Eines der Probleme der deutschen Vereinigung stellt das Zusammenwachsen der politischen Kulturen beider Teile dar. Dieses ergibt sich vor allem aus der Vermutung, daß das zentralisierte und autoritäre System der DDR gerade auf solche Persönlichkeitsmerkmale und Handlungsdispositionen eher negative Auswirkungen gehabt hat, die Grundvoraussetzungen zu einer demokratischen Staatsbürgerkultur bilden. Der empirisch ermittelte hohe Anteil entfremdeter und autoritärer Bürger in Ostberlin entspricht durchaus diesen Erwartungen. Allerdings ist die Einschätzung der Ostberliner, den politischen Entscheidungsprozeß effektiv beeinflussen zu können und ihre Bereitschaft zur Anwendung eines Spektrums konventioneller und legal-unkonventioneller Handlungsformen ebenso ausgeprägt wie die der Westberliner. Dieser Sachverhalt kann im wesentlichen darauf zurückgeführt werden, daß die Bürger der DDR durch eigene Aktivitäterden Zusammenbruch ihres Regimes herbeigeführt haben. Vor allem aus diesem Umstand ergeben sich wider Erwarten eher positive Perspektiven der politischen Kultur im vereinigten Deutschland.
L Fragestellung
Nachdem die deutsche Vereinigung rechtlich und institutionell vollzogen ist, werden jetzt die Probleme des realen Zusammenwachsens beider Teile in ihren Konturen deutlich. Eine von vielen geteilte Diagnose über die Ausgangslage des Zusammenwachsens läßt sich in der pointierten These „vereint und doch gespalten“ zusammenfassen. Die Frage des Ausmaßes dieser Spaltung betrifft eine Vielzahl ökonomischer, sozialer und politischer Aspekte. Bei den politischen Aspekten stehen seit einiger Zeit die Mentalitätsunterschiede der Bürger im östlichen und westlichen Teil Deutschlands und deren langfristige Konsequenzen für die Demokratie im Vordergrund der Diskussion Wir greifen diese Diskussion auf und versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bürger Ost-und Westberlins in wichtigen politischen Dimensionen auf der Basis einer repräsentativen Umfrage der Bevölkerung Gesamtberlins deskriptiv festzuhalten. Diese Umfrage wurde in Ostberlin von April bis Mai 1990 und in Westberlin von April bis Juli 1990 durchgeführt
Abbildung 22
Schaubild 6: Bereitschaft zu legal-unkonventioneller Beteiligung
Schaubild 6: Bereitschaft zu legal-unkonventioneller Beteiligung
Es wird davon ausgegangen, daß Strukturen und Tendenzen politisch relevanter Mentalitäten gerade in Brennpunkten politischer Auseinandersetzungen deutlich werden. Insofern könnten die empirischen Ergebnisse trotz der Begrenztheit ihres Geltungsbereiches auf Berlin auch für das vereinigte Deutschland insgesamt instruktiv sein. Zur Identifikation der wichtigsten politischen Dimensionen und zur Interpretation der Befunde verwenden wir das Konzept der politischen Kultur, das sich schon zur Analyse der Entwicklung der Demokratie der Bundesrepublik als fruchtbar erwiesen hat In ähnlicher Weise ist U. Feist vorgegangen, die Wertorientierungen und Vertrauen in Institutionen in Ost-und Westdeutschland untersucht hat. Im Unterschied zu ihrer Analyse konzentrieren wir uns weitgehend auf politische Handlungsdispositionen, die eines der Kern-elemente des klassischen Konzeptes der politischen Kultur darstellen, so wie es von Almond und Verba formuliert worden ist.
II. Das Konzept der politischen Kultur
Abbildung 18
Schaubild 2: Autoritarismus
Schaubild 2: Autoritarismus
Das besondere Anliegen der politischen Kulturfor- galt der Einbeziehung subjektiver Faktoren zur Erklärung politischer Phänomene. Der Begriff der politischen Kultur umfaßt in seiner allgemeinsten Form die Gesamtheit aller politisch relevanten Persönlichkeitsmerkmale sowie grundlegender Orientierungen, die Prädispositionen zu konkreten politischen Einstellungen und Verhaltensweisen darstellen Dieser sehr allgemeine Begriff der politischen Kultur muß entsprechend der konkreten Fragestellung jeweils präzisiert werden Die leitende Fragestellung der einflußreichen komparativen Studie von Almond/Verba war die Stabilität von Demokratien. Almond und Verba arbeiteten heraus, daß zu einer stabilen Demokratie nicht nur eine funktionsfähige institutionelle Struktur gehört, sondern auch eine dazu kongruente politische Kultur Dazu gehören neben der Legitimation des demokratischen Regimes die Fähigkeit und die Bereitschaft der Bürger, sich aktiv am politischen Geschehen zu beteiligen. Vor allem über die letztere Komponente wird bei Almond und Verba die „civic culture" (Staatsbürger-kultur) definiert, die sie als die zur demokratischen Struktur kongruente politische Kultur postulieren. Unter dem analytischen Gesichtspunkt der Kongruenz von Struktur und Kultur ließ sich die Entwicklung der Bundesrepublik sinnvoll rekonstruieren. In ihrer Anfangsphase war die Bundesrepublik mit dem Problem konfrontiert, zu einer von den westlichen Demokratien übernommenen politischen Struktur eine kongruente politische Kultur zu entwickeln. Wie Analysen aus der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den ersten Jahren der Bundesrepublik belegen, waren zu Beschung bei den Bürgern autoritäre Orientierungen noch weit verbreitet Almond und Verba bezeichneten die Bundesrepublik denn auch als „Untertanenkultur“ (subject culture), die sich -im Unterschied zur „Staatsbürgerkultur“ durch eine starke Outputorientierung, niedrige Systemakzeptanz, geringe politische Kommunikationsneigung sowie eine wenig ausgeprägte Partizipationsbereitschaft auszeichnet
Abbildung 23
Schaubild 7: Bereitschaft zu Zivilem Ungehorsam
Schaubild 7: Bereitschaft zu Zivilem Ungehorsam
Nachfolgende Studien haben zu einer grundlegenden Revision dieser Einschätzung geführt. Es besteht heute weitgehend Konsens darüber, daß die Bundesrepublik das Problem der Herausbildung einer „Staatsbürgerkultur“ sehr erfolgreich gelöst hat. Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre hat die Bundesrepublik hinsichtlich der Legitimation der Demokratie als Staatsform, der Akzeptanz demokratischer Werte und Normen sowie der Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, mit den etablierten westlichen Demokratien gleichgezogen
Abbildung 24
Schaubild 8: Repressionshaltung
Schaubild 8: Repressionshaltung
Die Situation in den neuen Bundesländern ist in gewisser Weise mit der der Bundesrepublik kurz nach ihrer Gründung vergleichbar. Durch den Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik ist eine demokratische Struktur übernommen worden, und es besteht das Problem, eine dazu passende politische Kultur zu entwickeln. Inwieweit und in welcher Hinsicht eine Inkongruenz zwischen Struktur und Kultur vorliegt, ist zunächst einmal eine empirisch zu klärende Frage. Daß nicht umstands-los von der Ausgangslage der Bundesrepublik Anfang der fünfziger Jahre auf die der fünf neuen Länder geschlossen werden kann, hat mehrere Gründe: Erstens sind die fünf neuen Länder einem bereits etablierten demokratischen Staat beigetreten. Die weitere Entwicklung der politischen Kultur dieser Länder wird sich also nicht nur eigen-dynamisch vollziehen, wie das bei der Bundesrepublik der Fall war. Zweitens gab es über die intensive Nutzung westlicher Massenmedienangebote bei den Bürgern der ehemaligen DDR möglicherweise so etwas wie sekundäre Sozialisationseffekte im Sinne demokratischer Spielregeln und Handlungs-möglichkeiten. Drittens wurde der Zusammenbruch des DDR-Regimes nicht nur durch äußere Ereignisse, sondern auch durch die aktive politische Beteiligung der Bürger selbst herbeigeführt. Daß eine solche aktive Beteiligung der Bürger an einer Regimetransformation gravierende und langfristige Folgen haben kann, haben beispielsweise Almond und Verba bei ihrer Charakterisierung der politischen Kultur Mexikos dargestellt und solche „symbolischen Ereignisse“ als einen der begünstigenden Faktoren beim Aufbau einer demokratischen politischen Kultur bezeichnet
III. Persönlichkeitsmerkmale und Beteiligungsbereitschaft
Abbildung 19
Schaubild 3: Persönliche Kompetenzerwartung
Schaubild 3: Persönliche Kompetenzerwartung
Eines der wichtigsten Abgrenzungskriterien zwischen einer „Staatsbürgerkultur“ und einer „Untertanenkultur“ bei Almond und Verba betrifft die Rolle des Bürgers als aktiver Teilnehmer am politischen Prozeß In letzterer ist der Bürger eher ein passiver Adressat der politischen Eliten; insofern sind „Untertanenkulturen“ kongruente politische Kulturen zu zentralisierten und autoritären Staaten wie dem der ehemaligen DDR. Im Unterschied dazu sind Demokratien der Norm nach politische Systeme, in denen die Bürger die politischen Eliten kontrollieren und in denen die politischen Eliten in der Antizipation möglicher Konsequenzen seitens der Bürger handeln.
Eine der Bedingungen der Realisierung dieser demokratischen Norm ist die Überzeugung der Bürger, daß sie einen Einfluß auf die politischen Eliten ausüben können. In dem Maße, in dem ein Individuum glaubt, daß es einflußreich ist, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, daß es tatsächlich versucht, Einfluß auszuüben oder wie Almond und Verba formulieren: „A subjectively competent Citizen ... is more likely to be an active Citizen.“
Das Meßinstrument zur Erfassung der subjektiven politischen Kompetenz bei Almond/Verba bezieht sich auf die Einschätzung der Befragten, ob sie etwas gegen ein von ihnen als ungerecht empfundenes Gesetz unternehmen können. Unseres Erachtens ist diese Fragestellung zu spezifisch, um die subjektive politische Kompetenz als ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich auf das grundlegende Verhältnis zwischen Individuum und politischem System bezieht, ausreichend erfassen zu können. Wir knüpfen deshalb an eine allgemeine Theorie des Verhältnisses zwischen Individuen und Umwelt an und nehmen dann eine Spezifikation für den Bereich der Politik vor.
Die soziale Lerntheorie von Rotter postuliert, daß Individuen eine generalisierte Erwartung herausbilden, Umweltereignisse im Sinne der eigenen Ziele kontrollieren zu können, und daß diese generalisierte Erwartung einen Effekt auf das Handeln der Individuen hat. Für das Ausmaß der Kontrollerwartung können entweder eigene Fähigkeiten und Motivationen eine Rolle spielen oder äußere Faktoren wie einerseits Zufall und Schicksal und andererseits soziale Verhältnisse und Konstellationen. Dementsprechend wird zwischen interner und externer Kontrollerwartung unterschieden.
Diese lerntheoretische Konzeption liegt letztlich auch dem Konzept „political efficacy“ zugrunde, das in der klassischen Definition vom Campbell et al. beschrieben wird als „the feeling that individual political action does have, or can have, an impact upon the political process“ Dieses ursprünglich eindimensionale Konzept wurde später in Anlehnung an Rotters Unterscheidung von interner und externer Kontrollerwartung in „internal“ und „extemal efficacy“ differenziert Diese Differenzierung stellt auf die zweiseitige Relation zwischendem Individuum als Staatsbürger und den politischen Entscheidungsträgem ab. Das Gefühl eines geringen Einflusses auf den politischen Entscheidungsprozeß kann entweder in einem geringen Zutrauen in die eigenen politischen Fähigkeiten begründet sein (internal efficacy) oder in einer geringen Reaktionsbereitschaft der politischen Eliten auf die eigenen Wünsche (external efficacy).
In der Berlin-Studie wurden die beiden Dimensionen von „political efficacy“ nicht mit den ursprünglichen Meßinstrumenten erfaßt weil diese unseres Erachtens die beiden theoretischen Dimensionen nur unzureichend voneinander separieren. Es wurden statt dessen Indikatoren von Hoffmann/Schenk (external efficacy) und Krampen (internal efficacy) verwendet. Aus den Fragebatterien von Hoffmann/Schenk und Krampen wurden jeweils drei Fragen ausgewählt Diese drei Fragen wurden zu einem Mittelwert-Index kombiniert, der ab-bzw. aufgerundet wurde, so daß man am Ende wiederum die in den folgenden Schaubildern wiedergegebene 7er Skala erhält, mit der die Einzelitems gemessen wurden. Der resultierende Index für die interne Dimension wird von uns als persönliche Kompetenzenvartung bezeichnet und der für die externe Dimension als politische Kontrollerwartung. Persönliche Kompetenzerwartung und politische Kontrollerwartung sind generalisierte Überzeugungen des Individuums hinsichtlich ihrer Beeinflussungsmöglichkeiten des politischen Entscheidungsprozesses und geben demzufolge noch keinen Aufschluß über die Art und Weise, wie sich diese Beeinflussungsversuche vollziehen könnten. In der Berlin-Umfrage sind eine Reihe von Fragen zu konkreten politischen Handlungsformen enthalten, mit denen sich Bürger in den westlichen Demokratien am politischen Geschehen beteiligen. Diese können nach einer Kennzeichung der Political-Action-Studie in konventionelle und unkonventionelle Handlungsformen unterteilt werden. Konventionelle Handlungsformen sind primär auf Parteien und Wahlen bezogen, während sich unkonventionelle Handlungsformen durch einen geringen Institutionalisierungsgrad auszeichnen. Es hat sich aus theoretischen und empirischen Gründen als sinnvoll erwiesen, aus den unkonventionellen Handlungsformen die illegalen Aktivitäten des zivilen Ungehorsams als eine eigene Dimension herauszulösen Wir unterscheiden also zwischen konventionellen und legal-unkonventionellen Handlungsformen sowie Handlungsformen des zivilen Ungehorsams.
Die Befragten sollten für jede einzelne Aktivität der drei Handlungsdimensionen angeben, ob sie sich daran schon beteiligt haben, sich bei einer wichtigen Sache, in einer außergewöhnlichen Situation oder unter keinen Umständen beteiligen würden. Konventionelle Beteiligungsformen umfassen Aktivitäten wie die Mitarbeit in einer politischen Partei, die Unterstützung von Kandidaten als Wahlhelfer sowie die Bereitschaft, politische Verantwortung zu übernehmen Zu den legal-unkonventionellen Handlungsformen zählt die Beteiligung an einer Unterschriftensammlung, an einer Bürgerinitiative oder an einer genehmigten Demonstration. Die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration, die Zahlungsverweigerung von Mieten, Raten oder Steuern, die Beteiligung an einem wilden Streik, die Besetzung von Fabriken oder anderen Gebäuden und das Aufhalten des Verkehrs mit einer Demonstration werden zu den Formen des Zivilen Ungehorsams gezählt
Für alle drei Handlungsdimensionen werden wiederum Mittelwert-Indizes unter Beibehaltung der 4er Skala des Einzelitems gebildet, die die generelle Beteiligungsbereitschaft erfassen sollen (vgl. Schaubilder 5-7). Diese drei Indizes politischer Handlungsbereitschaft werden um einen Index der sogenannten Repressionshaltung ergänzt (vgl. Schaubild 8). Dieser bezieht sich auf die Bereitschaft der Bürger, repressive Aktionen des Staates gegenüber unkonventionellen Handlungsformen zu tolerieren Ohne die Berücksichtigung dieser Dimension staatlicher Repression gegenüber unkonventionellen Handlungsformen ist die Frage, inwieweit sich eine politische Partizipationskultur jenseits der institutionalisierten Beteiligungskanäle etabliert hat, nur unzureichend zu beantworten.
Die bisher dargestellten Persönlichkeitsmerkmale und die entsprechenden Meßinstrumente beziehen sich ausdrücklich auf die subjektive Perzeption des Verhältnisses zwischen Staatsbürgern und politischem System. Da diese Perzeption so kurz nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes auch von situativen und kontingenten Faktoren beeinflußt wird, werden zusätzlich grundlegendere Persönlichkeitsmerkmale analysiert, die keinen direkten Politikbezug haben, aber dennoch politische Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen determinieren.
In der politischen Psychologie hat die Identifikation solcher Persönlichkeitsmerkmale eine lange Tradition. Insbesondere im Kontext der Versuche, die Erfolge des Nationalsozialismus zu erklären, wurden Anstrengungen unternommen, psychologische Profile einer demokratischen Persönlichkeit bzw. ihres Gegenteils zu ermitteln Entfremdung und Autoritarismus sind prominente Beispiele solcher Persönlichkeitsmerkmale. Es gilt in der politischen Psychologie als weitgehend gesichert, daß lange Jahre der Unterworfenheit unter ein totalitäres oder diktatorisches Regime solche Persönlichkeitsmerkmale verstärken, die der Ausbildung demokratischer Orientierungen entgegenstehen.
Entfremdung bezieht sich auf ein allgemeines Gefühl der Orientierungslosigkeit in der heutigen Welt, das aus der Wahrnehmung resultiert, Ereignisse nicht durch sein Verhalten determinieren zu können. Dieser allgemeinere Aspekt der Machtlosigkeit wird von dem Konzept der politischen Kontrollerwartung in spezifischer Weise wieder aufgegriffen. Autoritarismus bezieht sich auf die Bereitschaft, sich Autoritäten und Gruppennormen fraglos unterzuordnen und gleichzeitig kompromißlos gegenüber Andersdenkenden zu sein.
In der Berlin-Umfrage sind eine Reihe von Fragen enthalten, die die Konstruktion von Skalen zur Erfassung dieser beiden Persönlichkeitsmerkmale ermöglichen
IV. Empirische Ergebnisse
Abbildung 20
Schaubild 4: Politische Kontrollerwartung
Schaubild 4: Politische Kontrollerwartung
Die geschilderten Persönlichkeitsmerkmale sind theoretisch unterschiedlichen Persönlichkeitsebenen zuzuordnen, Autoritarismus und Entfremdung bewegen sich auf der relativ „tiefsten“ Ebene, während die politische Beteiligungsbereitschaft das andere Ende des Kontinuums bildet; Kompetenz-und Kontrollerwartung liegen auf einer „mittleren“ Ebene zwischen diesen Polen. Wir wollen die empirischen Ergebnisse unserer Analyse entlang dieser Anordnung nach Tiefenschichten der Persönlichkeit diskutieren.
Nach den im Schaubild 1 präsentierten Verteilungen zeigt sich ein deutlich höherer Anteil an entfremdeten Bürgern in Ostberlin. Wenn man die Prozentsätze der Skalenpunkte 5-7 zusammenfaßt, dann ist der Anteil entfremdeter Bürger in Ostberlin (58 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie in Westberlin (25 Prozent). Das gleiche Bild zeigt sich bei Autoritarismus (Schaubild 2): 62 Prozent autoritäre Bürger in Ostberlin stehen 30 Prozent in Westberlin gegenüber. Dieses Ergebnis entspricht der Vermutung, daß die Sozialisation in nicht-legitimen und autoritären Systemen Einfluß auf solche tiefsitzenden Persönlichkeitsmerkmale hat.
Zu dieser Annahme paßt auch, daß wir die Verteilungsunterschiede zwischen Ost und West nicht mit den klassischen soziodemographischen Hintergrundvariablen wie Alter, Schulbildung, Geschlecht etc. erklären können (Die Ergebnisse werden hier nicht im einzelnen dargestellt). Offensichtlich ist die Systemvariable der beste Prädiktor für die empirisch ermittelten Differenzen. Wenn wir allerdings einen Blick auf die konkreten Fragen werfen, mit denen die Persönlichkeitsmerkmale gemessen wurden, dann kann man hinsichtlich der beiden Dimensionen eine unterschiedliche Wirkungsweise des „Systems“ im Falle der DDR annehmen. Die Fragen der Entfremdungsskala beziehen sich vor allem auf Sicherheits-und Berechenbarkeitsgefühle gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt. Diese Gefühle werden neben den andauernden Erfahrungen in einem illegitimen Gesellschaftssystem sicherlich auch vom Systemzusammenbruch selbst beeinflußt. Ein Ende dieses Ereignisses bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, daß damit auch seine Effekte auf die Persönlichkeiten verschwinden. Allerdings kann angenommen werden, daß eine Konsolidierung der fünf neuen Bundesländer im Rahmen des vereinig-ten Deutschlands zumindest langfristig positive Auswirkungen auch auf die Entfremdungsgefühle der ehemaligen DDR-Bürger hat. Bei Autoritarismus ist der Systemzusammenbruch als situativer Wirkungsfaktor weniger plausibel geltend zu machen. Zu den in den Schaubildern 1 und 2 dargestellten Ergebnissen soll hier noch angemerkt werden, daß die für Ostberlin ermittelten Werte für Entfremdung und Autoritarismus im gesamten Gebiet der ehemaligen DDR noch deutlicher ausgeprägt sind -Es handelt sich also nicht nur um ein Berlin-spezifisches Ergebnis.
Demgegenüber bieten die beiden Skalen zur subjektiven Erwartung der Beeinflußbarkeit des politischen Systems durch eigene Handlungen ein ganz anderes Bild (Schaubild 3 und 4). Gleichgültig, welche Perspektive in der Interaktion von individuellen und politischen Akteuren eingenommen wird -sei es die persönliche Kompetenzerwartung oder die politische Kontrollerwartung -die Unterschiede zwischen Ost-und Westberlin sind gering.
Sowohl bei der persönlichen Kompetenzerwartung als auch bei der politischen Kontrollerwartung sind die Werte in Westberlin nur etwas höher als in Ostberlin. Wenn man lediglich die Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger mit ihrem Regime als Bezugspunkt nähme, dann hätte man diese Ergebnisse für Ostberlin zumindest für die externe Dimension nicht erwarten können. Immerhin waren die realen Einflußmöglichkeiten in der DDR extrem gering, und persönliches Engagement konnte fast ausschließlich nur in gesellschaftlichen Massenorganisationen und unter Führung der Partei stattfinden.
Neben diesen Erfahrungen dürften sich aber auch die Art und Weise ausgewirkt haben, wie sich der Zusammenbruch des DDR-Regimes und die weitere Transformation dieses Regimes zu einem demokratischen Staat vollzogen hat. Das Gefühl der Bürger, an diesem Prozeß beteiligt gewesen zu sein oder diesen sogar selbst herbeigeführt zu haben, hat offensichtlich Spuren in der grundlegenden Perzeption der Möglichkeiten der Bürger hinterlassen, aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen und dieses zu beeinflussen. In dieser Hinsicht läßt sich ein wesentlicher Unterschied zu den Anfangsjahren der Bundesrepublik feststellen, als die Einschätzung der Einflußmöglichkeiten auf lokaler und nationaler Ebene erheblich von der anderer westlicher Demokratien abwich und erst allmählich anstieg
Ein ähnliches Resultat wie bei der persönlichen Kompetenzerwartung und der politischen Kontrollerwartung zeigt sich bei der Bereitschaft der Bürger, spezifische politische Handlungsformen zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele anzuwenden. Die Bereitschaft zu konventioneller Beteiligung ist in Ostberlin höher als in Westberlin (Schaubild 5). Die Bereitschaft zu legal-unkonventioneller Beteiligung ist in Westberlin etwas höher, wenn man nur die höchste Kategorie berücksichtigt und in Ostberlin etwas höher, wenn man die Kategorien 3 und 4 zusammennimmt (Schaubild 6). Die Prozentsätze für konventionelle Beteiligung dürften im Falle Ostberlins aber etwas überschätzt sein, da bei den Fragen nach der Mitarbeit in einer Partei oder der Übernahme politischer Verantwortung durch die Antwortkategorie „habe ich bereits gemacht“ auch Personen erfaßt werden, die sich für das alte, undemokratische Regime engagiert haben. Insgesamt kann festgehalten werden, daß die Bereitschaft zu konventioneller und legal-unkonventioneller Beteiligung in Ost-und Westberlin ähnlich stark ausgeprägt ist.
Größere Unterschiede lassen sich hingegen bei Zivilem Ungehorsam feststellen (Schaubild 7): Während in Westberlin 22 Prozent der Befragten angaben, sich an illegalen Handlungsformen des Zivilen Ungehorsams beteiligt zu haben oder bei einer wichtigen Sache beteiligen würden, sind das in Ostberlin nur zehn Prozent. Dieser Unterschied wird noch deutlicher, wenn man „nicht genehmigte Demonstrationen“ ausnimmt, der einzigen Handlungsform des Zivilen Ungehorsams, bei der die Ost-und Westberliner dieselbe Beteiligungsbereitschaft aufweisen (31 Prozent in Ost-und Westberlin) Auch dieses Ergebnis ist unseres Erachtens überraschend. Offenbar haben die Erfahrungen in einem illegitimen System nicht zu einer größeren Bereitschaft geführt, bei einer „wichtigen Sache“ auch illegale Handlungsformen einzusetzen. Hier läßt sich möglicherweise ein systematischer Zusammenhang zu den relativ starken autoritären Orientierungen der Ostberliner herstellen, die eine psychologische Schwelle zur Überschreitung der Legalitätsgrenze errichten könnten.
Um so interessanter ist der Sachverhalt, daß repressive Handlungen des Staates von den Ostberlinem deutlich geringer befürwortet werden als von den Westberlinern (Schaubild 8). Die geringere Bereitschaft der Bürger Ostberlins, selber illegale Handlungsformen anzuwenden, geht demnach nicht mit einer höheren Bereitschaft einher, repressive Handlungen des Staates zu befürworten. Die konkreten Erfahrungen mit einem repressiven Staatsapparat dürften hier eine wesentliche Rolle gespielt haben, die durch den Machtverlust der Repressionsorgane nicht so ohne weiteres aufgelöst werdenkönnen.
V. Schlußfolgerungen
Abbildung 21
Schaubild 5: Bereitschaft zu konventioneller Beteiligung
Schaubild 5: Bereitschaft zu konventioneller Beteiligung
Die Bundesrepublik hat rund zwei Jahrzehnte benötigt, eine Staatsbürgerkultur herauszubilden, die sich mit denen der etablierten westlichen Demokratien vergleichen läßt. Wenn man hinsichtlich der Ausgangslage des Gebietes der ehemaligen DDR eine einfache Analogie zur Entwicklung der Bundesrepublik herstellt, dann ist eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Perspektive der politischen Kultur im vereinigten Deutschland angebracht. Die politisch-kulturelle Integration von immerhin fast 17 Millionen Bürgern mit einer Sozialisation in einem undemokratischen Staat könnte den mühsam erarbeiteten Fortschritt der politischen Kultur der Bundesrepublik wieder etwas zurückwerfen Zu diesem skeptischen Szenario bieten zumindest die von uns analysierten Daten relativ wenig Anlaß. Wenn man -in Anknüpfung an das theoretische Konzept der politischen Kultur -die subjektive Einschätzung der Bürger, Einfluß auf die Politik ausüben zu können, und die Bereitschaft, verfügbare Handlungsformen zu dieser Einflußnahme auch einzusetzen, als Kernelemente einer demokratischen politischen Kultur annimmt, dann kann man überraschenderweise kaum von einem unter-schiedlichen Entwicklungsstand in Ost-und Westberlin reden.
Die in den westlichen Ländern festgestellte hohe Bereitschaft zur Anwendung auch unkonventioneller Handlungsformen und die hohe generalisierte Motivation, sich politisch zu beteiligen, wurde als „partizipatorische Revolution“ bezeichnet. Wie alle empirischen Analysen zu diesem Thema zeigen, ist diese „partizipatorische Revolution“ das Resultat langfristiger struktureller und kultureller Wandlungsprozesse. Bei den Bürgern Ostberlins -und vermutlich auch denen der ehemaligen DDR insgesamt -gibt es offenbar auch eine solche „partizipatorische Revolution“, ohne daß hier wie in den westlichen Ländern die entsprechenden evolutionären Prozesse stattgefunden haben. Es müssen also andere Gründe eine Rolle gespielt haben. Diese könnten unter anderem in den sozialisatorisehen Transfereffekten liegen, die durch die -über die Massenmedien erfolgte -intensive Wahrnehmung der Ereignisse in der Bundesrepublik verliefen. Vor allem aber muß hier die Erfahrung der DDR-Bürger, durch eigene Aktivitäten die „friedliche Revolution“ herbeigeführt zu haben, genannt werden. Auch wenn sich der Effekt dieser selbst herbeigeführten „Revolution“ durch die Alltagserfahrungen im vereinigten Deutschland wieder etwas abschleifen sollte, zeigen doch Beispiele aus anderen Ländern, daß solche dramatischen Ereignisse nachhaltige Wirkungen auf die politische Kultur haben können.
Die Frage der längerfristigen politischen Auswirkungen des relativ hohen Anteils an entfremdeten und autoritären Bürgern in Ostdeutschland ist schwieriger zu beantworten. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß es sich bei Entfremdung und Autoritarismus um tiefsitzende Persönlichkeitsmerkmale handelt, die Prädispositionen für politische Einstellungen und Verhaltensweisen darstellen, dann sind diese auch in neuen strukturellen Kontexten nicht kurzfristig zu transformieren. Insofern wird einerseits auf nicht absehbare Zeit das Potential für eine autoritäre Politik in Gesamtdeutschland verstärkt; andererseits hängt die Umsetzung eines solchen Potentials entscheidend von den Angeboten ab, die die konkurrierenden kollektiven Akteure der Politik den Bürgern liefern. Es kann vermutet werden, daß die relativ stabile politische Konfliktstruktur der Bundesrepublik die Umsetzungschancen dieser Prädispositionen eher minimiert und daß von daher auf die Dauer auch korrigierende Sozialisationseffekte auf diese Entfremdungs-und Autoritarismuspoten-• tiale erfolgen.
Dieter Fuchs, Dr. phil., geb. 1946; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB. -Veröffentlichungen u. a.: Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1989; (Mithrsg.) Continuities in Political Action, Berlin-New York 1990. Hans-Dieter Klingemann, Dr. rer. pol., geb. 1937; Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, Direktor der Abteilung „Institutionen und Sozialer Wandel“ am WZB. -Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Max Kaase): Wahlen und politisches System, Opladen 1983; Wahlen und politischer Prozeß, Opladen 1986; Wahlen und Wähler, Opladen 1990. Carolin Schöbel, Dipl. -Pol., geb. 1964; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Die Verarbeitung von Krisenfaktoren im soziopolitischen System Berlins“ (Berlin-Projekt 1990) am WZB.
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