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Die pragmatischen Deutschen Zum Staats-und Nationalbewußtsein in Deutschland | APuZ 32/1991 | bpb.de

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APuZ 32/1991 Artikel 1 Die pragmatischen Deutschen Zum Staats-und Nationalbewußtsein in Deutschland „Ein unbekanntes Land“ -Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden in Ostdeutschland Perspektiven der politischen Kultur im vereinigten Deutschland. Eine empirische Studie

Die pragmatischen Deutschen Zum Staats-und Nationalbewußtsein in Deutschland

Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wie denken die Deutschen über sich selbst? Welches Bild haben die West-und die Ostdeutschen von ihrem Staat und ihrer Nation? Die Einstellungen zum Staat und zur Nation werden in der vorliegenden Untersuchung mit Alltagseinstellungen in zentralen Lebensbereichen verknüpft. Die Grunddispositionen sind ambivalent: Die Deutschen lieben Mobilität und Reisen, Erlebnishunger und bunt-kreative Selbsterfüllung; gleichzeitig suchen sie die Sinnbefriedigung in überschaubaren Sinnzusammenhängen, Glück in Bindungen. Die Gesamtschau dieser Profilschichten der Nation lassen sich als ausgeprägter Pragmatismus kennzeichnen. Die Westdeutschen sind demokratischer geworden. Sie engagieren sich für ihr stabiles politisches System, jedoch ohne Leidenschaft. Die Demokratie ist für sie nicht nur eine Staatsform, sondern viel umfassender vor allem eine Lebensweise. Für die Bürger der ehemaligen DDR hat sich der institutioneile Lebensraum aufgelöst. Zum Vorschein kommt, trotz größter Emanzipationsleistungen während der Umbruchphase, eine politisch-kulturelle Wertekontinuität kleinbürgerlicher Traditionen in Deutschland. Diese obrigkeitsstaatlich geprägte, kleinbürgerliche Wertesubstanz wie Etatismus, unpolitische Innerlichkeit, Konflikt-scheu, Formalismus, Sicherheitsbedürfnis und das hohe Potential an Ausländerfeindlichkeit schwächen sich angesichts wachsender Pluralisierung, Differenzierung und Internationalisierung vermutlich ab. Mit der Einheit wird klarer, für welche nationale Gemeinschaft die Deutschen das politische System betreiben. Indem die Nation am Ende der Teilung zur Alltäglichkeit wird, kehrt Normalität ein. Vieles deutet auf eine pragmatische Gegenwartsgebundenheit der Profile der Deutschen: Sie sind eingebunden in den Westen, demokratisch, national saturiert, verläßlich.

Der Beitrag ist ein überarbeiteter Vorabdruck aus dem in Kürze im Verlag Klett-Cotta erscheinenden Buch: Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf Korte, Die Deutschen -Profil einer Nation, Stuttgart 1991.

I. Vorbemerkungen

Wie denken die Deutschen über sich selbst? Welches Bild haben die West-und Ostdeutschen von ihrem Staat und ihrer Nation? Wie definieren sie ihren Standort? Welches Verständnis haben sie von Politik und Kultur, von Heimat und Europa? Diese Fragen zum Profil der Nation besitzen durch den Prozeß der deutschen Einheit ein neues Gewicht. Zuverlässige Antworten sind gefragt.

In einer ersten umfassenden, systematischen Darstellung von empirischen Forschungsergebnissen der bis zum Frühjahr 1991 erhobenen Daten, Befunde und Argumentationslinien zum Staats-und Nationalbewußtsein in Deutschland ermittelten wir zentrale Merkmale der aktuellen Schichten von Gemeinschaftsorientierungen in Deutschland Die neuen Ergebnisse hängen jedoch nicht nur ursächlich mit dem Prozeß der Einheit und der Einbeziehung der Ostdeutschen in das Gesamtprofil der Deutschen zusammen. Der Reiz und die Originalität der Untersuchung liegen in der Verbindung der verschiedenen Schichten unserer Selbstwahrnehmung: Die Einstellungen zum Staat und zur Nation werden mit Alltagseinstellungen in zentralen Lebensbereichen verknüpft. Die komplizierten Dimensionen unserer Gemeinschaftsorientierung vom Kleinen zum Großen, vom Individuellen zum Kollektiven, vom Privaten zum Öffentlichen kommen so zum Vorschein. Aus ihnen setzt sich insgesamt das Profil der Nation zusammen Viele Reaktionen im Umfeld der Diskussion um die Einheit Deutschlands erhalten so ihre verständliche Einordnung. Zahlreiche weiterführende Überlegungen zur neuen Rolle der Deutschen in Europa bauen auf den Schichten des Gesamtprofils der Deutschen auf.

Die Einstellungen im vereinten Deutschland sind differenziert. Auch die methodisch-analytischen Zugänge zum Datenmaterial West und Ost können nicht als gleichgewichtig gewertet werden. Zuverlässige und langfristige Trendbeobachtungen aus jahrzehntelang erhobenem empirischen Datenmaterial sind nur für Westdeutschland möglich. Die Daten aus Ostdeutschland sind eher punktuell zu betrachten und erfassen in dichter Form erst den Zeitraum seit Herbst 1989 Quantifizierungen sind daher nur höchst sensibel vorzunehmen. Anders verhält es sich jedoch im Bereich qualitativ gewonnener Einstellungsdaten. Die Befindlichkeiten der Deutschen in den neuen Bundesländern, ihre Hoffnungen, Befürchtungen, Einstellungen sind mit diesen qualitativ unterstützenden Methoden durchaus prägnant herauszufiltern. In Kombination mit quantifizierbaren Umfrageergebnissen sind die Interpretationen durchaus aufschlußreich Doch welche Gemeinschaftsorientierung, welches Profil haben die Deutschen? Um dies zu beantworten, betten wir den Kembereich der Einstellungen zum Staat und zur Nation in einen zweifachen Kontext ein; denn Staats-und Nationalbewußtsein sind nur Varianten eines allgemein gesellschaftlichen Bewußtseins:

-Wir fragen nach den Grunddispositionen in ausgewählten zentralen Lebensbereichen wie Ehe und Familie, Arbeitswelt und Freizeit, nach Technikakzeptanz und Umweltschutz; Kirche, Religion und Gesellschaft; der Lebens-zufriedenheit und dem Sicherheitsbedarf. -Wir fragen nach regionalen, europäischen, transnationalen Einstellungsprofilen.

Erst dieses Umfeld erschließt die eigentliche Dimension des Profils der Deutschen.

IL Ambivalente Grunddispositionen

Zur Beantwortung der Frage, wie die Deutschen über sich selbst denken, werden von Person zu Person andere Kriterien herangezogen. Doch trotz großer Unterschiede in der individuellen Bewertung der Lage gibt es auch Gemeinsamkeiten: Mehrheitlich stehen zunächst das eigene Befinden, die subjektiven Einstellungen und Lebensziele im Mittelpunkt. Diese Grunddispositionen wirken wie ein Filter, durch den die Aufnahme und die Bewertung der Alltagsrealität -auch des Staats-und Nationalbewußtseins -erfolgen. Den Grund-dispositionen kommt deshalb eine zentrale Orientierungsleistung zu.

Bevor in einzelnen Aspekten eine Zusammenfassung der primär quantitativ erhobenen Befunde erfolgt, wollen wir zunächst ein Mosaik ausmalen. Das Groß-Puzzle läßt sich nur mit Mühe zusammensetzen, weil Vielfalt und Widersprüche dominieren. Da finden sich zunächst einmal die Jedermanns, die gerade auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Individuellem und Kollektivem, zwischen Beruf und Freizeit sind. Sie bevorzugen in West und Ost gleichermaßen das geordnete, harmonische Familienleben, halten traditionelle Werte wie Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Zielstrebigkeit hoch. Beschaulichkeit und Romantik verbinden die Zurückhaltung gegenüber allzuviel Neumodischem. Dennoch: Das Leistungspathos verringerte sich insgesamt, traditionelle Moralvorstellungen lockerten sich. Die Westdeutschen sind weitgehend selbstzufrieden in der saturierten Wohlstandsgesellschaft. Sie genießen und konsumieren die Freiheiten des politischen, ökonomischen und sozialen Systems, haben einen ausgeprägten Sinn für Umwelt-und Sozialverträglichkeit aller Handlungen. Man ist gerne Deutscher und zugleich stolz auf die Errungenschaften der Demokratie, zumal der Umbruch in der DDR und in ganz Osteuropa selbstbestätigend wirkte: „Wir wußten schon immer, daß wir im besseren System leben.“

Man freut sich im Westen über die Einheit und bewundert die Revolutionsleistung der Ostdeutschen. Doch finanzielle Opferbereitschaft für die Einheit? -„Nein, das geht doch zu weit.“ Die Ostdeutschen wollen das Wirtschaftswunder in Monaten nachholen. Die komplette Westwendung verspricht Heilung -doch nur langfristig. Im Augenblick herrschen Niedergeschlagenheit, Verdrossenheit, Ziellosigkeit. Man kämpft in West und Ost gleichermaßen für lokal-regionale Belange und ist eher Zuschauer bei fernen dramatischen Aktionen. Man steht zu emanzipatorischen Anstößen und postmateriellen Lebensgenüssen, sucht allerdings den Mittelweg. Pauschal-Arrangements sind en vogue: langfristig geplant, risikolos, im vertrauten Metier, meist in Gruppen-Geborgenheit, sicherheitshalber.

Daneben, oft ohne schroffe Übergänge, wandeln die vielen bunten Typen der Stand-by-Gesellschäft: Große Bevölkerungsteile reagieren heute in allen ihren Entscheidungen spontaner und schneller, oft beliebiger, immer individuell und besonders eigenverantwortlich. Vieldeutigkeit macht sich breit. Ein rascher Wechsel von Themenkonjunkturen und unterschiedlichen, situationsspezifischen Problemwahrnehmungen ist zu beobachten. Der Umgang mit Politik wird spielerischer. Die Orientierung an Politik erscheint punktuell, situativ, kontextabhängig, erlebnis-und betroffenheitsorientiert. Insgesamt ist diese Collage-Gesellschaft als Ganzes geprägt von einer Gratwanderung zwischen Individualisierung und Sicherheit. Das alles hängt mit Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext zusammen, die richtungweisend unsere Grunddispositionen in allen Lebensbereichen -also auch dem politischen -bestimmen. Es handelt sich um die Pluralisierung der Lebensstile und die Werte des neuen Individualismus. Gerade diese Strömungen lassen eher eine pragmatisch als idealistisch begründete Zustimmung zur Demokratie wachsen. Der Konsens im Staatsbewußtsein und der Gemeinschaftsorientierung der Deutschen muß so auf private Lebensentwürfe, auf gleichartige individuelle Zielsetzungen abzielen, weniger auf übergreifende Ideen.

Mit dem Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten pochen viele auch aufeinen Zugewinn an individueller Gestaltungskompetenz. Ein Identitäts-Management wird jedem abverlangt, der eine eigenwillige Verknüpfung und Kombination verschiedener Realitäten und Rollen sucht. Hierin steckt das wichtige Potential an kritischer Eigenständigkeit. Hierin verbirgt sich auch moderne, pluralistisch-demokratische Lebensweise.

Modernisierung und Krise verspüren die meisten jedoch als doppeldeutigen Prozeß: als Verlust alter Sicherheiten und sozialer Muster, denen keine neuen Eindeutigkeiten folgen. Kehrseiten zeigen sich: Der Wandel, der es ermöglichte, daß wir menschenunwürdige Abhängigkeiten abstreifen, der freier, beweglicher und offener macht, dieser Wandel strapaziert zugleich unsere Flexibilität. Es ist ein altes Thema, sich auf dem Markt der Identitätsofferten zurechtzufinden. Doch die Herausforderung ist für die meisten offenbar ein akzeptabler Preis der Demokratie.

Für die Ostdeutschen bleibt dies eine besonders schwer zu nehmende Hürde. Eine Vielzahl gleichberechtigter Optionen hat es bisher für sie nicht gegeben, und die ehemals verpflichtenden Werte haben sich innerhalb weniger Wochen als ruinös herausgestellt.

Antworten auf diese auch modernitätsbedingten Herausforderungen und individuelle Auswege liegen oft auf unterschiedlichen Ebenen. Geschichtsbewußte Heimatnostalgie und regionale Selbst-findung sind Beispiele für Auswegsuche. Parallel dazu hat jedoch in den achtziger Jahren in Westdeutschland das Ästhetische, das Design, moderne Ersatzfunktionen übernommen. Die Eigenart des ästhetischen Scheins suggeriert dabei meist einen einfachen Ausweg. Insbesondere die jüngere Generation schert sich wenig um die Sinnstiftungsbemühungen und verblaßten Utopien der Studentenrevolte. Individualität soll aus der Differenzierung mittels Ästhetik erwachsen. Diese Gegenbewegung zur Protestgeneration liebt die Ausstattung und das Inszenierte, das So-tun-als-ob, die Simulation.

Das Bild bleibt ambivalent: Die Deutschen lieben Mobilität und Reiselust, Erlebnishunger und bunt-kreative Selbsterfüllung. Gleichzeitig suchen sie die Sinnbefriedigung in überschaubaren Sinnzusammenhängen, nach Glück in Bindungen, die manchmal sogar in freiwillig gesuchter Pflichterfüllung gegenüber sich selbst neue Bindungswünsche offenlegt. Diese Gesamtschau aushalten und ausleben kann man nur mit einem ausgeprägten Pragmatismus. Die Profilschichten der Nation tragen deshalb das besondere Kennzeichen , pragmatisch 4. Die pragmatischen Deutschen rechtfertigen auch den Ansatz der Gesamtuntersuchung: Die Gemeinschaftsorientierung der Deutschen hat viele sich wechselseitig bedingende Facetten. Die Über-gänge sind fließend: Auf die Politik verlagert sich der gesellschaftliche-Erwartungsdruck; lebensweltliche Argumentationsmuster bestimmen auch die Diskussion über politische Sachverhalte, also eine Bezugnahme auf subjektive Lebensformen, Werte, Bedürfnisse, Identitätsansprüche. Betroffenheits-Engagement ist Ausdruck dieser Subjektivierung von gesellschaftspolitischen Zusammenhängen. Doch demokratische politische Kultur braucht diese Verankerung in den Grunddispositionen. Nur wenn hier Raum für Verantwortung, Eigeninitiative, Selbsterfüllung und Streitkultur gegeben ist -was unsere Ergebnisse für die Deutschen durchaus bestätigen -, kann das gleiche auch in der Politik zum Tragen kommen.

Zu den zentralen, vorwiegend quantitativ ermittelten Trends in den drei Bereichen: Grunddispositionen; Bürger und Staat; Region, Nation, Europa sowie zu wichtigen Perspektiven gehören die folgenden Aspekte.

III. Modell Deutschland

Historische Zäsuren im Selbstverständnis der Westdeutschen hingen schon immer mit Veränderungen im bzw. zum anderen Teil Deutschlands zusammen Wenn mittlerweile in kürzester Zeit-2 spanne die Einheit für die Deutschen in West und Ost zum alltäglichen Bestand der Selbstwahrnehmung geworden ist, dann ist dies ein wichtiger empirischer Beleg dieses Befundes. Er war in dieser Form nicht zu erwarten. Denn nie zuvor wurden zwei Staaten mit derart entgegengesetzten politischen Systemen nahezu übergangslos mitein5 ander verbunden Zu einem Zeitpunkt, als die Einheit in ihr schwieriges Stadium des Alltags tritt, ist deutlich geworden, wie stark die Kultumation in vier Jahrzehnten weitergewirkt hat. Dennoch: Einheit bedeutet nicht Einigkeit. Verschiedene Erfahrungsbereiche und Lebensgefühle sind in jeder Gesellschaft spezifisch anders ausgeprägt gewesen. So ist mit der schnellen und willkommenen Konsumierung des Einheits-Alltags nicht nur das Ausmaß der Gemeinsamkeiten, sondern auch das der Verschiedenheit klarer geworden. Noch existieren zwei Gesellschaftsstrukturen nebeneinander in einem Land. Wie bei einem lang ersehnten Familientreffen folgt auf die erste Begrüßungseuphorie und den raschen gegenseitigen Informationsaustausch die Phase der Ernüchterung. Unterschiede und Gegensätze sind nur durch Gewöhnung bei gegenseitigem Respekt und Toleranz auszuhalten. Nur mit viel Geduld und Aufklärung kann man die mentalen Mauern abtragen, wie es 1982 Peter Schneider im Roman „Der Mauerspringer“ thematisierte: „Die Mauer im Kopf einzureißen, wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht.“

Die DDR war jahrzehntelang Vergleichsgesellschaft, zu der die Bundesrepublik eine demokratische Gegen-Identität entwickelt hatte. Sie war oft legitimatorischer Kontrast zur Rechtfertigung bundesrepublikanischer Verhältnisse. Es gehörte zur Identität der Westdeutschen, daß man im besseren Deutschland lebte. Und jetzt? Was wird ohne diese Hilfe zur Selbsteinordnung? Kann sich die Bundesrepublik auch ohne diese Negativ-Folie definieren? Bis jetzt erweist sich, daß die neue, vergrößerte Bundesrepublik das offenbar nicht mehr nötig hat. Sie kann ganz gut ohne dieses Visavis leben. Doch langfristig muß sie vermutlich stärker als bisher eine aus sich selbst heraus definierte Standort-Identität herausarbeiten.

Das Profil der Gemeinschaftsorientierung der Westdeutschen hat sich durch den Prozeß der Einheit nicht fundamental geändert. Trotz Suchbewegungen nach neuen, auch national beschreibbaren Standortverankerungen lockert sich nicht die Westbindung. Nach über vierzig Jahren gehört es zum Konsens, daß man der Zugehörigkeit zum Westen Sicherheit und Wohlstand verdankt. Bisher driftet eher der Osten nach Westen als umgekehrt. Der einstige sozialistische Ostblock folgt dem Modernisierungssog des Westens. Auch Neutralitätskonzepte, Brücken-und Mittlerfunktionen, gar Sonderwege fanden in der Umbruchphase nur geringe Beachtung. Die Ostdeutschen wollen vielfach westdeutsch werden, ohne jedoch sich selbst zu verleugnen. Der Westen füllte das Vakuum nach dem revolutionären Zusammenbruch des Systems. Pragmatisch wollten die Ostdeutschen nicht etwas völlig Neues verwirklichen, sondern das haben, was der Westen schon immer hatte. Keine neue Utopie, sondern das relativ Bessere -und zwar sofort. Das waren wichtige Ziele.

Der Prozeß der Einheit zeigt bis zum jetzigen Zeitpunkt, daß nicht etwas gemeinsames Neues aus der Bundesrepublik und der DDR entstanden ist. Vielmehr hat sich auch im Bewußtsein der West-und Ostdeutschen die alte Bundesrepublik erweitert: Aus zwei ungleichen Hälften erwuchs ein größeres Ganzes. Die alte Bundesrepublik Deutschland ist weitgehend das Modell Deutschland: Verfassung, Gesetze, D-Mark, Sozialsystem, politische Institutionen, Föderalismus gelten nun ebenso für das Gebiet der ehemaligen DDR.

Auch aus praktischer Notwendigkeit hat sich die Einheit als Anpassung einer Ordnung an die andere erwiesen. Das Gebiet der ehemaligen DDR ist dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten. Für die Deutschen ist dabei die neue, vergrößerte Bundesrepublik die einzig denkbare staatliche Hülle der deutschen Nation. Die Deutschen sind saturiert. Doch unverkennbar trägt diese Vereinigung auch Züge einer Eingemeindung der Ostdeutschen durch die Westdeutschen, die nicht bereit sind, die Einheit in den Kontext eines historischen Gezeitenwechsels einzuordnen. Die beiden Gesellschaften werden jedoch erst zusammenwachsen, wenn individuell klarer wird, warum die Deutschen zusammengehören.

Deutschland schloß sich das erste Mal in seiner Geschichte nicht gegen, sondern mit der Zustimmung seiner Nachbarn zusammen. Deutschland ist dabei fest integriert in westliche Bündnissysteme. Der deutsche Weg hat einen wichtigen Zielpunkt erreicht, denn Einheit und Freiheit sind erstmals gleichermaßen verwirklicht in einem veränderten Europa, das sich wieder selbst eine Ordnung geben kann. Die Teilung Europas war seit dem Zweiten Weltkrieg ein völlig neues Element in der europäischen Geschichte. Jetzt erst taucht die alte Struktur Europas wieder auf Europa kann die Einheit oder die Vielheit wählen. Mit den Bildern aus Osteuropa kehren auch die alten Erfahrungs-und Handlungsräume ins europäische Bewußtsein zu-rück. West-und Osteuropäer fangen an, wieder in historischen und regionalen Lebenszusammenhängen zu denken, nicht bloß in Bündnissen.

IV. Zuteilungs-und Wettbewerbsmentalität

In fünf ausgewählten zentralen Lebens-und Einstellungsbereichen: Ehe und Familie; Arbeitswelt und Freizeit; Technikakzeptanz und Umweltschutz; Kirche, Religion und Gesellschaft; Lebens-zufriedenheit und Sicherheitsbedarf sind die Grunddispositionen trotz veränderter Wertestruktur und sozialstruktureller Differenzierungen durch ein hohes Maß an Stabilität und Konstanz geprägt. Auf der Wichtigkeitsskala der West-und Ostdeutschen nehmen Ehe und Familie, Gesundheit und Sicherheit, materieller Wohlstand und persönliche Unabhängigkeit unverändert einen hohen Rang ein. Der objektiven Stabilität des ökonomischen, sozialen und politischen Systems in Westdeutschland entspricht das konstant hohe Maß an Lebenszufriedenheit

Das gilt nicht in gleichem Maße für Ostdeutschland. Soweit zuverlässiges Datenmaterial vorliegt, läßt sich zwar kein durchgehend gravierender Unterschied bei den Grunddispositionen zwischen den West-und den Ostdeutschen feststellen. Doch die jeweils feststellbaren Unterschiede hängen maßgeblich mit dem Grad der Modernisierung und Industrialisierung sowie dem jeweiligen Wirtschaftssystem zusammen. In dem Maße, wie sich die soziale Marktwirtschaft auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR etabliert, nehmen die Parallelen zu den westdeutschen Grunddispositionen zu. Bisher sind allerdings noch die objektiven Lebensbedingungen in West-und Ostdeutschland sehr unterschiedlich. Gerade die Ergebnisse aus dem Bereich der Wohlfahrtsforschung dokumentieren anschaulich die deutlichen Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden. Doch die Rangordnungen der Zufriedenheiten mit einzelnen Lebensbereichen gleichen sich in Ost und West, allerdings auf zum Teil sehr unterschiedlichem Niveau Dies ist um so erstaunlicher, als es sich um zwei deutlich divergierende Gesellschaftssysteme der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR handelt.

Ein Beispiel aus dem Bereich Arbeitswelt und Freizeit mag das illustrieren: Die Fragen nach der Arbeitsorientierung und der Arbeitszufriedenheit müssen in Ostdeutschland vor dem Hintergrund der jahrzehntelang prägenden Planwirtschaft völlig anders bewertet werden. Wenn heute wesentlich mehr Menschen in Ostdeutschland als im Westen angeben, daß die Arbeitszeit zu den „liebsten Stunden des Tages“ gehört dann spiegelt das auch gleichzeitig Ängste wider über die ungewisse Zukunft des Arbeitsplatzes. Über die Arbeitsmoral geben die Daten zunächst wenig Auskunft.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach dem Lebensziel. Im Westen erklärten im Jahr 1990 insgesamt 42 Prozent, sie wollten „ihr Leben genießen und sich nicht mehr abmühen als nötig“, im Osten äußerten dies nur 21 Prozent Erfahrungen westdeutscher Bildungsträger in den neuen Bundesländern kommen jedoch zu ganz anderen Schlußfolgerungen, die bei diesen dichotomisierten Fragestellungen nicht ermittelt werden können.

Die Jahrzehnte des Sozialismus hinterließen nicht nur tiefe Spuren, die angeblich die Arbeitsmoral im traditionellen Sinne konservierten. Vielmehr verlangte die Kommandowirtschaft ein hohes Maß an Untertänigkeit des einzelnen Arbeitnehmers. Wer ohne zu kritisieren den Alltag ertrug, hatte ein ruhiges Arbeitsleben, das zwar initiativlos, aber in sozialer Hinsicht auch ohne Existenzängste war. Risikofreudigkeit und Eigeninitiative zahlten sich weder im Berufsleben noch im politischen Alltag aus. Die Kehrseite der sozialen Sicherheiten bestand eben nicht nur in der Ausprägung von Untertanenmentalitäten, sondern auch in ökonomischer Ineffizienz Waren die Ostdeutschen bisher gewohnt, daß alles , oben‘ für sie entschieden worden ist, so wird jetzt erwartet, daß sie selbst die Initiative ergreifen. In dem notwendigen Wandel von einer Zuteilungs-zu einer Wettbewerbsmentalität liegen nicht nur die Chancen des wirtschaftlichen Aufbaus, sondern auch die Chance für die rasche Entwicklung einer politischenMarktorientierung, die für eine pluralistische Ge- notwendig ist. Doch vierzig antrainierte Unselbständigkeit lassen sich nicht einfach abschütteln. Der Wandel von Besellschaftsordnung zu eigeninitiativ und selbstbeJahre handelnden Arbeitnehmern braucht Zeit.

V. Pragmatische Demokratiezufriedenheit

Das Staatsbewußtsein der Westdeutschen ist charakterisiert durch eine positive Identifikation mit der politischen Ordnung der Bundesrepublik unter dem Einschluß ihrer marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Elemente. Es ist eine pragmatisch-problemorientierte und zugleich positive Einschätzung, keine idealistische oder utopische. Das Staatsbewußtsein ist schwerpunktmäßig an den konkreten Lebensverhältnissen orientiert.

Folgende Ergebnisse präzisieren den Befund:

-Internationale Vergleiche zeigen, daß die Systemakzeptanz in der Bundesrepublik, gemessen an den westlichen Demokratien, sehr hoch ist. Die demokratische Regierungsform, parlamentarische Verfahrensweisen, Mehrparteiensystem und Parlament sind zu selbstverständlichen Bestandteilen der politischen Ordnung geworden

-Die hohe und stabile Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik ist vom Grad der individuellen Betroffenheit und Interpretation mit abhängig, konkret von der ökonomischen Lageeinschätzung, den politischen Parteipräferenzen und politischen Wertorientierungen

-Bei der Entwicklung der hohen Akzeptanz des politischen Systems der Bundesrepublik durch seine Bürger kam der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem wachsenden Wohlstand eine dominierende Rolle zu. Diese Kombination von wirtschaftlichem Wohlstand und Prosperität für viele bei gleichzeitiger Stabilität und dem Ausbau der demokratischen Institutionen war das Erfolgsrezept der hohen Systemakzeptanz und der gewachsenen Loyalität gegenüber der demokratischen Staatsform. Die problemorientierte Einschätzung des politischen Systems wird deutlich, wenn man nicht primär nach der allgemeinen Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie fragt, sondern spezifische Indikatoren des Beziehungsfeldes Bürger und Staat herausarbeitet. Das Bedürfnis nach mehr politischer Beteiligung ist gewachsen. Die Einstellungen zur Notwendigkeit und zu den Erfolgsaussichten politischer Beteiligung haben sich verändert. Dieses aktive Legitimitätseinverständnis wird überlagert von einer deutlich kritischen Haltung zur Politik und sogar Distanzierungsbemühungen von der Politik. Vor allem jener Teil der jüngeren Generation in Westdeutschland, der höhere Bildungsgänge durchlaufen hat, deckt die Funktionsdefizite des politischen Systems deutlich auf

Diese Kritik an spezifischen Indikatoren -wie gegenüber den Parteien, der Regierung, den Politikern und Institutionen des öffentlichen Lebens -markiert eine neue politische Konfliktlinie, die wiederum auf breite Zustimmung stößt. Die Artikulation dieser Kritik ist Ausdruck eines deutlichen Zurücktretens obrigkeitsstaatlicher Einstellungen und Verhaltensdispositionen in Westdeutschland. Sie ist aber auch ein Beleg für veränderte Wertorientierungen. Denn vielfach bricht sich in dieser Kritik ein eher postindustrielles Selbstverständnis Bahn: Die freie Selbstbestimmung und die vom quantitativen Wachstumsprozeß abgelöste Idee der Lebensqualität sind der Bewertungsmaßstab für politische Prozesse.

Nicht nur das politische Interesse ist gewachsen, auch die Formen der Beteiligung haben sich diversifiziert. Passive Politikorientierung ist von aktiver Unterstützung abgelöst worden. Die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten der politischen Beteiligung ist gestiegen. Dennoch: Politikverdrossenheit resultiert gerade oftmals aus fehlenden Partizipationschancen. Mit den partizipativen Orientierungen steigt auch die Bereitschaft zum Widerspruch. Immer mehr Bundesbürger sind nicht bereit, sich von Staats wegen verplanen zu lassen. Ihr Mitgestaltungswille ist um so intensiver, je direkter sie betroffen sind. Bürgerinitiativen, Friedens-und Umweltbewegungen oder die neuen sozialen Bewegungen belegen dies. Dieser Trend knüpft an die Befunde zu den individuellen Grunddispositionen an. Denn viele Protestwählerstellen grundsätzliche Fragen: nach dem Zustand des parlamentarischen Systems und der Altparteien, den Rekrutierungsmechanismen von Mandatsträgern, nach der Plausibilität der Hoch-rüstung und des Militärbündnisses, schließlich nach den Interessenverflechtungen von Industrie, großen Interessenverbänden und der Politik. Das alles hängt mit einer anderen Veränderung im gesellschaftlichen Leben zusammen: Allenthalben ist ein deutlicher Rückgang von Loyalitäten und Bindungen wahrzunehmen. Schließlich begegnen auch staatliche und politische Institutionen (Polizei, Bundeswehr und Parteien) einem breiten Vertrauensentzug. Am besten stehen noch die Gerichte da, insbesondere die obersten Instanzen, wenngleich auch die Justiz und ihre Verfahrensregeln von den Jüngeren mit Skepsis bedacht werden Dies alles kann man auch positiv bewerten. Der Vertrauensschwund und die abnehmende Bindungsbereitschaft sind nämlich auch als ein Ergebnis von wachsendem Unabhängigkeitsbewußtsein und politischer Sensibilität zu deuten. Ein starker Drang zur Eigenständigkeit kommt da zum Vorschein. Die Grundloyalität zum Gemeinwesen bleibt davon meist unberührt.

Die Bindungen der Westdeutschen an ihr politisches System sind hoch. Es genießt eine breite Identifikationsbasis. Diese moderne Identifikation ist nicht eindimensional; sie hat mehrere Quellen. Postnationale, verfassungspatriotische Elemente finden sich darin ebenso wie traditionell an nationalstaatlicher Symbolik ausgerichtete Elemente. Wie tiefgreifend diese Identifikation mit dem Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland ist, zeigt auch die Diskussion über den Modus der Einheit beider Staaten in Deutschland. Für die Mehrheit der Westdeutschen war die Gesamtheit des politischen Gemeinwesens der Bundesrepublik die einzig akzeptable Grundlage für die Vereinigung mit der DDR: In der Vorstellung der meisten wurde so die Bundesrepublik geographisch auf die DDR ausgedehnt, lange bevor dies auch dem staatlichen Prozeß des Beitritts der DDR in der Realität entsprach. Inwieweit bei den Ostdeutschen nun eine neue Identifikation mit dem demokratischen politischen System entstehen kann oder bereits entstanden ist, bleibt weiter untersuchungsrelevant. Die Ergebnisse der Umfragen aus dem Jahr 1990 zeigen, daß mit der Einheit auch die Zustimmung zum demokratisch-parlamentarischen System in Deutschland deutlich angewachsen ist. Die alte Bundesrepublik scheint nachgerade geadelt zu sein. Schon jetzt muß davor gewarnt werden, die empirischen Zeitreihen 1991/92 falsch zu interpretieren: Mit Sicherheit wird sich die Demokratiezufriedenheit erneut auf ein etwas niedrigeres Niveau einpendeln, vermutlich vergleichbar mit den Jahren 1988/89. Dies kann dann nicht vorschnell als Staatsverdrossenheit interpretiert werden, sondern ist vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation des Jahres 1990 zu werten.

Die Westdeutschen sind demokratischer geworden. Sie engagieren sich für ihr stabiles politisches System, jedoch ohne Leidenschaft. In kühler Konklusion bejahen sie den Wirtschaftspatriotismus ebenso wie den Verfassungskonsens. In ihrem ausgeprägten Pragmatismus ist für vieles Platz: für sozialtemperierten Individualismus, Wohlstands-Stolz, den Hang zum Populismus, aber auch für traditionell autoritäre Restbestände an defizitärer politischer Kultur. Die Mehrheit der heutigen Westdeutschen kam nach Gründung der Bundesrepublik auf die Welt. Die Demokratie ist für sie nicht nur eine Staatsform, sondern viel umfassender vor allem eine Lebensweise, die sie unter keinen Umständen missen wollen. Es ist eine kritische Loyalität, die sich eigene Spielräume stets offenhalten will. Aber insgesamt bildet dieses pragmatische Durchlavieren nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten auf individueller Basis eine plural abgefederte und krisenfeste „Stabilitätsreserve für das politische System“

Das hohe Niveau der Systemzufriedenheit in Westdeutschland ist auch im Kontext von politisch-kulturellen Traditionsströmen in Deutschland zu bewerten. Trotz partizipativer Revolution gibt es weiter Restbestände obrigkeitsstaatlich-etatistischer Grundorientierungen der Deutschen. Auch Züge des Fundamentalismus machen sich breit: Gesellschaftlich wächst das Unbehagen über Heterogenität, über ein Leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Kulturell entdecken die Deutschen Sehnsüchte nach Simplizität und Populismus.

Für die Bürger der ehemaligen DDR hat sich der institutioneile Lebensraum aufgelöst. Zum Vorschein kommt -trotz größter Emanzipationsleistungen während der Umbruchphase -eine politisch-kulturelle Wertekontinuität kleinbürgerlicher Traditionen in Deutschland Diese obrigkeits- staatlich geprägte, kleinbürgerliche Wertesubstanz wie Etatismus, unpolitische Innerlichkeit, Konfliktscheu, Formalismus, Sicherheitsbedürfnis und das hohe Potential an Ausländerfeindlichkeit schwächen sich angesichts wachsender Pluralisierung, Differenzierung und Internationalisierung vermutlich ab. Es bleibt zum jetzigen Zeitpunkt offen, ob diese autoritären Politikmuster stärker gesamtdeutsch zum Tragen kommen oder ob die Westdeutschen ihre liberaldemokratischen Errungenschaften engagiert ausbauen. Immerhin ist die Demokratie in Westdeutschland zur Lebensweise geworden. Die Westdeutschen werden keinen Preis zahlen für rückwärtsorientierte Tendenzen, die ihren individuellen Glückserwerb erschweren und Freiräume begrenzen. Doch sicherlich werden wir auf Jahre im vereinigten Deutschland Regionen unterschiedlicher Wertstrukturen haben. Die Reduktion auf kleinräumliche Beziehungen, der Wille zum Ausbau der privaten Existenz, das Auswandern aus der Geschichte durch Kompensationsangebote, wie zum Beispiel die Westwendung, werden die Wertehierarchie der ehemaligen DDR-Bürger weiterhin bestimmen.

VI. Modernisierungsschock

Der schonungslose Druck der Modernisierung in Ostdeutschland führt schneller und abrupter, als es in der ersten formativen Phase der alten Bundesrepublik möglich war, zur Abfederung und Überlagerung dieser kollektiven Prägemuster. Die Westwendung mit weltoffener Kommunikation eröffnet Spielräume der individuellen Differenzierung. Die durch Einmauerung erzeugte Provinzialität läßt mit zunehmender Internationalisierung nach. Ein notwendiger rascher ökonomischer Aufbau in Ostdeutschland wird sich auch politisch lohnen. Denn die soziale Marktwirtschaft fordert eine Wettbewerbsmentalität, die im Schlepptau eine politische Marktorientierung mitführt Auch für die politische Stabilität bleibt die wirtschaftliche Effektivität ein wichtiger Begleitprozeß. Der Wiederaufbau Westdeutschlands bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial. Doch Beitritt zum Grundgesetz und Übergang von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft bedeuten für die Bürger in den neuen Bundesländern zunächst einen Modernisierungsschock. Alle Rahmenbedingungen des bisherigen Daseins sind aufgelöst -politisch wie ökonomisch. Es bleibt keine Zeit zur Selbstfindung, sondern nur der Sprung in die Moderne: Konkurrenz und Risiko im politischen und wirtschaftlichen Leben, Schließung oder Sanierung und Privatisierung von tausenden Betrieben, Internationalisierung des Lebens, das Ende einer statischen Gesellschaft. Die Gemütslage ist ambivalent: einerseits die Freude über die neue Freiheit, andererseits Verunsicherung über eine unkalkulierbare Zukunft.

Der Modernisierungsschock hat zwei Konsequenzen: Das westdeutsche Netzwerk der politischen und ökonomischen Struktur wird komplett über die ostdeutsche Gesellschaft geworfen. Zugleich aber kompensiert die ostdeutsche Gesellschaft dies durch die Dramatisierung ihrer eigenen Selbst-wahrnehmung. Die ostdeutsche Identität ist unter den Vorzeichen des Modernisierungsschocks schärfer ausgeprägt als je zuvor. Die Ostdeutschen betrachten dabei ihre eigene DDR-Geschichte in einem insgesamt milderen Licht: „Guter Anfang -doch schlechtes Ende.“ Dies tangiert nicht das grundsätzliche Ja zur deutschen Einheit, sie läßt lediglich den eigenen Weg, die Ansprüche und Erwartungen präzise erfahren und schärfer artikulieren.

Der Modemisierungsschock führt somit zu zwei entgegengesetzten Orientierungsmustern der Ostdeutschen: „Die einen wollen schnelle Wessis werden, andere möchten sich am liebsten ein , O* auf den Ärmel nähen, nicht weil sie besonders stolz auf ihre Herkunft wären, sondern damit sie gar nicht verdächtigt werden, sie wollten mehr scheinen als sein.“

VII. Plurale Gemeinschaftsbezüge

Region, Nation, Europa -diese drei Ebenen charakterisieren aufjeweils spezifische Weise das Profil der Deutschen. Auf den ersten Blick verblüfften die empirischen Ergebnisse: Kann es wirklich zeitgleich zu einer Renaissance der Nation kommen, zur Betonung der Heimatverbundenheit und zum gestiegenen Engagement für ein integriertes Europa? Tritt hier nicht erneut der pragmatische Deutsche hervor, der es -abwägend -durchaus schafft, die sich wechselseitig relativierenden Profilschichten zu vereinen? Die Vielfalt von gelebten Gemeinschaftsbezügen ist für die meisten offenbar ein akzeptabler Preis für die moderne Wohlstandsgesellschaft. Die komplexe kollektive Identität mit regionalen und transnationalen Bindungen erweist sich außerdem als beste Versicherung gegen alle nationalistischen Anfälligkeiten.

Die Deutschen in West und Ost sind zufrieden mit ihrem Nationalbewußtsein. Doch die augenblickliehe Ruhelage täuscht, denn die Wahrnehmung der Nation muß sich zwangsläufig durch die Einheit verändern. Nicht nur von unseren Partnern wird eine neue außenpolitische Profilierung der größeren Bundesrepublik erwünscht. Sie kritisieren die Neigung der Deutschen zur Selbstverkleinerung, die vor allem aus dem Bedürfnis resultiert, international permanent geliebt zu werden. Auch zwischen den West-und Ostdeutschen ist die Wahrnehmung der Nation unterschiedlich ausgeprägt. Für die Ostdeutschen war die Nation schon immer eine Codewort für gesellschaftliche Erwartungen. Konkret alltagspraktisch -in Form von sozialen Verbesserungen -drückte sich der Wunsch nach Einheit der Nation aus. Die deutsche Frage war in diesem Punkt schon immer auch eine soziale Frage. Für die Westdeutschen, die nach 1949 geboren sind, blieb hingegen die Einheit der Nation oftmals ein eher abstrakter Programmsatz. Das im internationalen Vergleich insgesamt schwach ausgeprägte Nationalgefühl führte beim Aufbruch der historischen Geborgenheiten nicht zur nationalen Euphorie. Daß es nach dem 9. November 1989 nicht zum Nationalrausch kam, hängt maßgeblich auch mit einer modernen Ausprägung des Nationalbewußtseins zusammen, wie sie sich in Westdeutschland herausgebildet hat. Die Wahrnehmungswelten kollektiver Identität umfaßten Regionalismus, staatliche Realität, nationale Perspektiven und europäische Orientierungen gleichermaßen. Diese auch durch die Pluralität der Lebensstile mitverursachte Konstellation moderner europäischer Bürgeridentität integriert nationales Selbstbewußtsein ebenso wie permanente Identitätsnachfragen. Die denkbaren nationalen Überhitzungen und Ausrutscher hat es nicht gegeben, eher hat die abgeklärte Nüchternheit überrascht. Der Prozeß der staatlichen Einheit vollzog sich eher kaufmännisch, nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten. Wie eine freundliche Firmenübernahme begriff man in Westdeutschland den Beitritt: Es darf nicht zu viel kosten. Doch die Kehrseite dieser Abgeklärtheit zeigt sich in der oft fehlenden inneren Teilnahme an den vor uns liegenden Schwierigkeiten des Aufbaus und in der mangelnden Opferbereitschaft vieler Westdeutscher. Bei den Bürgern in den neuen Bundesländern verbirgt sich hinter dem Einheitsverlangen ebenso-wenig großdeutscher Nationalismus, vielmehr das Streben nach individuellem Glück. Deshalb suchte man immer mehr den Vergleich mit dem Westen als dem einzigen gültigen Orientierungsmaßstab. Nationalismus ist dabei die falsche Vokabel.

Das Thema der deutschen Einheit hat nur kurzfristig für die Westdeutschen die Fragen der europäischen Integration verdrängt. Doch die Daten zeigen, wie beide Ziele -europäische und deutsche Einheit -weiter miteinander verknüpft sind. Die Mehrheit der Westdeutschen will gerade in der aktuellen Situation der deutschen Vereinigung auch den europäischen Integrationsprozeß beschleunigen. Die Westintegration ist hinsichtlich der Zustimmung zum westlichen Verteidigungsbündnis und zur EG sehr stabil. Der europäische Gedanke ist fest im Bewußtsein der West-und Ostdeutschen verankert. Die Zustimmung zur EG ist in den fünf neuen Bundesländern sogar höher als im Westen. Doch die Hoffnung auf Europa gleicht einer Entdeckungsreise: Noch ist Europa -West ebenso wie Ost -relativ unbekannt.

VIII. Renaissance der Nation

Die Nationen haben durch den Umbruch in Osteuropa ein neues Gewicht erhalten. Globale Interdependenz ist zu abstrakt, um sozialpsychologisch motivierte Identitätsbedürfnisse zu befriedigen. Als Identifikationsrahmen bleibt die Nation erhalten. Die europäische Integration relativiert mit ihrer Übertragung von Souveränität insgesamt die Rolle jedes einzelnen Nationalstaates. Der Bedarf an nationaler Identifikation und Souveränität wächst in dem Maße, wie politische und ökonomische Nivellierungsprozesse in Europa zunehmen.

Europa steht nicht am Beginn einer Renaissance des Nationalstaates; das Gegenteil trifft zu: Der Kontinent nimmt Abschied von seiner alten Ordnung, die auch von den nationalstaatlichen Strukturen geprägt war. Ein Modernisierungsschub internationalisiert die Lebenssachverhalte der Europäer in dramatischer Weise: Der alte Staat zehrt aus; er wird zu eng für die Lösung der Probleme; die Aufgaben wandern über seine Grenzen hinweg aus; das Pathos von der nationalstaatlichen Souveränität ist längst zu einem idyllischen Ausschnitt aus dem Archiv verkommen; internationale Arbeitsteilung ist gefragt. In einem deutlichen Kontrast dazu ist die Oberfläche der politisch-kulturellen Befindlichkeiten in Europa zu ertasten.

Die Auflösung des Ostblocks hat in Osteuropa nur ein Auffangnetz gefunden -die Nation. Die Ablösung vom harten Zugriff der sowjetischen Herrschäft hat die nationale Perspektive zum Leuchten gebracht. Die Nation ist der Hort für die neu gewonnene Freiheit. Zugleich werden mit dem Ende des Ost-West-Konflikts aber auch Potentiale freigesetzt, welche die Diskrepanz zwischen Nation und bisherigem Nationalstaat aufzeigen. In den neuen Freiheiten tauchen so die alten Gemengelagen wieder auf. Es kommt noch hinzu, daß keiner der verbliebenen Nationalstaaten die eigenen Probleme allein lösen kann. Erneut ist der national verklärte Blick stark nach außen gerichtet. In Westeuropa bedeutet die Vollendung des Binnenmarktes einen Sprung in ein neues Zeitalter: Die Europäisierung aller Lebenssachverhalte wird bis zum Extrem ausgereizt. Die Europäer kompensieren dies sozialpsychologisch durch eine Dramatisierung des Spezifischen: Die Nation und die Region werden zu orientierenden Haltepunkten einer immer diffuser werdenden Welt. Eine scheinbare Paradoxie steht am Ende. Die Auszehrung der Kompetenz des Nationalstaates provoziert drei Antworten, die eine Stabilisierung der jeweiligen Gemütslage herbeiführen können. Die drei Antworten heißen: Europa, Nation, Region.

IX. Ausblick

Die Jahre 1989 und 1990 werden eine neue formative Phase in Deutschland begründen. Die epochale Zäsur scheidet zwei Epochen voneinander. Der Prozeß der Vereinigung wird eine Generation prägen, die sich mit einer gemeinsamen Perspektive und kollektiver Erinnerung auf die Ereignisse im Umfeld des Einheitsprozesses konstituiert.

Das für viele europäische Nachbarstaaten prägende historisch-affektive Bezugsfeld der Nation steht nun als ein mögliches Angebot auch in Deutschland wieder zur Verfügung. Langfristig kann dies zur Befriedigung kollektiver Identitätsbedürfnisse beitragen; denn die Teilung war -neben dem noch lange nachwirkenden nationalsozialistischen Erbe -ein gewichtiges Element, das die Schwierigkeiten der Bundesrepublik markierte, sich selbst zu begreifen. Ob die Unsicherheiten, Suchbewegungen, Ängste der Deutschen -als fast schon verläßliche Begleiter der Stabilität -langfristig nachlassen, bleibt unklar. Doch vermutlich entfallen mit der Einheit auch die letzten Vorbehalte bei der Beurteilung der Stabilität der Demokratie in Deutschland. Mit dem Fehlen einer nationalen, auf einen konkreten Staat bezogenen Identität wurde vielfach auch das Fehlen eines wichtigen Kompensationsfaktors unterstellt, der die Schönwetterdemokratie auch in schlechten Zeiten schützen kann.

Deutschland wird ein Stück weit europäische Normalität erreichen -eine plural angelegte, offene nationale Identität mit legitimitätsstiftender Kraft. So kann die Einheit auch zur Quelle einer neuen deutschen Gelassenheit werden. Die Deutschen sind einverstanden mit ihrem politischen System; sie unterstützten es aktiv. Mit der Einheit wird klarer, für welche nationale Gemeinschaft wir das politische System betreiben. Indem die Nation am Ende der Teilung zur Alltäglichkeit wird, kehrt Normalität ein. Vieles deutet auf eine pragmatische Gegenwartsgebundenheit der Profile der Deutschen: Sie sind eingebunden in den Westen, demokratisch, national-saturiert, verläßlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In unserer umfangreichen Gesamtuntersuchung „Die Deutschen -Profil einer Nation“ sind die konkreten empirischen Einzelbelege zu den folgenden Ergebnissen präzisiert.

  2. Grundsätzlich dazu Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, München 1983; Ders., Der deutsche Weg, Berlin 1990.

  3. Vgl. zum Datenbestand: Roland Habich u. a., Geringe Lebenszufriedenheit in der ehemaligen DDR, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI), Nr. 5, Januar 1991, S. 1-4, dort sind einige Ergebnisse wiedergegeben zu a: Basiserhebung DDR 1990, bei der das sozio-ökonomische Panel auf das Gebiet der ehemaligen DDR im Juni 1990 ausgedehnt wurde, b: Wohlfahrtssurvey 1990 Ost, bei dem eine Replikation des bundesrepublikanischen Wohlfahrtssurveys im Oktober/November 1990 in der ehemaligen DDR durchgeführt wurde; ausführlicher dazu Detlef Landua u. a., Der lange Weg zur Einheit. Unterschiedliche Lebensqualität in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern, in: Wissenschaftszentrum Berlin, Arbeitspapiere aus der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung, P 91-101, Berlin 1991; weitere Ost-West-Vergleiche: Das Profil der Deutschen. Was sie vereint, was sie trennt, in: Spiegel-Spezial, Nr. 1/1991, dort sind Umfrageergebnisse von EMNID und des Leipziger Zentral-instituts für Jugendforschung zusammengestellt; außerdem: Deutschland 2000. Erwartungen und Hoffnungen der Deutschen in Ost und West. Eine repräsentative Befragung ab 14 Jahren. Ein Bericht der Infratest Kommunikationsforschung, München 1990; IPOS, Meinungen zu Europa in der DDR, Mannheim 1990.

  4. Vgl. hierzu unsere sowohl qualitativ als auch quantitativ gewonnenen Ergebnisse des Forschungsprojektes Geschichtsbewußtsein in Deutschland der Forschungsgruppe Deutschland in Kooperation mit SINUS (Heidelberg), ZUMA (Mannheim): Werner Weidenfeld/Felix Ph. Lutz, Forschungsbericht zum Geschichtsbewußtsein in Deutschland, Mainz 1991; ergänzend SINUS, Geschichtsbewußtsein in der ehemaligen DDR. Qualitative Untersuchung im Auftrag der Forschungsgruppe Deutschland, Heidelberg 1991.

  5. Zur Einordnung vgl. Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen, Köln 1990.

  6. Zu den Grundproblemen vgl. Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt/M. -New York 1991.

  7. Peter Schneider, Der Mauerspringer, Darmstadt-Neuwied 1982, S. 102. Zum literarischen Portrait der Bundesrepublik seit 1949 vgl. Karl-Rudolf Korte, Die Bundesrepublik Deutschland im Spiegel ihrer erzählenden Literatur, München 1991.

  8. Vgl. dazu Hagen Schulze, Die Wiederkehr Europas, Berlin 1990.

  9. Vgl. D. Landua u. a. (Anm. 3).

  10. Vgl. ebenda und die Ergebnisse in: ISI, Nr. 5/1991,

  11. Daten nach: Allensbacher Berichte, (1990) 9, S. 3.

  12. Daten in: Spiegel-Spezial (Anm. 3), S. 60.

  13. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Die Folgen der Einheit. Zur politisch-kulturellen Lage der Nation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/90, S. 29-38.

  14. Überblicksartig dazu Dieter Fuchs, Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1989; Bettina Westle, Politische Legitimität, Baden-Baden 1989.

  15. Vgl. Karl Schmitt (Hrsg.), Wahlen, Parteieliten, politische Einstellungen. Neuere Forschungsergebnisse, Frankfurt/M. u. a. 1990.

  16. Einzelbelege dazu bei Werner Weidenfeld (Hrsg.), Politische Kultur und deutsche Frage, Köln 1989.

  17. Vgl. dazu die Daten in: IPOS, Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik 1990 in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, Mannheim 1990.

  18. Kurt Sontheimer, Deutschlands politische Kultur, München 1990, S. 19.

  19. Vgl. K. -R. Korte (Anm. 13); Helmut Klages, Es fehlt die Bereitschaft zum bedingungslosen „Ärmelaufkrempeln“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Februar 1991.

  20. Vgl. Martin Greiffenhagen, Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1990. Reformen und Defizite der politischen Kultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/91, S. 16-26.

  21. So kommentiert von der Schriftstellerin Helga Schütz, Was’n kleinkariertes Volk, in: Die Zeit, Nr. 18 vom 26. April 1991.

  22. Vgl. die Daten dazu in den Euro-Barometer-Umfragen, zuletzt 1990.

  23. Vgl. IPOS (Anm. 17).

Weitere Inhalte

Werner Weidenfeld, Dr. phil., geb. 1947; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz; seit 1987 außerdem Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. -Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die Identität der Deutschen, Bonn-München 1983; Der deutsche Weg, Berlin 1990. Karl-Rudolf Korte, Dr. phil., geb. 1958; Politikwissenschaftler an der Universität Mainz (Abt. Internationale Politik), seit 1986 stellv. Leiter der Forschungsgruppe Deutschland. -Veröffentlichungen u. a.: Der Standort der Deutschen, Köln 1990; Die Bundesrepublik Deutschland im Spiegel ihrer erzählenden Literatur, München 1991.