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Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Politische Bildung im vereinigten Deutschland | APuZ 37-38/1991 | bpb.de

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APuZ 37-38/1991 Artikel 1 Artikel 2 Politische Bildung in den neuen Ländern: In Verantwortung für die Demokratie in ganz Deutschland Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Politische Bildung im vereinigten Deutschland Politische Bildung in Richtung auf das Jahr 2000 Das zweifache Scheitern der DDR-Schule Die Neustrukturierung der allgemeinbildenden Schulen in den neuen Bundesländern

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Politische Bildung im vereinigten Deutschland

Thomas Meyer

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Zusammenfassung

In den östlichen und westlichen Bundesländern verlangt der ungleichzeitige Stand der industriegesellschaftlichen Modernisierung wie auch die verschiedene Ausbildung der politischen Kultur den Vorrang jeweils unterschiedlicher Lernziele in der politischen Bildung. Darauf muß sich politische Bildung einlassen. Das Lernziel „Integration“ darf die verschiedenen Erfahrungen nicht verdrängen. Diese Ungleichzeitigkeiten im Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in Ost-und Westdeutschland sind allerdings ein vorübergehender Wegabschnitt im Prozeß der inneren Einigung -sie können es jedenfalls sein, wenn es nicht durch die Verhärtung von Mißverständnissen zu dauerhafter Entfremdung kommt; die langlebige Narben entstehen läßt. Der Autor entwickelt aus einer Analyse der jeweiligen Probleme politischer Kultur in Ost-und Westdeutschland unterschiedliche Lernziele und bezieht sie aufeinander. Wenn politische Bildung im vereinigten Deutschland der Integration dienen will, muß sie eine demokratische politische Kultur unter unterschiedlichen Ausgangsbedingungen dergestalt fördern, daß die verschiedenen Akzente, die sich daraus ergeben, erkannt und zur Geltung gebracht werden. Dann erleichtert sie sich die Aufgabe einer zunehmenden Vereinheitlichung ihrer Konzeption auf lange Sicht -aber so, daß nicht der Dogmatismus einer vorschnell verfügten Einheitlichkeit, sondern der Prozeß der Einigung selbst dafür Maß und Tempo vorgibt.

I. Die Situation

Was kein Realist bis zum Beginn des Jahres 1990 zu hoffen gewagt hätte, war schon am 3. Oktober desselben Jahres Wirklichkeit. Die staatliche Einheit Deutschlands hatte in einem günstigen Moment der Geschichte die Zustimmung der Führung des schwankenden sowjetischen Riesenreichs gefunden und war entgegen der Prognose der Realisten aus allen politischen Lagern von heute auf morgen möglich geworden. Wer hätte noch im Vorjahr plausible Gründe gefunden, warum die Sowjetunion nun auf einmal preisgeben sollte, was fast ein halbes Jahrhundert lang als ihre durch die Leiden des Zweiten Weltkrieges besiegelte Sicherheitsgarantie hatte gelten müssen?

Schwerlich kann die Rede davon sein, daß eine DDR-Wissenschaft versagt habe, die diese Wendung nicht hatte voraussehen können. Daß aber die DDR-Gesellschaft ein in sich stabiles, seine eigenen Gewichte mehr und mehr austarierendes und die unbefriedigten Interessen der Menschen auf zahlreichen Schleichwegen schließlich doch versöhnendes Gebilde sei, war keineswegs eine unangefochtene Lehrmeinung in diesem Zweig sozialwissenschaftlicher Analyse.

Die politische Bildung, die jahrzehntelang einen beträchtlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit und ihrer praktischen Anstrengungen darauf gerichtet hatte, der Einheit der Nation zu dienen, den Zusammenhalt des deutschen Volkes zu stärken und über die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands zu informieren, hatte zwar seit den siebziger Jahren die alten Positionen der schnellen und oftmals vorschnellen bloßen Verdammung der Realität im anderen Teil Deutschlands geräumt und mehr und mehr einen Zugang gewählt, der erst einmal um Verstehen bemüht war. Sie hat aber in ihrer Hauptströmung wohl kaum ein übertriebenes Bild von der Stabilität der DDR-Gesellschaft und der Versöhnung dieser Realität mit den Interessen der Menschen, die an sie gebunden waren, gezeichnet. Unrealistisch war hingegen von vornherein der Glaube, mit dem Akt der staatlichen Vereinigung der beiden Teile Deutschlands sei das Wesentliche geleistet und der Rest ergebe sich danach wie von selbst. Wer von den Prägungen der Menschen im Osten Deutschlands, ihren Lebensläufen und Lebenswelten, ihrer Geschichte, ihrem Bild von der Welt, ihren Wertmustern und der politischen Kultur, in der sie zu leben hatten, auch nur eine annähernde Vorstellung hatte, wer die aufgezehrte Infrastruktur, den überalterten Produktionsapparat, die marodisierte Umwelt und die Produktpalette der DDR nicht geflissentlich übersehen hatte, dem mußte von vornherein klar sein, daß der Löwenanteil der großen historischen Vereinigungsaufgabe erst beginnen würde, wenn mit der staatlichen Vereinigung die Voraussetzungen dazu geschaffen wären. Das alles war in der weisen Begriffswahl Willy Brandts vom „Zusammenwachsen“ in ein treffendes Bild gebracht.

Nun erst, da die äußere Grenze niedergerissen war und die Euphorie der Siegesfeiern verflogen, zeigte sich auch für die, die es gar nicht so genau wissen wollten, was sonst noch an Trennendem in der Zeit der Teilung herangewachsen war. Die praktischen Solidarleistungen, die Herausforderung, Menschen ganz anderer Prägung als gleiche anzuerkennen, obgleich sie doch materiell und im Tempo der Lebens-und Arbeitsvollzüge so hoffnungslos „unterlegen“ waren, erschien vielen im Westen als eine solche Zumutung, daß z. B. Veranstaltungen zur politischen Bildung unter der merkwürdigen Überschrift „Grenzberaubung?“ Interessenten gewinnen. Wieder einmal liegt es nahe, politische Bildung als Feuerwehr herbei-zurufen, um den Brand im Handumdrehen zu löschen. Wieder einmal wird der Mechanismus wirksam, politische Bildung -in dem, was sie leisten kann -immer zugleich im hohen Maße zu über-wie zu unterschätzen.

Das Lernziel „Integration“ als natürliches Erbe des Lernziels „Einheit der Nation“ liegt für die politische Bildung zwar nahe. Sie muß aber -wieder einmal -zunächst daran erinnern, daß sie nicht leisten kann, was Politik versäumt. Was kann, was soll politische Bildung leisten? Was bedeutet das Lernziel „Integration“ für ihre Arbeit?

II. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der politischen Bildung

Zusammenwachsen sollen nicht einfach zwei deutsche Gesellschaften, die sich unter den Bedingungen gewaltsamer Teilung verschieden entwickelt haben. Es geht vielmehr um zwei Gesellschaften, deren Ort auf dem Vektor des wissenschaftlich-technischen Industrialisierungsprozesses um Jahrzehnte gegeneinander versetzt ist, die also in ihrem realen Problembestand und den sozialen, ökonomischen, psychologischen, kulturellen Problemhorizonten nicht in derselben Zeit leben, wenn auch gleichzeitig. Während es in den neuen Bundesländern -nachdem nun einmal die Fesseln gefallen sind -am dringlichsten darum geht, die Produktionsapparate zu modernisieren, die Produktivitätssteigerung den modernen technischen Möglichkeiten anzupassen, zeitgemäße Innovationen in Produktion, Dienstleistungen und Infrastruktur vorzunehmen, damit die Bevölkerung rasch auf die Höhe des westlichen Lebensstandards kommen kann, an dem sie die eigene Situation immer schon gemessen hat, geht es in den alten Bundesländern -wie sich seit den achtziger Jahren immer klarer herausgestellt hat -um die sozialen, ökologischen und humanen Selbstkorrekturen eines quantitativen Modernisierungsverständnisses, das in Umweltkatastrophen, beispiellosen technischen Risiken und schmerzhaft spürbar gewordenen Sinndefiziten seine Grenzen erfahren mußte.

Diese Zeitversetzung hat unmittelbare Auswirkungen auf das Werteverständnis, die Lebensziele und die politische Rangskala der Aufgaben im Verständnis der betroffenen Menschen. Während -wie die empirischen Umfragen bestätigen -das Verständnis des technischen Modernisierungsprozesses im Osten weitgehend ungebrochen ist und die Ziele der Erhöhung des Lebensstandards, der sozialen Sicherung und der beruflichen Zukunft bei den Ostdeutschen im Vordergrund stehen, ist bei vielen Westdeutschen das Bewußtsein von der Notwendigkeit des ökologischen Umsteuerns, der sozialen Technikgestaltung, der Erhaltung oder Wiedergewinnung intakter Lebenswelten, kurz: der Vorrang lebensweltlicher Interessen vor Einkommens-und Karriereerwartungen, mittlerweile dominant

Ronald Inglehart hat überzeugend gezeigt, daß die Werthierarchien, die Lebensstilprägungen und die politischen Erwartungen der Menschen in sehr direkter Weise eine Reaktionsbildung auf Defiziterfahrungen in der generationsspezifischen Sozialisation darstellen Daher sind die unterschiedlichen Erwartungshaltungen, Lebensstile und Lebensinteressen der Menschen in Ost und West alles andere als eine bloße Folge davon, daß in beiden deutschen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Themen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit sowie der Curricula der schulischen und außerschulischen Bildung gestanden haben.

Durch eine Öffnung der Diskurse, einen Themen-wechsel oder die Enttabuisierung vordem nicht zugelassener Fragen allein ist daher die Ungleichzeitigkeit der Orientierungen, der Bedürfnisse und der Fragen gewiß nicht zu überwinden. Für eine längere Zeit muß gerade der mit ihnen ernsthaft rechnen, der an ihrer schließlichen Überwindung wirklich interessiert ist. Zu dieser durch die Dynamik des Modernisierungsprozesses und die Logik der Entfaltung ihrer inneren Widersprüche bewirkten Ungleichzeitigkeit kommt jene andere hinzu, die aus den Mustern der soziokulturellen Verarbeitung der eigenen Gesellschaftsgeschichte entstanden ist.

Für die politische Kultur der Bundesrepublik war beispielsweise die antiautoritäre Studentenbewegung mit ihren Nachwirkungen von erheblicher Bedeutung beim Abbau der Überreste der traditionellen, obrigkeitsstaatlich orientierten politischen Kultur in Deutschland. Ihre Auswirkungen haben zu einem anderen Verständnis von Autorität, von unten und oben in gesellschaftlichen und politischen Organisationen, von Bürgerbeteiligung und Organisationsformen in der Politik, aber auch der Präsentation und Wahrnehmung politischer Führungsrollen geführt. Einen vergleichbaren Umbruch hat es in der Geschichte der DDR nicht geben können. Die flüchtige, wenn auch durchschlagende Rolle, die die Bürgerinitiativen und -foren beim revolutionären Wandel in der DDR gespielt haben, sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß dieser Umbruch mit seiner nur kurzlebigen Partizipationskultur der Runden Tische diese Rolle nicht gänzlich übernehmen kann. Die politischen Sozialisationsmuster in beiden Gesellschaften sind weit auseinandergelaufen. Erfolge wie Defizite der Orientierung des einzelnen in Gesellschaft und Politik weisen beträchtliche Unterschiede auf. Auch diese Ungleichzeitigkeiten sind mit der Veränderung des Institutionensystems keineswegs überwunden. Auch in diesem Falle ist mit längeren Prozessen der Angleichung zu rechnen. Ungleichzeitigkeiten dieser Art bergen das Risiko der Verhärtung. Im schlimmsten Fall kann es sogar zu einer selbstbestätigenden Rückwirkung kommen, nämlich dann, wenn Kränkungserfahrungen zum forcierten Beharren an der eigenen Identität führen, die wiederum die alten Strukturen begünstigt. Es liegt auf der Hand, daß die Ungleichzeitigkeiten im Modernisierungsprozeß wie im soziokulturellen Lernprozeß in den alten und neuen Bundesländern unterschiedliche Probleme für die politische Integration, die politische Orientierung und die politische Kultur aufwerfen. Für eine politische Bildung, die dieser Herausforderung entsprechen will, kommt es darauf an, diese Ungleichzeitigkeiten, ihre gesellschaftlichen Verästelungen und ihre politischen Folgen differenziert herauszuarbeiten und für ihre Arbeit zu überdenken. Dies ist gerade dann der Fall, wenn politische Bildung all ihre Kräfte mobilisieren will, um den Prozeß der Integration voranzutreiben, weil die Verleugnung der Ungleichzeitigkeiten ihnen ironischerweise am nachhaltigsten Dauer verschaffen könnte.

Die Differenzierung der Aufgaben politischer Bildung in Ost-und Westdeutschland ergibt sich gerade daraus, daß ihre allgemeinen Lernziele in beiden Bereichen gleichermaßen gelten, aber eben verschiedenartigen Herausforderungen ausgesetzt sind. Integration auf der Ebene der Definition der Aufgaben politischer Bildung setzt daher erst einmal Differenzierung voraus. Die Besinnung auf die Differenz ist die Voraussetzung dafür, daß das Verschiedene zusammenkommen kann, ohne einander vollends gleich werden zu müssen.

Wie bei den großen Debatten um die Integration der ausländischen Mitbürger in unserem Lande in den siebziger und achtziger Jahren muß es auch diesmal die erste Aufgabe politischer Bildung sein, den Begriff der Integration selbst vor einer Verkürzung zu bewahren, die zwar Integration sagt, aber bei Licht besehen Assimilation meint.

Während Integration eine Beziehung zwischen Verschiedenem ist, die in der Vereinigung Verschiedenartigkeit bewahrt, zielt Assimilation darauf, daß der andere seine eigene Identität ganz preisgibt und so wird wie wir. Eine solche Zumutung muß die Würde der Betreffenden verletzen und gerade durch die Kränkung, die sie ihnen zufügt, zu Verhärtungen der Andersartigkeit führen, die viel mehr vom anderen viel länger festhält, als es in einem offenen Verhältnis der Toleranz und des Verständnisses sonst wahrscheinlich wäre.

Integration könnte im übrigen auch dadurch verfehlt werden, daß sich politische Bildung allzu ausschließlich auf sie konzentriert und darüber die der Gesellschaft der alten Bundesrepublik eigentümlichen Probleme und Lernziele vernachlässigt oder aber auch die besonderen Fragestellungen, die sich so nur in den neuen Bundesländern ergeben. Dann könnte vielleicht manches von der Entfremdung zwischen den beiden Gesellschaften abgebaut werden, gleichzeitig aber Desintegrationstendenzen innerhalb der beiden Gesellschaften wachsen, weil die ihnen eigentümlichen Probleme, die ja mit der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands nicht einfach von der Tagesordnung abgesetzt worden sind, zu sehr in den Hintergrund treten. Integration ist also eine mehrdimensionale Aufgabe für politische Bildung, die einen Blick für notwendige Differenzierungen erfordert.

Es geht also zusammengefaßt um drei Herausforderungen, denen sich Politik, politische Kultur und damit die politische Bildung gleichzeitig ausgesetzt sehen:

1. Politische Bildung muß sich den Problemen zuwenden, die aus dem Zusammenbruch des kommunistischen Gesellschaftssystems in der DDR entstehen.

2. Politische Bildung muß sich der Fragen annehmen, die aus der krisenhaften Entfaltung der Industriezivilisation im Westen resultieren.

3. Politische Bildung muß ihren Beitrag zur Integration der beiden deutschen Gesellschaften leisten.

III. Im Osten: Die Hinterlassenschaft des Kommunismus

Trotz mancher Ähnlichkeit zwischen der Situation nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus 1945 und der Beseitigung kommunistischer Herrschaft 1989 dürfen die beiden entscheidenden Unterschiede nicht übersehen werden: Nationalsozialismus und Kommunismus sind nicht in demselben Sinne totalitär. Während nämlich die nationalsozialistische Ideologie den Antihumanismus, der die Praxis des Systems ausmachte, mit einer zynisch antihumanistischen Ideologie nahtlos rechtfertigte, waren die Systeme des Sowjetkommunismus dazu verurteilt, ihr in vieler Hinsicht gleichermaßen an-11 tihumanes Herrschaftssystem den von ihm Betroffenen und jeder neu nachwachsenden Generation in den Begriffen einer Ideologie zu legitimieren, deren humanistischer Anspruch nicht gänzlich auszutilgen war. Der Kommunismus war dazu verurteilt, im Verfahren seiner undemokratischen Legitimation einen Rest von Selbstbestimmungsanspruch und Mündigkeitsverlangen gegen die Funktionsweise des Systems im öffentlichen Bewußtsein wachzuhalten -Prinzipien, die dessen Glaubwürdigkeit fortwährend massiv untergruben. Zwar ist die Diagnose Leszek Kolakowskis zutreffend, der festgestellt hat, daß der Kommunismus im Laufe seiner Geschichte von der Utopie zur Ideologie und schließlich zum bloßen Zynismus wurde, nämlich zu einem System der Herrschaftsrechtfertigung, dessen Verheißungen und Interpretationen am Ende selbst die nicht mehr glaubten, die sie in Auftrag geben mußten, um an der Macht zu bleiben

Der allgemeine Zynismus, der die geistige Atmosphäre und die politische Kultur in den kommunistischen Systemen Osteuropas spätestens seit den siebziger Jahren zu prägen begonnen hatte, hat gleichzeitig zu einer eigentümlichen kulturellen Schizophrenie geführt, die die Biographien der Menschen, die im System leben mußten, nicht unbeeinflußt lassen konnte. Eine Art negative Integration fand statt: Niemand glaubte mehr an das, was alle öffentlich sagen mußten, aber man richtete sich -abgesehen vielleicht von der Minderheit derer, die aktiv vom System profitierten -gerade in der negativen Absetzung von dem, was nicht zu billigen war, im Negativen ein; man nutzte die Chancen und Nischen, die verblieben waren, um sich selbst zu behaupten und wurde gleichzeitig, und sei es auch nur durch die Struktur der Distanzierung, von ihnen mitgeprägt.

In den verschiedensten Versionen ergaben sich auf diese Weise individuelle Entwicklungsmuster, in denen Distanzierung, Unterwerfung und resigniert in Kauf genommene oder gar zynische Kooperation eine je eigene Mischung fanden. Leben konnten damit von denen, die die Kooperation mit dem System nicht aufkündigen mochten, viele in dem leichtfertigen, naiven oder einfach auch nur bequemen Glauben, daß man sich mit den ideologischen Ansprüchen des Systems immerhin noch sehen lassen konnte.

Damit steht der zweite große Unterschied zur Situation nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland im engen Zusammenhang: Vom kommunistischen Herrschaftssystem hat sich das Volk der DDR selbst befreit -was immer im einzelnen die Motive der verschiedenen Gruppen, die an der friedlichen Revolution beteiligt waren, gewesen sein mögen. Auch die negative Integration war ja zu keinem Zeitpunkt eine Folge der Fähigkeit des Systems selbst zur Integration der Motive und Interessen der Menschen gewesen, sondern Resignationsprodukt aus der Gewißheit, daß die Sowjetmacht die Existenz des Systems auf jeden Fall garantieren würde -was immer sein Zustand, seine Aussichten und die Haltung der Menschen zu ihm auch sein mochten.

Die friedliche Revolution in der Form überwältigender Massendemonstrationen ist nur unter zwei Bedingungen möglich gewesen: Zum einen, weil die weit überwiegende Mehrheit der Menschen vom System zutiefst entfremdet war; zum anderen, weil sich bereits seit längerem in den verzweigten Strukturen der inneren Opposition eine halbgeduldete, stabile Gegenöffentlichkeit herausgebildet hatte, die Netzwerke der Solidarität schuf. Sie konnte dann in der riskanten Phase als organisatorischer Kern der Protestmärsche wirken.

Sobald das Volk also in dieser späten Phase der Entwicklung des Systems spürte, daß es nun mit seinen Herrschern allein gelassen war, entledigte es sich ihrer in einer eindrucksvollen Geste der Massenauflehnung. Niemand kann erwarten, daß die Menschen sich nach dem Zusammenbruch des Systems, in dessen Geschichte ihre Lebensläufe verwoben sind, nun ebenfalls in einer grandiosen Geste ihrer Biographien entledigen. Nicht nur, weil dergleichen ohnehin nicht menschenmöglich ist, sondern auch, weil die Zahl derer, die sich tatsächlich mit dem System identifiziert hatten, gering ist. Die meisten sind mit ihrem Lebenslauf, ihrem Selbstverständnis an sehr unterschiedlichen Orten der weiten Region zwischen innerer und äußerer Distanzierung, widerstrebendem Mitmachen, kleiner Verweigerung, Rückzug aus den Zumutungen wo immer es möglich war und offenem Widerstand angesiedelt.

Die große Verdrängung, von der Hermann Lübbe behauptet hat, sie sei die Bedingung für die Neugründung der Demokratie in Westdeutschland nach der Niederlage des Nationalsozialismus gewesen, ist unter diesen Bedingungen weder möglich noch tunlich. Abgesehen nämlich von der relativ kleinen Gruppe derer, die sich im Rechtssinne schuldig gemacht haben, enthalten die Biographien der meisten genügend Anknüpfungspunkte aus dem Leben in der negativen Integration und der Distanz, die eine kritische Aufarbeitung unter dem Blickwinkel von Demokratie, Verantwortlichkeit und Mündigkeit ohne Preisgabe der eigenen moralischen Identität erlauben. Im übrigen käme das Verdrängte, das auch mancher hierzulande immer noch für das Bekömmlichere hält -wie sich in der Bundesrepublik im Verlauf der sechziger Jahre in den Reaktionen auf die Motive der antiautoritären Bewegung ja gezeigt hat dann doch wieder hoch, und zwar als gesellschaftlicher Bruch.

Die Überwindung des „inneren Erbes“ dieses deutschen „Totalitarismus“ enthält die Chance der kritischen Aufarbeitung und der selbstkritischen biographischen Rückbesinnung der Menschen, die ihn durchlebt haben. Für ihr Verhältnis zueinander, für die Ausformung einer erneuerten Identität und für ihre unbefangene Selbstbehauptung in der neuen Demokratie ist ihre Wahrnehmung unerläßlich. Die schnell zu habende Scheinruhe indessen, die entsteht, wenn man die Vergangenheit einfach auf sich beruhen läßt, um sich der Mühen und Irritationen zu entziehen, die Besinnung nun einmal mit sich bringt, würde erneut dazu führen, daß allzuviele zur Demokratie als Lebensform und ihrer eigenen Rolle in ihr nur ein gebrochenes Verhältnis haben können.

Der Aufbau einer politischen Kultur der Demokratie -also der Übernahme ihrer Regeln, Chancen, Zumutungen und Grundwerte als Teil des persönlichen Selbstverständnisses -setzt die Aufarbeitung der typischen Biographien in der Rückbesinnung auf die Geschichte des kommunistischen Systems in Deutschland voraus. Dazu muß politische Bildung einen, vielleicht den entscheidenden Beitrag leisten. Dieses Lernziel für Ostdeutschland ist natürlich zugleich auch ein Lernziel und eine Zumutung für die Westdeutschen. Für sie kommt es darauf an, sich dem kritischen Dialog nicht zu entziehen, ohne aber der dummen Bequemlichkeit einer Haltung zu verfallen, die hochmütig den Stab über Menschen bricht, die ohne ihr Zutun Situationen zu ertragen hatten, die zu bestehen kaum einer im Westen die Probe aufs Exempel hat machen müssen. Darauf nämlich, unter Bedingungen im großen und ganzen Demokrat zu sein, unter denen das vielfältig prämiert wird, kann sich ganz gewiß keiner mehr zugute halten, als auf einen kleinen Widerstand dort, wo das oft Nachteile oder Leid zur Folge hatte.

Politische Bildung muß in Ostdeutschland, ohne den Dialog zwischen Ost-und Westdeutschen abreißen zu lassen, Materialien, thematische Angebote, Lernformen bereitstellen, die dem Lernziel der Aufarbeitung der Geschichte der DDR und der typischen Lebensläufe in ihr ermöglicht.

Die Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der politischen Kultur in beiden deutschen Gesellschaften rückt in Ostdeutschland ein anderes Lernziel in den Vordergrund, mit dem auch viele Westdeutsche noch ihre liebe Mühe haben, das aber seit den sechziger Jahren doch immerhin die politische Kultur prägen konnte: Die Fähigkeit nämlich, sich auch innerlich auf einen produktiven Pluralismus einzulassen, der aus Überzeugung weiß, daß Konsens ohne Konflikt Entwicklung und Freiheit zerstört, Konflikt ohne Konsens aber Verfeindung und Unfrieden bewirkt. Es geht um die Fähigkeit zu Toleranz und Entschiedenheit, Selbstbehauptung und Solidarität, Streit und Kooperation, und zwar nicht nur als Anspruch an die Akteure der großen Politik, sondern als Lebensform im öffentlichen wie im privaten Raum, also der Abbau der Reste obrigkeitsstaatlicher politischer Kultur, von deren Fortexistenz das kommunistische System eine Zeitlang gut profitieren konnte.

Politische Bildung kann nicht herbeischaffen oder kompensieren, was Politik versäumt. Der extreme und pathologische Gebrauch, den Gruppen Jugendlicher von den neuen Handlungschancen machen, wenn sie den Parolen der Rechtsextremisten auf den Leim gehen, ist vielleicht nicht geradewegs der „Stellvertreterkrieg der Gedemütigten", aber jedenfalls eine Reaktion auf die Mischung von verweigerten Chancen, zugefügten Kränkungen und Ausbruch des bis dahin mit Gewalt Niedergehaltenen. Dagegen wird nicht aus gutem Willen und besserer Einsicht anzupredigen sein. Die Auseinandersetzung mit Jugendprotesten und Rechts-extremismus im Gefolge der gesellschaftlichen Verwerfungen beim Umbau Ostdeutschlands sind aber ohne Zweifel eine Verpflichtung für die politische Bildung. Sie muß in den Schulen ansetzen, ehe die Betroffenen der Versuchung verfallen, sowie bei denen, die ihnen eine Alternative -sei es im Großen, sei es im Kleinen -zu dieser Wahl schaffen können, die die allermeisten von ihnen vorübergehend getroffen haben. Die Jugendlichen selbst, die den fundamentalistischen Orientierungsangeboten des Rechtsextremismus folgen, sind durch Argumentationen und Lernangebote vorderhand kaum zu erreichen, allenfalls über die Bereitstellung von Praxisformen, in denen sie die Grundlagen und Perspektiven einer selbstverantworteten Existenz ohne unzumutbaren Preis erblicken können.

Die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung beider Gesellschaften führen zu einer spiegelbildlich verkehrten Tendenz auch bei denen, die die Angebote politischer Erwachsenenbildung von sich aus aktiv wahrnehmen, indem sie das eigentlich Politische zu unterlaufen oder zu vermeiden suchen. Während in Westdeutschland mit der Tendenz der „neuen Subjektivität“ Motive vorherrschend werden, die Selbsterkenntnis, Weltorientierung und Selbstentfaltung unter Umgehung der politischen Dimension sozialer Existenz suchen, wollen in Ostdeutschland viele, die sich zur Teilnahme an Seminaren der politischen Bildung entschlossen haben, nur anwendungsorientierte Informationen und lebenspraktische Orientierungen für die unmittelbarsten Lebensbedürfnisse in der veränderten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation. Es geht ihnen oft zunächst um nicht mehr als um Informationen, die zur praktischen Handhabung veränderter Lebenssituationen geeignet sind. Das alles ist verbunden mit einer spontanen Skepsis gegenüber politischer Bildung, die aus alter Erfahrung zunächst dem Verdacht ausgesetzt ist, die altbekannte Überrumpelungsmanier im neuen Gewand zu sein.

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An diese lebenspraktische Orientierung muß politische Bildung anknüpfen, wenn sie am Ende nicht tatsächlich nur ideologische Überformung bzw, Überrumpelung im neuen Gewand sein will. Sie muß es in ihren Methoden, die durch überzeugende partizipative Lernformen den Verdacht praktisch widerlegen. Und sie muß es durch eine Didaktik, die politische Bildung befähigt, die politische Dimension der Lebenspraxis sichtbar zu machen und anknüpfend an sie politisches Lernen zu ermöglichen, das die individuellen Orientierungsbedürfnisse und die Anforderungen der politischen Kultur der Demokratie organisch aufeinander bezieht. Bei all dem kann an der Erfahrung der Selbstbefreiung des Volkes der DDR von der oktroyierten Herrschaft und von den Ansätzen einer neuen politischen Bürgerkultur ausgegangen werden, wie sie sich in den zahlreichen Bürgerforen, Bürgerinitiativen und schließlich in der Dialogform der Runden Tische entwickelt hatte. Das erlaubt Erinnerungsarbeit, die nicht zum Scherbengericht wird.

IV. Im Westen: Eine politischeKultur für die Risikogesellschaft

Politische Bildung gewinnt ihre Lernziele aus dem Anspruch der Individuen auf soziale und politische Mündigkeit. Sie dem Anspruch nach für alle unter wechselnden Umständen zu ermöglichen, setzt voraus, die Defizite der politischen Kultur zu analysieren und die konkreten Aufgaben politischer Bildung daran zu orientieren, daß die politische Kultur der Demokratie funktionsfähig bleibt.

Seit den siebziger Jahren hatte sich in der Bundesrepublik abgezeichnet, daß die zunehmende Komplexität der sozialen Beziehungen sowie der politischen Entscheidungszusammenhänge eine wachsende Distanzierung vieler Bürgerinnen und Bürger von den Institutionen und Großorganisationen bewirkt. Hinzu kam -angesichts der von großen Gruppen als Bedrohung erfahrenen neuen technischen Risiken im Bereich der Umweltzerstörung, der Kernenergie und der nuklearen Waffensysteme -eine verbreitete Erfahrung, daß die „normalen“ Bürgerinnen und Bürger kaum noch Chancen haben, über die Zukunft des Fortschritts, über die Entwicklung der großen Politik, der industriellen Strukturen und der technischen Lebens-welten mitzubestimmen Dabei spielte die von Ulrich Beck beschriebene Tendenz als Ohnmachtserfahrung vieler eine Rolle, daß die politischen Entscheidungen auch über Grundsatzfragen der künftigen Entwicklung der Gesellschaft zunehmend aus der eigentlichen Politik abzuwandern begannen

Politische Bildung sollte nicht der Versuchung verfallen, eine schwer überschaubare komplexe Welt auf handliches Format zu versimpeln. Sie kann auch nicht durch versöhnende Interpretationen'Mitentscheidungsansprüche zum Schein gewähren, die die politische Realität verwehrt. Aber sie kann einen Beitrag zur Erklärung der Zusammenhänge leisten sowie zur Kompetenz des Einzelnen zur Einmischung dort, wo sie aussichtsreich ist. Sie kann auch, indem sie Foren des Dialogs für die bietet, zwischen denen das gesellschaftliche Gespräch gestört ist, Beiträge zum Verständnis, zur Verständigung und zur Kooperation leisten.

Das Lernziel „Bürgermitbestimmung über die Zukunft des Fortschritts“ kann die sich ausbreitende Stimmung abwehren, die Zukunft der Industriegesellschaft und der Lebensmöglichkeiten des Einzelnen in ihr ergäben sich allein noch aus den Zwängen technischer Selbstläufe und nicht aus demokratischen Grundentscheidungen. Politische Bildung muß einen Beitrag dazu leisten, daß die Chancen solcher Mitbestimmung offengelegt und wirkungsvoller genutzt werden können. Es wäre für die Legitimation und Lebensfähigkeit der Demokratie in der Industriegesellschaft verhängnisvoll, wenn die Politik wegen der immer schwerer zu handhabenden Komplexität vor der Kontrolle und Gestaltung der technischen Lebenswelt resignieren würde, die für den Einzelnen unentrinnbar und lebensprägend ist.

Seit den siebziger Jahren ist zudem in der Bundesrepublik eine stärker werdende Tendenz zu beobachten, technisch erzeugte Risiken sowohl im Rüstungsbereich wie in der zivilen Produktion als Alles-oder-Nichts-Fragen zu sehen, um die es nur noch einen Gewissenskampf zu führen gelte, aber nicht mehr einen sachlichen Streit auf der Basis gemeinsam geteilter politisch-ethischer Grundsätze. Das friedliche Zusammenleben im Gemeinwesen ist gefährdet, wenn Fragen dieser Art vorschnell moralisiert werden und damit zu nicht mehr handhabbaren politischen Polarisierungen fuhren mit der Tendenz der Verfeindung der Streitgruppen. Nicht nur die nuklearen Risiken, sondern auch Fragen zur Anwendung der Gen-technologie und viele andere können als Anlaß für solche Unversöhnlichkeit dienen. In Zukunft wird angesichts der wissenschaftlich-technischen Entwicklung ihre Zahl kaum geringer werden.

Es kommt für die Selbstbehauptung der Demokratie in der Industriezivilisation darauf an, eine politische Streitkultur für die Risikogesellschaft zu fördern, die einerseits denen, die riskante Entscheidungen zu treffen haben, Zurückhaltung auferlegt, um die Grenzen des Zumutbaren für die anderen nicht zu übersteigen, die es aber auch andererseits denen, die ein Veto einzubringen haben, nahelegt, den Streit in Bahnen zu halten, die eine demokratische Einigung möglich bleiben lassen. Eine solche Kultur der wechselseitigen Selbstbeschränkung ist schwer zu erlernen. Sie ist aber ohne Alternative, da es institutionelle Vorkehrungen zur Abwehr hochriskanter Technologien -die nach Auffassung von Minderheitengruppen Lebensrisiken für das Gemeinwesen bergen -nicht geben kann. Eine solche demokratische Streitkultur ist der einzige Weg, den Gemeinschaftsfrieden in der Risikogesellschaft langfristig zu sichern. Sie ist ein schwieriges Stück politischer Kultur und eine bleibende Herausforderung für die politische Bildung.

Die Unüberschaubarkeit einer beispiellos komplexen Welt hat dazu geführt, daß der Einzelne das, was er über sie überhaupt noch wissen kann, aus der Konstruktion der Wirklichkeit in den Medien lernt. Die von Neil Postman aufgezeigte Tendenz, politische Information nach den Gesetzen des Fernsehens als Leitmedium immer mehr zum „Infotainment“ -einer Information, die den Maßstäben der Unterhaltsamkeit folgt -zu verkürzen und den erklärenden Diskurs mit Begründung und Widerspruch durch den kurzen Bildeindruck zu verdrängen, führt zu einer täuschenden Scheinverständlichkeit der Welt Diese versöhnt und verstärkt zugleich die Ohnmacht, während sie gleichzeitig die Tendenz der Politiker und der repräsentativen Akteure aus anderen gesellschaftlichen Bereichen immer mehr dazu verführt, durch kurzlebige Inszenierungen symbolischer Politik einen faßlichen Eindruck von Handeln und Kontrolle über die Dinge zu erzeugen. Die symbolischen Politikinszenierungen von oben und die gleichfalls nur noch symbolische Partizipation des Medien-konsumenten, der den Eindruck hat, bei allem dabei zu sein, untergraben wirkungsvoll die kritische Urteilsbildung und die aktive Teilhaberchance des Einzelnen. Er ist dem technischen Aufwand und den Absichten solcher Inszenierung gegenüber hoffnungslos unterlegen

Es ist eine der großen Aufgaben politischer Bildung, in einer solchen Situation dem Einzelnen Foren des Dialogs, der kritischen Auseinandersetzung mit der schwer durchschaubaren Welt und der kritischen Selbstvergewisserung im Dialog mit anderen zu bieten, damit er nicht vollends zum Opfer technokratischer Kommunikationsinszenierung der Massenmedien wird. Der lebendige Bürgerdialog, die Möglichkeit, handlungsentlastet und mit der nötigen Zeit sich ein Bild vom Geschehen zu machen, das Verhältnis des Geschehens zu eigenen Interessen und Werten zu bedenken und zu sehen, wo ein direktes Engagement aussichtsreich ist, ist ein demokratisches Korrektiv in der Informationsgesellschaft, das nach Lage der Dinge vor allem in den Foren der politischen Erwachsenenbildung geschaffen werden kann. Ihm dient das Lernziel der „Befähigung und Ermutigung zum Bürgerdialog“, das in den Veranstaltungen politischer Bildung selbst schon in Ansätzen realisiert werden kann.Die Diskreditierung der großen Gesellschaftsentwürfe durch die Erfahrung der Zerstörbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen in den siebziger Jahren hat dazu geführt, daß viele unter den politisch sensibilisierten aktiven Bürgern, die ehedem ihren biographischen Entwurf und das Verlangen nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse miteinander verknüpft hatten, den Rückzug in die nur noch private Utopie subjektiver Selbsterfahrung angetreten haben. Die Übergänge zwischen einer neuen Form der Politisierung, die den Auszug der Politik aus der eigentlichen Sphäre des Politischen in die vielen Foren der „Subpolitik“ (Ulrich Beck) nachvollzieht und einer bloßen Scheinpolitisierung, die alles und jedes politisch nennt, weil die Lebensäußerungen des Subjekts nun einmal irgendwie immer auch politische Folgen haben können, werden fließend.

Diese Ambivalenz kommt in der „neuen Subjektivität“ zum Ausdruck, die in großen Teilen der politischen Erwachsenenbildung in den alten Bundesländern die Vorherrschaft gewonnen hat Wie Klaus Peter Hufer gezeigt hat, ist das sich Versenken in die eigene Subjektivität mit ihren vielfältigen praktischen Lebensvollzügen des Wohnens, der Ernährung, des Reisens, der Interaktion und was sonst noch Thema von Seminarveranstaltungen in diesem Bereich ist, im Ergebnis in aller Regel eine folgenreiche Entpolitisierung der politischen Bildung unter dem Vorwand ihrer innovativen Politisierung in neuer Form

Spiegelbildlich zur Tendenz einer Entpolitisierung politischer Bildungsarbeit mit ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern, die an lebenspraktischen Informationen allein interessiert sind, kommt es auch hier darauf an, die Bedürfnisse der neuen Subjektivität nicht schlicht zu ignorieren, aber doch auch nicht einfach bei ihnen stehen zu bleiben. Die Dimension des Politischen, des Verständnisses der Vorgänge, Abläufe und Probleme des Gemeinwesens im Ganzen und der Verantwortung des Einzelnen in ihm muß von einer politischen Bildung, die ihren Namen verdient, auf die Bedürfnisse und Erfahrungen bezogen werden, die dem Seminarkonzept neue Subjektivität zugrunde legen. Das ist schwer in einer Zeit, in der vom politischen Prozeß weder Verheißungen noch große Entwürfe erwartet werden und deswegen in den Augen vieler die Beschäftigung mit seinen Abläufen und Problemen den Energieaufwand und die Hinnahme der Frustrationen, die er mit sich führt, kaum noch zu lohnen scheint.

Die dargestellten Lernziele entsprechen dem Stand der gesellschaftlichen Erfahrungen in den alten Bundesländern Sie werden in den neuen Bundesländern vermutlich in dem Maße Bedeutung gewinnen, wie die nachholende Modernisierung, die dort mit hohem Aufwand vorangetrieben wird, erfolgreich ist. Sie sollte daher in Konzeptionen politischer Bildung für die Teilnehmer dort von vornherein im Auge behalten werden, damit nicht immer erst hektische Reaktionen erforderlich sind, wenn das Kind im Brunnen liegt.

Zugleich muß politische Bildung sich aber der Grenzen einer solchen antizipativen Orientierung bewußt sein, da politische Bildung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie an wirklichen Erfahrungen und Lebensbedürfnissen der Menschen anknüpfen kann. Diese Lernziele und ein Angebot politischer Bildung, das ihnen gerecht wird, dürfen auch angesichts der überwältigenden Aufgabe der gesellschaftlichen Integration in Deutschland nicht vernachlässigt werden, da andernfalls die Grundlagen der Demokratie und ihre Akzeptanz im Urteil der Bürger selber brüchig werden könnten -was sicher keine Grundlage einer integrierten stabilen Demokratie in ganz Deutschland sein kann.

V. Lernziel „Integration“

Die Gesellschaften in Ost-und Westdeutschland stehen beide vor einer doppelten Integrationsaufgabe: Während sie einerseits ein Verhältnis zueinander finden müssen, das Gleichberechtigung und gleiche Anerkennung in der Verschiedenheit möglich macht, ist auch die Integration einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft innerhalb beider Lebenswelten erst noch zu leisten. Zwischenbeiden besteht ein enger Zusammenhang. Es kann ja kaum erwartet werden, daß eine Gesellschaft, die mit dem Andersartigen, mit dem Anderskulturellen bei sich selbst nicht ins Reine kommt, fähig wäre, mit derselben Herausforderung fertig zu werden, wenn sie sich dem Verhältnis zweier Gesellschaften im großen stellt.

Integration verlangt die reale Gleichheit der Chancen, die gleiche Teilhabe an den sozialen, ökonomischen und kulturellen Möglichkeiten einer Gesellschaft. Diese herbeizuführen kann nur Sache politischer Entscheidungen sein. Freilich kann politische Bildung darauf hinwirken, diese in ihren Notwendigkeiten, Voraussetzungen und Konsequenzen bewußt zu machen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Unterstützung zu fördern. Die Gleichheit der Chancen ist eine notwendige, aber noch nicht die hinreichende Voraussetzung für gelingende Integration. Im Gegensatz zur Assimilation ermöglicht Integration die Entfaltung und Anerkennung der Differenz auf der Grundlage gleicher Lebenschancen und Teilhabemöglichkeiten.

Die Integration der beiden Gesellschaften ist eine politische Aufgabe, aber politische Bildung kann sie fördern, begleiten und Mißverständnisse und Hindernisse auf ihrem Wege beseitigen. Dies kann geschehen durch Begegnungen, durch praktisches sich Kennen-und Verstehenlernen, aber ebenso über die geschichtliche Reflexion auf die Ursachen und Bedingungen, die zur Teilung Deutschlands und zur Entwicklung zweier unterschiedlicher Gesellschaften in ihrem Verlauf geführt hat. Sie geschieht auch auf dem Wege der Beschäftigung mit den spezifischen Problemen, die dem Zusammenwachsen entgegenstehen oder es erschweren. Ähnliche Wege gilt es zu beschreiten, um das Lernziel „friedliches Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft“ zu erreichen. Es kann keinen vernünftigen Zweifel mehr geben, daß auch die Bundesrepublik die Schwelle zur multikulturellen Gesellschaft längst überschritten hat. Auf lange Sicht werden Menschen aus verschiedenen Kulturen, von unterschiedlicher lebensweltlicher und religiöser Identität eine gemeinsame Lebenswelt teilen. Begegnungen, die ausreichend Zeit und Gelegenheit lassen, einander zu verstehen, normative Reflexionen über die Bedingungen des Umgangs mit Menschen anderer kultureller Prägung, aber auch die Analyse der Folgen, zu denen Mißverständnisse und Konfrontation auf die Dauer führen müßten, fördern die innere Integration. Die Erkenntnisse aus der Vorurteilsforschung von der Sündenbockfunktion von Minderheitengruppen in soziokulturellen Krisensituationen oder angesichts von Kränkungserfahrungen weisen uns darauf hin, daß auch hier der politischen Gestaltung der Vorrang bei der Lösung des Problems zukommt. Politische Bildung kann und muß aber auch hier eine wichtige Aufklärungsfunktion übernehmen. Die Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung in Ost und West ist ein vorübergehender Wegabschnitt im Prozeß der inneren Einigung. So kann es jedenfalls sein, wenn es nicht durch die Verhärtung von Mißverständnissen zur dauerhaften Entfremdung kommt, die langdauernde Narben entstehen läßt. Politische Bildung im vereinigten Deutschland muß, wenn sie der Integration dienen will, eine demokratische politische Kultur unter unterschiedlichen Ausgangsbedingungen fördern sowie die unterschiedlichen Akzente, die sich daraus ergeben, erkennen und zur Geltung bringen. Dann erleichtert sie sich die Aufgabe einer zunehmenden Vereinheitlichung ihrer Konzeptionen auf lange Sicht -aber so, daß nicht der Dogmatismus einer vorschnell verfügten Einheitlichkeit, sondern der Prozeß der Einigung selbst dafür Maß und Tempo vorgibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu die Emnid-Umfragen, in: Der Spiegel, Nr. 30, 31 vom 22. und 29. Juli 1991.

  2. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977.

  3. Vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bde., München 1988-1989.

  4. Vgl. Bernhard Claußen, Politische Bildung in der Risiko-gesellschaft. Ein politologischer und fachdidaktischer Problemanriß, in: Ulrich Beck, Politik in der Risikogesellschaft, Frankfurt 1991, S. 330ff.

  5. Vgl. * Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.

  6. Vgl. Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt 1985; vgl. ferner Winfried Schulz, Politikvermittlung durch Massenmedien, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Politikvermittlung, Bonn 1987, S. 129 ff.

  7. Vgl. Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987.

  8. Vgl. beispielsweise Heimvolkshochschule Burg Fürsteneck, Ganzheitlich-integrative Bildung. Überlegungen zur Erwachsenenbildung, in: Kreatour in Hessen, Nr. 21, hrsg. vom Volkshochschulverband, Frankfurt 1991.

  9. Vgl. Klaus-Peter Hufer, Die neue Subjektivität -ihre Bedeutung für Politische Bildung, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Politikvermittlung und politische Bildung, Bad Heil-

  10. Vgl. Thomas Meyer, Perspektiven politischer Erwachsenenbildung in der Krise des Fortschritts, in: Lernmarkt, (1988) 25.

Weitere Inhalte

Thomas Meyer, geb. 1943; Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität -Gesamthochschule Siegen; Leiter der Akademie der Politischen Bildung in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: Lem-und Arbeitsbuch Deutsche Arbeiterbewegung, 4 Bde., Bonn 1989; Fundamentalismus -Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989; Was bleibt vom Sozialismus?, Reinbek 1991.