I. Neue Perspektiven
Blicke man, so Hans-Ulrich Wehler in einem Auf- über das deutsche Bildungsbürgertum, „aus der Vogelperspektive auf die okzidentalen Gesellschaften“, so rückten „ihre Modernisierungspfade weitaus enger zusammen, als das die auf national-historische Eigenarten fixierte Geschichtsschreibung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrgenommen hat“ Manche wetzen bei solchen Sätzen die Messer. Den einen sind okzidentale Gesellschaften suspekt, anderen die Modernisierung und deren teleologische Verdämmerung, und manchen fehlt darin der Alltag. Wieder anderen markieren solche Sätze -selbst wenn, wie hier, die Annahme vom deutschen Sonderweg mehrfach gewendet und im Für und Wider geprüft wird -„lähmende Orthodoxie“ schlimmster, das heißt: Bielefelder Provenienz
Die Jahre 1989/90 haben eine neue Chance zur Vogelperspektive vermittelt, haben diese Chance manchem gar aufgenötigt. Geschichte fing neu an. Der Blick zurück sieht andere Konturen, Grundzüge, Erklärungen. Einiges läßt sich durch Akzentuierung anpassen, vieles stimmt weiterhin, wichtiges ist neu zu sehen. Die Sonderwegsdebatte und der Historikerstreit, so manche Schlacht um die Ursachen des Ersten Weltkriegs, um die vergebenen Chancen der Deutschen Revolution 1918/19, den Untergang von Weimar und den Aufstieg des Nationalsozialismus, um Faschismus und Totalitarismus, Restauration oder Neubeginn -all dies erscheint in neuem Licht. Wilhelminischer Spätkonstitutionalismus und Weimarer Republik, nationalsozialistischer Terror, DDR-Sozialismus und westliche Demokratie -diese Möglichkeiten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert rücken, aus der Vogelperspektive, enger aneinander, und eine alte Debatte um die grundlegenden Prozesse euro-satz Geschichte, um Zwangsläufigkeit und Wechselbezug von Industrialisierung, Modernisierung und Demokratisierung, lebt notwendig wieder auf. Denn der Sieg der westlichen, der bürgerlich-repräsentativen Demokratie hätte vollständiger kaum sein können. Die Jahre 1989/90 haben, so scheint es, die Modernisierungspfade der westlichen Industrienationen wieder näher aneinander rücken lassen und, darüber hinaus, den Osten Europas in den Sog dieser Modernisierung genommen. Im Licht dieser jüngsten Entwicklungen sollte -beispielsweise -die Sonderwegsthese modifiziert werden. Nicht so sehr die Entstehung der zentral-europäischen Sonderstrukturen und Besonderheiten, sondern deren Abschleifung war das eigentlich Wichtige. Freilich wird man die Korrektur der Sonderwegsthese nicht recht ohne deren Entstehung deuten können. Festzustellen ist aber, daß die Welt ein Dreivierteljahrhundert -gut zwei Generationen -zur demokratischen Befriedung der unruhigen Deutschen in der Mitte Europas benötigte, zunächst im heißen und dann auch, in anderer Weise, im Kalten Krieg. Das wäre vielleicht besser zu verkraften gewesen, hätte sich diese weltpolitische Konfliktlage nicht mit der anderen, noch umfassenderen verwoben -der Auseinandersetzung zwischen der bürgerlichen und der radikalproletarischen Utopie bis hin zur Niederlage der letzteren. Man könnte einwenden, beides sei noch nicht ausgemacht; weder sei der Kommunismus völlig am Ende -allemal werde er Erbschaften hinterlassen -, noch sei den Deutschen endlich zu vertrauen. Aber die Entwicklungen haben doch die Möglichkeit solchen Denkens offengelegt.
II. Zäsuren im 20. Jahrhundert
Feste, überaus einschneidende Zäsuren haben sich in die rückblickende Wahrnehmung dieser 75 Jahre deutscher Geschichte eingegraben: der Kriegsausbruch 1914 und die Revolution, die sogenannte 1k gekürzter Form erscheint dieser Essay auch in der Festschrift für Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag: Manfred Hettling u. a. (Hrsg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte?, München 1991.
Machtergreifung, der Weltkrieg seit 1939, der Neubeginn und das Jahr 1949 als formaler Anfang deutscher Zweistaatlichkeit. Gewiß ist immer wieder über Kontinuitäten diskutiert worden. Man hat die Unfähigkeit der Revolutionäre von 1918 zur Überwindung des alten Geistes in Heer, Bürokratie und Justiz beklagt und eine Reihe von schwer lastenden Hypotheken der Weimarer Demokratie dieser Geburtsschwäche der Republik zugeschrieben. Sozialgeschichtliche Forschung über die strukturellen Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Gesellschaft in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik hat demgegenüber in den letzten Jahren, stärker als bisher, die übergreifende Einheit der Jahre 1914 bis 1923 unter dem Eindruck von Inflation, Mangelwirtschaft und Zerrüttung der bürgerlichen Ordnung erarbeitet
Ob Kontinuität oder Neubeginn, „Stunde Null" nach 1945 -daran knüpfte sich eine bis heute anhaltende Debatte, in deren Verlauf nunmehr, ebenfalls unter eher sozialgeschichtlicher Interpretation, neue Eckdaten, beispielsweise Stalingrad und die Währungsreform, in den Blick genommen wurden Auch die bisher weitgehend akzeptierte innere Periodisierung der Weimarer Republik, die Unterscheidung der Revolutions-und Inflationsphase von einer Stabilisierungsphase und der Zeit der Weltwirtschaftskrise, erwies sich bei näherer wirtschafts-und sozialgeschichtlicher Betrachtung als so nicht haltbar, waren doch auch die kurzen Stabilisierungsjahre von einer vergleichsweise hohen Sockelarbeitslosigkeit gekennzeichnet, zu schweigen von den generellen wirtschaftlichen Belastungen der Zeit
Die „harten" politischen Fakten des 20. Jahrhunderts haben diese Debatten immer wieder begrenzt. Niemand kann umhin, den Weltkriegen die Wirkung tiefer wirtschafts-und gesellschaftsgeschichtlicher Zäsuren zuzusprechen; Revolution und Machtergreifung, Besatzungszeit und Neubeginn sind ähnlich feste Daten. Für einige Offenheit hat allenfalls die wirtschafts-und sozialgeschichtliehe Auseinandersetzung gesorgt, aber auch hier scheinen die Begriffe noch nicht gefunden, auch, weil sich die Debatte über viele Jahre mit theoretischen Auseinandersetzungen um Imperialismus und staatsmonopolistischen Kapitalismus vermengte. Die Uneinheitlichkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Währungsreform von 1948 macht es so schwer, gleichmäßig fließende Ströme der Entwicklung zu bezeichnen. Während die Epochenbegriffe für das 19. und frühe 20. Jahrhundert -mag in Details auch gestritten werden -einigermaßen festgefügt erscheinen, mangelt es den Epochenbegriffen des 20. Jahrhunderts an Strukturqualität.
In einem „Gedankenspiel" hat sich Arnulf Baring kürzlich in das Jahr 2010 begeben und aus den Geschichtsbüchern jener Zukunft auf die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts zurückgeblickt Aus den „unheilvollen Konstellationen, wie sie unsere katastrophalen Niederlagen 1918 und erst recht 1945 herbeigeführt haben", habe „die vertrauensvolle westliche Einbettung“ das Land zu neuem Aufstieg und schließlich zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten geführt, trotz der Sprachlosigkeit der Intellektuellen. Jetzt, im Jahre 2010, falle „eindrucksvoll die Kontinuität von Staat und Gesellschaft ins Auge"; das Völkerrecht begründe diese Kontinuität; in dessen Sicht sei die DDR nichts als eine „vorübergehende Sezession", der Bonner Staat hingegen „rechtlich das Reich” gewesen. Welches Reich? Der Bismarckstaat, „tiefgreifend verwestlicht" durch Adenauer, aber doch, und trotz der Gebietseinbußen, nach der „Gesamtverfassung" in den Fundamenten von 1871 ruhend.
Gegen die so gedachte Renaissance des Nationalstaats ist es derzeit schwer, Argumente zu finden, zumal sich die „Westbindung" darin zum Mythos auswächst. Viel problematischer erscheint aber die Hochschätzung des Bismarckstaates und die souveräne Mißachtung von Forschungspositionen, die seit drei Jahrzehnten als Gemeinplätze gelten: Die Problematik der Bismarckschen Reichsverfassung und die mißlungene „innere Reichsgründung", die Ausgrenzung der „Reichsfeinde", die mangelnde Reformfähigkeit des Reichs und die hohle Überlebenskraft seiner überkommenen Eliten, die Rolle „sekundärer" Herrschaftstechniken infolge mangelnder demokratischer Legitimation, all dies so sehr traditionsbelastet wie dem raschesten sozialen Wandel unterworfen -nein, das Bismarckreich kann, sieht man von der Vollendung des Nationalstaates ab, kaum als Ausgangspunkt einer doch positiven Identität, als Beginn einer in die Gegen-wart reichenden Kontinuität gelten. Aber Baring hat eben auch recht, indem er nach einer Kontinui-tät sucht, die über die Zerklüftungen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert hinausreicht.
III. Die NS-Diktatur und die Kontinuität deutscher Geschichte
Einer solchen Suche nach Kontinuität stemmt sich die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sperrig entgegen. Das liegt nicht so sehr an dem Umstand, daß ein totalitäres Regime Freiheit und Demokratie niederwalzte und der beginnenden „Verwestlichung“ Deutschlands Einhalt gebot. Man könnte viele Beispiele für, wenn man so will, .. Entwicklungsdiktaturen“ beibringen, für Herrschaftsformen mithin, die gleichermaßen aus spezifischen Traditionen, aus Hypotheken, Krisen und kollektivem Fehlverhalten erklärbar sind und die spezifische Entwicklungsfunktionen in Zeiten starken Wandels wahrnehmen. Es liegt zuerst und vor allem an der gleichzeitigen Realität und Undenkbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, an deren Unvergleichbarkeit, an der Präzision ihres Vollzugs, an der grotesken Unmenschlichkeit des Völkermords. Und es liegt daran, daß sich, genauer besehen, auch hier Deutungen finden lassen, daß es Kontinuitäten deutscher Geschichte gibt, die -erwähnt seien Antisemitismus und Euthanasie -auf die „Endlösung“ vorausweisen.
So wenig, wie heute die Auslösung des Historiker-streits über eine „Historisierung" des Nationalsozialismus zufällig erscheint, so wenig fruchtbar erscheint der Ausgangspunkt der Debatte Abstrus war es, lernen zu müssen, daß manche Menschen annehmen, der Nationalsozialismus sei eine Reaktion auf den Bolschewismus und die Verbrechen des ersteren seien eine Nachbildung, sozusagen eine verständlich werdende Reaktion -oder was immer sonst -auf die Verbrechen des letzteren gewesen. Gegen solche Relativierung sträubt sich das Denken. Selbst der umfassenderen These vom „europäischen Bürgerkrieg“ im 20. Jahrhundert ist letztlich eine starke Tendenz zur Exkulpation der Deutschen eigen. Solcher Widerspruch entbindet jedoch keineswegs von der selbstverständlichen Notwendigkeit, die nationalsozialistische Diktatur in Ursachen und Folgen historisch einzubinden, zu historisieren, ohne die in Art und Ausmaß der Verbrechen und in deren spezifischen Bezügen -„Auschwitz ist ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens“ -begründete Einzigartigkeit dieser Diktatur aus dem Auge zu lassen.
Der Nationalsozialismus gewinnt „Sinn" aus der Frage nach den Möglichkeiten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Die Zeit der Diktatur war Konsequenz von erklärbaren Fehlentwicklungen auf dem deutschen Weg zu einem Mitglied der demokratischen Völkergemeinschaft. Das Argument der Katharsis ist alt, aber es läßt sich vielfältig begründen. Man müßte den ganzen Reichtum der jüngeren Forschung heranziehen: jene über die Desavouierung der Steigbügelhalter-Eliten, über die „Kragenlinie“ zwischen Arbeitern und Angestellten und über sozialpolitische Entwicklungen in der NS-Zeit, über die Arbeiterbewegung und den Widerstand, über die Folgen von Terror und Völkermord in der Wahrnehmung nach 1945 und über vieles andere. Die Auseinandersetzung über die „modernisierende“ Bedeutung des Nationalsozialismus für die deutsche Gesellschaft ist noch nicht beendet und allemal waren die „Kosten“ der zwölfjährigen Diktatur unbeschreiblich viel höher als der relative und sehr langfristige „Nutzen“, der nur vor dem Hintergrund einer hypothetischen Evolution der Weimarer Demokratie meßbar würde.
IV. Wechselbäder politischer Sozialisation
Aber Weimar bekam keine echte Chance. Man muß das Argument einer nur etwa vierjährigen Stabilisierungsphase, in der sozusagen normale politische Verhältnisse herrschten, historisch vertiefen, um seine ganze Tragweite zu verstehen. Man muß nach der gesellschaftlichen und demo-kratischen Sozialisation der Menschen fragen, nach den generationellen Erfahrungen gesellschaftlicher Großgruppen, nach den Chancen zur Adaption dessen, was so unscharf wie treffend „politische Kultur“ der Demokratie westlichen Musters genannt wird.
Aus demographischen Gründen war die Generation der zwischen 1890 und 1914 Geborenen in der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung besonders stark vertreten: Die Geborenenziffer war noch vergleichsweise hoch, aber die Säuglingssterblichkeit ging stark zurück, so daß ein jährliches Bevölkerungswachstum von meist deutlich über einem Prozent erreicht wurde, während die Auswanderung stark rückläufig war. Die im Wilhelminischen Reich Geborenen und Aufgewachsenen erlebten eine gesellschaftlich gespaltene Sozialisation" Zumal im anhaltenden konjunkturellen Aufschwung seit Mitte der 1890er Jahre stabilisierten sich die Klassenmilieus dieser Gesellschaft, vertieften sich, wuchsen sich zu einer je eigentümlichen „Heimat" aus -mochten auch manche äußeren Aspekte, darunter die generelle Hebung der Lage der Arbeiter, langfristig eine andere Tendenz einläuten. Es war nicht so sehr die Entwicklung der sozialen Ungleichheit und der Klassendifferenz für sich, sondern deren politische Überformung durch den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat, die scharf unterschiedene sozialisatorische Milieus schuf. Das ließe sich an der Parteilichkeit der Behörden so deutlich wie an der Spaltung der Vereinskultur, an der -bezogen auf die Arbeiter -Klassenjustiz so klar wie am preußischen Dreiklassenwahlrecht zeigen.
Je nach Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus wurden Kriegserfahrungen, Revolution und Inflation sehr unterschiedlich gedeutet: Das Arbeiterkind, in der Zeit um die Jahrhundertwende unter den Daseinsbedingungen zunehmend großstädtischer Arbeiterquartiere aufgewachsen und in der Volksschule mit den „tragenden" Werten der spätwilhelminischen Gesellschaft vertraut gemacht, erlebte den Krieg ganz anders als der Sproß gutbürgerlicher Familien, dessen Sozialisation in Familie, Schule, Kirche und Gymnasium bis hin zur Universität und zum studentischen Verbindungswesen viel stärker auf die bestehende, konstitutionell-monarchische Gesellschaft und politische Herr-* schäft bezogen war. Der letztere nahm das Kriegsende als eine herbe Enttäuschung nationaler Leidenschaften wahr, und Waffenstillstand sowie Friedensvertrag waren ihm tiefe Demütigungen; die Revolution trieb ihn zusätzlich in rechtsradikales Fahrwasser. Älter werdend, mußten ihm die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Sachsen oder im Ruhrgebiet wie eine Verhöhnung der bürgerlichen Ordnung vorkommen. Je stärker die Inflation voranschritt, desto schmerzlicher waren in den mittel-und großbürgerlichen Familien auch materielle Einbußen zu spüren -der Verlust eines über mehrere Generationen angesammelten Kapitalbesitzes etwa und der hieraus fließenden Einkommen.
Anders der jugendliche Arbeiter, der sich noch vor 1914, in besonders zahlreichen Fällen jedoch erst im Verlauf des Krieges -im Zuge des überaus starken Wachstums der Organisationen seit etwa 1916/17 -der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte. In der Revolutionszeit durchzog ein Generationenkonflikt die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung, indem sich „Altmitglieder", organisationserfahrene und mit den Gewerkschaften und sozialdemokratischen Ortsvereinen geradezu verwachsene Arbeiter, und neue „Novembermitglieder" (Eduard Bernstein) mit sehr unterschiedlichen Ansichten über Revolution, Sozialisierung und die Rolle der Arbeiterorganisationen gegenüberstanden. Zu Hunderttausenden wurden gerade die Neumitglieder von den Erfolgen der Revolution enttäuscht, wandten sich von der „alten" Arbeiterbewegung ab und den neuen anarchosyndikalistischen Organisationen eher vorübergehend, der Kommunistischen Partei auch dauerhaft zu. Dabei ging von der erfolgreichen Russischen Revolution 1917 eine erhebliche Sogwirkung aus. Man versteht besser, warum die (schwer-) industriellen Bezirke Sachsens, Oberschlesiens oder der beiden preußischen Westprovinzen zu Herden der Unruhe und Enttäuschung wurden, wenn man weiß, daß gerade hier im Zuge der Wanderungsbewegungen vor 1914 „jugendlastige" Bevölkerungen entstanden waren.
Alle Arbeiter mußten schließlich die Wiederherstellung geordneter Währungsverhältnisse im Spätherbst 1923 und die sich anschließende Stabilisierungskrise, die in manchen Branchen bis 1925 anhielt und zeitweise eine hohe Arbeitslosigkeit verursachte, als den Austrag von Fehlentwicklungen ausschließlich auf ihrem Rücken verstehen. Die Inflation hatte die innergesellschaftlichen Fronten quergestellt. Nicht die Inhaber von Produktionsmitteln und die Lohnabhängigen hatten, wie in „Normalzeiten" gewohnt, um die Verteilung des produzierten Mehrwerts gerungen, sondern in einer Situation unmittelbarer Existenzbedrohung war es schlicht um Lebensmittel gegangen, um scharfe, zur Selbsthilfe drängende Konflikte zwischen Produzenten von Nahrung, deren Verteilern (dem Kleinhandel) und Konsumenten. Das war eine zusätzlich außerordentlich desorientierend wirkende Erfahrung gewesen, die so manche für ihre eigenen Zwecke zu nutzen verstanden -so die Hamburger Kommunisten, die im Spätsommer 1923, ausgehend von Wochenmarktunruhen, die proletarische Revolution probten.
Diese Gegenüberstellung unterschiedlicher milieu-bezogener Sozialisationserfahrungen kann letztlich nicht befriedigen, weil viel zu grob typisiert wird. Die Sozialgeschichte findet hier ein außerordentlich weites, kollektivbiographisches Forschungsfeld vor, das von der „politischen Geschichte“ der Revolutionszeit immer nur sehr oberflächlich behandelt worden ist Mit Hyperinflation und Stabilisierungskrise war die Zeit der sozialisatorischen Wechselbäder jedoch keineswegs beendet. Während der relativen Ruhejahre der Republik -im ganzen nur drei, vier Jahre bis zum Herbst 1929 -stabilisierten sich die gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterorganisationen. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen ließen erkennen, daß die verfassungskonforme politische Mitte erstarkte; man kann die parlamentarische Aktivität dieser Jahre als einigermaßen normalisiert, die Praxis der Demokratie in Vereinen. Verbänden, Kommunen und Landtagen als wenigstens zeitweilige Gewinnung einer bürgerlich-repräsentativen politischen Kultur deuten. Da schwingen gewiß viele, für sich klärungsbedürftige Konnotationen mit, und die Begriffe einer solchen Sozialisationsgeschichte wären erst noch zu klären
Daß die Weltwirtschaftskrise auf allen Ebenen die Entwicklung eines demokratischen politischen Stils hemmte, störte und zerstörte, daß mit der außerordentlich hohen Arbeitlosigkeit seit etwa 1931 und mit der Notverordnungspraxis der Präsidialkabinette die sozialen und politischen Konturen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verschwammen, das wird jedem rasch offenbar, der auch nur einen einzigen Polizeibericht über Versammlungen, Demonstrationen, Arbeitskonflikte oder Parteien aus dieser Zeit liest. In der Krise läßt sich deshalb beobachten, daß generationeile Sozialisationserfahrungen unter gering entwickelter demokratischer Kontrollfähigkeit zu beinahe beliebigen politischen Affiliationen führten. Die relative Jugendlichkeit der Anhänger sowohl von KP-Formationen als auch der SA und insbesondere die Phänomene der Rechts-Links-und Links-Rechts-Fluktuation unter dem Eindruck der schweren Arbeitslosigkeit sind ebenso bekannt wie die relative Alterung der stabilen Arbeiterorganisationen, ebenso auch wie die nachweislich einander sehr ähnlichen Sozialisationen der NS-Führungskader, etwa der Gauleiter.
V. Altlasten der Arbeiterbewegung
Die sozialisatorischen Wechselbäder zwischen Kriegsausbruch und Machtergreifung helfen zu verstehen, weshalb der Verfassungskonsens der Republik von Anbeginn brüchig blieb und in der Weltwirtschaftskrise aufgerieben wurde. Man sollte eine solche Argumentation nicht als neuerliche Exkulpationsstrategie mißverstehen. Ein Blick auf die „institutionellen Altlasten“ hilft, dies zu verhindern, und zwar am Beispiel der Arbeiterbewegung. Die deutsche Sozialdemokratie war, beinahe mehr noch als die Gewerkschaften, ein Kind ihrer Zeit: das Produkt derselben Gesellschaft und derselben Herrschaftsverhältnisse, die zu verändern und zu überwinden sie angetreten war Schon die Gründung der Sozialdemokratie im wesentlichen vor den Gewerkschaften hatte eine deutsche Besonderheit jedenfalls im Vergleich zum englischen Weg bezeichnet. Viel entscheidender war für die weitere Entwicklung der politischen und auch der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung jedoch die Stigmatisierung beider zu „Reichsfeinden" bald nach der Reichsgründung. Dieser Ausgrenzungsversuch gipfelte im Sozialistengesetz 1878 bis 1890,aber die für diese Verbotszeit kennzeichnende Mixtur von scharfer Repression und „positiven" Maßnahmen, sprich Sozialpolitik, war nicht wirklich eine Erfindung Bismarcks. Schon das nachrevolutionäre Jahrzehnt der 1850er Jahre hatte eine ganz ähnliche Konstellation hervorgebracht. Es war der spezifische Habitus Preußens als deutscher Ordnungsmacht, der sich politisch so weitgehend stilbildend auswirkte, daß auch die von ihm geprägt wurden, die ihn zu überwinden strebten.
Darin bildeten sich zwei Zusammenhänge heraus, die -darin lag ihre fatalste Konsequenz -fortbestanden, als ihre Voraussetzungen weitgehend entfallen waren: der Umstand, daß die Arbeiterbewegung ihre gesellschaftliche und politische Marginalisierung zum einen mit innerer Radikalisierung, und sei sie von der eher verbalen Art, zum anderen mit sozusagen positiver Lagerbildung beantwortete. Es ist leicht nachzuvollziehen, daß der theoretische Eklektizismus innerhalb der Sozialdemokratie bis in die späten 1870er Jahre auch weiterhin seine Chance behalten hätte und in Reformismus und politischen Pragmatismus gemündet wäre, wenn nicht die ausnahmerechtliche Verbotssituation seit 1878 die gesellschaftliche und politische Sozialisation einer späterhin wichtigen Kerngruppe der Arbeiterklasse bestimmt und viele Menschen zu der scheinbar tagtäglich aufs Neue bewiesenen Annahme veranlaßt hätte, die Politik im Kaiserreich stehe im Dienste der herrschenden Klasse. Statt dessen schritt während der gewaltsamen Ausgrenzung der Bewegung die Rezeption des Marxismus seit Engels'„Anti-Dühring“ beinahe unaufhaltsam bis zum programmatischen Höhepunkt von Erfurt 1891 voran. Überdies vermittelte die Zeit des Leidens unter sozialistengesetzlicher Unterdrückung der Sozialdemokratie recht eigentlich ihren Gründungsmythos: Es gab jetzt ein proletarisches Heroenzeitalter. Die theoretischen Auseinandersetzungen der Folgezeit brachten starke Reibungsverluste und verfehlten die soziale Realität, in der sich Praxisbezug vielfach fern jeder Theorie herstellen mußte. Einer Arbeiterbewegung, die den jedenfalls verbal ziemlich ungeteilt revolutionären Strömungen huldigte, wollten sich auch linksliberale Stimmen im Bürgertum kaum zuwenden. Die Flügelbildung innerhalb der Partei hätte darüber hinaus kaum so weitreichende Bedeutung erhalten, hätte sie sich nicht während der Kriegszeit sozial gleichsam aufladen können, indem Großgruppen von Mitgliedern und Anhängern begannen, sich ihr zuzuordnen.
Weniger eindeutig war der Beitrag der Arbeiterbewegung als Organisation zur Festigung des Milieus der Arbeiterklasse. Es ist inzwischen üblich geworden, und es entspricht der Ambivalenz dieser Entwicklung, zwischen „Arbeiterkultur“ und „Arbeiterbewegungskultur“ zu unterscheiden Unter ersterer lassen sich am besten die besonderen Verhaltensweisen und Werte verstehen, die Arbeiter im Zusammenhang der Lohnarbeit und unter deren materiellen Bedingungen sowie in ihren Familien und kommunalen Daseinsformen entfalteten und die tradierfähig waren. Man kann diese Arbeiterkultur in ihren jeweiligen Wirklichkeitsbereichen empirisch studieren und wird dort eine erstaunliche Fülle von Besonderheiten des Umgangs miteinander -der Wertorientierungen, der Sprache und der Gesten -entdecken. Arbeiterbewegungskultur umfaßt hingegen die breite Palette der in engen Zusammenhängen mit der gewerkschaftlichen und der politischen Arbeiterbewegung entstandenen und zum Teil von den entsprechenden Organisationen bewußt geförderten Bildungs-, Freizeit-, Unterhaltungs-und Sportvereine sowie nicht zuletzt die kunst-, bildungs-und kulturpolitischen Perspektiven, die in der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften formuliert wurden.
Beides, die Arbeiter-und die Arbeiterbewegungskultur, war nach Form und Ziel keineswegs kongruent, aber die ihnen zuzuordnenden Organisationen sind ohne die Besonderheit von Arbeiter-kultur nur schwer zu verstehen. Diese wiederum lenkt den Blick auf die soziopolitischen Zusammenhänge, in denen sich solche klassenbezogene Besonderheit entfaltete. In einem außerordentlich grundlegenden Prozeß wurde das, was Gustav Mayer unter Bezug auf die 1860er Jahre als Trennung der bürgerlichen von der proletarischen Demokratie erfaßte, mit einem Höhepunkt in den 1890er Jahren -als der Verbotsdruck verschwunden war -in der Vereinsgesellschaft beinahe jeder Kleinstadt nachvollzogen Die Klassenfurche durchzog, dank ihrer politischen Überwölbung, die Gesellschaft des Kaiserreichs immer tiefer.
Diese Absonderung proletarischer Organisationsvielfalt erreichte, als ein Prozeß der Organisationsbildung, ihren Höhepunkt erst in den Jahren der Weimarer Republik -zu einer Zeit, in der mit der demokratisch-parlamentarischen Verfassung jedenfalls ihre politischen Voraussetzungen entfallen waren und ihre ökonomischen Voraussetzungen an Gewicht zu verlieren begannen. Denn der Prozeß der Klassenbildung -meßbar zumal an zunehmender sozialer Ungleichheit zwischen Arbeitern und anderen Schichten und Klassen der Gesellschaft -scheint bereits in spätwilhelminischer Zeit an Eindeutigkeit verloren zu haben, und gewisse Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit beschleunigten diesen vielschichtigen und langfristigen, immer wieder verzögerten und zeitweise auch rückläufigen Prozeß Die Milieus blieben konsistent zu einer Zeit, da sie es nicht mehr hätten sein müssen.
Viele weitere Umstände trugen hierzu bei: die Verzögerung „qualitativer“ Urbanisierung durch Inflation und Wirtschaftskrise, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit; der höchstens geringe und allenfalls auf die Stabilisierungsjahre beschränkte Zugewinn an materieller Sicherheit; die Beschränkung und partielle Rücknahme der an sich schon nicht überwältigenden Revolutionserfolge der Arbeiter; vor allem aber innenpolitisch das Verhalten der Klassenantipoden und die mangelnde Integrationsfähigkeit und -bereitschaft anderer, um ihre errungenen Positionen fürchtender Schichten in der Gesellschaft sowie, in größeren Zusammenhängen, die Reizwirkung der scheinbar so erfolgreichen bolschewistischen Revolution.
Auch in der Demokratiezeit sahen sich Arbeiter auf ihre Klassenmilieus verwiesen, auf Milieus mithin, die sich längst verfestigt, die sich in Organisationen etabliert hatten, so daß es inzwischen gar Theoretiker solcher kultureller Sonderung gab. In dieser Milieukonsistenz lag aber zugleich ein strukturelles Hindernis für Partizipation und Toleranz und letztlich für kulturelle Entfaltung. Das wechselseitige Unverständnis wurde prolongiert. Nach 1945 haben einige Arbeiterführer sehr bewußt auf den Wiederaufbau einer in Organisationen betonierten Arbeiterkultur verzichtet; aber der Umstand, daß eine neue Arbeiterkulturbewegung zwar in einigen Bereichen, aber wenig klassen-und milieubezogen und mehr als ein Abglanz der alten Tradition entstand, hatte weitere, wichtige Gründe.
VI. Merkmale der Epoche
Ich will mit dieser Argumentation nicht etwa der Arbeiterbewegung und noch viel weniger den Arbeitern Schuld an ausgebliebener Fundamentaldemokratisierung zuweisen. Will man dieses Defizit aufzeigen, so läge das plausiblere Argumentationsfeld allemal auf der anderen Seite. Das hat die Forschung seit Kurt Sontheimers Abhandlung über „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ immer wieder überzeugend gezeigt Es ist aber doch symptomatisch und kennzeichnend für ein Dreivierteljahrhundert jüngerer deutscher Geschichte, daß auch diejenigen sich durch Unfähigkeit zur Demokratie prägen lassen mußten, die an sich disponiert schienen, diese Unfähigkeit noch am ehesten zu überwinden. Demokratisierung erschöpft sich bekanntlich nicht in der Setzung bestimmter verfassungsrechtlicher Normen oder in der Festlegung von Formen der Machtkontrolle, sondern verlangt insbesondere Einübung in konsensuale Praktiken des Umgangs miteinander und die allseitige Akzeptanz von Menschen-und Bürgerrechten. Deshalb ist demokratische Sozialisation -konkreter: die Demokratisierung der Sozialisationsagenturen (Familie, Schule, Kirche, Verwaltung auf allen Ebenen und Regierungshandeln) sowie die Herausbildung eines offenen, ungeschrieben regulierten politischen Stils -so außerordentlich wichtig.
Im Kaiserreich waren die sehr wohl vorhandenen und in Teilbereichen der Gesellschaft auch eingeübten Praktiken eines solchen Stils nicht zu einer evolutionären Demokratisierung des politischen Systems gebündelt worden. In elitären Macht-und Klasseninteressen befangen, verteidigten die Träger des Konstitutionalismus statt dessen überkommene und auch neugewonnene Positionen. Diese Eliten hatten ihre Legitimation aus der Tradition, darüber hinaus aus ihrer scheinbar so wichtigen Rolle im erfolgreichen Prozeß deutscher National-9 staatsbildung von oben und nicht zuletzt aus dem vergleichsweise effizienten Management von Industrialisierung und sozialer Frage erschöpft. Konsensuale, demokratische Praktiken außerhalb der Zirkel formeller und informeller Herrschaft lagen ihnen fern. Sie praktizierten nicht integrative, sondern segregative Herrschaftstechniken: Kultur-kampf, Sozialistengesetz und subtilere Formen der Femhaltung von politischer Partizipation sowie die „positiven“ Korrelate solcher Politik: „Weltpolitik", ja, auch die staatliche Sozialpolitik
Es ist wahr: Aus der Sicht von 1990 rückt das Kaiserreich noch viel klarer auf eine Anklagebank, die von der Forschung seit den sechziger Jahren, seit Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht" (1961), immer kunstvoller geschnitzt worden ist. Wer dies so sieht, muß keineswegs die vielen positiven Merkmale jener Zeit -auch nicht die einer verdeckten gesellschaftlichen Integration der Arbeiterklasse -übersehen, noch sollte er dem Verdikt des Moralisierens ausgesetzt werden; historische Urteile werden nicht in wertfreien Räumen gefällt
Der Militarismus und die Kraftprotzerei im Wilhelminischen Deutschland gehörten zu den sekundären, die Defizite an Konsens und Partizipation verschleiernden Herrschaftstechniken. Der hohen Bereitschaft der alten Eliten zum Einstieg in eine im Sommer 1914 anderwärts provozierte militärische Auseinandersetzung lag eben auch der versteckte Sinn der Rettung verkrusteter Herrschaftsund Gesellschaftsstrukturen, der Partizipationsund Demokratievermeidung zugrunde. Schaut man nach innen, dann war der Erste Weltkrieg der letzte große Kampf zur Erhaltung, möglichst gar Erneuerung alter Bastionen. Es hat dann zu den bezeichnenden Merkmalen einer spätestens seit 1848/49 eingeübten und so virtuos wie subtil ausgestalteten, auf große Teile des Bürgertums übertragenen Defensivstrategie zur Demokratievermeidung gehört, daß die sachlich besiegten Eliten die Konsequenzen der Niederlage von 1918 weder nach außen, noch viel weniger nach innen zu tragen bereit waren, allerdings hierzu auch nicht hinreichend veranlaßt wurden.
Weimar blieb zu sehr unter solchem Einfluß, hatte überdies die Folgen der militärischen Niederlage zu verkraften, zu schweigen von den extremen wirtschaftlichen Wechsellagen; und Weimar hatte, vor allem, für dies alles viel zu wenig Zeit. In der Bundesrepublik hingegen wuchs Demokratie mittlerweile nach innen und außen über zwei Generationen. Der Verfassungskonsens entstand gewiß zunächst aufgrund der Kriegsfolgen und Diktatur-erfahrungen, der Besatzung und der Abwehr des Realsozialismus. 1968 und die Folgen begründeten dann diesen Konsens auch von innen heraus. Wie wichtig diese innere Demokratieerfahrung auch in außenpolitischer Hinsicht gewesen ist, wird leicht an der hypothetischen Frage deutlich, was geschehen wäre, wenn die Vereinigung der beiden deutschen Staaten etwa in der Folge der Stalin-Note 1952, des DDR-Aufstandes 1953 oder, gewiß kaum glaublicher, des Mauerbaus 1961 hätte erreicht werden können. Ohne Zweifel wäre der ostpolitische Revanchismus zu einem sehr ernst zu nehmenden Faktor deutscher Innen-und Außenpolitik geworden. Man mag darüber streiten, ob zur demokratischen Pazifierung der Deutschen in der Mitte Europas Gebietsverluste erforderlich waren. Es scheint jedoch, daß hierzu der Kalte mindestens so sehr wie die „heißen“ Kriege benötige wurden -und ebenso die niederschmetternden Erfahrungen der Diktatur.
Erst seit 1945 wurde möglich und dauerhaft, was den Verfassungskonsens trägt und was zweifellos auch in deutscher Geschichte angelegt gewesen ist: die endgültige Entwurzelung der alten Eliten aus ihren ererbten Positionen; die Selbstverabschiedung des Bürgertums von seinen so elitären wie konventionellen Kulturvorstellungen und die der Arbeiterbewegung von ihrer politutopisch eingefärbten Sonderkultur; die Akzeptanz kultureller Pluralität und überhaupt der Tatsache, daß Menschen ohne Bildung Kultur haben und Kultur produzieren. So war die neue „Reichsgründung" nach innen sehr viel besser vorbereitet als die Bismarcksche: Der innere Konsens ging ihr voraus, und die Besonderheit einer konservativ gesteuerten Nationalstaatsbildung „von oben“ mit bloßem Beifall von unten hat sich korrigiert, nationale Maße scheinen gefunden. Das waren -sozialisationsgeschichtlich betrachtet und auf deutsche Entwicklungen begrenzt -die wichtigsten Merkmale der Epoche zwischen 1914 und 1990: die Überwindung fragmentierter, konsensuale demokratische Verhaltensformen be-oder verhindernder Teilkulturen in der Gesellschaft.Das alles war kein einseitiger Prozeß; die Demokratie selbst und die Nation veränderten ihr Gesicht, und auch übergreifende Formveränderungen der Gesellschaft wirkten ein. Der moderne Wohlfahrtsstaat versöhnte die Menschen mit dem Kapitalismus Just vor Kriegsausbruch 1914 noch war die damalige -an sich eng begrenzte, da im wesentlichen als staatliche Versicherungspolitik verstandene Sozialpolitik -in eine heftige innenpolitische Kontroverse geraten. Daß Sozialpolitik in der kapitalistischen Industriegesellschaft mehr zu sein hat als soziale Absicherungspolitik -nämlich Ordnungspolitik, Wirtschafts-und Finanzpolitik, eine Politik des Ausgleichs strukturell induzierter Un-gleichheiten -, diese zentrale Erkenntnis ist trotz wichtiger Fortschritte nach 1918 erst unter dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes von 1949 verwirklicht worden. Gewiß wurden wichtige Wurzeln des Wohlfahrtsstaats mit der -freilich nicht in erster Linie wohlfahrtsstaatlich motivierten -Bismarckschen Sozialpolitik der 1880er Jahre gelegt, aber die moderne Sozialpolitik ist qualitativ etwas ganz anderes geworden. Strukturelle Veränderungen im „reiferen" Kapitalismus begünstigen dies. Ihnen und der entfalteten Sozialpolitik war zu danken, daß Klassendifferenzen seit der Wende zum 20. Jahrhundert eingeebnet wurden, wenn diese auch keineswegs verschwunden sind.
VII. Epochenzäsur: 1914 oder 1917?
Nimmt man die wichtigeren, ehedem „konstitutionellen“ Staaten Europas -Deutschland und Österreich, in anderer Weise auch Italien und Spanien -beisammen, dann fällt der steinige Weg zur modernen, „westlichen" Demokratie gleichermaßen auf, im Gegensatz zu England, Frankreich und den USA, aber auch zu dem ganz anderen, hoffentlich eben abgeschlossenen, noch viel steinigeren Weg aus dem zaristischen Autokratismus So gesehen, vollendet sich soeben erst, nach einer zwei-hundertjährigen Übergangsphase, die Überwindung des tausendjährigen europäischen Feudalismus. Man mag das für zu weit gegriffen halten; Historikern werden allzu generalisierende Thesen leicht übelgenommen. Wir befinden uns jedoch in einer Phase der neuen Gewichtung von bisher für sicher gehaltenen Epochenbegriffen und historischen Urteilen.
Die „Mittellage“ Deutschlands in Europa, zeitweilig gefeierter passe-partout zur Deutung besonderer deutscher Befindlichkeiten wird bald eher als ein Sandkastenproblem erscheinen. Und die weltpolitische Konfliktlage um grundverschiedene wirtschafts-und gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen, die unser Jahrhundert seit 1917 geprägt hat, wird in einer vorstellbaren Zukunft als Episode gedeutet werden. An diesem Systemkonflikt wird vermutlich für wichtig gehalten werden, daß er -in deutscher, nationalgeschichtlicher Sicht -die auf Weimar lastenden Hypotheken noch verteuert hat und nach 1945 als zusätzliche Integrationsklammer auf dem Weg zur „wesentlichen“ Form dienlich war. Gegenüber der Zäsur von 1914 als dem Beginn eines „Dreißigjährigen Krieges“, einer umfassenden „Modernitätskrise" in Deutschland verblaßt nunmehr 1917, auch wenn an der These vom Beginn einer Phase des .. Weltbürgerkriegs“ manches überzeugend klingt. Jedenfalls in der deutschen Geschichte -und im Rahmen ihrer nun fällig werdenden Neubewertungen -markiert 1914 einen Wendepunkt. Mit dem Weltkrieg scheiterte die deutsche Politik der offensiven Demokratievermeidung. Die Kosten dafür, daß viele in Deutschland dies nicht erkennen konnten und wollten, waren unglaublich hoch.