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Politische Bildung in den neuen Ländern: In Verantwortung für die Demokratie in ganz Deutschland | APuZ 37-38/1991 | bpb.de

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APuZ 37-38/1991 Artikel 1 Artikel 2 Politische Bildung in den neuen Ländern: In Verantwortung für die Demokratie in ganz Deutschland Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Politische Bildung im vereinigten Deutschland Politische Bildung in Richtung auf das Jahr 2000 Das zweifache Scheitern der DDR-Schule Die Neustrukturierung der allgemeinbildenden Schulen in den neuen Bundesländern

Politische Bildung in den neuen Ländern: In Verantwortung für die Demokratie in ganz Deutschland

Hans Misselwitz

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ein Jahr nach Herstellung der staatlichen Einheit in Deutschland dürfte klar sein, daß die Vollendung der Einheit noch längst kein historisches Datum, sondern eine noch vor uns liegende ökonomische und geistige Herausforderung darstellt. Der Traum, die eigene Geschichte wie nach dem Grenzübergang hinter sich zu lassen, geht für die meisten im Osten nicht auf. Nicht nur sogenannte Altlasten kommen in den Blick, auch Verluste. Erwachsene Menschen erfahren unter den neuen Verhältnissen einen Verlust an Kompetenz in Bereichen, wo sie vorher zu Hause waren. Was der Wille zur Einheit zu überbrücken vermochte, hat die Einheit als einen geschichtlich gewachsenen Graben erst noch einmal freigelegt. Die wichtigste Aufgabe der politischen Bildung im vereinten Deutschland stellt sich mit der Frage: Wie soll die Einheit angesichts der Unterschiede im Selbstverständnis und im Selbstbewußtsein von Ostdeutschen und Westdeutschen begründet werden? Die beschleunigte staatliche Vereinigung hatte für die demokratische Entwicklung der Gesellschaft im Osten Folgen, die auch die politische Bildung herausfordem: 1. Unter der Dominanz administrativen staatlichen Handelns trat im Prozeß der Einigung ein Verlust an demokratischer Mitgestaltung von unten ein mit der Folge eines erneuten Mißtrauens in politische Institutionen. 2. In der Kürze der Zeit konnte unmöglich ein Prozeß der praktischen Aneignung gemeinsamer politischer und gesellschaftlicher Wertvorstellungen geleistet werden. 3. Neues politisches Selbstbewußtsein setzt im Osten die Herstellung einer Infrastruktur gesellschaftlicher Kommunikation voraus, deren erste freiheitliche Ansätze durch wirtschaftliche Zwänge oder westliche Überfremdung gefährdet sind. Politische Bildung könnte sich selbst als ein Medium erneuerter gesellschaftlicher Kommunikation, als eine Veranstaltung der Demokratie anbieten. Politische Bildung braucht in den neuen Ländern nicht bei Null anzufangen. Die breite demokratische Bewegung des Herbstes ‘ 89 hat einen Überschuß an demokratischem Willen freigesetzt, der jedoch noch keine Entsprechung im Engagement in Organisationen und Institutionen fand. Politische Bildung muß gegen Politikverdrossenheit Ermutigung, Anleitung und praktisches Training setzen. Vor aller Methodik -gerade vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Debatten um Theorie und Didaktik politischer Bildung -steht daher das Problem der Motivation. Politische Bildung muß dabei sowohl die Folgen der SED-Herrschaft auf das Bewußtsein der Menschen, als auch die Erfahrungen mit den individuellen und gesellschaftlichen Wirkungen der deutschen Vereinigung berücksichtigen. In den kommenden verschärften innergesellschaftlichen Verteilungskonflikten in den neuen Ländern sollte politische Bildung zur Orientierung und zur Ausbildung neuer sozialer Kompetenz beitragen und damit auch zu einer demokratischen Streitkultur. Verständigung kann nur innerhalb eines gemeinsamen Definitionsrahmens erreicht werden, der langfristig die Erfahrungen der Menschen in Ost und West vereint. Der Beitrag der politischen Bildung dazu wäre ein Beitrag für das Gelingen von Demokratie in ganz Deutschland.

Wer von politischer Bildung redet, geht in der Regel davon aus, daß andere sie nötig haben. Auch scheint es schon beschlossen, daß es im vereinten Deutschland bei den Ostdeutschen da am meisten hapert. Nichts mehr vom Stolz auf die Menschen in der DDR, die sich schließlich in einem demokratischen Prozeß von ihren selbsternannten Vormündern befreiten: Die Ostdeutschen sind wieder die zurückgebliebenen, wenn nicht gar heruntergekommenen Verwandten. Man wird vielleicht taktvoll vermeiden, in die abgründige Offenheit eines westdeutschen Managers und derzeitigen Geschäftsführers eines Ostberliner Unternehmens zu verfallen, den DER SPIEGEL am 17. Dezember 1990 angesichts seiner Schwierigkeiten mit den neuen Untergebenen mit den Worten zitierte: „Die Revolution ist vorbei. Wann gewöhnen sich die Leute hier endlich an die neue Ordnung? Wenn der Russe bis zum Rhein gekommen wäre, hätten wir das schließlich auch getan.“ Sollte man da nicht verstärkt in politische Bildung investieren?

Politische Bildung wird jedenfalls nicht darum her-umkommen, sich Haltungen zu stellen, die von mangelndem Verständnis für die je andere gesellschaftliche Prägung in den ehemals zwei Teilen Deutschlands zeugen. Als eine demokratische Veranstaltung wird sie nicht vermeiden können und dürfen, einen Konflikt zu thematisieren, der die neue bundesrepublikanische Gesellschaft noch über längere Zeit zu teilen droht.

Nachdem es an Geld nicht mangeln soll, bleiben die Defizite im Osten an den Menschen hängen. Daß die Ostdeutschen manches bitter nötig zu lernen haben, wird keiner bezweifeln. Auch politische Bildung tut not. Wie denn anders nach einer so schwindelerregenden Wende? Nachsitzen ist jetzt für den Ostdeutschen überall angesagt. Zum Beispiel schon vor bisher unbekannten Formularen des Finanzamts. Dessen Nachfragen nach Religion oder Kapitalvermögen verlangen durchschnittlich gelernten DDR-Bürgern die Erinnerung an einen Stoff ab, den sie zuletzt im Staatsbürgerkundeunterricht abgehandelt hatten. Allein, die Erinnerung daran hilft nicht viel weiter. Wer schon damals sich nicht angewöhnt hatte, bei Politik abzuschalten, darf heute seinem verdorbenen Wissen nicht mehr trauen.

„Alles umsonst“ stand gelegentlich nach der Wende anstelle eines Preisschildes in Auslagen von Buchhandlungen vor den Werken von Ulbricht, Honecker und Co.. Heute ist nichts mehr umsonst. Was zählt, soll sich rechnen. Vom „Einbringen“ -das auf gut deutsch nur zum Wort „Ernte“ paßt -sprach schon bald nach dem Herbst 1989 niemand mehr. Nicht einmal bei Null scheinen die Ostdeutschen anfangen zu können, sondern bei ihren Schulden: Bedeutet das, daß Schuld zum eigentlichen Thema politischer Bildung in den neuen Ländern wird, wenn die Frage nach dem Unterlassenen, nach der Unfähigkeit zur Demokratie in langen Jahren des Mitmachens die Szene beherrscht? Die für Diktaturen so charakteristische Doppelmoral von staatsbürgerlicher Verantwortungslosigkeit und privatbürgerlichem Anstand macht das Problem der Schuld, der Aufarbeitung der Vergangenheit so überaus „unfaßbar“.

Unvermeidlich sitzen wir jetzt mitten im Rechnen und Rechten. Mit Fingern läßt sich stramm auf andere zeigen: Die hundertprozentigen Ossis verweisen auf die einst hundertfünfzigprozentigen Ossis, die hundertfünfzigprozentigen Ossis auf die hundertprozentigen Wessis und so weiter. Alles deutet darauf hin, daß sich in der Einheit die Spaltung nochmals vollzieht und die Geschichte dort wieder anfängt, wo die Einheit nach dem Krieg endete: Bei der Frage nach der Bewältigung der Vergangenheit. Schon einmal, den Finger auf den jeweils anderen gerichtet, wurde so die Einheit innerdeutsch vertan. Der Kalte Krieg hat nach dem Ende seiner staatlichen Ausgestaltung in der deutschen Teilung scheinbar sein ziviles Nachgefecht angetreten. Die meines Erachtens drängendste Frage an die politische Kultur im vereinten Deutschland ist: Wie soll die neue Einheit im Selbstverständnis und im Selbstbewußtsein der Ostdeutschen und der Westdeutschen zugleich begründet werden? Das ist die Problemstellung, vor der politische Bildung nicht nur im Osten steht. Und alles sieht danach aus, daß es sich in der Tat um eine neue Generationenaufgabe handelt, vergleichbar vielleicht mit der Periode von der Währungsreform 1948 bis 1968 in der alten Bundesrepublik: jene Epoche, die nötig war, um eine neue Identität innerhalb eines deutschen Teil-staates zu formen und auf deren Grundlage sich die nachkommende Generation ganz zu ihrer Republik verstehen konnte. Nach 1990 wird es vermutlich einer weiteren Generation bedürfen, die die Bedingungen schafft für eine gemeinsame Identität in einer neuen Bundesrepublik Deutschland.

II.

Die gegenwärtige Herausforderung, der sich die noch immer junge deutsche demokratische Kultur gegenübersieht, ist die Gefahr, daß sich das politische Selbstverständnis im Osten überwiegend in einem Gestus der Unterwerfung unter die Übermacht der neuen Institutionen entwickelt, statt in eine Praxis der Gleichheit, des Ringens um ein neues, tragfähiges Miteinander einzumünden. Der Wille zum Aufbau freiheitlicher Institutionen, die sich als ein Ergebnis des Strebens nach freier Selbstbestimmung und schützender Ordnung erweisen sollen, die Partizipation als Grunderfahrung voraussetzen, ist einer willfährigen Imitation oder aber einem beharrlichen Festhalten an bewährten Strukturen gewichen. Die Politik selbst gibt ein Beispiel des Festhaltens an alten vertrauten Mustern. Die Angst vor unbekannten Risiken führt gleichermaßen in Ost wie in West zu fatalen Äußerungen einer Sehnsucht, jeweils eigene alte Rechte zu bewahren bzw. einzuklagen und damit zu einer Vertiefung des geistigen Grabens. Der Mangel an neuer Phantasie für das künftige gesellschaftliche Ganze zeigt sich vor allem darin, daß die Versprechen von heute auffälligerweise immer wieder der Vergangenheit entliehen werden: Marshallplan, Währungsreform, Wirtschaftswunder sind gängige Leitmotive für eine bessere Zukunft im Osten. Was einst erfolgreich war, verheißt wiederum die besten Aussichten; Erfolg bleibt das einzige Rezept.

Was aber wird der Erfolg tragen? Niemand soll die -wenn es dahin kommen sollte -im Wohlstand angelegten Sicherungen des Menschen vor sich selbst geringschätzen. Der Sieg des alten Adam auf den Trümmern revolutionärer Utopien mag vor jenem Unheil schützen, das wir Deutsche schon zu oft um höherer Ideale willen über uns und andere gebracht haben.

Aber eines ist schon heute sicher: Selbst wenn sich für viele, die sich im Osten um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlten, westlicher Wohlstand als nachholbar erweist -ihr Erfolgsbewußtsein läßt sich nicht auf ihre Kinder vererben; schon auf die heutige Jugend nicht. Ja es scheint, als zeichne sich der Aufstand der Söhne und Töchter dieser anpassungsfähigen Generation schon heute ab. Allerdings wohl mit dem bezeichnenden Unterschied, daß dann nicht Phantasie nach der Macht, sondern die Dummheit zur Gewalt greift. Das ist nicht einmal verwunderlich. Denn angesichts eines so hohen Erfolgsdruckes liegt die Suche des deklassierten Bewußtseins nach entlastender, rettender Autorität, nach einer Führung, die von individuellem Entscheidungsdruck befreit, jedenfalls nahe. Nach dem plötzlichen Zerfall der realsozialistischen Institutionen bleibt den Entwurzelten nur die Flucht in ein neudeutsches Über-Ich, die Wende in den Haß gegen die Schwachen und Fremden in der Gesellschaft als Ausdruck von tiefer Unsicherheit bis hin zum Selbsthaß. Aufklärung und Emanzipation des Geistes haben unter solchen Bedingungen schlechte Zeiten. Politische Bildung wird das jedenfalls im Osten Deutschlands nicht nur zur Kenntnis zu nehmen haben, sondern sich vor allem damit auseinandersetzen müssen.

Zusammenfassend möchte ich drei Herausforderungen benennen, denen sich die politische Bildungsarbeit im Osten theoretisch und praktisch steilen muß: 1. Im Prozeß der staatlichen Einigung dominieren administrative und bürokratische Entscheidungen. Damit trat ein Verlust an demokratischer Dynamik ein, an Gestaltungskraft von unten. Statt einer Praxis des gesellschaftlichen „Umbaus“ erleben wir im Osten weithin „Abwicklung“. Arrogantes Administrieren schmeckt den Betroffenen nach neuer Diktatur. Die funktionierende Demokratie des deutschen Westens droht so zur Gefahr für die noch nicht funktionierende Demokratie im Osten zu werden. Die Stärkung der demokratischen Institutionen im Osten, das heißt ihre wirksame und engagierte Nutzung durch die Bürgerinnen und Bürger ist die einzig mögliche Antwort darauf. Die föderale Ordnung der Bundesrepublik ist ein bewährter Rahmen auch für die Verteidigung von Interessen, die regional unterschiedlich gelagert sind. Politische Bildung muß diesen Rahmen nutzen. 2. Vierzig Jahre einer nicht aufeinander bezogenen, sondern sich im Gegeneinander stabilisierenden politischen Kultur hinterlassen ein Defizit an geistigen Gemeinsamkeiten, das sich im abweichenden Verständnis grundlegender politischer Werte ausdrückt. Im Osten muß die Bedeutung der im Grundgesetz verkörperten demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien erst noch praktisch erschlossen werden. Im Westen muß verstanden werden, daß Begriffe wie Nation, Demokratie, Religion durch die demokratischen Impulse, die ganz Osteuropa bewegten, einen neuen Inhalt erhalten. Politische Bildung muß diesen neuen Tatsachen Rechnung tragen, wenn der Graben der Mißverständnisse nicht von Dauer sein soll. 3. Die schnelle deutsche Einigung hat im Osten die Herausbildung einer selbstbestimmten demokratischen politischen Kultur von unter her unterbrochen. Politisches Selbstbewußtsein entsteht aber nur im Medium intakter gesellschaftlicher Kommunikation; in einer kulturellen Infrastruktur, deren Abschaffung oder westliche Entfremdung Brücken abbrechen ließ. Politische Bildung muß daher insbesondere im Osten jene Träger öffentlicher Kommunikation stützen und motivieren, welche in einem breiten Sinn die gewachsene Basis gesellschaftlicher Kommunikation darstellen. Bürgersinn, zivile Mentalität verdanken sich einer Kultur, in der von den Medien bis zum Ortsverein der Bürger sich selbst wiedererkennt.

III.

Politische Bildung muß sich demnach im Osten erst einmal selbst neu begründen, und zwar als Veranstaltung praktischer Demokratie. Wo aber damit anfangen, worauf ließe sich bauen?

Die Defizite sind überwältigend. Die weithin gepriesene soziale Sicherheit, festgefügte berufliche Karrieren und konkurrenzfreie menschliche Beziehungen schufen zwar ein Klima beruhigter Existenz, aber auch Enge und Verdrossenheit. Die verordnete Ohnmacht ließ im Privaten, im Freundeskreis und sogar im Gruppenmilieu ein Idyll herrschaftsfreien, weil eh nicht umsetzbaren politischen Diskurses entstehen. Die Kehrseite dessen zeigte sich nach der Entmachtung der SED, als selbst diejenigen DDR-Bürger, die sich nach anderen Verhältnissen gesehnt hatten, sich schwer taten, die Macht wirklich zu ergreifen..

Wichtig bleibt, was dennoch möglich war: eine gewaltlose Revolution. Ein ansteckender Ausbruch kreativer Formen von spontaner Zusammenarbeit und Kommunikation. Eine Eruption politischer Phantasie, ein Fest politischer Kultur. Ein Uberschuß an demokratischer Begeisterung.

Wenn wir an die Erfahrungen des Herbstes ‘ 89 anknüpfen, dann sind es drei wichtige Merkmale, die das DDR-„volkseigene" Vorverständnis von Demokratie prägen: die Forderungen nach gesellschaftlichem Dialog, nach der Einheit von Moral und Politik und nach basisdemokratischen Entscheidungsformen.

Wirklicher politischer Dialog bedeutete konkret die Absage an ein alle Lebensbereiche bestimmendes Wahrheitsmonopol der Partei. Die Runden Tische als institutionalisierte Form dieses Dialogs wurden so zum Symbol für die Erwartung, daß demokratische Mitbestimmung in einer Kultur des politischen Diskurses durchsetzbar ist. Die moralische Färbung des neuen Politikverständnisses versteht, wer weiß, daß demokratisches politisches Engagement in der DDR nie mit persönlichem Gewinn, sondern immer mit persönlichem Risiko verbunden war. Mit der Forderung nach „Basisdemokratie“ wurde die fundamentale politische Gleichheit eingeklagt, die in der diskreditierten politischen Praxis durch keine Partei einlösbar schien.

Die jetzige Politikverdrossenheit in den neuen Ländern hat alte wie auch neue Ursachen. Sicher ist, daß es nach einer tiefgreifenden Bewegung des Protestes, der Negation der existierenden Struktu5 ren bis hin zur Negation des eigenen, aber nie in Freiheit angenommenen Staates an positiven Erfahrungen in der Ausübung demokratischer Mitbestimmung, ihrer zähen und zeitraubenden Verfahren mangelt.

Politische Bildung muß deshalb zugleich Anleitung, Ermutigung und praktisches Training sein. Als ein Experimentierfeld könnte sie durchaus neue Wege weisen, neue geistige Impulse freisetzen.

IV.

Politische Bildung ist als Begriff wie als praktisches Handlungsfeld in den neuen Ländern ebenso unbekannt wie die Geschichte, die sich um dieses Unternehmen im Westen rankt. Die im Westen geführten Debatten über Theorie und Praxis, Konzeptionen, Didaktik und Methodik der politischen Bildung sind hier weder nachvollzogen worden, noch müssen sie es werden. Die Freiheit von diesen Prägungen kann als eine Chance aufgefaßt werden, daß dieses Unternehmen hier von Anfang an den Blick weiter richtet als auf die Aufarbeitung altbundesdeutscher Merkwürdigkeiten. Der Umstand allein, daß eine staatliche Institution „Landeszentrale“ mit der Aufgabe betraut ist, für politische Bildung zu sorgen, ist nicht nur wegen peinlicher DDR-Erfahrungen keine Selbstverständlichkeit. Auch Amerikaner oder Briten haben da ihre . Zweifel,

Was sich in deutscher Geschichte hinter dem Begriff politischer Bildung verbergen kann, zeigt die Traditionslinie der deutschen politischen Kultur, die von der Erziehung zu Gottesfurcht, Vaterlandsliebe und Untertanengehorsam über den im Ethos der Überparteilichkeit verbrämten Antiparteienaffekt der Weimarer Republik, die Führer-verehrung der Nazis bis hin zum Kult der Partei reicht. Die bundesdeutsche Harmonielehre einer sich möglichst unpolitisch gebenden Gemeinschaftskunde wurde erst vor ca. 20 Jahren durch den neuen Orientierungsrahmen politischer Bildung im Sinne einer Emanzipationspädagogik, der Förderung einer demokratischen Streitkultur und der Hinterfragung von Interessen politischer Akteure abgelöst. Solidarität, Kritikfähigkeit, rationales Urteilsvermögen und Emanzipation sind die Leitbegriffe einer nun schon fast wieder als überholt geltenden politischen Bildungsdiskussion. Unter dem postmodernen Motto der „neuen Unübersichtlichkeit“ kommt zu diesem Ansatz die neuere subjektivistische Variante von Selbsterfahrung, Gefühl, Ganzheitlichkeit und Hinwendung zum Alltag hinzu.

Inwieweit diese durchaus kontroversen Konzepte durch je wechselseitige Ergänzungen im methodischen Bereich auch einen brauchbaren Ansatz für die politische Bildungsarbeit im Osten darstellen, läßt sich noch nicht beantworten. Sicher scheint aber zu sein, daß vor aller Methodik das Problem der Motivation steht. Der gesamte Komplex der sozialistischen Schulerfahrung dürfte weiterhin stark demotivierend wirken. Die verbreitete Verdrossenheit an politischer Bildung wird durch den permanenten Verdacht genährt, durch methodische Tricks wieder einmal zum Objekt gemacht zu werden. Und schließlich muß bezweifelt werden, daß im Kontext des Zwangs zu beruflicher und sozialer Anpassung der allgemeine Mangel an Motivation zu politischer Bildung umschlägt in das Verlangen nach emanzipatorischer oder auch subjektbezogener Erkenntnis.

V.

Allerdings sehe ich das Problem, daß die schon für den gesellschaftlichen Diskurs in den alten Ländern nicht gerade sehr bedeutsame Schlachtordnung zwischen den politischen Bildnern in zwiefacher Hinsicht auf die neuen Länder übertragen wird. Zum einen dürfte versucht werden, hier für die eigene theoretische Position Hilfstruppen zu finden, zum anderen ist zu erwarten, daß die jeweiligen „Schulen“ in den neuen Ländern ihre materiellen Ressourcen erweitern wollen. Dabei erscheint es mir viel wichtiger, zunächst einmal deutlich zu machen, daß politische Bildung hier ein Bereich ist, der eine eigene demokratische Legitimations-und Handlungsgrundlage auf-und ausbauen muß. Denn es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis im Bewußtsein der Menschen in den neuen Ländern „politische Bildung“ nicht länger mit dem Indoktrinationskartell der SED gleichgesetzt wird. Also -kein Überstülpen der Wessi-Probleme, gleichsam nach der Devise: „Wir ziehen uns an den Haaren der Menschen in den neuen Ländern aus der Krise heraus, in die die politische Bildung im Westen geraten ist.“ Vielmehr sollte eine ruhige und sorgfältige Analyse der Voraussetzungen für politische Bildung in den neuen Ländern einsetzen.

♦ Das bedeutet die Aufarbeitung -der Auswirkungen der SED-Herrschaft auf das Bewußtsein der Menschen (Entpolitisierung, Nischenkultur, aber auch Opposition und ihrer Handlungsmöglichkeiten, Generationskonflikte in der DDR-Gesellschaft, Einfluß der West-Medien etc.);

-der ‘ 89er-Revolution (oder Implosion?) in der DDR (Herausbildung einer demonstrativen Öffentlichkeit, Erfahrungen in kollektiver Machtausübung jenseits der privaten Nischen, Runde Tische etc.); -der Erfahrungen mit der deutschen Vereinigung als Begegnung mit unerwarteten und unbekannten gesellschaftlichen und persönlichen Wirkungen (Wandel von Problembewußtsein, Zielorientierungen, parteipolitischen Zuordnungen, politischem Handeln im Zusammenhang mit den neuen innergesellschaftlichen Verteilungskonflikten und sozialen Umschichtungen).

Vor diesem Hintergrund erhält die „Qualifizierungsoffensive Ost“, die jetzt schon den Weiterbildungsbereich beherrscht, eine gerade für die politische Bildung entscheidende Dimension. In den alten Ländern hat die „Weiterqualifizierung“ mit dem Ziel einer Mobilisierung aller Humanressourcen für die dritte industrielle Revolution („ChipRevolution“) die politische Bildung sehr stark marginalisiert oder ihr einen rein affirmativen Sinn zugewiesen. Oftmals erscheint sie nur noch als Teil einer weitgefaßten Kulturbildung: Beschäftigung mit Politik als Freizeithobby, was im übrigen durch die „Betroffenheitspädagogen“ mit ihrer Individualisierung und Psychologisierung gesellschaftlicher Konflikte zumindest objektiv bestärkt wird.

Sollte die Prognose einer Verschärfung der innergesellschaftlichen Verteilungskonflikte in den neuen Ländern zutreffen, dann ist die politische Bildung als eigenständiger Bereich deshalb von großer Bedeutung, weil sie zur politischen Orientierung und damit auch zur Ausbildung sozialer Kompetenz beitragen kann. Das heißt, in einer demokratischen Streitkultur werden Konflikte nicht verdrängt oder verdeckt, sondern auf die sie bestimmenden Interessen hin hinterfragt, deren öffentliche und damit durchschaubare Artikulation und Durchsetzung ebenso als legitim begriffen wird wie die Bereitschaft zum Kompromiß, die der Motor demokratischer Entscheidungsprozesse ist.

Hierin liegt meines Erachtens die entscheidende Voraussetzung für die mentale Modernisierung in den neuen Ländern, die mit der ökonomischen parallel laufen sollte. Eine so verstandene politische Bildung läßt sich nicht auf Institutionenlehre oder soziale Harmonisierung eingrenzen. Sie wird ihre Aktions-und Interventionsfelder über den engeren Politikbereich hinaus ausdehnen -überall dorthin, wo gesellschaftliche Probleme aufbrechen.

VI.

Noch einmal: Die wohl drängendste Frage an die politische Kultur im vereinten Deutschland ist: Wie soll die neue Einheit im Selbstverständnis und im Selbstbewußtsein der Ostdeutschen und der Westdeutschen zugleich begründet werden? Es gibt eben doch ganz verschiedene Wahrnehmungen sozialer Wirklichkeit und unterschiedliche Bedeutungsinhalte von politischen Leitbegriffen, die thematisiert und aufgearbeitet werden wollen.

Wer die Artikulation solcher Unterschiede als Festhalten an DDR-Spezifika oder gar als zwanghaftes Aufspüren von Bewahrenswertem aus der DDR denunziert, verweigert sich einem notwendigen Dialog, der allein die Herstellung einer gemeinsamen Kommunikationsbasis bringen kann. Ziel muß eine Verständigung unter der Maßgabe der Gleichberechtigung von Erfahrungen in unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Kontexten sein. Dies ist nicht ein Aufruf zu einem neuen „Runden Tisch“ in den neuen Ländern. Wohl aber ist damit das Problem der Grundsätze einer das vereinte Deutschland wirklich einenden Verfassung auf dem Tisch.

Verständigung kann nur innerhalb eines Definitionsrahmens erreicht werden, der im Prozeß der Annäherung sich für das notwendige Neue öffnet, wie wohl auch die Probleme der demokratischen politischen Kultur in den westlichen Ländern über die alte Bundesrepublik hinaus zeigen. Verständigung setzt voraus, daß die Erfahrungen des Erringens demokratischer Rechte und die Kämpfe um deren Aneignung unter komplizierten Bedingun-gen im Osten voll eingehen können in das, was schließlich zu einem gemeinsamen Verständnis wachsen soll. So verstanden wäre das Gelingen von demokratischer politischer Bildung in den neuen Ländern eine zukunftsweisende Veranstaltung der Demokratie und ein Gewinn für ganz Deutschland.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Misselwitz, Dr. rer. nat., geb. 1950; wiss. Tätigkeit in der medizinischen Grundlagenforschung; Studium der Theologie, Gemeindepfarrer; März-Oktober 1990 Mitglied der Volkskammerfraktion der SPD und Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR; Oktober-Dezember 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages; seit Frühjahr 1991 Leiter der im Aufbau befindlichen Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam. Veröffentlichungen zu naturwissenschaftlichen und theologischen Themen sowie zur politischen Bildung.