I
Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre war eine Episode Sie ist nur aus der damals herrschenden, von der Diktatur herrührenden abnormen Rechtsnot verständlich, die den Gerichten die fast unlösbare Aufgabe abverlangte, Unrechts-gesetzen die Gültigkeit abzusprechen und an deren Stelle nach „übergesetzlichen“ Rechtsnormen zu judizieren. Aber als diese Episode vorbei war, zeigte sich, daß ihr ein tiefer liegendes Sachproblem zugrunde lag, aus dem ein neuer epochaler Auftrag für die Rechtsphilosophie erwachsen ist. Sowohl die klassische Naturrechtslehre, die den Rechtsinhalt absolut gesetzt hat, als auch der klassische Rechtspositivismus, der die Rechtsform absolut gesetzt hat, haben Schiffbruch erlitten. Es bleibt daher nur ein „dritter Weg“ jenseits von Naturrecht und Positivismus. Dieser Standort „jenseits“ oder „zwischen“ kann weder absolut noch relativistisch-funktionalistisch markiert werden, sondern erfordert eine relationale Betrachtungsweise. Das Recht ist nicht etwas Substantielles und auch nicht etwas bloß Nominales, sondern besteht in den realen Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Dingen. Ein so gedachtes Recht ist personal, denn die Urform der Relation ist die Person. Als personales Recht ist es nicht beliebig verfügbar, gleichwohl aber geschichtlich, dynamisch, prozedural: Es ist primär nicht Norm, sondern Akt.
II.
Bevor zu der Frage, was die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre war und was aus ihr geworden ist, Stellung genommen werden kann, muß etwas zu der vorgelagerten Frage gesagt werden, warum es damals überhaupt zu einer solchen Bewegung gekommen ist. Einige wenige Grundgedanken hierzu müssen freilich genügen.
Das 19. Jahrhundert stand bekanntlich unter dem Zeichen des Rechtspositivismus. Die rationalistische und aufklärerische Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, die dem Richter die Befugnis erteilt hatte, jederzeit seinem „vernünftigen Ermessen“ den Vorrang vor dem geschriebenen Gesetz zu geben, hatte eine beispiellose Willkür in der Rechtsprechung und damit eine unerträgliche Rechtsunsicherheit heraufbeschworen. Die not-wendige Gegenreaktion war der Rechtspositivismus mit seiner Forderung nach strenger Bindung an das vom Staat erlassene Gesetz. Als einer der bedeutendsten Pioniere ist hier Paul Johann Anselm von Feuerbach zu nennen Er war am kantischen Kritizismus geschult und hielt darum das Bestehen eines objektiven Naturrechts für ausgeschlossen. Wohl aber erkannte er subjektive Rechte des Menschen an, die sich aus der Vernunft begründen lassen und die, da sie aus der sittlichen Autonomie des Menschen folgen, unverfügbar sind Für das objektive Recht gilt als wesentliches und unverzichtbares Merkmal seine Positivität. Doch hat Feuerbach für die Geltung des positiven Rechts insofern noch eine Ausnahme gemacht, als er nicht Gesetzesbefolgung um jeden Preis verlangt hat; vielmehr sei „der richterliche Ungehorsam“ dem Richter „eine heilige Pflicht“, wo „der Gehorsam Treubruch sein würde gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst allein er gegeben ist“ Das ist eine Idee, die erst wieder nach dem Erlebnis des nationalsozialistischen Unrechtssystems hoffähig geworden ist.
Der Positivismus des 19. Jahrhunderts war, wie Franz Wieacker es ausdrückt ein „legitimer Positivismus“, der sich an Werten -Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Zweckmäßigkeit -orientierte, der allerdings, zumindest für den Regelfall, die Geltung des Gesetzes nicht davon abhängig machte, wieweit es seinem Inhalt nach mit diesen Werten übereinstimmt. Es war ein sittliches Qualitätsbewußtsein des Gesetzgebers, das diesem Positivismus seine Legitimität verlieh.
Allerdings kam es schon gegen Ende des Jahrhunderts zu Zerfallserscheinungen des Positivismus, und zwar nach zwei Richtungen hin. Da war zum einen der empirische Rechtspositivismus, der sich gegen die rein deduktive Methode des Naturrechts und vor allem der Begriffsjurisprudenz wandte und sich den sozialen Lebensverhältnissen öffnete. Als wichtigste Strömung ist hier die Interessenjurisprudenz zu nennen Aber so richtig diese Hinwendung zum Leben gewesen ist, so bedenklich war es doch auch, daß man darüber die Begrifflichkeit und die Normativität des Gesetzes vergaß. Damit war vorprogrammiert, daß die Bindung des Richters an das Gesetz wieder gelockert wurde, wie das in der Freirechtsbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts dann ja auch geschah Zum andern entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch der normlogische Positivismus, dessen bedeutendste Ausgestaltung die „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen ist Nach ihm hat es die Rechtsphilosophie nur mit den logischen Strukturen der Rechtsnormen zu tun; über die Inhalte des Rechts befindet die Politik, nicht die Wissenschaft.
So hat also einerseits der empirische Positivismus die Begrifflichkeit des Rechts, andererseits der normlogische Positivismus die Inhaltlichkeit des Rechts vernachlässigt.
Der Niedergang des legitimen oder wissenschaftlichen Rechtspositivismus setzte schon ein, als er nach außen hin seine bemerkenswertesten Erfolge in den großen Gesetzgebungswerken des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie z. B. das Strafgesetzbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch, die Zivilprozeßordnung, das Handelsgesetzbuch, hatte. Das sittliche Qualitätsbewußtsein des Gesetzgebers war ihnen immanent. Aber zur nämlichen Zeit lehrte man in der Rechts-und Staatstheorie, daß jedes staatliche Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt, also auch das verbrecherische Gesetz, die lex corrupta, Gültigkeit habe. So erklärte z. B. Karl Bergbohm, daß wir auch „das niederträchtigste Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt erzeugt ist, als verbindlich anerkennen“ müssen Oder Felix Somlö: „Es gilt unumstößlich die Wahrheit, daß die Rechtsmacht (oder nach anderer Terminologie: der Gesetzgeber, der Staat, die souveräne Macht) jeden beliebigen Rechtsinhalt setzen kann.“ Weitere gleichsinnige Äußerungen von damaligen Rechtslehrern könnten hinzugefügt werden.
Die lex corrupta war freilich zu Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur ein theoretisch gedachter Fall, ein Kathederfall, wirklich ereignet hat er sich damals nicht. Wirklichkeit geworden ist er in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, vor allem in der nationalsozialistischen Diktatur, in der man tatsächlich korrupte, verbrecherische, niederträchtige, unsittliche Gesetze gemacht und ihnen gegenüber Gehorsam gefordert hat. Daß die Juristen, zumal die Richter, die verbrecherischen Gesetze der damaligen Zeit, beispielsweise die Nürnberger Rassegesetze, befolgt haben, geschah gewiß nicht immer aus mangelnder Rechtsgesinnung und auch nicht stets aus Feigheit, sondern nicht selten aus dem tradierten Selbstverständnis des Juristen, daß man nur das Gesetz und nicht das eigene Gutdünken oder Gewissen zum Urteilsmaßstab über andere machen darf. Und daß gültiges Gesetz jede staatliche Norm (also auch ein „Führerbefehl“) ist, war in Rechtsphilosophie und Staatsrechtslehre seit langem nahezu unangefoch- ten die herrschende Meinung. Freilich kann damit die Perversion der Rechtsordnung deren Zeu-gen wir geworden sind, allenfalls erklärt, nicht aber entschuldigt werden.
III.
Nach dem Zusammenbruch der Diktatur stellte sich die Frage, ob die NS-Gesetze und die auf ihrer Grundlage erlassenen Urteile und Maßnahmen wenigstens für die Zeit ihrer tatsächlichen Geltung als rechtmäßig angesehen werden müssen oder ob sie, wiewohl sie in Gesetzesform ergangen sind, von Anfang an ungültig, Nicht-Recht, waren. An dieser Frage vor allem entzündete sich die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre.
In der Rechtsnot jener Zeit blieb auch nicht viel anderes übrig, als daß man wieder auf alte Naturrechtsmodelle zurückgriff. Vor allem viele Gerichte beriefen sich -verständlicherweise -auf ein „Naturrecht“, wenn andernfalls sie nach positivem Gesetzesrecht zu einem ungerechten Spruch hätten kommen müssen. Unbedenklich aber war diese „naturrechtliche“ Rechtsprechung gewiß nicht, zumal manche Gerichte sich auch über zweifelsfrei gültige Gesetze hinweggesetzt haben. Der Bundesgerichtshof hat noch 1954 ein objektives, unveränderliches Sittengesetz beschworen, mit dessen Hilfe er das positive Gesetz dem von ihm für maßgeblich erachteten „christlich-abendländischen Weltbild“ anpaßte
Diese Rechtsprechung ist viel kritisiert worden. Was hier als Naturrecht zitiert wurde, ist in der Tat auch eine recht bunte, nicht selten widerspruchsvolle und verwirrende Vielfalt von Wertvorstellungen, und wo in ihnen überhaupt eine tragende Grundüberzeugung über das Wesen des Rechts zum Durchscheinen kommt, ist diese kaum je etwas anderes als das noch dem 19. Jahrhundert verhaftete bürgerliche Humanitätsideal, wie es auch in den Grund-und Menschenrechten unserer Verfassungen positiviert worden ist.
Es gibt aber auch ernstzunehmende Naturrechtskonzepte aus dieser Zeit. Hier sind vor allem die Vertreter der katholischen Naturrechtslehre (Neuthomismus) zu erwähnen, die auch damals, als man die Naturrechtsidee tot glaubte, an ihr festgehalten und sie weiter wissenschaftlich erforscht haben; ich nenne nur Victor Cathrein und Joseph Mausbach (beide wirkten in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) Neuere Repräsentanten dieser Richtung sind z. B. Johannes Messner und Heinrich Rommen
Die protestantische Rechtslehre hatte naturgemäß größere Schwierigkeiten, den Schwächen des Rechtspositivismus zu begegnen, denn eine natur-rechtliche Tradition gab es hier nicht. Doch zeigte schon das Buch des Schweizer Theologen Emil Brunner „Gerechtigkeit“ (1943) Ansätze einer protestantischen Neuorientierung. 1948 kam das Buch des französischen evangelischen Rechtsphilosophen Jacques Ellul: „Die theologische Begründung des Rechts“ heraus, in dem ebenfalls der Versuch unternommen wurde, von der von Karl Barth begründeten „christologischen“ Richtung aus die Rechtserneuerung zu befördern. In Deutschland hat vor allem Emst Wolf in diesem Sinne gearbeitet, aber auch Erik Wolf und der erste Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff verdienen in diesem Zusammenhang Erwähnung Hier wurde durchaus auch von protestantischer Seite das „Naturrecht“ zitiert. Aber grundsätzlich war man doch zurückhaltender als bei den katholischen Rechtsphilosophen. Man dachte nicht so sehr an Naturrechtsnormen als an „Institutionen“, die, wie beispielsweise Familie, Kirche, Staat, Eigentum, als „Stiftungen Gottes“ aller Staatsgewalt vorgegeben sind. Das ist die sogenannte „institutioneile Rechtsauffassung“, deren eigentlichen Begründer der französische Staatsrechtslehrer Maurice Hauriou ist und die im deutschsprachigen Raum hauptsächlich von Hans Dombois vertreten wird Eine abschließende Würdigung dieser „Naturrechtsrenaissance“ ist heute selbstverständlich noch nicht möglich. Eines aber kann mit Sicherheit festgestellt werden: An Kants Kritizismus gibt es kein Vorbeikommen. Inhaltlich erfüllte Naturrechtssätze mit apriorischer, zeit-und raumüberschreitender Gültigkeit lassen sich nicht begründen. Alle inhaltliche Erkenntnis ist nur eine aposteriorische Erkenntnis und daher nicht allgemeingültig. Als man sich, auch ernüchtert durch die Fehlgriffe der „naturrechtlichen“ Rechtsprechung, auf dieses kantische Erbe zurückbesann, folgte auf die „Wiedergeburt des Naturrechts“ die „Wiedergeburt des Rechtspositivismus“, der Neopositivismus
Aber woran liegt es, daß heute trotz klarer Erkenntnis der Gefahren des Rechtspositivismus die Zahl derer, die dem Naturrecht skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, so stark im Wachsen ist? Um es ohne Umschweife zu sagen: Der entscheidende Grund dafür liegt in dem heute ganz allgemein vorhandenen Bewußtein der geschichtlichen Bedingtheit des Rechts, in der Überzeugung, daß keine Rechtsordnung der historischen Situation, aus der und für die sie geschaffen ist, entrinnen kann, liegt in der immer wieder gemachten Erfahrung, daß sich bisher noch jeder als Naturrecht ausgegebene Rechtssatz mit konkretem Inhalt als zeitgebunden erwiesen hat. Und da seit Jahrhunderten als nahezu unumstößliche Meinung gilt, daß Naturrecht nur sei, was überzeitliche Gültigkeit, was Ewigkeitswert besitzt, sind vom Naturrecht schließlich nur noch einige wenige elementare Gerechtigkeits-und Sittlichkeitsprinzipien übriggeblieben: das Gleichbehandlungsgebot, das Schädigungsverbot, die Goldene Regel, der Kategorische Imperativ und noch einige mehr, die sich zwar als absolut gültig behaupten mögen, aber nur in ihrer ganz abstrakten Formulierung. Denkt man sie sich als mit konkretem Inhalt erfüllt, verlieren auch sie ihre Allgemeingültigkeit. Wenn man an einem solchen abstrakt-absolutistischen Natur-rechtsbegriff festhält, so ist in der Tat die Folgerung unabweisbar, daß das heute so aktuelle Problem der Geschichtlichkeit des Rechts sich mit dem Naturrecht nicht begründen läßt
Die entscheidende Frage ist nun aber, ob Geschichtlichkeit des Rechts gleichbedeutend ist mit Beliebigkeit seines Inhalts. Aus dieser Fragestellung heraus sind eine ganze Reihe von Versuchen erwachsen, der aus der Diktatur hervorgegangenen Rechtsnot ohne Hinwendung zu einer neuen oder wieder erneuerten Naturrechtslehre Herr zu werden. Hans Welzel z. B. erklärte, daß der Positivismus nicht durch ein axiologisches Naturrecht, sondern nur durch Herausarbeitung der überall im historischen Rechtsstoff steckenden „sachlogischen Strukturen“ überwunden werden könne Gustav Radbruch hat es unternommen, mit seiner Lehre von der „Natur der Sache“ den von ihm selbst mitbegründeten Wertrelativismus zu überwinden und den schroffen Dualismus zwischen Sollen und Sein zu entspannen Auf der Grundlage einer existenzialen Ontologie gelangte Max Müller zu einem „geschichtlichen Naturrecht“ oder „existenziellen Wesensrecht“ ein Gedanke, der sich übrigens schon bei Eduard Spranger findet, der von einem „historisch-elastischen Naturrecht“ sprach Überhaupt ist dieser Gedanke gar nicht so neu und umwälzend. Man kann sich für ihn auf Thomas von Aquin berufen. Die meisten Deuter der thomistischen Naturrechtslehre meinen allerdings, daß auch Thomas unter Naturrecht im eigentlichen Sinne allein die wenigen allgemein und überzeitlich gültigen Sittlichkeits-und Gerechtigkeitsprinzipien verstanden habe, nicht aber die lex humana, die nur insofern bei ihm als „sekundäres Naturrecht“ erscheine, als sie der näheren Ergänzung jenes primären und eigentlichen Naturrechts diene. Dabei wird aber, wie Arthur Fridolin Utz dargelegt hat der Unterschied verkannt, den Thomas zwischen konkretem Naturrecht und abstraktem Naturgesetz macht. Recht bedeutet bei ihm nämlich immer einen konkret-inhaltlichen, positiven Bestand, so daß also jene allgemeinen Prinzipien nicht Naturrecht, sondern Naturgesetz sind. Es sei darauf hingewiesen, daß Thomas das Gesetz an ganz anderer Stelle in seiner „Summa theologica" behandelt als das Recht. Thomas sah zudem im Naturrecht auch durchaus etwas Bewegliches, sich mit der historischen Situation Veränderndes, und nicht jenes starre Prinzipienrecht, an das sich die Neuthomisten so gerne klammern. Erst wo sich diese allgemeinen und überzeitlichen (über mehrere Epochen hinweg geltenden) Prinzipien mit einem konkreten, geschichtlichen, dennoch aber objektiven Sachverhalt verbinden, kommt Naturrecht zustande. Und immer spielt bei diesem Prozeß die Natur des Menschen und die Natur der Sache eine wesentliche Rolle, wobei Thomas aber auch hier unter „Natur“ nicht nur das unveränderliche Wesen der Menschen und Dinge versteht, sondern gerade auch ihre geschichtlich wandelbare konkrete Befindlichkeit. „Natura autem hominis est mutabilis“, heißt es ziemlich zu Beginn seiner Rechtslehre
Was uns die thomistische Naturrechtslehre heute noch zu sagen hat, dürfte gerade eben dies sein, daß die eigentliche Rechtsproblematik erst dort richtig beginnt, wo die meisten modernen Naturrechtsdenker regelmäßig aufzuhören pflegen, nämlich beim positiven Recht, beim konkreten Rechtsinhalt. Dabei kommt es gewiß nicht darauf an, ob man sich mit dem Begriff eines „geschichtlichen Naturrechts“, ja überhaupt mit dem Natur-rechtsbegriff anfreunden kann oder ob man einfach von „Recht“ spricht, wobei man dann aber das so verstandene „Recht“ vom „Gesetz“ unterscheiden muß (auch das Grundgesetz nennt ja in Artikel 20 Abs. 3 kumulativ „Gesetz und Recht“). Entscheidend ist schließlich nur, daß die Aufgabe, um die es geht, richtig gesehen und richtig angepackt wird, nämlich die Herausarbeitung von Rechtsgehalten, die, wiewohl konkret und geschichtlich, nicht zur freien Verfügung des Gesetz-gebers, des Richters und überhaupt der Rechtsgenossen stehen. Man kann es auch so formulieren: Kann eine Rechtsordnung, auch wenn sie nicht immer und überall gültig ist, doch wenigstens hier und jetzt gültig, d. h. die gesollte Ordnung dieser Zeit und dieses Kulturkreises sein?
IV.
Als erstes erscheint mir eine Besinnung darauf wichtig, daß sich weder von einem rein relativistischen noch von einem rein absolutistischen Standpunkt das Phänomen des Geschichtlichen in seiner eigentlichen Bedeutung für das Recht begreifen läßt.
Unter Relativismus ist die Auffassung zu verstehen, daß es, zumindest im Bereich des Normativen, einen für alle Subjekte gültigen, sicher erkennbaren Maßstab der Wahrheit nicht gibt. Der spezifische rechts-oder wertphilosophische Relativismus leugnet das Bestehen von Werten oder Wertgehalten und erkennt nur subjektive Wertungen an. In diesem Sinne konnte Karl Engisch davon sprechen, daß das Naturrecht nichts objektiv Gegebenes sei, sondern lediglich „ein Erzeugnis der Theorie“ was in der Tat, zumindest teilweise, auch so ist. Was ist schließlich die wechselvolle Geschichte der Naturrechtslehren anderes als der uns immer aufgegebene und nie zum Ende kommende Prozeß, der das je und je „richtige“ Recht (das „geschichtliche Naturrecht“) gebiert? Freilich, auch nach einer solchen „prozeduralen Auffassung richtigen Rechts“ gibt es keine „objektive“ Wahrheit in einem solchen Sinne, daß sie von unserer Wahrheitserkenntnis völlig unabhängig wäre. Nur auf dem Weg über Konsens und Konvergenz läßt sich eine Intersubjektivität der Wahrheits-und Werturteile und damit eine Begrenzung rein subjektivistischer Beliebigkeit gewinnen.
Die prozedurale Auffassung von der Findung richtigen Rechts erteilt andererseits aber auch den absolutistischen Naturrechtskonzepten eine Absage. Der Absolutismus des rationalistischen Ver-• nunftrechts ist wohl endgültig als ein Irrtum erkannt. Doch bis zur Gegenwart hat sich die Auffassung behauptet, daß das Naturrecht allen Zeiten und Völkern gemeinsam sein müsse, gemeinsam nun freilich nicht als fertige Rechtsordnung, aber immerhin als Grundriß einer solchen, als Inbegriff einer kleinen Zahl „aus sich selbst heraus geltender, allgemeiner Rechtssätze, die jedem positiven Recht vorausliegen und die jedermann, auch den Gesetzgeber, verpflichten“ Aber wo immer der Versuch gemacht wurde, diese „ober- sten Grundsätze des Rechts“ inhaltlich zu konkretisieren, konnte die für sie in Anspruch genommene Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit nicht mehr überzeugend dargestellt werden. So kann es eigentlich nicht verwundern, daß die vorsichtigsten Naturrechtsdenker nur noch ganz wenige und sehr abstrakte Prinzipien als allgemein und überzeitlich gültig anerkennen. Heinrich Rommen läßt sogar nur noch zwei Normen als Naturrecht gelten: „Das Gerechte ist zu tun, das Ungerechte zu lassen, und die uralte ehrwürdige Regel: Jedem das Seine.“
Hier drängt sich die Frage auf, ob ein solches Minimum an Naturrecht genügen kann, um die Rechtsordnung zu legitimieren. Reicht es aus, daß wir mit dem Naturrecht nur die allergröbsten Auswüchse gesetzlichen Unrechts aus dem Bereich des rechtlich Verbindlichen ausscheiden können? Genügt dieses „Unrechtsargument“ um das positive Recht zu sanktionieren? Bleibt dann jeder Rechtsinhalt, sofern er nicht krasses Unrecht enthält, „dem Willen der Gesellschaftsmitglieder überlassen“ so daß darüber der Gesetzgeber eben doch nach seinem Gut-oder Schlechtdünken disponieren darf? Sollen wir es einfach der Gunst oder Ungunst des Schicksals überlassen, wieweit das positive Recht sich in dem weiten Bereich des grauen Farbtons dem Weiß nähert, und uns damit zufrieden geben, daß es wenigstens nicht tiefschwarz ist? Das hieße doch gerade an der Stelle, wo die eigentliche Aufgabe erst beginnt: d. h. bei der Gestaltung der für unsere Zeit und für unsere Rechtsgemeinschaft zu realisierenden Rechtsordnung, zu resignieren.
Diese Aufgabe kann der Neopositivismus ebenso wenig bewältigen wie die herkömmliche Naturrechtslehre. Der Neopositivismus erschöpft sich auch nur in dem bloßen Nachweis, daß die Naturrechtslehre wissenschaftlich unhaltbar sei, woraus dann der Schluß . gezogen wird, daß folglich der Positivismus im Recht sein müsse. Eine philosophische Fundierung des Positivismus, wie sie vor allem Hans Kelsen geliefert hat, findet man kaum noch. Man ist Positivist aus skeptischer Resignation. Charakteristisch ist, wie Hans Ulrich Evers die bedenklichen Auffassungen der Positivisten der Jahrhundertwende wieder aufgreift: „Auch die verwerflichste Rechtsordnung“, sagt er, „hat noch einen verpflichtenden Wert“, denn auch sie gewährt noch ein „Minimum an Schutz“, und „um dieser Funktion willen hat sie auch einen Wert... ohne Rücksicht auf ihren Inhalt“ Wenn auch diese Auffassung noch irgendwo verstehbar ist, so kann man sie doch nach allem, was geschehen ist und noch immer geschieht, schwerlich akzeptieren. Diese Auffassung ist keine Antwort auf die uns aufgegebenen Probleme.
Damit dies nicht mißverstanden werde, sei nachdrücklich betont, daß der wissenschaftliche Rechtspositivismus, insbesondere die „Reine Rechtslehre“ Hans Kelsens, die Rechtstheorie außerordentlich stark befruchtet hat. Dasselbe gilt von der Analytischen Rechtstheorie, die heute einen bedeutenden Platz unter den neueren Strömungen der Rechtsphilosophie einnimmt. Aber die Aufgaben dieser Disziplinen liegen auf anderen Gebieten als bei der Findung richtiger Rechts-inhalte. Analytische Rechtstheorie, Rechtslogik, Normlogik usw. sind unverzichtbar; bedenklich werden sie nur dort, wo sie sich absolut setzen und die rechtsphilosophische Befassung mit den Inhalten des Rechts als unwissenschaftlich abtun. Was die uns hier interessierende Aufgabe angeht, so wird man eine einigermaßen befriedigende Antwort überhaupt nicht finden, wenn man weiterhin an der Alternative: entweder Naturrecht oder Rechtspositivismus, tertium non datur, festhält. Das Denken in dieser Alternative ist längst ins Aussichtslose geraten. Gerade die Nachkriegsdiskussion hat das deutlich gemacht. Jeder kennt die Argumente und Gegenargumente, aber keiner ist in der Lage, den Gegner von seiner Meinung abzubringen, weil er die eigene Position nicht überzeugend begründen kann.
Schon eingangs wurde bemerkt, daß man sich angesichts dieser Situation heute mehr und mehr um einen „dritten Weg“ bemüht. Da sind vor allem die Juristische Hermeneutik und die Argumentationstheorie zu nennen, und es ist gewiß kein Zufall, daß sich gerade jetzt, in dieser bestimmten rechts-philosophischen Situation, ein Aufeinanderzugehen der alten feindlichen Schwestern Analytik und Hermeneutik abzeichnet Hier könnte sich ein solcher „dritter Weg“ anbahnen. Das ist noch nicht abzusehen. Jedenfalls aber hat es in neuerer Zeit schon einen bedeutenden Rechtsphilosophen gegeben, der, vielleicht als erster, einen Standpunkt jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus bezogen ha’t: Gustav Radbruch
V.
Von den Biographen wird meistens konstatiert, daß Radbruch in seiner Frühperiode Positivist gewesen sei, während er sich im Alter dem Naturrecht zugewandt habe. Beides kann man belegen, aber beides stimmt nur cum grano salis. In beiden Perioden finden sich Elemente, die den Positivismus-bzw.den Naturrechtsstandpunkt transzendieren.
Das läßt sich vor allem an Radbruchs Bestimmung des Rechtsbegriffs zeigen. Schon in seiner frühen „Rechtsphilosophie“ definierte er Recht als „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“ Diese Definition, an der Radbruch bis an sein Lebensende festgehalten hat, ist unter zwei Aspekten bemerkenswert. Sie ist erstens nicht positivistisch. Der positivistische Rechtsbegriff besagt nur, daß das Recht ein Inbegriff von formal korrekt erlassenen Normen beliebigen Inhalts ist. Radbruch dagegen betont, daß Rechts-qualität nur Normen haben, die auf die Gerechtigkeit bezogen und an ihr orientiert sind (mit diesem Gedanken der Wertbezogenheit der Kulturphänomene berührt sich Radbruch mit der südwestdeutschen Richtung des Neukantianismus). Zweitens ist sein Rechtsbegriff naturrechtlich, da richtiges Recht nicht mit einem absoluten Rechtswert gleichgesetzt wird. Bei Radbruch gibt es nur „annäherungsweise“ richtiges Recht, aber „verwerfliches Recht“ wurde von ihm nie akzeptiert, auch nicht in seiner Frühperiode.
Radbruch war von seiner Rechtsdefinition her gehalten, eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwikkeln. Er hat das schon sehr früh getan, und das von ihm erarbeitete Modell ist noch heute die Grundlage der rechtsphilosophischen Gerechtigkeitsdiskussion, wenngleich die Entwicklung seit seinem Tod nicht stehengeblieben ist. Radbruch hatte die Absicht, seine Gerechtigkeitslehre noch einmal völlig neu zu überarbeiten, vor allem wollte er den ursprünglichen relativistischen Ansatz etwas entspannen, doch dazu ist es nicht mehr gekommen
Radbruchs Theorie der Gerechtigkeit geht davon aus, daß das Gleichheitsprinzip (Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend verschieden zu behandeln) zwar absolut gilt, aber nur formalen Charakter hat. Es muß also ein inhaltliches Prinzip, die Zweckidee, hinzukommen. Diese ist material, gilt aber nur relativ, denn es stehen drei verschiedene Höchstwerte des Rechts ohne rational auszumachende Rangordnung zur Verfügung: der individualistische, der überindividualistische und der transpersonale Wert. Um der Rechtssicherheit willen ist es daher nötig, den Rechtsinhalt autoritativ festzusetzen. Wieder ist Radbruchs Lehre nicht positivistisch, weil auch Werte einbezogen werden, allerdings um den Preis des Relativismus; und sie ist nicht naturrechtlich, weil nicht „absolut richtiges Recht“ aus der Rechtsidee gefolgert wird.
Wenn wir versuchen, seinen Ansatz weiterzuführen (aufgrund von Gesprächen mit ihm glaube ich mich zu einem solchen Versuch legitimiert), dann läßt sich feststellen, daß die Rechtsidee (die Gerechtigkeit) letztlich identisch ist mit derPersonalität des Menschen in ihren drei Ausformungen: der Mensch als autonomes Wesen, der Mensch als Zweck dieser seiner Welt und also auch des Rechts sowie der Mensch als heteronomes Wesen. Oder anders formuliert: Rechtsidee und Menschenbild verhalten sich komplementär zueinander. Oder noch einmal gewendet: Die Rechtsidee ist ein Abbild der Idee des Menschen. Ob man damit wieder bei dem Homomensura-Gedanken des Protagoras angelangt ist, hängt davon ab, wie man die „Idee“ des Menschen bestimmt. Dabei wird man, in Übereinstimmung mit dem späten Radbruch, Individualität, Überindividualität und Transpersonalität nicht jeweils für sich als Höchstwerte des Rechts zu erachten haben, sondern eher als Ausprägungen der einen und ganzen Person: Individuum, Sozialperson, Kulturträger. Nur dieser ganze Mensch kann Zweck des Rechts sein. Damit und mit der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte ist der rechtsphilosophische Relativismus im Kern überwunden.
Radbruch hat in seiner frühen Lehre den Wert der Rechtssicherheit überschätzt und deshalb das positivistische Moment im Recht, seine Positivität, überbetont. Als er dann in seinen Altersjahren den Sündenfall des Positivismus erfahren hatte, brauchte er aber nicht, wie er noch kurz vor seinem Tod bekannt hat, „die Substanz der früheren Gedanken zu verändern, vielmehr nur die Akzente anders zu setzen, nur das, was dort noch im Schatten stand, ins volle Licht zu rücken“ In der Tat ist Radbruchs Lehre von der Nichtigkeit „gesetzlichen Unrechts“ und des an seine Stelle tretenden „übergesetzlichen Rechts“, mit der er 1946 großes Aufsehen erregte nur die Konsequenz seines schon früh konzipierten Rechtsbegriffs, nur daß jetzt die Betonung mehr auf die materiale Gerechtigkeit als auf die Rechtssicherheit gelegt wurde.
Da die Kemgedanken dieser Lehre von vielen Gerichten, auch dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof, übernommen worden sind, sollen sie hier wörtlich wiedergegeben werden: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als . unrichtiges Recht* der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch gültigen Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur . unrichtiges Recht*. Vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ Daß diese „Radbruchsche Formel“ auch viele Kritiker gefunden hat, versteht sich Radbruch selbst hat sie nicht als den Stein der Weisen erachtet. Wie fundiert diese Kritik auch immer sein mag, so bleibt doch festzustellen, daß es für das Problem des „gesetzlichen Unrechts“ bis zur Stunde keine bessere Formel gibt. Dabei sollten die Kritiker wenigstens eines beachten: Radbruch spricht vom „übergesetzlichen“ Recht, nicht von einem „überpositiven“. Und bei aller Kritik: Wo haben wir heute bei der Hinterlassenschaft der ehemaligen DDR einen besseren Maßstab, Recht vom Unrecht zu scheiden, als in der Radbruchschen Formel? „Evaluation“ lautet das Modewort. Es gilt, die Spreu von dem Weizen zu trennen. Dabei kann nicht jedes Gesetz der ehemaligen DDR als nichtig angesehen werden, so ungerecht es sich im Einzelfall auch auswirken mochte. Die Gesetzgebungsorgane, die solche Gesetze erlassen, und die Richter, die sie angewendet haben, haben sich nicht strafbar gemacht. Wo aber, mit Radbruchs Worten, der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht hat, wo mit dem Gesetz oder Befehl Gerechtigkeit gar nicht erstrebt wurde -der Schießbefehl an der Mauer war ein krasses Beispiel dafür -, da ist Unrecht geschehen, für das die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Man kann es, mit etwas anderen Worten, auch so sagen: Gesetze, Anordnungen und Befehle, die die fundamentalen Menschenrechte verletzen, sind nichtig, und ihre Urheber müssen sich vor dem Strafgericht verantworten.
Doch kehren wir nochmals zu Radbruch zurück. Jetzt, nach der Erfahrung mit der Diktatur, gibt er der Gerechtigkeit mehr Raum als ehedem, aber er vermeidet den Fehler der Naturrechtslehre, die Rechtssicherheit zu vernachlässigen. Das zeigt sich auch bei seinem Standpunkt zu dem in der ersten Nachkriegszeit viel erörterten Problem der „Natur der Sache“. Radbruch sieht darin nur eine „Denkform“, keinesfalls ein neues „konkretes Naturrecht“ und auch keine Rechtsquelle. Sein Standpunkt ist jenseits von Naturrecht und Positivismus. Wenn man genau liest, sieht man, daß bei ihm „richtiges Recht“ oder auch nur „nicht unrichtiges Recht“ überhaupt kein vorhandener Bestand ist, sondern nur in concreto bestimmt werden kann, daß es etwas nie Fertiges, sondern ein immerzu Werdendes ist. Die Radbruchsche Formel beschreibt wie Kants Kategorischer Imperativ einen Prozeß und ist geradezu eine Gratwanderung, für die es wohl Richtpunkte, aber keine Garantien gibt. Radbruch hat immer sehr nachdrücklich auf das Gewicht von Entscheidung und Verantwortung hingewiesen.
VI.
Radbruch hat, und zwar von Anfang an, den orthodoxen Rechtspositivismus auch insofern überschritten, als er sich zur „objektiven“ Auslegungstheorie bekannte. Maßgebend ist danach nicht, was der historische Gesetzgeber tatsächlich gewollt hat, vielmehr was das Gesetz bzw. ein gedachter Gesetzgeber sinnvollerweise für diese bestimmte Situation hic et nunc bezwecken muß. Das positivistische Dogma, daß sich der Richter nur an den im Gesetz verkörperten Willen des wirklichen Gesetz-gebers zu halten habe, wäre ja auch allenfalls dann vollziehbar, wenn das Recht ein lückenloses Ganzes wäre. Daß dies nicht der Fall ist, hat man schon bald erkannt, und das ist heute eine Binsenweisheit. Aber den positivistischen Juristen machte das Lückenproblem außerordentlich zu schaffen
Die Begriffs-und Interessenjurisprudenz, die Freirechtsbewegung und auch die soziologische Jurisprudenz stellten, wenn einmal so vereinfacht werden darf, im Grunde nur Versuche dar, diese Schwäche des Positivismus systemimmanent zu korrigieren. Wieweit das gelungen ist, muß hier dahingestellt bleiben Jedenfalls stand am Ende all dieser Bemühungen die nüchterne und vielleicht auch beklemmende Einsicht, daß Rechtserkenntnis niemals reine Objekterkenntnis ist, daß vielmehr immer und notwendig der Rechtsuchende mit in den Prozeß der Rechtsverwirklichung eingeht. Das bedeutet nicht weniger, als daß das Subjekt-Objekt-Schema für die verstehenden oder hermeneutischen Wissenschaften (der Gegensatz hierzu sind die erklärenden Naturwissenschaften) prinzipiell keine Gültigkeit hat.
Von diesem Ansatz aus hat die hermeneutische Philosophie und Rechtsphilosophie eine wesentliche Bewandtnis herausgestellt, nämlich daß Verstehen von sprachlichem Sinn immer auch und zuerst ein Sichselbstverstehen des Verstehenssubjekts ist Der Verstehende geht in den Verste-henshorizont mit ein, und darum darf sich die methodische Reflexion nicht nur auf das „Objekt“ richten, sie muß das „Subjekt“ miteinbeziehen. Recht (im Gegensatz zum Gesetz) ist nicht Zustand, sondern Akt und kann daher nicht „Objekt“ einer vom „Subjekt“ unabhängigen Erkenntnis sein. Vielmehr ist Recht „Produkt“ eines Prozesses hermeneutischer Sinnentfaltung und Sinnverwirklichung. Eine „objektive Richtigkeit“ des Rechts außerhalb des hermeneutischen Rechtsfindungsverfahrens kann es somit überhaupt nicht geben. Ein Richter, der glaubt, er empfange seine Entscheidungskriterien nur aus dem Gesetz („nur dem Gesetz unterworfen“), erliegt einer verhängnisvollen Täuschung, denn er bleibt (unbewußt) abhängig von sich selbst.
Das Gesagte darf nicht mißverstanden werden im Sinne der heute weit verbreiteten funktionalistischen Betrachtungsweise des Rechts^ Diese Richtung, als deren Hauptvertreter Niklas Luhmann zu nennen ist, stellt überhaupt nicht mehr auf Rechts-inhalte ab, sondern sieht die wesentliche Aufgabe des Rechts einer hochkomplexen Gesellschaft in der Garantie, daß das System reibungslos funktioniert. Das Recht muß, wie Luhmann im Soziologendeutsch sagt, „Komplexität reduzieren“. Begriffe wie „Gerechtigkeit“, „Naturrecht“ oder ganz einfach „Recht“ bezeichnen nach solcher Auffassung keine Wirklichkeiten; es sind nur Symbole, mit deren Verwendung man gute Absichten beteuert Nicht von ungefähr spielen in der modernen Gesetzgebung rein symbolische Gesetze eine wachsende Rolle, die nichts bewirken, also keinen „instrumenteilen“ Charakter haben, sondern nur den Rechtswillen des Staates unterstreichen sollen Das funktionalistische Denken macht vor allem Front gegen das ontologische Denken. Die Ontologie gilt denn auch für die meisten Rechtstheoretiker heute als abgetan. Dabei wird aber die Ontologie auf eine reine Substanzontologie verkürzt. Doch das ist unstatthaft. Die Idee des Ontologischen wurzelt in der durch die Erfahrung gestützten Annahme, daß das, was im „Sein“ begründet ist, nicht zur beliebigen Disposition steht; der Mensch kann es sich nur dienstbar machen, wenn er die darin herrschenden Gesetzlichkeiten beachtet. Ein solches „Unverfügbares“, „Nichtdispositives“, muß aber nicht notwendig etwas Substantielles sein, es kann sich beispielsweise auch um Strukturen oder Relationen handeln. Nachdem vor allem durch Kant und Hegel die Ausrichtung der Ontologie einzig auf das Substantielle überwunden wurde, ist es kaum noch entschuldbar, wenn das Wort „Ontologie“ ohne jede Begründung, als ob das selbstverständlich wäre, im Sinne der aristotelischen und thomistischen Substanzontologie gebraucht wird. Spätestens aber seit Charles S. Peirce ist das nicht mehr angängig. Denn durch ihn ist der entscheidende Durchbruch von der Substanzontologie zur Relationenontologie erfolgt. Viele sehen in ihm freilich nur den Logiker, der über die klassische (aristotelische) „reine“ Logik hinausgekommen ist und den Weg zu einer als Semiotik verstandenen intentionalen und modalen Logik fand: zu einer Relationenlogik. Darin liegt ein großer, folgenreicher Schritt. Aber ebenso bedeutsam ist, daß Peirce dabei nicht stehengeblieben ist, sondern über die Logik hinausgefragt hat und zu einer Ontologie der Relationen vorgestoßen ist
Für die Rechtswissenschaft ist dieser Befund nicht unwichtig. Klassisches Naturrecht und klassischer (normlogischer) Rechtspositivismus gleichen sich in einem wesentlichen Punkt. Nach beiden ist der Prozeß der Rechtsverwirklichung ein vollkommen ungeschichtlicher Prozeß. Es ist ein „Prozeß“, in dem nichts geschieht. Fall und Gesetz bleiben dabei so, wie sie vorher waren, nichts wird verändert. Es ist ein substantielles Denken. Das Verfahren ist rein deduktiv. Das konkrete Recht, die Rechtsentscheidung, wird aus dem Gesetz logisch stringent abgeleitet, das Gesetz wiederum folgt aus höheren Nonnen, diese entspringen letzten und höchsten Normen. Der Unterschied zwischen klassischem Naturrecht und klassischem Rechtspositivismus besteht „nur“ darin, daß dort die höchsten Normen als vorgegeben erachtet werden (im Logos, in der Natur, im göttlichen Gesetz, in der Vernunft), während man hier die „Grundnorm“ als eine menschliche Setzung, als eine Hypothese oder als eine transzendentale Bedingung begreift.
Es ist nicht nötig, langatmige Ausführungen dazu zu machen, daß eine solche Methode, die Rechts-anwendung nur als Subsumtion versteht, nie praktiziert worden ist, weil sie sich gar nicht praktizieren läßt. Das ist heute fast allgemein anerkannt. Die obersten Normen sind, wiewohl keine bloßen „Leerformeln“, so doch viel zu inhaltsarm, als daß sich daraus die konkrete Rechtsordnung deduzieren ließe; es fließt immer Empirie ein. Auch das positive Gesetz entscheidet mit seinen generellen Normen fast nie einen wirklichen, konkreten Fall unmittelbar und zweifelsfrei. „Eindeutig“ im strengen Sinne ist ein Gesetz nur dort, wo es Zahlbegriffe verwendet, denn nur Zahlbegriffe sind univok. Davon abgesehen bedarf es bei der „Rechtsanwendung“, die zwar auch, aber nicht nur Subsumtion ist, immer einer Aufbereitung der Norm am konkreten Fall. Eine rein deduktive Logik ist hier am Ende.
Der empirische Rechtspositivismus, aber auch manche existenzphilosophischen Richtungen und die Situationsethik haben es mit einer rein induktiven Logik versucht: Sie wollen vom Fall aus ohne Zuhilfenahme einer Norm zur Rechtsentscheidung kommen. Daß die Induktion von den strengen Logikern wissenschaftlich verdächtigt wird (Karl Popper), muß man als Rechtstheoretiker hinnehmen. Denn ganz ohne ein induktives Moment geht es bei der juristischen Methode schlechterdings nicht. Aber wie man ausschließlich durch Induktion, nur von der Faktizität des Falles her, zu einer Sollensentscheidung kommen kann, bleibt das Geheimnis all derer, die das behaupten.
Diese kurze Analyse des Rechts und des Prozesses der Rechtsverwirklichung ergibt also, daß für die juristische Methode eine rein deduktive Schlußweise nicht ausreicht, daß aber auch mit Induktion allein nicht auszukommen ist. Das Verfahren ist sehr viel komplexer, und zwar deswegen, weil empirische und normative Momente hineinspielen und weil man Sein und Sollen nicht durch einen einfachen, glatt aufgehenden Schluß verbinden kann. Bei der „Rechtsanwendung“, die aber gerade nicht bloße „Anwendung“ des Gesetzes ist, geschieht folgendes: Auf der einen Seite bedarf es einer „Konstruktion des Falles“, d. h.der Herausarbeitung seiner im Hinblick auf die Norm „wesentlichen“ Elemente und damit der Bildung eines „SachVerhalts“ aus dem Fall; auf der anderen Seite ist die „Interpretation der Norm“ erforderlich, nämlich ihre Konkretisierung im Hinblick auf den Fall und damit die Bildung eines „Tatbestands“ aus der Norm Durch diese beiden Akte der Konstruktion und der Interpretation, die nicht zeitlich aufeinander folgen, sondern in einem wechselbezüglichen Verhältnis des „Zugleich“ stehen, wird bewerkstelligt, daß Fall und Norm einander als „Sachverhalt“ und „Tatbestand“ entsprechen. Diese Entsprechung besteht nicht von vornherein (wiewohl in Fall und Norm tendenziell angelegt), sie muß dergestalt hergestellt werden, daß Fall und Norm durch einen aktiv-gestaltenden Akt gleichgesetzt werden („Gleichsetzungstheorie“; in solcher Gleichsetzung steckt immer auch ein Stück Machtausübung; das gilt erst recht für die Gleich-setzungen und Ungleichsetzungen, die der Gesetzgeber vomimmt). Fall und Norm können in ihrer unbearbeiteten Form einander nicht zugeordnet werden, denn sie stehen auf kategorial verschiedenen Ebenen, denen von Sein und Sollen. Eine Zuordnung ist erst möglich, nachdem die Norm mit Empirie und der Fall mit Normativität in der Weise angereichert worden sind, daß sie zueinander „passen“. Subsumieren kann man nur „Sachverhalte“ unter „Tatbestände“.
Mit diesem Gedanken der „Entsprechung“ ist der relationale Charakter der Rechtsfindung wie überhaupt des Rechts herausgestellt. Zugleich zeigt sich, daß die Herstellung von Sachverhalten und Tatbeständen mit Analogie (oder, nach Peirce, mit Abduktion) zu tun hat. Weiter ist aber auch ersichtlich, daß es sich hier um einen geschichtlichen Prozeß handelt. Für jeden Fall der sogenannten Rechtsanwendung muß die Herstellung neu erfolgen -auch die Feststellung, daß ein Fall genauso (strenggenommen natürlich nur ähnlich) liegt wie ein bereits früher entschiedener, verlangt eine solche Denkoperation, mag diese auch wie bei Routinefällen nicht ins Bewußtsein treten.
Rechtsverwirklichung so verstanden, ist ein gestaltender Akt, bei dem Norm und Fall unter das Gesetz der Geschichtlichkeit treten. Das hermeneutisch entfaltete Gesetz ist ein anderes, als es vorher war, wie auch der Fall, als rechtlich beurteilter Fall, eine neue Dimension erlangt hat. Woher aber stammen die Elemente, die diese Veränderung bewirken? Auf den ersten Blick scheinen dies allein die Lebensverhältnisse zu sein, welche die Geschichtlichkeit des Rechts im Sinne einer stetigen Anpassung des Gesetzes an die Wirklichkeit verursachen und gewährleisten. Bei näherem Zusehen wird man aber erkennen, daß auch das Gesetz gewissermaßen „geschichtlichkeitsadäquat“ sein muß, daß es geschmeidig und offen sein muß (wenn auch mit Maßen: Rechtssicherheit!), könnte es doch sonst den Lebensverhältnissen nicht angepaßt werden. Ein streng eindeutig formuliertes Gesetz wäre, weil starr und unlebendig, ganz und gar ungeschichtlich. Geschichtlichkeit kann es nur im offenen System geben. Und darum ist die juristische Methode im Kern auch nicht eine Subsumtion, entscheidend kommt es vielmehr auf das rationale Argumentieren im offenen System an
Recht im eigentlichen Sinne des Wortes steckt somit weder allein in der Norm noch etwa nur im Fall, sondern in ihrer gegenseitigen Beziehung, in ihrer Relation. Ob die abstrakte Gesetzesnorm und der konkrete Fall vor ihrer Assimilation „Substanzen“, „Gegen-Stände“ sind, bleibe dahingestellt. Tatbestand und Sachverhalt sind es ganz sicher nicht, denn sie bringen zur Erscheinung, wie sich Norm und Fall gegenseitig verhalten. Und eben dieses Verhältnis ist das, was wir als „Recht“ bezeichnen. Recht ist, wie ich früher einmal formuliert habe, die „Entsprechung von Sollen und Sein“ Recht ist also nicht Substanz, sondern gerade das ganz andere als Substanz: Beziehung. Und wenn das Recht relationalen Charakter hat, dann muß auch seine unbeliebige Geschichtlichkeit letztlich in dieser Relationalität fundiert sein.
VII.
Wo aber ist solche Unbeliebigkeit im Relationalen zu finden? Was ist eine Relation? Darüber haben sich die Philosophen viele Gedanken gemacht. Es gibt zufällige Relationen; wenn z. B. im Telefonbuch Schmidt nach Schmid kommt, dann ist das eine zufällige Beziehung. Dieser Art ist die Rechtsbeziehung zwischen Fall und Norm gewiß nicht. Aber ist sie deshalb schon eine „wesentliche Beziehung“? Es ist unverkennbar, daß hier das alte Universalienproblem, der Streit zwischen Realismus und Nominalismus, ins Spiel kommt. Man kann bestreiten, daß es „wesentliche“ Eigenschaften und Beziehungen überhaupt gibt. Günther Patzig behauptet z. B., daß die Beziehung „Vatersein“ nicht heiße, daß ein Mensch eine „interne“ Relation zu einem Kind habe, sondern nur, daß wir nur solche Personen als „Vater“ bezeichnen dürfen, für die es ein X gibt, daß X Kind von Y ist Attf das Rechtsphänomen gewendet heißt das: Ist „Recht“ nur ein Name, den wir der Relation von Fall und Norm bzw. von Sachverhalt und Tatbestand geben, mithin nur eine relationale Redeweise, ohne daß dem ein relationaler Sachverhalt entspricht?
Ich bin der Auffassung, daß ein solcher Rechts-Nominalismus nicht widerlegbar ist. Er ist freilich auch nicht beweisbar. Die Frage ist, ob er, konsequent praktiziert, erträglich ist. Wenn, wie Peirce gesagt hat, für die Philosophie der biblische Satz gilt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!, dann wird man für den Nominalismus sagen müssen, daß seine „Früchte“ für das Recht wenig bekömmlich sind. Denn das Recht wird durch einen konsequenten Nominalismus absolut fungibel. Bei Niklas Luhmann, der Recht und Gerechtigkeit nur noch als Symbole begreift, ist das besonders deutlich; nach ihm kann Recht durch kein extrasystematisches Kriterium, sondern allein durch das Rechtsverfahren legitimiert werden, und das heißt, daß es völlig beliebig wird.
Wäre Recht nur eine relationale Redeweise, dem kein relationaler Sachverhalt, keine „Sache Recht“, zugrunde liegt, so wäre z. B. auch die Relation „X = Rechtssubjekte sind nur arische Menschen, und Y = J ist ein Jude“ also „XRY, d. h.der Jude J ist kein Rechtssubjekt“ -rechtens, da es für diese Qualifikation, so gesehen, nur darauf ankommt, daß die Norm „Rechtssubjekte sind nur arische Menschen“ in der Form rechtens erlassen ist und daher als „Recht“ bezeichnet wird. Sofern man das nicht zu akzeptieren bereit ist, muß man einräumen, daß nicht jede beliebige Relation zwischen einem Fall und einer Gesetzesnorm „Recht“ genannt werden kann. Der mögliche Einwand, der Fehler stecke hier nicht in der Relation, sondern in einem Relatum, nämlich im Gesetz, verkennt, daß erst aus der angewandten lex corrupta reales Unrecht wird. Im übrigen sind die Regelfälle „unrichtigen Rechts“ (eine contradictio in adiecto) solche, in denen zwischen einem korrekten Gesetz und einem zutreffend festgestell-ten Fall falsche Relationen hergestellt werden, d. h. daß das Gesetz nicht richtig angewendet wird. Doch was heißt „unrichtig“ angewendet? Man sagt z. B., die Relation „E = Elektrizität entspricht S = Sache“ sei falsch. Aber ist sie notwendig falsch und unwahr, genauso wie beispielsweise „zweimal zwei = fünf“ falsch und unwahr ist? Ist Elektrizität unter keinem denkbaren Gesichtspunkt, in keiner denkbaren Relation, als „Sache“ anzusehen? Könnte sie es nicht unter dem Gesichtspunkt des Diebstahls in dem Sinne sein, daß in dieser Hinsicht „Sache“ alles ist, was man einem anderen „wegnehmen“ kann? Das wird man nicht schlechterdings verneinen können. Dann aber ist nicht auszuschließen, daß hier mehrere Relationen als „richtig“ gelten können. Und so verhält es sich in rechtlichen Dingen in der Tat sehr oft, daß mehrere verschiedene Lösungen als gleichermaßen „plausibel“, „stimmig“, „vertretbar“ und in diesem Sinne „richtig“ erscheinen Wo aber gibt es dann einen Halt?
Ich knüpfe noch einmal an Peirce an. Er kennt drei Relationen: I, It und Thou, und es ist höchst bemerkenswert, daß er von diesen drei Relationen auch als von drei Personen spricht Das ist völlig korrekt. Denn Person ist Relation, sie ist der Grundfall der Relation, der Ur-Relation. Person ist der Mensch nicht seiner Substanz nach, sondern als das Ensemble von Beziehungen, in denen er zu seiner Welt steht, zu den Mitmenschen und zu den Dingen. Den Menschen als Substanz gibt es auch in der Vereinzelung, Person aber gibt es nur zwischen den Menschen. Aus demselben Grund gibt es auch das Recht immer nur zwischen den Menschen; in seiner Vereinzelung hat der Mensch wohlreligiöse und moralische Pflichten, aber keine Rechtspflichten. Darum konnte Hegel sagen: „Das Rechtsgebot ist: sei eine Person und respektiere die andern als Personen.“
Für eine auf dem vorstehend skizzierten Fundament zu errichtende juristische Ontologie des Personalen, die nur als Relationenontologie, nicht als Substanzontologie gedacht werden kann, ist der Gesichtspunkt des Respektierens und Anerkennens von großer Bedeutung. Von Anaximander an kann man durch die ganze Naturrechtsdiskussion diesen allerersten Rechtsgedanken verfolgen, daß es im Miteinander der Menschen zu allererst darum geht, den anderen als das zu lassen, was er ist: Person. Max Scheler hat betont, daß der Begriff einer „individuellen Person“ eine contradictio in adiecto ist, da Person immer vom anderen mitkonstituiert ist Das Kaufverhältnis beispielsweise setzt voraus, daß der Käufer nicht nur die Rolle des Verkäufers versteht, sondern auch versteht, daß der Verkäufer seine (des Käufers) Rolle versteht -et vice versa („Reziprozität der Perspektive“, wie die Soziologen sagen).
Da Person nicht unter den Bereich des Gegenständlichen fällt, kann beim Personalen das Subjekt-Objekt-Schema in der Erkenntnis keine Gültigkeit haben. Denn Person ist weder Objekt noch Subjekt und daher gegenständlichem, statischem, ungeschichtlichem Denken nicht zugänglich. Person ist relational, dynamisch und geschichtlich. Person ist nicht Zustand, sondern Ereignis, Person ist Akt. Das gilt auch für das Recht, Recht ist kein Bestand an Normen, Recht geschieht in den personalen „Verhältnissen“; geschieht es hier nicht, gibt es vielleicht Gesetze, aber kein Recht. Recht wird im Akt.
Der Mensch ist Person nicht „von Natur aus“. Wer aber teilt ihm Personalität zu? Man kann hier Spekulationen anstellen und auf Gott rekurrieren oder auf eine transzendentale „Person überhaupt“ oder auf einen fiktiven Urvertrag. Ich möchte vorsichtiger (und auch nur dilatorisch) argumentieren. Personhaftigkeit gewinnen die Menschen dadurch, daß sie sich gegenseitig als Person anerkennen, womit sie auch das Recht anerkennen (daß die Personhaftigkeit des menschlichen Embryos heute so umstritten ist, liegt wesentlich daran, daß hier der Konsens verlorengegangen ist). Gewiß, der Konsens kann niemals die „Letztbegründung“ für Personalität und Recht sein, die nicht wenige für ihre Wahrheits-und Gerechtigkeitstheorien in Anspruch nehmen Aber was bleibt von der Personhaftigkeit des Menschen (des Embryos) und vom Recht, wenn sie nicht anerkannt werden?
Ist damit nicht doch wieder alles dispositiv geworden? Ich meine, nein. Da Person Relatio ist, genauer Struktureinheit von Relatio und Relata, von Wie und Was, beläßt sie dem Recht seinen Prozeßcharakter, verhindert aber zugleich seine unbegrenzte Fungibilität. Was „Recht“ als solches identifiziert, ist die Frage, ob dem Menschen in seiner Eigenschaft als Person das ihm „Zustehende“, das „suum iustum“ gewährt wird. Wo ihm dies nicht gewährt wird, da ist nicht Recht verwirklicht. Die Person, d. h. die personalen Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Dingen, ist dieses „Unverfügbare“, „Ontologische“, was jede Rechtserscheinung als Person identifiziert. Da Person wesentlich geschichtlich ist, Aufgabe und Aufgegebenes zugleich, ist auch das, was ihr von Rechts wegen zusteht, eine geschichtliche, aber keineswegs beliebige Größe.
Gewiß kann auch die Fundierung des Rechts in der Person nicht verhindern, daß es in bezug auf viele Rechtsfragen keine eindeutigen, allein richtigen Antworten gibt, denn personales Denken ist im Kem analogisches Denken. Um wenigstens intersubjektiv gültige und konsensfähige Antworten zu gewinnen und um die Zahl der „richtigen“, d. h. „vertretbaren“ Antworten möglichst zu reduzieren, ist der Diskurs nötig. Was immer einen solchen (rationalen) Diskurs bestimmen mag, auf jeden Fall ist nötig, daß er einen identischen (nicht notwendig substantiellen) Gegenstand (ein Thema) zur Grundlage hat, der nicht einzig der Diskurs selbst ist Wenn es also in einem juridischen Diskurs wirklich um das „Recht“, um das „richtige Recht“ oder wenigstens um das „nicht schlechthin unrichtige Recht“ gehen soll und nicht um etwas beliebiges anderes, dann muß ihm ein Identität gewährleistender Rechtsgehalt, eben ein „Unverfügbares“, „Ontologisches“ zugrunde liegen. Dieses Unverfügbare ist der Mensch als Person. Der Mensch als Person bestimmt den juridischen Diskurs, nicht nur das Procedere, sondern auch den Inhalt. Denn der Mensch als Person ist das „Wie“ und das „Was“ in einem.
VIII.
Mit diesem personalen Ansatz ist die Rechtsordnung nicht bis ins Detail festgelegt. Aber es ist ihr doch ein Fundament gegeben. Wie sich das auswirkt, soll an einem von vielen Beispielen erläutert werden.
Unsere Verfassung gewährleistet eine Reihe von Grundrechten, von subjektiven Naturrechten, könnte man sagen: Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum. In Artikel 19 Abs. 2 GG heißt es, daß kein Grundrecht in seinem „Wesensgehalt“ angetastet werden darf. Was aber heißt: „Wesensgehalt“ eines Grundrechts Darüber rätselt man seit Bestehen des Grundgesetzes. Es gibt eine Theorie, die auf den „substantiellen Kern“ des betreffenden Grundrechts abstellt. Dieser substantielle Kem müsse bei einem Grundrechtseingriff „übrigbleiben“. Hier wird ersichtlich substanzontologisch argumentiert. Was aber bleibt beispielsweise für einen zu lebenslanger Haft Bestraften an Freiheitsrechten übrig? Gewiß nicht der „Kem“ der Freiheit. Eine andere Theorie sagt, es komme nicht darauf an, daß etwas übrigbleibe, maßgebend sei vielmehr der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit; der Grundrechts-eingriff dürfe nicht ein „Übermaß“ enthalten. Damit aber hat man natürlich den Gedanken der „Wesensgehaltsgarantie“ verabschiedet. Eine dritte Theorie beinhaltet, daß das Grandgesetz gar nicht die subjektiven, individuellen Rechte des Menschen garantiere, sondern nur die „Institution“ des Eigentums oder des Lebens oder der Freiheit. Artikel 19 Abs. 2 GG bedeute lediglich eine Institutsgarantie, und diese sei nicht in Frage gestellt, wenn man einzelne Menschen lebenslang einsperrt. Schließlich hat Luhmann von seinem funktionalistischen Ansatz aus behauptet, die Wesensgehaltssperre garantiere weder einen Einzel-noch einen Institutionsschutz; Artikel 14 GG (Eigentumsgarantie) beispielsweise „schützt den einzelnen nicht in seiner Persönlichkeit und nicht in seinem spezifischen Sachbedarf, er garantiert ihm weder Nahrung noch Witterungsschutz noch eine Mindestausrüstung mit kulturellen Symbolen, sondern er gewährleistet seine Teilnehmerrolle am Kommunikationssystem der Wirtschaft, weil ohne diese Garantie das Kommunikationssystem nicht gewährleistet werden kann... Nur in seiner spezifischen Rolle als Teilnehmer an der Gesellschaft wird der Eigentümer geschützt, und das nicht um seiner Persönlichkeit willen.... sondern um der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems willen... Die Verfassung gibt keinen Wertschutz, sondern nur einen Funktionsschutz.“
Nach der hier vertretenen relationalen Betrachtungsweise werden die Rechte des Menschen immer nur in bezug auf die Rechte der anderen gewährt. Es sind immer personale Rechte. Einerseits ist Person das Relatum der Rechtsbeziehung; daher gibt es kein Recht, das nicht zumindest mittelbar ein Recht der Person wäre. Andererseits bestimmt Person aber auch die Relatio: Was das rechte Verhältnis ist, kann nur jeweils von den vielfachen Beziehungen, in denen die Menschen als Personen zueinander stehen, bestimmt werden. Das Eigentum, um dieses Beispiel noch einmal aufzugreifen, ist seinem „Wesen“ nach weder Substanz noch Geldwert, sondern, mit Goethe „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt, nichts drunter und nichts drüber“. Eigentum ist Actio, ist Tätigkeit, ist Selbstverwirklichung der Person. Wer nichts sein eigen nennt, kann nicht im Vollsinne Person sein. Dabei ist vor aller Gleichmacherei zu warnen. Was des Menschen „Wirksamkeit erfüllt“, ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Der Kunstmäzen mag Millionenwerte zu Recht sein eigen nennen, der Parvenü aber nicht. Darum kann auch der nach einem Grandrechtseingriff zu verbleibende „Rest“ von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Nie aber darf ein Mensch so sehr aller persönlichen Habe beraubt werden, daß ihm ein Leben als Person und in Würde nicht mehr möglich ist.
IX.
Bleibt zum Schluß die Frage, was aus der Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre geworden ist. Was gibt die „Natur“ für die Gestaltung der Rechtsordnung her? Nach dem zuvor Gesagten muß die Antwort lauten: Es gibt keine solche „Natur“, aus der sich ableiten ließe, wie sich der Mensch in einer konkreten Situation zu verhalten hat. Das einstige Naturrecht entstand in einfach strukturierten, geschlossenen Gesellschaften, in denen man an Gesetzestafeln (mosaisches Gesetz, Zwölftafelgesetz) ablesen konnte, was gut und was böse, was gerecht und was ungerecht ist. Die moderne Gesellschaft ist hochgradig komplex und kann daher nur als offenes System funktionieren. In einem solchen offenen System muß der Mensch handelnd ausgreifen auf die Welt, ohne sich stets im vorhinein anhand feststehender Normen vergewissern zu können, ob sein Handeln richtig ist, d. h. er muß sich riskant verhalten. Man denke etwa an den Arzt, der zwei Schwerstverletzte, aber nur einen Reanimator hat und sich nun entscheiden muß, welchem der beiden er eine Lebenschance und welchem er das Todesurteil gibt. Das kann in keiner generellen Norm rational geregelt werden. Der Arzt muß das Risiko eingehen, vielleicht beim „falschen“ Patienten die Reanimation einzuleiten. Oder inwieweit dürfen, an sich sehr bedenkliche, Genmanipulationen am Menschen vorgenommen werden, wenn es damit „vielleicht“ gelingt, schwere Krankheiten bekämpfen zu können?
In Gesellschaftssystemen dieser Art, in denen man nicht immer von vornherein wissen kann, welche Entscheidung die richtige ist, ist Toleranz in einem weitaus höheren Maße vonnöten, als in einer geschlossenen naturrechtlichen Gesellschaft Toleranz ist eines der wichtigsten ethischen Gebote der modernen Welt. In ihr gibt es keinen Naturrechtskatalog, es gibt nur den Menschen in seiner vielfachen Verwiesenheit, den Menschen als Person. Person sein kann er aber nur, wenn er auch den anderen als Person anerkennt, wenn er auch ihn Person sein läßt. Wenn es so etwas gibt wie eine „Idee“, eine „Natur“ des Rechts, dann ist sie die Idee, die Natur des personalen Menschen. Oder sie ist gar nichts.