I. Zum Problem des Naturrechts
1. Was heißt „Naturrecht“?
Das Thema Naturrecht begegnet heute weit verbreiteter Ablehnung. Es gibt -nicht nur bei Juristen -einen tiefgreifenden horror iuris naturalis, der einerseits wohl mit dem Schwierigkeitsgrad der Naturrechtsfrage zusammenhängt, sich andererseits aber auch aus der Auffassung erklärt, daß das Naturrecht sachlich wie erkenntnistheoretisch endgültig tot sei. Wer in der Gegenwart wissenschaftlich ernst genommen werden wolle, dürfe, so Arthur F. Utz mit ironischem Unterton, auf keinen Fall vom Naturrecht sprechen. Und der Rechtshistoriker Michel Villey hält es für ein „wahnwitziges Anliegen“, für eine „von vornherein verlorene Schlacht“, dem Zeitgenossen beispielsweise die Aktualität der Naturrechtslehre Thomas von Aquins plausibel zu machen
Das Naturrecht ist aber schon wiederholt für tot erklärt worden, was den Verdacht hervorruft, daß der Tote noch am Leben ist. Der Grund hierfür könnte darin liegen, daß das Naturrecht den Zusammenhang von Recht und Sittlichkeit anmahnt, damit ein nicht ersetzbares Erfordernis zumutbaren menschlichen Zusammenlebens ausspricht und sich insofern immer wieder zu Wort meldet. So gingen die klassischen römischen Juristen in den ersten drei Jahrhunderten nach Christus wie selbstverständlich von der Existenz des ius naturale aus Über welche Kraft der Naturrechtsgedanke auch noch im 20. Jahrhundert verfügt, läßt sich an Gustav Radbruch zeigen, der vor der nationalsozialistischen Machtergreifung die Rechtsphilosophie als Relativist und Positivist maßgeblich mitbestimmt hatte und sich 1945 zu folgender Einsicht genötigt sah: „Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet und in den sogenannten Erklärungen der Menschen-und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“
Worum es sich beim Naturrecht handelt, hat Max Weber treffend so umrissen: Es ist „der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren“ Das Naturrecht steht also für die Idee eines Rechts, das sich nicht menschlicher Autorität verdankt, das vielmehr für jede Staatsinstanz, darüber hinaus im Grunde für jeden Menschen, unbedingte Verbindlichkeit beansprucht. Es hat die Bedeutung eines sittlichen Fundamentes und Maßstabes für alles auf öffentliche Wirksamkeit angelegte Handeln und macht aufmerksam auf den Unterschied zwischen empirischer Geltung und rechtsethischer Gültigkeit einer Normenordnung. Der naturrechtliche Gedanke der Unbeliebigkeit wendet sich gegen Entscheidungen, zu deren Rechtfertigung lediglich angeführt werden kann, daß sie vorherrschenden Überzeugungen oder Mehrheitsmeinungen entsprächen Maßgebliche inhaltliche Norm im Naturrechtsdenken ist der Mensch, der nicht erst ins Recht dadurch kommt, daß bestimmte Instanzen Recht setzen. Der Mensch ist vielmehr immer schon im Recht. Nach diesem Vor-Recht hat sich alle Rechtsschöpfung zu richten Das positive Recht selbst widerspricht also keineswegs dem Naturrecht.
Gegenspieler des Naturrechts ist seit jeher der Rechtspositivismus, der eine Trennung von Moral und Recht annimmt und inhaltliche Kriterien nicht in den Rechtsbegriff aufnimmt. Der eher soziologisch orientierte Rechtspositivismus sieht das Recht begründet in den tatsächlich von einer Gesellschaft praktizierten Verhaltensweisen und Moralauffassungen. Man könnte diese Position auch einen -pluralismusfreundlichen -Konventionalismus nennen. Der strenge Gesetzespositivismus identifiziert das Recht mit den positivierten Normen, wobei entweder die Beliebigkeit des Rechtsinhaltes zum Dogma erhoben oder aber die Frage des Inhaltes neutral-uninteressiert angesehen wird. Entscheidend für die Legitimität des Rechts ist nicht, daß es nicht moralwidrig sein darf, sondern daß es in formal korrekter Weise erzeugt worden und Ausdruck des Willens der zuständigen Instanz ist.
Obwohl der Rechtspositivismus betont antimetaphysisch eingestellt ist und sich in Entgegensetzung zur Naturrechtsphilosophie als empiristische Theorie versteht, argumentiert er metaphysisch. Denn seine Gleichsetzung von Legitimität und Positivität kann nicht auf empirischer Beobachtung beruhen. Der Rechtspositivismus ist, so paradox es klingt, auch eine Naturrechtslehre Seine Behauptung, daß der Gesetzesbefehl als solcher bereits den Gesetzesinhalt ethisch legitimiere, weist zurück auf den scholastischen Voluntarismus, der die Geltung des Naturrechts im Willen Gottes begründet sah. Im säkularisierten Naturrechtsdenken der Neuzeit mündete der Voluntarismus schließlich bei Thomas Hobbes in der Legitimierung der bedingungslosen Autorität des positiven menschlichen Rechts.
Zweierlei machen die bisherigen Ausführungen deutlich. Erstens ist es nicht möglich, über das Naturrecht zu sprechen, ohne zu den letzten Fragen der Philosophie Stellung zu beziehen. Zweitens kann man von der Naturrechtslehre nicht im Singular sprechen. Die verschiedenen Konzeptionen sind daher daraufhin zu überprüfen, ob sie der Funktion des Naturrechts entsprechen, nämlich ein an der natura humana orientiertes normierendes Regulativ für die Politik abzugeben. Das schließt die beschränkende Bindung der Machtausübung ein, erschöpft sich aber nicht darin 2. Naturrecht und Pluralismus: ein Spannungsverhältnis Abgesehen von vereinzelten Stimmen, die eine Art prästabilierter Harmonie zwischen Pluralismus und Naturrecht feststellen geht die herrschende Auffassung in der Politikwissenschaft von einem klaren Gegensatzverhältnis aus. Die pluralistische Ordnung basiere auf dem Prinzip der Volkssouveränität, was bedeute, daß alle rechtliche Ordnung mit den aus der Willensfreiheit der Individuen hervorgehenden Manifestationen vereinbar sein müsse. Ein vorgegebenes, absolut richtiges apriorisches Recht festlegen, dekretieren und durchsetzen zu wollen, würde zur Aufhebung der Pluralität und damit der Freiheit der Selbstbestimmung führen. Das Naturrecht zerstöre in einer weltanschaulich pluralen Welt die Kommunikationsgemeinschaft mündiger Bürger, es sei tendenziell autoritär, wenn nicht gar totalitär. Es markiere den Weg zurück von einer autonom legitimierten Demokratie zu einer heteronom bestimmten Diktatur
Ein weiterer Grund für die mangelnde Verständigung liegt in den sehr unterschiedlichen geschichtlichen Entstehungskontexten. Das Naturrechtsdenken entstammt der griechisch-römischen Antike, während der Pluralismus die geistigen Einflüsse der Aufklärung, die verfassungspolitischen Auswirkungen der bürgerlichen Revolution und die sozialstrukturellen Folgen der industriellen Revolution repräsentiert. Seine ausschlaggebende geistige Wurzel ist der politische und wirtschaftliche Liberalismus, wenn er diesen auch in mancher Hinsicht überwindet. Der Liberalismus selbst reicht über die Aufklärung zurück in den mittelalterlichen Nominalismus, der, engstens mit dem Voluntarismus verwandt, die ideelle Grundlage eines ius naturale unterhöhlt, weil objektive Wesensideen nicht ermittelt seien
Das Erstaunliche ist nun, daß trotz tiefgreifender Unterschiede, ja Antinomien maßgebliche Pluralismustheoretiker zu der Überzeugung gelangt sind, daß auf das Naturrecht nicht verzichtet werden könne. Offensichtlich liefert der Pluralismus selbst keine zureichende Wertgrundlage für das Zusammenleben der Menschen.
II. Kennzeichen des Pluralismus
1. Pluralistische Gesellschaft Das Wort Pluralismus steht für den die modernen westlichen Gesellschaften besonders stark prägenden Sachverhalt einer Vielfalt weltanschaulicher Ideen, politischer Ansichten, ökonomischer Interessen und kultureller Lebensstile. Vier Indikatoren zeigen mit großer Sicherheit das Vorhandensein eines pluralistischen Gemeinwesens an: Ein „Gruppenplural“ liegt vor, wenn eine unbegrenzte Zahl von Gruppen Aktivitäten zeigt, und zwar sowohl nach innen, wie die Prägung und solidarische Stützung der Mitgliederschaft, als auch nach außen, wie die Beeinflussung der Öffentlichkeit, anderer Gruppen oder des Staates. Mit „Wertplural“ ist die weitgehende Offenheit der Gesellschaft in bezug auf Werte und Normen gemeint. Es gibt wohl noch gemeinsame Orientierungen, aber dennoch haben insbesondere traditionelle Normen eine Verringerung ihrer generellen Geltung und Verbindlichkeit hinnehmen müssen. Der Indikator „soziale Differenzierung“ beschreibt den Prozeß der zunehmenden Verselbständigung und folglich Differenzierung der Lebensbereiche und Gemeinschaftsbindungen. Schließlich bezeichnet die „partielle soziale Integration“ das Phänomen, daß die Individuen in den verschiedensten sozialen Gebilden integriert sind, diese Integration sich aber nur auf einzelne Aspekte des Lebens, selten auf das ganze Leben oder auf die ganze Person bezieht
Das politische Leben selbst ist unter dem Vorzeichen des Pluralismus durch fünf Aspekte gekennzeichnet: Erstens sind heterogene soziale, ökonomische, politische und weltanschauliche Interessen und Ideen und für sie eintretende Organisationen legitim wirksam und ringen um Einfluß. Diese Kräfte entziehen sich zweitens einer Integration nach hierarchischen Einheitsprinzipien, wie sie von religiös-weltanschaulich geschlossenen Staaten oder ideologisch bestimmten totalitären Einparteiensystemen bekannt sind. Sie verfolgen vielmehr drittens ihre Ziele autonom und gleichberechtigt, und sie wissen sich durch grundrechtliche Garantien geschützt. Viertens unterscheiden sich die Akteure durch die Ansichten über die zu verfolgenden Mittel und Ziele, über ihre Zuordnung zur Welt wie zur Natur und zur Geschichte und über den Endzweck individuellen und sozialen Lebens. Daraus resultieren schließlich fünftens Konkurrenzsituationen und Konflikte interessenorientierter, auch weltanschaulich-grundsätzlicher Art. 2. Pluralistische Demokratie Damit eine pluralistische Gesellschaft nicht in Anarchie und Chaos zerfällt, bedarf sie der rechtlichen Ordnung. Diese Ordnung muß aber aus den dem Pluralismus eigentümlichen Prinzipien erwachsen, also den Grundsätzen der Autonomie, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Individuen und Gruppen entsprechen. Diesen Bedingungen kommt nur der rechtsstaatlich-demokratische Verfassungsstaat nach. Einerseits verhält er sich gegenüber der Pluralität sozialer und weltanschaulicher Positionen neutral und ordnet lediglich den Raum ihres Wirkens, andererseits ist seine Herrschaftsausübung dem Autonomiegedanken des Pluralismus deshalb angemessen, weil sie demokratisch legitimiert, strukturiert und kontrolliert wird Dem pluralistischen Demokratieverständnis zuzurechnen sind mindestens folgende Elemente: die unverbrüchliche Anerkennung und Sicherung unveräußerlicher Grund-und Menschenrechte als Grundlage aller Politik, die Rekrutierung aller Inhaber staatlicher Ämter aus freien, gleichen, allgemeinen und geheimen Wahlen, die Verteilung staatlicher Macht auf eine Mehrzahl sich gegenseitig begrenzender und kontrollierender Verfassungsorgane, ein Alternativen verkörperndes Mehrparteiensystem, das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von Opposition, die Gestaltungsteilhabe der Partikularinteressen verkörpernden Verbände am politischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß und die Geltung des Rechts-und Sozialstaatsprinzips für alle staatlichen Handlungen 1 Ein Gemeinwesen, das diesen Anforderungen genügt, läßt sich als „autonom legitimierter, heterogen strukturierter, pluralistisch organisierter Rechtsstaat“ bezeichnen. „Autonome Legitimation“ besagt, daß der politische Prozeß keinem vorgegebenen, geschlossenen Gemeinwohlkonzept unterliegt, sondern freier, streitiger und anfechtbarer Diskussion folgt. Das Gemeinwohl ist eine abstrakte regulative Idee, die sich a posteriori konkretisiert als Ergebnis eines offenen Willensbildungsprozesses. „Heterogene Struktur“ bedeutet, die Gesellschaft bewußt in ihrer Vielfalt an Interessen und Auffassungen zu belassen, auf eine zwangsweise Gleichschaltung im Namen einer geistigen, ethischen oder ethnischen Homogenität also zu verzichten. „Pluralistisch organisiert“ ist ein Regierungssystem, dessen Institutionen und Verfahrensweisen daraufhin angelegt sind, denjenigen Vorstellungen Geltungskraft zu verschaffen, die vom heterogen strukturierten Volk tatsächlich gewollt werden. Eine ungehinderte Kommunikation sowie ein freier Wettbewerb der Ideen und Programme zwischen Öffentlichkeit, Interessenverbänden, Parteien, Parlament und Regierung gehören notwendig hierzu 3. Pluralismus zwischen Freiheit und Bindung Der Pluralismus ist kein Wert an sich, sondern eine gesellschaftliche Folge des Humanwertes Freiheit.
Sein anthropologischer Sinn liegt in der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Die perspektivische Begrenztheit der Individuen hat naturgemäß eine Pluralität der Interessen, Erkenntnisse und Verhaltensweisen zur Folge. Der Pluralismus ist somit Ausdruck des universellen Reichtums wie gleichermaßen der konkreten Begrenztheit menschlicher Bestrebungen.
Aufgrund seiner Bindung an die aufklärerische Tradition hält der Pluralismus daran fest, daß der Mensch im allgemeinen und die Bevölkerung eines pluralistischen Gemeinwesens im speziellen dazu befähigt sind, sich hinsichtlich der Lebensgestaltung vernunftgemäß selbst zu bestimmen. Freiheit unter pluralistischen Vorzeichen bedeutet also Freisein von nicht vernunftgemäß eingesehenen und nicht freiwillig anerkannten Bindungen und Verpflichtungen.
Die Freiheit zeigt zugleich die Problemlage des Pluralismus an: Die ihr entspringende Wert-und Nonnenvielfalt kann zur sozialen Desintegration führen. Zudem gibt es im pluralistischen Verfassungsstaat keine absolut autoritativ über alles gebietende Norminstanz. Das unterscheidet ihn gerade von religiös oder ideologisch monistischen Ordnungen. Um der Erhaltung der Freiheit willen muß die vorhandene Pluralität der Norminstanzen als irreversible und sogar wünschenswerte Grundbedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens erhalten bleiben. Ein Zurück zur weltanschaulich geschlossenen Gesellschaft wäre mit massivem Freiheitsverlust verbunden. Der Pluralismus stellt insofern eine historische Errungenschaft dar, die nicht ohne Verlust an humaner Substanz preisgegeben werden kann
Wie die Grundwertedebatte Ende der siebziger Jahre gezeigt hat, bedarf die pluralistische Gesellschaft aber eines Fundamentalbestandes an einheitlichem Ethos, soll sie nicht zerfallen und jeglicher Orientierung am Prinzip der Gerechtigkeit entbehren. Zu den Grundwerten zählen nach allgemeiner Übereinstimmung die Würde und die Freiheit der menschlichen Person an zentraler Stelle. Beide Prinzipien beziehen sich auf die Vorstellung, daß dem Menschen die volle Entfaltung seiner Anlagen „von Natur“ zusteht. Um diesen Kem gruppieren sich die Grund-und Menschenrechte in ihrer Ausprägung als liberale Abwehrrechte, als soziale Anspruchsrechte sowie als demokratischeGleichheits-und Mitwirkungsrechte. Den Grundwerten zugerechnet werden müssen aber auch solidarische Pflichten -„Grundpflichten“ -des einzelnen den Mitmenschen wie dem sozialen Ganzen gegenüber, die zusammenfassend als Gerechtigkeit bezeichnet werden können.
Mit den Grundwerten ist die Naturrechtsfrage aufgeworfen. Denn Grundwerte können zweifach begründet werden. Einmal kann gesagt werden, daß sie im Person-Sein des Menschen ihren Ursprung haben, daß sie also vorgefunden, nicht aber geschaffen oder gar produziert werden. Staat, Gesellschaft und Einzelmensch stehen dann immer schon in der Pflicht, diesen Wertbestand zu respektieren. Einer solchen Position, die ohne metaphysische Reflexion schwerlich zu ihren Postulaten gelangen kann, steht die positivistische Auffassung gegenüber, daß die Grundwerte sich aus dem tatsächlich von den Menschen vertretenen Ethos ableiten. Grundwerte sind dann eine Sache des gesellschaftlichen Konsenses, im Extremfall der Demoskopie
Die oben getroffene Aussage, daß Pluralismus-theoretiker für das Naturrecht optiert haben, besagt zunächst nicht viel mehr, als daß sie der positivistischen Auffassung nicht zustimmen und ganz allgemein auf dem Boden des Naturrechts stehen. Welchem Naturrecht sie zuneigen, bleibt dabei noch offen. In grober, die Sachlage aber dennoch treffender Unterscheidung kann vom klassischen und vom neuzeitlichen oder Aufklärungsnaturrecht gesprochen werden, die zwar nicht unvereinbare, aber doch deutlich voneinander abweichende Normvorstellungen entwickeln.
III. Das Naturrecht in der Pluralismustheorie
1. Der Antipositivismus der frühen Pluralisten Der am Anfang der modernen Theoriegeschichte des Pluralismus stehende deutsche Rechtshistoriker Otto von Gierke, dessen Lehre von der realen Verbandspersönlichkeit die frühen englischen Pluralisten John N. Figgis, Frederic W. Maitland, Ernest Barker und Harold J. Laski zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark beeinflußt hat, verstand sich als naturrechtlicher Denker. Er formulierte um 1880, also während der Hochblüte des Rechtspositivismus in Deutschland, daß weder der Staat noch irgendeine andere Macht Schöpfer des Rechts sein könne. Das Recht als eine „in sich wertvolle Menschheitsidee“ sei eine dem politischen Willen vorgeordnete und ihn bindende Norm und müsse in einer ihm gegenüber selbständigen geistigen Kraft wurzeln, die nur die vernehmende Vernunft sein könne
Gierkes Absage an die positivistische Doktrin, daß das Recht aus dem Willensbefehl eines souveränen Machtinhabers hervorgehe, der selbst nicht an ein Recht gebunden sei, fand bei den in der naturrechtsgesättigten Common-law-Tradition verwurzelten englischen Pluralisten nachdrückliche Zustimmung. Die Zurückweisung des Positivismus hing zudem mit dem ureigensten Anliegen der Pluralisten zusammen, nämlich der Anerkennung der Verbände als soziale Realitäten, die lediglich staatlich-rechtlicher Registrierung bedurften, auf keinen Fall mithin als Geschöpfe eines staatlichen Willensaktes gelten konnten. Gegner der Pluralisten war der dem absolutistischen Souveränitätsdenken Thomas Hobbes’ nahestehende Rechts-theoretiker John Austin, der -ganz positivistisch -im Recht den ethisch-neutralen Inbegriff aller Befehle sah, welche von einer souveränen Macht an ihr unterworfene Adressaten gerichtet werden 2. Das Naturrechtsplädoyer Emst Fraenkels Ernst Fraenkel, Begründer des Neopluralismus, der die demokratie-und staatstheoretische Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg am stärkstengeprägt hat erörtert das Naturrecht unter mehreren Gesichtspunkten. Fraenkels stets wiederholtes Credo lautet, daß eine echte Demokratie nur auf naturrechtlicher Basis denkbar ist.
Zunächst legt Fraenkel seine Sicht des Naturrechts dar: Naturrecht sei ein Rechtssystem, welches unabhängig vom positiv gesetzten Recht eines Staates allgemeine Gültigkeit besitze. Es erkenne Individualrechte an, welche nicht zur Disposition des Staates stünden, und verhindere somit die Etablierung eines potentiell-omnipotenten oder totalitären Staates. Sich zu einer freiheitlichen Demokratie zu bekennen, heiße also, eine Normenordnung anzuerkennen, die sich aus der Natur der Sache, aus der Vernunft ergebe
Nach dieser grundsätzlichen Klärung erörtert Fraenkel den Stellenwert des Naturrechts im Wertbewußtsein einer pluralistischen Gesellschaft. Er spricht von der Unverzichtbarkeit eines nicht-kontroversen Sektors im ansonsten konfliktoffenen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Leben einer pluralistischen Demokratie. In diesem Sektor müsse ein Consensus omnium bestehen über die verfassungsrechtlich, gesetzlich und konventionell normierten Verfahrens-und Spielregeln der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie über einen aus abstrakten Prinzipien abgeleiteten Wertkodex. Die hier gemeinten Prinzipien stammten aus der naturrechtlichen Denktradition. Fraenkel ordnet praktisch alle maßgeblichen Grundwerte und Verfassungsinstitutionen in den westlichen Demokratien der naturrechtlichen Gedankenwelt zu: die Idee der allgemeinen Menschenwürde, die Gleichheit der Menschen, die fundamentalen Freiheitsrechte wie Glaubens-, Meinungs-, Presse-und Versammlungsfreiheit, die Ausrichtung des Rechts an der Idee der Gerechtigkeit, die Unverbrüchlichkeit des Rechts, der Gedanke der sozialen Geborgenheit, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, die richterliche Normen-kontrolle staatlicher Tätigkeit, das Repräsentationsprinzip und die Volkssouveränität als Legitimationsgrundlage aller Herrschaftsausübung
Nun will Fraenkel das Naturrecht aber nicht lediglich als -deskriptiven -gemeinsamen Nenner für den erreichten Stand der Rechtskultur betrachtet wissen. Er erinnert die pluralistische Gesellschaft mit Nachdruck daran, daß die Naturrechtswerte im normativen Bewußtsein lebendig zu halten seien. Nur wenn das Erbe des Naturrechts nicht vertan sei und die motivierende Kraft naturrechtlicher Vorstellungen nachhaltig das gemeinsame Ethos präge, könne das moralische Experiment des pluralistischen Staates überhaupt gewagt werden. Ein Gemeinwesen, das die naturrechtliche Basis verlasse, das also die rechtliche Bindung der staatlichen Gewalt an überpositive Werte verneine, habe zumindest geistig vor dem totalitären Staat kapituliert.
Grundlegend geprägt wird Fraenkels Eintreten für das Naturrecht durch die Begegnung mit dem nationalsozialistischen Totalitarismus. Er löst sich zu dieser Zeit von der soziologisch bestimmten Sichtweise, daß das Naturrecht ein Ausdruck des Gerechtigkeitsverlangens benachteiligter oder unterdrückter Bevölkerungsschichten sei, und gewinnt die Erkenntnis, daß die Essenz des Naturrechts in der Unverbrüchlichkeit eines am Humanum orientierten Rechts liege. Eine „Einheitsfront der Naturrechtler“ formuliert in jenen Jahren die für die spätere Neopluralismustheorie bedeutsame Einsicht, daß einer Tyrannis nur durch Rückgriff auf eine universale Rechtsidee wirksam begegnet werden könne, was aber nicht dazu zwinge, auch in politischen Einzelfragen gleicher Auffassung zu sein.
Hinzu kommen noch Fraenkels Erfahrungen als Emigrant in den USA. Die generelle Anerkennung der Grundprinzipien eines rationalen Natur-rechts als Basis des politischen Prozesses wie als Kem des Verfassungsrechts habe es den Amerikanern ermöglicht, eine extrem heterogene Gesellschaft in einem pluralistischen Staat zu organisieren
An die Adresse Nachkriegsdeutschlands richtet Fraenkel den Appell, den Anschluß an die westlichen Demokratien dadurch zu vollziehen, daß es sich von seinem aus Romantik und Historismus gespeisten Staatsbewußtsein distanziere und sich den gemeineuropäischen Traditionen des Natur- rechts und der Humanität zuwende. Dabei bezieht sich Fraenkel auf einen „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ betitelten Vortrag, den Emst Troeltsch 1922 gehalten hatte. Troeltsch kontrastierte hier die naturrechtliche „ewige, Moral und Recht gemeinsam begründende rationale und gottgesetzte Ordnung“ mit der von Hegel und der historischen Rechtsschule forcierten Individualisierung und Relativierung des Rechts mit der Folge einer Entwicklung des Rechtsdenkens hin zum nackten Machtpositivismus
Trotz des engagierten Plädoyers für das Naturrecht ist es Fraenkel nicht gelungen, einen klaren Standpunkt hinsichtlich des philosophischen Fundamentes des Naturrechts zu finden. Er bekennt offen seine intellektuellen Zweifel an der Erkennbarkeit des Naturrechts, betont aber zugleich, daß sich die Anerkennung des ius naturale im Gewissen ausspreche. Denn die Alternative zum Naturrecht wären Zynismus und Zweifel Auch der tiefgreifende Unterschied zwischen dem antik-christlichen klassischen und dem neuzeitlich-profanen Aufklärungsnaturrecht wird von Fraenkel wenig angemessen eingeschätzt. So nennt er das klassische Naturrecht der Stoa genauso wie das neuzeitliche der Vertragstheoretiker in der von Hobbes begründeten Denktradition „rational“ ohne zu bedenken, daß der Natur-und der Vernunftbegriff in der Zwischenzeit fundamentale Bedeutungsänderungen erfuhren. Ist die Vernunft im klassischen Verständnis ein vernehmendes, zur teleologischen Natur des Menschen gehörendes und auf deren Entfaltung bezogenes Erkenntnisorgan, das vom empirischen Menschen ein bestimmtes Verhalten fordert, so setzt sich in der Neuzeit eine naturalistische Auffassung durch, gemäß der die Natur des Menschen aus Trieben, Instinkten und egoistischen Interessen besteht. Einer rein instrumentellen Vernunft bleibt aufgetragen, das Ausleben der Leidenschaften durch eine staatliche Zwangsordnung unter Kontrolle zu halten
Fraenkel bevorzugt das „rationale Naturrecht“, so wie er es in der politischen Philosophie des Aufklärers und Vertragstheoretikers John Locke vorfindet. Locke stehe stellvertretend für das optimistische Naturrecht des 18. Jahrhunderts, das den geistigen Hintergrund der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wie auch der Bill of Rights bilde. Der tragende Gedanke laute, daß die Freiheit des Individuums grundsätzlich unbegrenzt sei, während die Befugnisse des Staates eng begrenzt seien. Eingriffe in die Individualsphäre, d. h. in Freiheit, Leben und Eigentum, „without due process of law“ trügen den Makel eines Verstoßes gegen das natürliche Recht
Das alles ist richtig, kann aber die Brüchigkeit der Lockeschen Naturrechtslehre nicht vergessen machen. Locke steht mit den Ideen der rechtlichen Gebundenheit sowie materialen Begrenzung staatlicher Herrschaft zwar noch auf dem Boden der klassischen Naturrechtstradition, seine empiristische Erkenntnishaltung und seine Neigung zu einer hedonistischen Ethik sprengen aber im Grunde die Idee eines ius naturale. Sein Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und zum ewigen, unwandelbaren Naturrecht entspringt nicht einer Anwendung seines philosophischen Systems, sondern erklärt sich eher aus dem Vertrauen auf das Naturrecht als eine Auswirkung des common sense
Bei aller Problematik seiner naturrechtsphilosophischen Überlegungen sind Fraenkel dennoch drei bedeutsame Einsichten gelungen. Zum einen fordert er die Inexistenz des Naturrechts, genauer: der Naturrechtsprinzipien, im positiven Recht. Andernfalls müßte man von einem sentimentalen mißverstandenen Naturrecht sprechen, welches „vergißt, daß jegliches Recht diesseits gebunden ist und daher nicht durch einige generelle Phrasen sich ausdrücken läßt“
Zum zweiten postuliert Fraenkel die Verankerung von Politik und Recht in der Transzendenz. Er hält nicht nur die vom Rechtspositivismus vollzogene Emanzipation des Staates von aller transzendenten Legitimierung für einen schweren Fehler, sondernzweifelt auch an der Tragfähigkeit eines rein immanent begründeten Naturrechts
Schließlich spricht Fraenkel den alten, aber stets aufs neue aufkeimenden Universalienstreit zwischen Ideenrealismus und Nominalismus an, der nur vordergründig um die Frage nach der Erkennbarkeit allgemeiner Wesensideen geht, in Wirklichkeit aber zwei prinzipielle Möglichkeiten metaphysischen Weltverständnisses anzeigt. Der in der Scholastik ausgebrochene Streit betrifft die Frage, ob das Naturrecht vernünftig sei, weil es von Gott so gewollt werde, ober ob es von Gott gewollt werde, weil es in sich vernünftig sei. Neigt man der nominalistischen Antwort zu, dann hängt die Qualität des Rechts vom jederzeit abänderbaren Willen Gottes ab, denn Gottes Freiheit ist unbeschränkbar. Nach Maßgabe des Ideenrealismus, dem die klassische Naturrechtslehre folgt, ist Gott aufgrund der Vernünftigkeit der von ihm erlassenen Ordnung selbst an das Recht gebunden. Sein Wille fügt dem Naturrecht nur noch die verpflichtende Kraft hinzu.
In der modernen Sozial-und Rechtsphilosophie lebt die Kontroverse zwischen Nominalismus und Ideenrealismus fort. Allerdings ist Gott als Bezugspunkt der normativen Reflexion weitgehend entfallen und damit auch das Verhältnis des Naturrechts zur Transzendenz. Als Ergebnis dieses Wandels führt der nominalistische Ansatz das Recht auf den menschlichen Willensbefehl zurück, um damit einen Rechtspositivismus zu etablieren. Die ideenrealistische Konzeption bleibt demgegenüber bei der Vorstellung, daß ein vom menschlichen Willen unabhängiges universales vernünftiges Recht besteht, welches den Menschen normativ aufgetragen ist
Fraenkel erörtert diese hochabstrakten Zusammenhänge im Rahmen einer Betrachtung der Grundlagen des plebiszitären und des repräsentativen Regierungssystems. Beide seien naturrechtlich legitimiert, wobei das plebiszitäre System auf einem nominalistisch-voluntaristischen Verständnis basiere, erkläre es doch alles das zum Gemeinwohl, was vom Volk als solches gewollt werde. Dagegen gehe das repräsentative System von der Existenz eines originären Gemeinwohles aus, das als umrißhaft vorgegebenes Maß für den empirischen Volkswillen diene. Die pluralistischen Demokratien seien trotz aller plebiszitären Öffnungen im Kem immer noch Repräsentativverfassungen Aus dieser Feststellung Fraenkels läßt sich der Schluß ziehen, daß in der Herrschaftsordnung der westlichen Verfassungsstaaten ein Stück klassisches Naturrecht lebendig ist.
IV. Auf der Suche nach der geeigneten Naturrechtslehre
1. Die Pluralismustheorie vor der Alternative Nach der Destruktion des Naturrechtsdenkens im 19. Jahrhundert durch Historismus und Rechtspositivismus setzte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Renaissance des Naturrechts ein.
Die Unbeliebigkeit und Unverfügbarkeit des Rechts bildete bei den an der Diskussion Beteiligten den gemeinsamen Nenner der naturrechtlichen Wiederbelebung. Mit ihr sollte nach den Erfahrungen mit dem Totalitarismus der politischen Willkür begegnet werden. Es galt, in bestimmten Gegebenheiten vorpositive Normen zu finden, die in sich rechtliche Bedeutung besaßen und dem positiven Recht einen humanen Sinn verleihen konnten. Die phänomenologische Rechtsbegründung sah sie in sachlogischen Strukturen, die wertphilosophisehe Naturrechtslehre in einem sich im Rechtsgefühl offenbarenden idealen objektiven Wertreich, die der kantischen Tradition folgende Rechtsphilosophie fand sie im Wert der autonomen Person und die existenzphilosophische Naturrechtskonzeption in bestimmten Daseinsstrükturen menschlichen Seins
Im weitesten Sinne lassen sich alle hier benannten Lehren als naturrechtliche bezeichnen, da sie das Recht nicht einfach auf den Rechtsbefehl oder auf die faktische Effektivität von Normen zurückführen. Aber sie reflektieren nicht darüber, warum der von ihnen hervorgehobenen Gegebenheit normative Bewandtnis zukommt. Sie bleiben insofern innerhalb der positivistischen Argumentation, als sie etwas als Soll betrachten, nur weil es irgendwie als rechtlich bedeutsam erscheint. Damit das Recht aber eine echte Sollensordnung darstellt, muß es auf einen absoluten Sollensgrund, zurück-geführt werden können. Einem positivistischen Grundverständnis folgen sie auch deshalb, weil sie übereinstimmend vom Begriff eines wertindifferenten Seins ausgehen, der sittlichen oder rechtlichen Normen keinen materialen Ansatz bietet Mit diesen Auffassungen stehen sie letztlich in der geistigen Tradition des Aufklärungsnaturrechts.
Die an der Renaissance beteiligten Naturrechtskonzeptionen kommen daher erwartungsgemäß zu Ergebnissen, die kaum von denen des Aufklärungsnaturrechts abweichen: Die elementaren Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit sowie das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit von Rechten und Pflichten bilden den Kernbestand an materialen Rechtsgrundsätzen Auch die jüngsten Ansätze naturrechtlichen Denkens, die Vertrags-theorie John Rawls’ und die Diskurstheorie Jürgen Habermas’, folgen dem Paradigma des Aufklärungsnaturrechts. Daneben ist die Stimme des klassischen Naturrechts aber nie völlig untergegangen Wenn die Pluralismustheorie es sich nicht zu leicht machen will und folglich nicht jedes Naturrechtssystem einfach ungeprüft an-und hinnimmt, kommt sie an einer Entscheidung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht nicht vorbei. 2. Leistung und Dilemma des Aufklärungsnaturrechts Hinter dem Namen Aufklärungsnaturrecht verbergen sich anderthalb Jahrhunderte rechts-und sozialphilosophischer Bemühungen. Trotz aller Unterschiede im einzelnen enthält dieses von Thomas Hobbes eingeleitete und von Immanuel Kant zur Vollendung gebrachte Unternehmen eine Reihe übereinstimmender Merkmale, deren Gemeinsamkeit wiederum in der von der Tradition völlig abweichenden metaphysischen Grundlage besteht. Von wenigen Stimmen abgesehen, folgen die Aufklärer einem nominalistischen Verständnis, was bedeutet, daß sich die Umrisse der Gerechtigkeitsordnung nicht aus dem Sein ablesen lassen und folglich eine auf sich gestellte Vernunft das Naturrecht unter Berücksichtigung der Natur des Menschen erst konstruieren muß. Dabei wird nicht mehr an die teleologische Wesensnatur gedacht, sondern, beeindruckt von den Erfolgen der Naturwissenschaften, an die empirische Natur. Nicht selten erfährt diese, noch einen naturalistischen Akzent, wenn nämlich der Mensch als von vorrationalen Willens-und Triebimpulsen, vom Interesse an Selbsterhaltung und Machtvermehrung beherrscht angesehen wird.
Es kommt zu einer anthropologischen Wendung, da aufgrund der nominalistischen Prämisse ein transzendent legitimiertes universales Gesetz als nicht existent angenommen wird. Die verschiedenen Naturrechtstheorien kommen überein in der „Inthronisation des autonomen Individuums“ als des letzten Bezugspunktes aller Aussagen über Staat und Gesellschaft. In einem fiktiven Naturzustand wird der Mensch als ein von Natur aus freies, mehr oder weniger isoliertes und der Selbstbestimmung fähiges Wesen betrachtet. Alle rechtliche Verbindlichkeit muß sich mangels vorgeordneter Norm auf den Willen der handelnden Individuen selbst zurückführen lassen. Einigen sich die Menschen mittels eines Gesellschaftsvertrages auf die Gründung eines Gemeinwesens, so ist dieses im Kern eine Utilitätsveranstaltung zur Gewährleistung der um Selbst-und Eigentumserhaltung kreisenden Lebensziele. Die klassische Vorstellung, daß der Staat an die Teleologie des menschlichen Lebens gebunden ist, er also als Medium zur Entfaltung der menschlichen Anlagen fungiert, findet keine Resonanz mehr
Der Akzent im Aufklärungsnaturrecht liegt eindeutig auf den natürlichen Rechten des Individuums; die dem klassischen Naturrecht eigentümliche Vorstellung natürlicher Pflichten fehlt. Die natürlichen Rechte lassen sich auf ein ursprüngliches Recht zurückführen, nämlich auf das Recht des Menschen, sein Leben zu bewahren
Hier wird ein Grundanspruch des Menschen formuliert, der einer Staatsgewalt wirksame Schranken setzen kann. Zwar bleibt es philosophisch zumindest fragwürdig, daß aus der empirischen Verfassung des Menschen ein normativer Anspruch abgeleitet wird, aber die Geschichte des modernen Menschenrechtsdenkens folgt im wesentlichen der vom Aufklärungsnaturrecht gezeigten Orientierung. Es bildete auch den geistigen Hintergrund der amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen, wobei die Amerikaner stark von John Locke beeinflußt waren. Lockes nicht in jeder Hinsicht überzeugende Naturrechtsphilosophie wurde aber kaum problematisiert, da es den Amerikanern auf praktische Wirksamkeit ankam. Locke hatte außerdem die Verbindung zum klassischen Naturrecht noch nicht völlig gelöst, so daß die Formel „by the laws of God and Nature“ nicht als Phrase empfunden wurde
Kritisch zu bemerken ist, daß das Aufklärungsdenken einen ausgeprägten Individualismus etabliert. Es nimmt seinen naturrechtlichen Ausgang nicht wie die klassische Sozialphilosophie von der Hilfsund Ergänzungspflicht des Menschen, sondern von einem rein sozialegoistisch aufgefaßten Individuum. Es verwundert daher nicht, daß es die natürlichen Rechte ausschließlich als Abgrenzung von Rechten zwischen Staat und Einzelperson konzipiert
Bedenklich stimmt auch, daß der Gedanke ursprünglicher Autonomie zu einem Konventionalismus oder Positivismus in der Rechtsgestaltung führen muß. Denn dieser Gedanke enthält nicht nur die Absage an jedes vorgegebene Herrschaftsrecht, er hebt -zumindest tendenziell -jede vorgegebene Verbindlichkeit überhaupt auf. Paradoxerweise ist das Aufklärungsnaturrecht von seinem Ansatz her eine Philosophie der Auflösung des Naturrechts, denn der Begriff „natürliches Recht“ drückt etwas Vorgegebenes aus, das Individuum erkennt und anerkennt jedoch nur selbstgeschaffene Ordnungen.
So bleibt in einer von Gott und jedem vorgegebenen Gesetz emanzipierten Welt nur das irdische Gesetz, das der Mensch sich kraft seiner Autonomie selbst gibt. Ursache und Maß des Rechts ist letztlich der menschliche Wille. Wie immer im neuzeitlichen Autonomiedenken die Person bestimmt wird, mangels vorgeordneter Norm wird der Mensch prinzipiell verfügbar nach Maßgabe der menschlichen Selbstgesetzgebung 3. Die bleibende Aktualität des klassischen Naturrechts Wenn die Krise des naturrechtlichen Prinzips zurückgeht auf die Kritik am klassischen Naturrecht durch das Aufklärungsdenken, dann müßte eine Wiederbesinnung auf die klassische Sozialphilosophie auch zu einer Wiederbelebung des Natur-rechts führen. Die Schwierigkeiten des Versuches, das ius naturale erneut für die Politik fruchtbar zu machen, ergeben sich aus dem Umstand, daß man hinter das von der Aufklärung geprägte moderne Bewußtsein zurückgehen muß. Ohne die wahrhaft radikale Bereitschaft, die -vom Nominalismus verursachte -Verkürzung der Erkenntniskraft der Vernunft auf die Empirie in Frage zu stellen, einen teleologischen Naturbegriff anzunehmen und die Möglichkeit einer natürlichen Theologie nicht von vornherein auszuschließen, läßt sich ein echtes Naturrecht nicht behaupten. Es setzt also eine ontologisch-metaphysische Philosophie voraus
Das klassische Naturrecht hat seine gültige Gestalt bereits in der stoischen Rechtsphilosophie gewonnen. Die die klassische Tradition zusammenfassende Rechtslehre Thomas von Aquins hat dem stoischen Denken im Prinzip nichts Neues hinzugefügt, so daß es sich bei diesem Naturrecht nicht, wie häufig unterstellt, um eine offenbarungstheologisch-christliche, sondern um eine philosophisch-rationale Konzeption handelt
Mit dem zentralen Gedanken, daß die Welt des Menschen in einem rechtlichen Kosmos übermenschlichen, nämlich göttlichen und daher universal verpflichtenden Ursprunges eingebettet liegt, kommt die klassische Lehre dem Erfordernis nach, einen vom Menschen unabhängigen Nomos vorauszusetzen, der als Maß für die Politik fungiert. Die entscheidende These lautet, daß der Staat nur in der Einfügung in die kosmisch-natürliche Ordnung, Welt-bzw. Naturgesetz genannt,und nur durch diese Einfügung als Rechtsordnung existieren kann. Naturrechtlich legitimiert ist das menschliche Recht dann, wenn es das Naturgesetz entfaltet und konkretisiert, nicht aber, wenn es völlig auf autonomer Rechtsschöpfung beruht.
Gleichwohl darf das Naturgesetz nicht mit Heteronomie verwechselt werden, bedeutet es nicht geistige Fremdbestimmung oder gar totalitärer Oktroi. Das Naturgesetz wirkt vielmehr in den Menschen, so daß das Naturrecht nicht nur prinzipiell erkennbar, sondern auch politisch zu verwirklichen ist. Denn die Menschen streben kraft des Naturgesetzes zur Gemeinschaft unter seine Ordnung, da diese Gemeinschaft das Mittel ihrer natürlichen Entfaltung ist.
Der Inhalt des Naturgesetzes besteht aus der den Dingen inhärierenden teleologischen Natur, kraft derer sie danach streben, das zu werden, was sie ihrer substantiellen Form nach sind. Individuelles sittliches Handeln liegt vor, wenn der Mensch die Vollendung seines Wesens zur Richtschnur seines Lebens macht. Das Recht bezieht sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Legitimität kommt ihm zu, wenn es den Geist der natur-rechtlichen Grundnorm atmet, einem jeden solle das Seine zugeteilt werden. Das „Seine“ ist dabei keine Leerformel, sondern das Menschsein, d. h. die möglichst vollkommene Entfaltung der gegebenen Anlagen
Die Teleologie hat eine ontologisch-metaphysische Voraussetzung, die zugleich den Grund abgibt für die dem Menschen zukommende absolute Würde. Als naturhafter Prozeß weist die Teleologie über sich hinaus auf ein erstes Prinzip, das der mit der Wesensverwirklichung verbundenen Anstrengung Sinn und Wert verleiht. Dieses Prinzip ist in der klassischen Philosophie Gott, an dessen Vollkommenheit die endlichen Wesen insofern teilhaben, als sie danach streben, das zu sein, was sie gemäß ihrer von Gott gestifteten Natur sind. Der Mensch existiert daher nicht einfach nur „um seiner selbst willen“, sondern er ist in einem höheren Sinne Selbstzweck, weil er das Unendliche und Absolute repräsentiert
Die Würde des Menschen läßt sich entweder religiös oder eben ontologisch-metaphysisch in einer Philosophie des Absoluten begründen. Auf jeden Fall ist diese Begründung überzeugender als die Kants, die die Würde unmittelbar aus der vernünftigen Natur des Menschen abzuleiten versucht. Denn auch wenn sich der Mensch im Vollzug seiner Vernunft als „Zweck an sich selbst“ begreift, so kann das noch nicht zu einem objektiven metaphysischen Prinzip ausgeweitet werden
Sind die modernen Menschenrechtsdeklarationen auch auf dem Boden der Aufklärung gewachsen, so geht ihnen doch geschichtlich wie philosophisch die Idee der Menschenwürde voraus. Deren Verankerung in der Transzendenz sichert die Unverfügbarkeit der Person für den Staat wie auch für den Menschen selbst: Wäre die Würde nichts weiter als ein Prädikat, das der Mensch sich selbst gibt, eine freie Setzung seiner Vernunft, unterläge sie seiner Disposition. Das Aufklärungsnaturrecht zehrt somit von einer geistigen Substanz, deren erkenntnistheoretische Grundlage es zutiefst bezweifelt 4. Klassisches Naturrecht in der pluralistischen Gesellschaft Das klassische Naturrecht mit seinem materialethischen Prinzip der Teleologie wirkt für viele wie ein Fremdkörper im modernen Pluralismus. Manche sehen in der Teleologie auch ein Einfallstor für freiheitszerstörende Tyrannei. Teleologie ist aber nicht gleichzusetzen mit einer Wertbestimmtheit, die eine Diskussion von Alternativen ausschlösse. Sie enthält Umrisse des Anzustrebenden, die im Bereich der Politik eine Konkretisierung auf dem Wege einer vernünftigen Auseinandersetzung erfordern
Das klassische Naturrecht ist auch ohne weiteres insofern mit den neuzeitlichen Menschenrechten vereinbar, als diese dem Staat Kompetenzgrenzen setzen. Folgt der liberale Freiheitsentwurf aber dem Prinzip der individuellen Selbstbestimmung, der inhaltlich ungebundenen Freiheit, letztlich der souveränen Dezision, so pocht die klassische Sozialphilosophie auf die sich im Gewissen ausspre-chende Verantwortung der Freiheit vor den Normen des Naturgesetzes. In der Abtreibungsfrage wird der Gegensatz beider Freiheitsverständnisse besonders augenfällig
Ähnlich wie die Menschenrechte sind aus klassischer Sicht auch der gesellschaftliche Pluralismus der Interessen und Wertauffassungen sowie die pluralistische Demokratie interpretierbar und legitimierbar. Sie sind Modi ein und desselben Prinzips, nämlich der Verlagerung der Verantwortung für das ius naturale in die Freiheit der Subjekte. Im Freiheitsgebrauch muß folglich immer eine Orientierung an der teleologischen Natur erkennbar sein. Daher ist auch der Wertpluralismus nicht unbegrenzt legitim. In Grenzfällen wird also ein Naturrechtler mit einer Gesellschaft, die anders denkt und handelt, nicht einig. Er wird Widerspruch anmelden. Das entspricht aber der wächter-liehenAufgabe, die einer echten Naturrechtslehre eigentümlich ist 52).
Das klassische Naturrecht ist also „dogmatisch“ und „kritisch“ zugleich. In beiden Aspekten bedeutet es ein Ärgernis für das moderne „aufgeklärte“ Bewußtsein. Es hält dafür, daß eine humane Lebensführung auf nicht-hypothetischen Fundamenten beruht, also einer „dogmatischen“ Metaphysik bedarf 53). Und es ist „kritisch“, aber nicht im Namen der Emanzipation, sondern im Sinne einer Erinnerung an das aufgegebene Humanum.