Nach den Greueln des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 eine „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verkündet. Sie sollte einer künftigen Sicherung dieser Rechte dienen. In der Präambel der Erklärung wird unter anderem gesagt, daß „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“
In diesen Aussagen manifestiert sich die Überzeugung, daß der Mensch Rechte hat, die ihm kein Staat entziehen darf -auch nicht durch Akte der Gesetzgebung. Hatte ein Staat dies dennoch einmal getan, führten die darin sich äußernde „Verkennung und Mißachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei (...), die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben“
Es liegt auf der Hand, daß diese Gedanken auch auf Art. 1 Grundgesetz (GG) eingewirkt haben. Die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ knüpfen deutlich an die Formulierungen der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an. Diese Erklärung hat in der Folge auch auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) Einfluß gehabt. Was aber zu wenig beachtet wird, ist die Tatsache, daß der hohe Anspruch, der diesen Formulierungen zugrunde liegt, nicht erst in der Neuzeit oder gar nach dem Zweiten Weltkrieg erhoben wurde. Seine Grundlagen sind vielmehr völlig unabhängig von irgendwelchen neuzeitlichen Theorien und sind im wesentlichen bereits in der vorchristlichen Antike erkannt worden. Auch wenn damals der moderne Gedanke der „Menschenrechte“ nicht in gleicher Weise ausformuliert war, so wurde doch sehr früh der entscheidende Unterschied zwischen einer legitimen Verfassungsform, der Achtung grundlegender Rechte und ihrer Entartung erkannt Diese „grundlegenden Rechte“ wiederum wurden als Naturrecht begriffen Aufgrund dieser langen Tradition überrascht es daher nicht, daß die Mitglieder der verschiedenen Ausschüsse die Abfassung der Grundrechte in dem Bewußtsein vorgenommen haben, daß diese „auf vorstaatlichen, naturgegebenen Rechten beruhen“ Andererseits weist Hans-Ulrich Evers in seinem Kommentar zu Art. 79 Abs. 3 GG darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) „zwar den Verfassungsgesetzgeber an elementare Gerechtigkeitsprinzipien gebunden“ hält, „aber im übrigen der Berufung auf das Naturrecht eine deutliche Absage erteilt“ habe Evers selbst fügt aber dann hinzu: „Der Versuch einer Verankerung des Art. 79 Abs. 3 GG im Naturrecht muß schon deswegen scheitern, weil für die Rechtsordnung einer pluralistischen Gesellschaft nicht ein letztlich immer nur ideologisch begründbares Naturrecht als vorausgesetzt gedacht werden kann.“
Damit ist das eigentliche Problem formuliert. Für die Antwort auf die Frage nach einem Naturrechtsgehalt im GG und in der EMRK ist es von entscheidender Bedeutung, ob die von Evers formulierte und heute weithin herrschende Auffassung zutreffend ist oder nicht. Es ist zunächst zu prüfen, ob Naturrecht tatsächlich „immer nur ideologisch begründbar“ ist. Danach anschließend soll versucht werden, die Frage nach dem Naturrechtsgehalt im GG und in der EMRK zu beantworten.
I. Ist Naturrecht immer nur ideologisch begründbar?
Die von Evers formulierte Meinung, daß ein Naturrecht „letztlich immer nur ideologisch begründbar“ sei, setzt voraus, daß ein Naturrecht, welches unabhängig von Ideologien Gegenstand der Erkenntnis sein könnte, objektiv nicht existiert. Wenn das zutrifft, stellt sich unausweichlich die Frage nach dem Woher unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte. Solche Rechte können nur, sollte ihnen wirklich die Qualität „unverletzlich und unveräußerlich“ zukommen, in der Tat vorstaatlich und naturgegeben sein. Wenn es aber solche Rechte in Wahrheit nicht gibt, dann wäre auch das Bekenntnis des Deutschen Volkes „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ in Art. l Abs. 2 GG lediglich Ausdruck eines damals gerade vorherrschenden politischen Systems, einer Ideologie. Dasselbe würde natürlich auch für die Grundrechte der Art. 2-17 GG und die Garantie des „Wesensgehalts“ nach Art. 19 Abs. 2 GG, aber auch für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wie auch für die EMRK gelten. „Menschenrechte“ würden dann in Wahrheit vom jeweiligen unvorhersehbaren Konsens einer ideologischen „Gemengelage“ der pluralistischen Gesellschaft abhängen.
Daß ein Naturrecht „letztlich immer nur ideologisch begründbar“ sei, ist jedoch eine weder bewiesene noch beweisbare Behauptung. Sie mag durch unzureichende oder unhaltbare Begründungen oder mißbräuchliche Anwendungen verschiedener Naturrechtstheorien veranlaßt sein: Das Naturrecht selbst vermag sie aber überhaupt nicht zu berühren. Fest steht allerdings, daß diese Behauptung in krassem Gegensatz zu den seit der Antike klaren und im wesentlichen über Hunderte von Jahren unveränderten Erkenntnissen hinsichtlich der Existenz und der Bedeutung von Normen des Naturrechts steht. Vor allem aber widerspricht sie der in der Entwicklung des Römischen Rechts artikulierten Rechtserfahrung.
Das entwickelte Römische Recht ist bekanntlich zur Grundlage praktisch aller europäischen Rechtsordnungen geworden Es läßt sich nicht bestreiten, daß sich bei der Entwicklung dieses Rechts unter anderem auch so etwas wie eine „Naturrechtspraxis“ entfaltet hat. Wie die allgemeinen Aussagen der römischen Juristen zeigen, ging man von der Existenz eines Naturrechts aus, was nicht zuletzt die Anwendung naturrechtlicher Normen im Einzelfall beweist Die in diesem Zusammenhang entscheidende Arbeit der antiken römischen Rechtswissenschaft erstreckt sich über einen Zeitraum von rund 400 Jahren. Die früheste ausdrückliche Bezugnahme auf das Naturrecht ist für den berühmten Staatsmann und Juristen M. Porcius Cato Censorius (234 bis 149 v. Chr.) bezeugt Die ausführlichsten Aussagen sind von dem großen spätklassischen Juristen Ulpian (t 223 n. Chr.) überliefert. Ein besonders wichtiger Text ist von Justinians Kommission an die Spitze der Sammlung des Juristenrechts (Digesten) gestellt worden. In diesem Text Ulpians wird das Naturrecht allgemein als eine der Quellen des Privatrechts angeführt. Zu den Beispielen privat-rechtlicher Einrichtungen, die auf das Naturrecht zurückgehen, werden die Ehe und die Kindererziehung gerechnet Eben dieser Aspekt, der seine Wurzeln im Naturrecht hat, findet sich im Art. 6 Abs. 2 GG wieder: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Vom historischen Standpunkt aus betrachtet, kann man nicht behaupten, der Naturrechtsbegriff des Grundgesetzes sei „nur ideologisch begründbar“.Verstöße gegen das Naturrecht sind dagegen immer ideologisch begründet. Es waren und sind ideologische Systeme, die z. B. das oben zitierte Recht der Eltern mißachtet haben und auch weiterhin mißachten. Nur ein Naturrecht legt fest, daß es tatsächlich „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte“ gibt. Ohne Naturrecht gibt es in Wahrheit keinen Schutz vor dem Willen einer Staatsmacht, „wobei es von sekundärer Bedeutung ist, ob es sich um den Willen eines einzelnen oder einer Mehrheit handelt“ Auch eine „pluralistische Gesellschaft“ kann als solche ohne eine sie vor Willkür eines Machthabers sichernde, objektiv vorgegebene normative Ordnung in Wahrheit nicht bestehen. Joachim Detjen hat überzeugend nachgewiesen, daß gerade „der Pluralismus einer normativen Orientierung oder Einbindung durch das Naturrecht bedarf“ Detjen stellt fest, daß die Ablehnung einer objektiven Naturrechtsordnung zwangsläufig zu positivistischer Weitsicht führt: „Denn in einer von Gott, ewigem und natürlichem Gesetz emanzipierten Welt bleibt nur das menschliche Gesetz, das der Mensch sich kraft seiner Autonomie selbst gibt. Ursache und Maß des Rechts kann letztlich nur der menschliche Wille sein, wobei es von sekundärer Bedeutung ist, ob es sich um den Willen eines einzelnen oder einer Mehrheit handelt (...), das politische Schicksal des Rechts (ist) damit besiegelt. Es ist nur und ausschließlich Funktion der Macht, die einem wie immer beschaffenen und ausgerichteten Willen zur Geltung verhilft. Unter der Geltung der Autonomieprämisse -Autonomie verstanden im Sinne unbedingter Selbstverantwortung -kann jede Idee, auch die abstruseste, zur Basis einer Rechtsnorm gemacht werden. ... Legitim ist eine Ordnung dann, wenn sie sich auf den Konsens, d. h. aber auf den vereinigten Willen der Individuen, stützen kann. Der Konsens mag sich dabei an Wertvorstellungen oder an Rechtsüberzeugungen binden, entscheidend bleibt, daß nicht die Qualität dieser Vorstellungen, sondern die formelle Kategorie des Konsenses legitimierend ist.“ Im Hinblick auf die Ergebnisse der von ihm analysierten „Pluralismusstudien“ kann Detjen zusammenfassend sagen: „Gemeinsam ist diesen Studien, daß sie entsprechend dem modernen Weltbild von einem dem Menschen vorgegebenen Nomos nichts wissen wollen. Daher bleibt ihnen nur der Rückgriff auf die Autonomie des Menschen, was ja identisch ist mit der Idee, daß die Menschen sich ihre Normen selbst in voller Freiheit geben.“
Dieser Befund entspricht auch der theoretischen Begründung des Rechtspositivismus etwa durch Hans Kelsen, der in der Spätnachfolge Kants schließlich dazu gelangt, „das Recht als Zwangs-ordnung mit beliebigem Inhalt zu definieren, weil seine Normen „aus der Willkür einer menschlichen Autorität* stammten“ Wenn es kein allgemein-gültiges Kriterium gibt, Recht auch von gesetzlichem Unrecht zu unterscheiden, dann wäre es, wie schon Cicero festgestellt hat, „Recht zu rauben, Recht die Ehe zu brechen, Recht, falsche Testamente zu unterschieben, wenn das durch Abstimmungen oder Verordnungen der Menge gutgeheißen würde“ Inzwischen ist die Menschheit um viele Erfahrungen reicher, was dann alles „Recht“ werden könnte. Weil in einer pluralistischen Gesellschaft niemals ein vollständiger Konsens aller Glieder zu erreichen ist, geht es bei Abstimmungen immer nur um Mehrheiten. Vom Rechtsbegriff des Positivismus aus gibt es dann prinzipiell kein Hindernis, daß Mehrheiten beschließen, Minderheiten völlig rechtlos zu stellen. Dies ist denn auch längst nicht mehr Theorie. So haben in praktisch allen demokratischen Staaten Europas Mehrheiten beschlossen, ungeborene Kinder entweder nach völlig freiem Ermessen, wie in Österreich, oder von gewissen Formerfordernissen (Beratung) faktisch nicht behindertem Ermessen, wie in der Bundesrepublik, innerhalb bestimmter Zeit der Tötung preiszugeben. Dies konnte trotz der Geltung der EMRK und des GG geschehen. Auch die Deklaration der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1959, in der das Recht auf „appropriate legal protection, before as well as after birth“ ausdrücklich festgeschrieben wurde, blieb ohne Einfluß auf die Abtreibungspraxis.
Mit zunehmendem Abstand von den „Akten der Barbarei (...), die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben“, nimmt in der Gesellschaft die Bereitschaft zu, sich in den eigenen Ansprüchen „von einem dem Menschen vorgegebenen Nomos“ nichts vorschreiben zu lassen. Es werden vielmehr alle möglichen Theorien entwickelt, sich eines unbequemen Naturrechts zu entledigen. Die vielschichtigen Probleme, die einer Gesellschaft daraus erwachsen, können hier nicht diskutiert werden. Als „rational“ zwingendes Argument gegen die Möglichkeit der Existenz eines Naturrechts wird die logische Unmöglichkeit angesehen, aus einem als nicht normativ vorausgesetzten Sein auf ein Sollen zu schließen Ein solcher Schluß bedeute einen „naturalistischen Fehlschluß“. Daß dieses Argument in Wahrheit falsch ist, hat Detjen überzeugend gezeigt Es beruht auf dem rational nicht haltbaren Fehlschluß von dem empirisch erfaßbaren, nicht normativen Sein auf die Nichtexistenz eines ideellen und damit auch eines vorgegebenen normativen Seins
Emst-Wolfgang Böckenförde hat einen anderen Weg zur Beseitigung vorgegebener Normen beschritten. Auch seine „Kritik der Wertbegründung des Rechts“ kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht ausführlich diskutiert werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sie zu der „Schlußfolgerung“ gelangt, daß die Wertbegründung das Recht letztlich „dem Positivismus der Tageswertungen“ ausliefere. „Diesen gegenüber vermag sie kein Rechtsprinzip aufrechtzuhalten, wenn es vom aktuellen Konsens nicht mehr getragen wird.“ Welches Rechtsprinzip kann aber dann noch aufrechterhalten werden, „wenn es vom aktuellen Konsens nicht mehr getragen wird“? Der Rechtsbegriff, von dem Böckenförde ausgeht, ist ebenso vom Konsens abhängig. Er begreift das Gesetz als „eine allgemeine Regel (generelle Norm), die unter Zustimmung der Volksrepräsentation in einem durch Diskussion und Öffentlichkeit gekennzeichneten Verfahren zustande kommt“. Er argumentiert, daß alle „für den Rechtsstaat wesentlichen Grundsätze (...) in diesem Gesetzesbegriff institutionell eingefangen und in Form gebracht“ seien Im Hinblick auf die „Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz“ stellt er sogar die Frage, ob „darin nicht der Ansatz zu einem Verfassungstotalitarismus“ liege Rupert Hof-mann hat diese Thesen bereits treffend kritisiert Alles in allem bedeuten diese Auffassungen die Rückkehr zu einem Rechtspositivismus, in dem „die wesentlichsten Erkenntnisse der neueren Rechtsphilosophie wieder preisgegeben werden“
Die wirkliche Entwicklung des Rechtsbegriffes seit der Antike zeigt ein anderes Bild. Der Mensch wird als fähig erkannt, Recht von Unrecht, Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit zu unterscheiden Cicero sieht ganz klar, daß weder ein Senat noch ein Volk etwas von dem Gesetz, das vor allen Zeiten bestand und für alle Zeiten bestehen wird, aufheben oder etwas daran ändern kann. Daher muß der Staatsmann in höchstem Maße vertraut sein mit diesem höchsten Recht, ohne das niemand gerecht sein kann
Im Hinblick auf diesen Sachverhalt, der sich natürlich viel ausführlicher darlegen und begründen ließe, kann keine Rede davon sein, daß Naturrecht „letztlich immer nur ideologisch begründbar“ wäre. Vielmehr ist, wer das seit der Antike entwickelte Rechtsbewußtsein des Menschen als Ideologie abtun zu können glaubt, wie Johannes Messner gezeigt hat, seinerseits „ideologischer Voreingenommenheit verdächtig wie jede Theorie, die Tatsachen übergehen zu können glaubt“
II. Zum Naturrechtsgehalt im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention
Bei der Frage nach dem Naturrechtsgehalt im GG ist zunächst die Stellung des ersten Satzes der Präambel zu untersuchen: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, (...) hat das Deutsche Volk (.. Wie die Begründung für „die Einbeziehung der invocatio dei in die Präambel“ durch den Abgeordneten Süsterhenn zeigt, lag hier gerade das Gegenteil der Vorstellung „einer von Gott, ewigem und natürlichem Gesetz emanzipierten Welt“ zugrunde, was nicht zuletzt konkrete Auswirkungen auf die Formulierungen des Art. 1 GG und der anderen Grundrechte gehabt hat
Das BVerfG hat in einem viel zitierten Urteil vom 23. Oktober 1951 im Leitsatz Nr. 27 festgestellt: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“ Es bezeichnet auch die „verfassunggebende Versammlung“ als „gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze“ Auch die von Evers behauptete „deutliche Absage“ „der Berufung auf das Naturrecht“ gilt keineswegs dem Naturrecht an sich, sondern nur der Begründung der „Zuständigkeit des Vaters für die Konfliktentscheidung“. Die naturrechtliche Begründung „fundamentaler Rechtsgrundsätze“ wird auch dort nicht verneint
Nun wird freilich gerade die Verbindung des Naturrechts mit Gott als zwingendes Argument dafür gehalten, daß man ein Naturrecht nur unter der Voraussetzung eines Glaubens „an eine gerechte Gottheit“ annehmen könne. Wer „diese Voraus-Setzung nicht annehmen zu können glaubt“, könne daher auch ein Naturrecht nicht annehmen Hierzu wäre zu sagen, daß bereits Aristoteles erkannt hat, daß erkenntnistheoretisch jedes kontingente Sein, besonders auch die empirisch erkennbare Wirklichkeit, logisch zwingend zu einer nicht kontingenten Erstursache führt. Sonst steht das Erkennen vor einem unendlichen Regreß, der letztlich eine prinzipielle Aufhebung der Möglichkeit eines Erkennens zur Folge hat Übertragen auf das Christentum bedeutet dies, „daß Gott, aller Dinge Ursprung und Ziel, mit dem natürlichen Licht der Vernunft aus den geschaffenen Dingen sicher erkannt werden kann“ Die geschaffene Wirklichkeit als solche bleibt auch dann erkennbar, wenn man die Frage nach ihrer logischen Voraussetzung nicht stellt. Als Teil der geschaffenen Wirklichkeit existiert auch das Naturrecht unabhängig vom erkennenden Subjekt. Daher kann Detjen mit Recht feststellen, daß „es sich beim Naturrecht... nicht um ein , Glaubensrecht*“ handelt. Zu den von ihm angeführten vorchristlichen Zeugen „Platon, Aristoteles und die Stoiker“ ließen sich noch Cicero und vor allem die römischen Juristen anführen.
Alle diese Fragen lassen sich in dem hier vorgegebenen Rahmen nicht im einzelnen erörtern. Detjen kann jedoch feststellen: „Allgemein ist der Kembereich der Grundrechte, wie er sich aus den Artikeln 1, 2 und 3 des Grundgesetzes ergibt, weitgehend mit dem Kernbereich des klassischen Naturrechts identisch.“ Auf Art. 6 Abs. 2 GG habe ich bereits hingewiesen. Weitere Einzelheiten hat besonders Gebhard Müller aufgezeigt Im folgenden kann nur das fundamentale Grundrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 GG behandelt werden, das hinsichtlich des Rechtes auf Leben eine Entsprechung im Art. 2 Abs. 1 EMRK hat. Es ist insofern das fundamentalste Grundrecht, weil alle anderen Grund-und Menschenrechte überhaupt erst wirksam werden können, wenn die Existenz ihrer Träger, das Leben, gesichert ist. Geradedieses Recht ist auch in einer Demokratie gefährdet: Durch Mehrheitsbeschluß wird das Recht auf Leben bereits seit längerer Zeit zunächst ungeborenen Menschen weitgehend oder für bestimmte „Fristen“ durch Beseitigung des Rechtsschutzes gänzlich entzogen. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 25. Februar 1975 zur „Fristenlösung“ festgestellt: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut“ Diese Feststellung wird sodann ausführlich begründet, unter anderem auch mit der Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Dies ist deswegen besonders bemerkenswert, weil etwa Wernicke im Bonner Kommentar zum genau entgegengesetzten Ergebnis gekommen war Dabei hat er bereits ähnliche Argumente verwendet wie der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Der übrigens nicht authentische deutsche Wortlaut, „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird geschützt“, wurde dahin ausgelegt, daß das Wort „Mensch“ nur den geborenen Menschen bezeichnen könne Der österreichischen Rechtsordnung liegt allerdings mit § 22 ABGB (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch) eine auf das Römische Recht zurückgehende Norm zugrunde, die besagt: „Selbst ungeborene Kinder haben von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze. Insoweit es um ihre .., Rechte ... zu tun ist, werden sie als Geborene angesehen.“ Daraus folgt, wie allgemein anerkannt wird, daß ihnen etwa der im Art. 5 des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 (StGG) vorgesehene Schutz des Eigentums zukommt. Die Tatsache, daß ungeborene Kinder „von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an“ in ihren Vermögensrechten geschützt sind, führt bei der Annahme, daß sie in ihrem Lebensrecht nicht geschützt sind, zu Konsequenzen, die jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechen. Das hat die Salzburger Landesregierung in ihrer Stellungnahme zur Äußerung der Bundesregierung im Verfahren wegen der „Fristenlösung“ an Hand des folgenden Beispieles klargestellt: „Während der ersten drei Monate der Schwangerschaft einer Frau stirbt ihr Ehemann ohne Hinterlassung einer letzt-willigen Anordnung. Um nicht mit dem Kind den
Nachlaß teilen zu müssen und sich das gesamte Vermögen des Ehemannes zuzuwenden, tötet die Frau ihr Kind während der 3-Monatsfrist.“
Nichts kann mehr die völlige Willkürlichkeit des Umganges mit fundamentalsten Grundrechten verdeutlichen als eine nur vom ideologischen Ziel her verständliche Auslegung, die zu einem solchen Ergebnis führt. Wenn eine Mehrheit es möglich machen will, sich unerwünschter Rechtssubjekte zu entledigen, dann kann sie sich auch über Erklärungen der Menschenrechte, positivierte Menschenrechtskonventionen und Grundrechtskataloge hinwegsetzen. Daher hat Wolfgang Fikentscher mit Recht festgestellt: „Unrichtig und gefährlich ist das Vertrauen in eine Mehrheit, sie werde von sich aus auf . immanente* Weise oder sonstwie die Grenzen der Grundrechte wie von selbst achten, oder sie sei sogar Herrin über Ob und Wie der Grundrechte.“
Angesichts der klaren Ausführungen des BVerfG zum Lebensrecht des Ungeborenen ist jedoch nicht zu verstehen, was zur „Frage der Zumutbarkeit“ der „Achtung vor dem ungeborenen Leben“ gesagt wird. Dieser wird das „Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsgutes gezwungen zu werden“ gegenübergestellt. Die Anerkennung auch „der sozialen oder Notlagenindikation“ hat es denn auch dem einfachen • Gesetzgeber möglich gemacht, mit § 218 b StGB faktisch eine „verdeckte“ Fristenlösung einzuführen, und zwar unter Wahrung zumindest des Scheines der formellen Übereinstimmung mit den Richtlinien des BVerfGs. Was das Erfordernis der „Beratung“ für die Straffreiheit praktisch bedeutet, wird durch den Kommentar von Albin Eser vollkommen außer Zweifel gestellt. Wenn die Schwangere sich für den „Abbruch einer Schwangerschaft“ entschieden hat, also für die Vernichtung des ungeborenen Lebens, ist die Beratung bloße Formsache zur Vermeidung der Strafbarkeit. Bei entsprechendem Willen der Frau wird es praktisch keinen Fall geben, in dem nicht „hinreichende Anhaltspunkte über das Vorliegen einer anerkannten Indikation“ beigebracht werden könnten. Dann „kann dem Berater nicht verwehrt sein, die Schwangere über die weiteren Schritte eines legalen Abbruchs (...) zu beraten“ und damit die Voraussetzung für die Straffreiheit zu erfüllen. Von den Richtlinien des BVerfGs ist hier allerdings nicht mehr viel übriggeblieben
Besonders folgenschwer kann jedoch eine Feststellung des BVerfGs zur Anerkennung der sozialen Indikation werden: „Denn die allgemeine soziale Lage der Schwangeren und ihrer Familie kann Konflikte von solcher Schwere erzeugen, daß von der Schwangeren über ein bestimmtes Maß hinaus Opfer zugunsten des ungeborenen Lebens mit den Mitteln des Strafrechts nicht erzwungen werden können.“ Kann die Sorge für Schwerbehinderte Familienmitglieder, für Alte und Kranke nicht die gleichen Konflikte oder noch schwerere mit sich bringen? Es ist ganz klar, daß die prinzipielle Preisgabe des Lebensschutzes an einer Stelle alles weitere zur Frage der Zweckmäßigkeit macht. Nicht ein NS-Jurist, sondern der angesehene deutsche Strafrechtslehrer der Weimarer Zeit Karl Bin-ding hat bereits 1920 eine Schrift über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ veröffentlicht, in der die Auffassung vertreten wurde, daß „die Tötung unheilbarer Kranker und Blödsinniger ...freigegeben werden“ sollte, weil „Volksvermögen und Arbeitsaufwand durch die Pflege solcher , Ballastexistenzen 4 produktiven Zwecken entzogen würden Die NS-Diktatur hat daraus die Konsequenzen gezogen, was nach 1945 zu einem „Rückschlag“ in dieser Entwicklung führte. Aber auf einem 1975 an der Universität Bielefeld veranstalteten Symposion konnte bereits von einem Teilnehmer „die Schaffung von völlig neuen Körperschaften zur Entscheidungsfindung“ vorgeschlagen werden, die „ähnlich wie Geschworenengerichte ... über Leben und Tod“ zu entscheiden hätten. Dies wäre ein Weg „zur Wiederbelebung demokratischer Entscheidungsfindung“, der „dazu helfen könnte, die neuen gesellschaftlichen Verantwortungsbereiche zu verteilen, die uns die moderne Wissenschaft aufzwingt: die Verantwortung dafür, daß wir den , lieben Gott'spielen“
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die EMRK und der Grundrechtekatalog des GG vermochten unschuldiges menschliches Leben nicht umfassend zu schützen. Dies macht klar, daß die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG) eine Illusion bleiben müssen, wenn man ihre naturrechtliche Grundlage nicht anerkennt. Diese Grundlage ließe sich natürlich für eine Reihe weiterer Grund-oder Menschenrechte aufzeigen. So wird etwa „nach der herrschenden Lehre des Privatrechts“ angenommen, daß der Schutz des Eigentums nach § 367 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) und entsprechend nach Art. 5 des österreichischen StGG, Art. 14 Abs. 1 GG, Art. 1 des l. ZP zur EMRK und Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „im Präpositiven seinen Grund hat“
Die heute verbreitete Ablehnung des Naturrechts hat viele Ursachen. Die Grundlagen der wissenschaftlichen Kritik am Naturrecht sind jedoch längst als unhaltbar erwiesen Daher ist ein erneutes Bemühen um ein sachgerechtes Verständnis des Naturrechts von entscheidender Bedeutung dafür, daß die in den modernen Grund-und Menschenrechtskodifikationen enthaltenen „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ für die Zukunft wiederhergestellt und erhalten werden können. Dabei kann die Rechtserfahrung seit der Antike wesentliche Hilfe leisten. Johannes Messner hat dazu allgemein festgestellt: „Die Entwicklungslinie der traditionellen Naturrechtslehre wieder aufzunehmen hat auf den ersten Blick schon den ungeheuren Vorteil, daß sie auf ein ununterbrochenes Bemühen des menschlichen Geistes durch eine Zeit von mehr als zweitausend Jahre(n) begründet ist, und zwar auch auf ein selbstkritisches wie keines der anderen Systeme der Ethik.“