinuität: Im Jahre 1990 ist nochmals die kleindeutsche Lösung von 1866, der Ausschluß Österreichs, bestätigt worden. Ein noch größeres Deutschland wäre 1871 für das übrige Europa unerträglich gewesen. 1990 war die Festschreibung der Grenzen eines erheblich kleineren deutschen Staatsgebietes eine der Vorbedingungen dafür, daß die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges der Vereinigung Deutschlands zustimmten
Die Lösung der nationalen Frage bedeutet noch nicht, daß der deutsche Nationalismus der Ge-schichte angehört. Manches spricht dafür, daß es in den neuen Bundesländern ein Reservoir für „nachholenden Nationalismus“ gibt. Langjährige Diskriminierung und fortdauernde Ungleichheit der Lebensverhältnisse könnten bei vielen ehemaligen Bürgern der DDR den Wunsch stimulieren, sich als besonders gute Deutsche zu beweisen. Für die Ablenkung von Aggressionen auf „sekundäre Minderheiten" wie Gastarbeiter, Asylbewerber und andere in Deutschland lebende Ausländer bietet die frühere DDR einen besonders fruchtbaren Boden, weil sie -anders als die alte Bundesrepublik -keine Gelegenheit hatte, sich allmählich zu einer „multikulturellen Gesellschaft" zu entwikkeln. Rechtsradikale Gruppierungen wie die NPD und die „Republikaner", die im Zuge der deutschen Vereinigung keine Chance hatten, sich „national" zu profilieren, könnten aus dieser Konstellation Nutzen ziehen -und neonazistische Jugendgruppen tun dies bereits in vielen Orten Ostdeutschlands
Auch für einen linken Nationalismus gibt es im vereinigten Deutschland gewisse gesellschaftliche Voraussetzungen. Ein nationaler Pazifismus kann an antiwestliche Ressentiments anknüpfen, die in der früheren DDR stärker sind als in Westdeutschland. Gegen die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO bestehen in der Bevölkerung der neuen Bundesländer bis heute Vorbehalte. Die Europäische Gemeinschaft ist für viele neue Bundesbürger ein fernes und abstraktes Gebilde; für die UNO gilt dasselbe. Parolen, die auf einen nationalen Neutralismus oder Isolationismus abzielen, dürf-ten daher in der früheren DDR mehr Widerhall finden als in der alten Bundesrepublik
Aber auch im Westen Deutschlands wird der Souveränitätszuwachs, der mit der Vereinigung Deutschlands verbunden ist, oft weniger als Gewinn denn als Belastung empfunden: Auf das vereinigte Deutschland kommen Entscheidungen und Verpflichtungen zu, die der nur beschränkt souveränen Bundesrepublik vier Jahrzehnte lang erspart geblieben sind. Der Golfkrieg hat Anfang 1991 schlagartig beides deutlich gemacht: die internationalen Erwartungen, die sich an das größer gewordene Deutschland richten, und in Deutschland selbst -bei den Regierenden wie bei den Regierten -eine tiefe Unsicherheit über den neuen Status des Landes als einer der kleineren Groß-mächte.
Zu Massenbewegungen brauchen weder der rechte Nationalismus noch der pazifistische Kryptonationalismus zu werden. Vieles hängt davon ab, in welchem Tempo das Wohlstandsgefälle zwischen West-und Ostdeutschland eingeebnet wird. Die bei vielen Bürgern und Politikern der alten Bundesrepublik verbreitete Auffassung, die Herstellung der deutschen Einheit dürfe sich auf den westdeutschen Alltag nicht nennenswert auswirken, ist eher geeignet, die Ungleichheiten zu verfestigen. Eine Mentalität der Besitzstandswahrung, die Kehrseite des über die Jahre hinweg gewachsenen bundesdeutschen „Wir-Gefühls", gibt es aber nicht nur im Hinblick auf die materiellen Lebensverhältnisse. Sie hat sich auch im Streit um die für die Entwicklung der neuen Bundesländer sehr erhebliche Frage artikuliert, ob Bonn oder Berlin der Sitz von Regierung und Parlament sein soll.
Die Entscheidung für Berlin, die der Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991 getroffen hat. bedeutet deshalb einen großen Schritt nach vorn im inneren Einigungsprozeß.
Angesichts der deutschen Vereinigung und der Renaissance von Nationalstaaten im östlichen Mitteleuropa deutet vieles darauf hin, daß der Nationalstaat -um den Titel eines inzwischen klassisch gewordenen Aufsatzes von Stanley Hoffmann aus dem Jahre 1968 aufzunehmen -eher obstinat als obsolet ist Er scheint wieder zum Regelfall staatlicher Existenz zu werden, während die autoritär verfaßten multinationalen Gebilde sich im Zustand der Auflösung befinden. Doch zu einer Apotheose des Nationalstaates besteht kein Anlaß. Wo es, wie in Mitteleuropa, eine national-staatliche Normalität nie gegeben hat, kann es auch keine Rückkehr zu ihr geben. Die Krise des Nationalstaates ist, bei näherem Hinsehen, universal. Für viele Probleme -obenan die der Umwelt und der Sicherung des Friedens -sind national-staatliche Lösungen schlechterdings unmöglich, und das Fortschreiten der europäischen Integration läßt sich allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten.
Hinter die Europäisierung und Internationalisierung des Denkens, die sich in der alten Bundesrepublik allmählich vollzogen hat, darf es daher ein Zurück nicht geben. Sie ist eine der Errungenschaften der Nachkriegszeit, die es in das vereinigte Deutschland einzubringen gilt.