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Integrieren statt zerstören. Für eine gemischtwirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern | APuZ 29/1991 | bpb.de

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APuZ 29/1991 Artikel 1 Integrieren statt zerstören. Für eine gemischtwirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern Aktuelle Entwicklungen von Marktstrukturen in den neuen Bundesländern Zur Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern. Entwicklung und Perspektiven Zum Wohnungs-und Städtebau in den ostdeutschen Ländern Kann man mit DDR-Richtern einen Rechtsstaat machen?

Integrieren statt zerstören. Für eine gemischtwirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern

Harry Maier

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die demokratische Revolution in der DDR machte den Weg frei für die Vereinigung Deutschlands. Mit ihr ist die Aufgabe verbunden, in den nächsten Jahren das in der Zeit der Spaltung Deutschlands entstandene Produktivitäts-und Wohlstandsgefälle schrittweise zu beseitigen. Der Autor wendet sich dagegen, das in den neuen Bundesländern vorhandene Produktionspotential zu unterschätzen und warnt vor der Illusion, daß es möglich sei, hier eine neue Wirtschaftsstruktur mit Transferleistungen aus der alten Bundesrepublik und durch sofortige Privatisierung zu schaffen. Dies würde nur zu einer De-Industrialisierung Ostdeutschlands führen. Es muß dagegen alles getan werden, um zu verhindern, daß die ostdeutsche Wirtschaft am Tropf westdeutscher Transferleistungen hängen bleibt. Dies kann nur mit einer gemischtwirtschaftlichen Strategie erfolgen, die das vorhandene Potential vor einer weiteren Zerstörung zu schützen vermag und vorhandene Arbeitsplätze wettbewerbsfähig macht. Hierauf sollten sich alle Wirtschaftsförderungsmaßnahmen und Investitionszulagen konzentrieren. Im Unterschied zum Manchester-Kapitalismus ist die Struktur der sozialen Marktwirtschaft gemischtwirtschaftlich. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem sozialen Kompromiß der gesellschaftlichen Kräfte der Bundesrepublik hervorgegangen. Das Projekt, in kürzester Zeit die leistungsfähigsten Unternehmen der DDR zu privatisieren und den Rest stillzulegen, hat sich als sozial unverträglich erwiesen -dies sowohl aus makroökonomischen wie auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen.

Eine der Triebfedern und Hoffnungen der demokratischen Revolution in der DDR war, durch die Beseitigung des Kommandosystems in Wirtschaft und Gesellschaft das beträchtliche Produktivitätsund Wohlstandsgefälle zwischen den beiden deutschen Staaten zu überwinden. Ohne Zweifel war die Einführung der DM am l. Juli 1990 in der DDR ein entscheidender Schritt in diese Richtung. Sie war auch zeitlich richtig positioniert. Wenn der Sachverständigenrat im Jahresgutachten 1990/91 seinen Standpunkt vom Frühsommer 1990 wiederholt, man hätte erst mit „realwirtschaftlichen Reformen“ beginnen und später die DM einführen sollen, so irrt er erneut und dies nicht nur angesichts der spezifischen deutschen Situation.

Die Erfahrungen der Reformländer Mittel-und Osteuropas zeigen, daß auch die vernünftigsten Reformmaßnahmen sich gegenseitig blockieren, wenn nicht gleich am Anfang eine marktwirtschaftliche Geldverfassung entsteht. Das Verhängnisvolle am DM-Schock war nur, daß er mit einer falschen Therapie verbunden wurde. Eine angemessene Therapie setzt normalerweise eine korrekte Diagnose voraus. Leider fehlte auch diese. Neigte man vor dem Fall der Mauer in der alten Bundesrepublik dazu, die ökonomische Situation in der DDR zu rosig darzustellen, so wird heute faktisch alles, was in der Industrie der ehemaligen DDR vorhanden ist, als marode hingestellt. Angesichts des Informationsdefizits stehen die Politiker derzeit ziemlich ratlos vor dieser einmaligen historischen Situation. Sie fühlen sich von ihren Think-Tanks, den Forschungsinstituten, im Stich gelassen. Der langgediente, hochangesehene Staatssekretär im Bonner Wirtschaftsministerium, Otto Schlecht, hatte den Mut, dies kurz nach seiner Pensionierung offen auszusprechen: „Wir wurden von der Wissenschaft auch falsch beraten. Im Herbstgutachten des Sachverständigenrates, aber auch im Gutachten der Forschungsinstitute vom letzten Herbst finden Sie die Prognose, die Talsohle in den neuen Bundesländern werde Mitte 1991 durchschritten sein. Vom wirklichen Ausmaß der Malaise hatten wir damals keine Vorstellung.“

Es ist verständlich, daß die Betroffenen sich gegen solche Schuldzuweisungen zur Wehr setzen. So hat Lutz Hofmann, der Präsident des DIW (Berlin), den Vorwurf entschieden zurückgewiesen, die Wirtschaftswissenschaft „sei auf die Veränderungen in Osteuropa unvorbereitet gewesen, sie habe für die Beratung der Wirtschaftspolitik im Prozeß der Systemtransformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland und Osteuropa nicht viel anzubieten“

Mag sein, daß ein solcher Vorwurf zu pauschal ist. Jedoch der Vorschlag von Lutz Hofmann, den Transformationsprozeß nach dem Modell der Entwicklungsländer zu vollziehen, ist nicht allzu hilfreich, geht er doch völlig an den Realitäten der Reformländer Mittel-und Osteuropas vorbei. Im Unterschied zu den Entwicklungsländern verfügen die Reformländer über ein beträchtliches Produktionspotential, ein ausgebautes Bildungssystem, qualifizierte Facharbeiter und ein umfassendes Forschungspotential. Die Ignorierung dieser Tatsache muß zwangsläufig dazu führen, daß man seine Kräfte nicht auf die Neuformierung des vorhandenen Produktionspotentials konzentriert, sondern es der Vernichtung preisgibt.

Eine der Ursachen für die Schwierigkeiten des Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft liegt gerade darin, daß man nicht in der Lage ist, das vorhandene ökonomische Potential wahrzunehmen und es in den strukturellen Anpassungsprozeß zu integrieren. Hierdurch werden die Aussichten der neuen Bundesländer, aus eigener Kraft den Transformationsprozeß sozial verträglich zu vollziehen, immer geringer.

Es war nicht schwer vorauszusehen, daß mit der Einführung der DM die Güterströme der DDR überbewertet würden und daher kaum wettbewerbsfähig sein konnten. Da es zur Einführung der DM keine Alternative gab, war ein massiver Kapital-und Technologietransfer notwendig, um durch Mobilisierung und Bündelung des vorhandenen Produktions-und Innovationspotentials den notwendigen System-und Strukturwandel sozialverträglich zu vollziehen.

Hierbei wurde aber eine schwerwiegende, wenn auch simple Tatsache übersehen. In der ehemaligen DDR, wie auch in den anderen Reformländern Mittel-und Osteuropas, wurde nach anderen Regeln geplant, entschieden und gewirtschaftet. Der Sanktionsmechanismus funktionierte nach anderen Kriterien, und dementsprechend waren auch die Überlebensstrategien der Unternehmen ganz unterschiedlich zu denen in der Bundesrepublik. Nur ein Phantom kann sich von heute auf morgen auf eine totale Umbewertung aller Werte einstellen.

I. Kein Sieg des Westens über den Osten

Oftmals wird allzugern vergessen, daß die Beseitigung der zentralen Planwirtschaft nicht das Ergebnis eines Sieges des Westens über den Osten ist, sondern eines Aktes der Selbstbefreiung der aktiven Generation der DDR. Ihr Ziel war es, die vom Kommandosystem gefesselten produktiven Kräfte in der DDR in einem vereinten Deutschland zur Entfaltung zu bringen. Statt dessen erlebt sie heute, wie dem von mehreren Generationen geschaffenen Produktionspotential die Vernichtung droht.

Aus den Erfahrungen im innerdeutschen Handel war wohlbekannt, daß die Schere in den Wertschöpfungsbeiträgen in der Industrie der beiden deutschen Staaten seit den siebziger Jahren durch die Innovationsträgheit der zentralen Planwirtschaft sich drastisch geöffnet hatte: Erzielten 1970 die westdeutschen Investitionsgüterproduzenten 2, 1 mal höhere Erlöse als die DDR-Betriebe, so waren diese 1989 bereits 6, 6 mal höher. Bei feinmechanischen und optischen Erzeugnissen erreichte die DDR 1970 sogar noch eine 14% höhere Wertschöpfung im Vergleich zur Bundesrepublik; 1989 betrug sie nur noch knapp 30 % der bundesdeutschen. Vor dem Krieg war die Produktivität der Industrieproduktion im heutigen Ostdeutschland 17 % höher als in Westdeutschland. 1989 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nur noch 38 % des westlichen Deutschlands

Angesichts dieser enormen Technologie-und Produktivitätslücke bedurfte es nicht eines außergewöhnlichen ökonomischen Sachverstands, um zu erkennen, daß es bei Einführung der DM ohne jede wirtschaftspolitische Vorsorge, zur De-Indu-strialisierung Ostdeutschlands kommen muß -mit all ihren sozialen Belastungen für die dort lebenden Menschen. Der DM-Schock mußte zwangsläufig zu einer sprunghaften Instabilität der DDR-Unternehmen führen, der man nur mit einer entschlossenen Strategie der Neuformierung auf der Grundlage marktwirtschaftlicher Kriterien und der Kooperation mit westdeutschen Unternehmen hätte entgegenwirken können.

Das blinde Vertrauen auf die heilsame Wirkung der Marktkräfte -obwohl es keine Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb zwischen den Produktionseinheiten aus den beiden Teilen Deutschlands gab -erwies sich als eine verhängnisvolle Illusion. Das Ergebnis ist bekannt: Mit der Einführung der DM sank das Bruttoinlandsprodukt im 2. Halbjahr 1990 real um 27, 5 % und im 1. Halbjahr 1991 erneut um mehr als 25 %. Besonders schwerwiegend sind die Einbrüche in der Industrie. Ihre Produktion verringerte sich im zweiten Halbjahr 1990 um 57, 7 %. Die Forschungsinstitute prognostizieren, daß sie im kommenden Halbjahr nur ein Viertel des Niveaus vom 1. Halbjahr 1990 erreichen wird

Die De-Industrialisierung des einstigen industriellen Zentrums Deutschlands scheint unaufhaltsam zu sein. Die flächendeckende Zerstörung von Produktionsstätten droht in Ostdeutschland zu einer bisher kaum vorstellbaren Massenarbeitslosigkeit zu führen, während im westlichen Deutschland die Arbeitslosenquote mit 5, 6% auf das niedrigste Niveau seit 1981 gesunken ist. Die Zahl der Erwerbspersonen wird sich von 9, 6 Mio. (1989) auf 7, 8 Mio. durch Frühberentung, Warteschleife, Pendler und Übersiedler in die alten Bundesländer verringern. Von den verbleibenden Arbeitneh-* mem müssen 2, 4 Mio. mit Arbeitslosigkeit und etwa 1 Mio. mit Kurzarbeit rechnen Das heißt, fast jeder zweite Bürger im arbeitsfähigen Alter in den neuen Bundesländern wird arbeitslos oder Kurzarbeiter. Resignierend stellen die Forschungsinstitute in ihrem gerade erschienenen Bericht in Bezug auf die Industrie fest: „Es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, daß sich ihre Lage durchgreifend bessert.“

Man kann davon ausgehen, daß sich die Zahl der Beschäftigten um mehr als die Hälfte verringern wird. Immer mehr Menschen verlieren so die Chance, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

II. De-Industrialisierung Ostdeutschlands: Kein unabwendbares Schicksal

Es wäre verhängnisvoll, in der De-Industrialisierung der neuen Bundesländer eine schicksalhafte Entwicklung zu sehen. Die Forderung von Till Necker, Vizepräsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, daß „der Industrie in den neuen Bundesländern am meisten geholfen werden muß“ ist sicher richtig. Sie kann allerdings nur durch eine entschlossene Kurskorrektur, die getragen wird von einem Konsens der gesellschaftlichen Kräfte in den neuen und alten Bundesländern, verwirklicht werden.

Es hat sich gezeigt, daß es unmöglich ist, eine Volkswirtschaft wie einen Betrieb zu verkaufen. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß zügig privatisiert werden mußte, um die Wirtschaft der ehemaligen DDR von den lähmenden Staatsmonopolen zu befreien. Im Unterschied zur Einführung der DM in der DDR kann aber die Privatisierung der Unternehmen nicht mit einem Schlag erfolgen. Dies „macht überhaupt keinen Sinn und wäre auch eine fürchterliche Vorstellung“, meinte hierzu der Präsident der renommierten amerikanischen Beratungsfirma Arthur D. Little, Charles R. La Mantia, in einem Interview

Das, was die Therapie der totalen Privatisierung verhindern sollte -nämlich eine langwährende Alimentierung des östlichen Deutschlands -, hat sie nun selbst heraufbeschworen. Mit der Vernichtung des vorhandenen Produktionspotentials verliert Ostdeutschland immer mehr die Kraft, den Gesundungsprozeß mit eigenen Mitteln zu vollziehen. Hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine MarshallPlan-Hilfe von 1 % des Bruttosozialprodukts der Bundesrepublik ausgereicht, um die westdeutsche Wirtschaft anzukurbeln, so genügen heute Transferleistungen von 110-120 Mrd. DM (dies sind zwei Drittel des ostdeutschen Bruttosozialprodukts) nicht, um die Abwärtsspirale der Produktion aufzuhalten. Gegenwärtig gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß sich der Anteil der Transfer-leistungen am Inlandsverbrauch in den neuen Bundesländern in den nächsten fünf Jahren verringern wird. Insgesamt muß man bis 1995 mit einer Transferleistung von 600 Mrd. DM rechnen

Zum Vergleich: Der ehrgeizige Plan der Harvard-Professoren Jeffry Sachs, Stanley Fischer, Graham Alison und des sowjetischen Ökonomen Grigori Jawlinski, der den Präsidenten Bush und Gorbatschow vorgelegt wurde, sieht für den Transformationsprozeß der UdSSR von der zentralen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft für fünf Jahre 100-150 Mrd. Dollar (180-270 Mrd. DM) vor. Die anderen Reformländer haben in den letzten zwei Jahren insgesamt etwa 57 Mrd. Dollar (ca. 100 Mrd. DM) Transferleistungen von den westlichen Ländern erhalten

Es geht hier nicht darum, die Notwendigkeit der enormen Transferleistungen der alten Bundesländer zu bezweifeln oder gar zu beklagen. Sie sind wichtige Solidarleistungen der Menschen in den alten Bundesländern. Die Frage ist nur, ob diese Mittel wirklich eine Hilfe zur Selbsthilfe sind, oder ob sie nur dazu dienen, die Kosten einer fragwürdigen Strategie der totalen Privatisierung aufzufangen und sozial abzufedern.

Will man verhindern, daß die ostdeutsche Wirtschaft am Tropf westlicher Transferleistungen hängen bleibt, muß alles getan werden, um mit einer gemischtwirtschaftlichen Strategie das vorhandene Produktionspotential vor einer weiteren Zerstörung zu schützen und die dort vorhandenen Arbeitsplätze schrittweise wettbewerbsfähig zu machen. Hierauf sollten sich alle Wirtschaftförderungsmaß-nahmen und Investitionszulagen konzentrieren. Im Unterschied zum Manchester-Kapitalismus ist die Struktur der sozialen Marktwirtschaft gemischt-wirtschaftlich. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem sozialen Kompromiß der gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik hervorgegangen.

Das Projekt, in kürzester Zeit die leistungsfähigen Unternehmenseinheiten der DDR zu privatisieren und den Rest stillzulegen, erwies sich als sozial unverträglich -dies sowohl aus makroökonomischen wie auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen.

III. Ein peinlicher Kunstfehler

Zunächst hat die Strategie der totalen Privatisierung -ein peinlicher Kunstfehler für gelernte Marktwirtschaftler -zu einem bisher nicht dagewesenen Angebotsstau von Unternehmen geführt, wodurch die Käufer aus den alten Bundesländern in eine sehr komfortable Position kamen. Mit ihrer Ankündigung, was nicht privatisierbar ist, wird liquidiert, hat die Treuhand eine extreme Verunsicherung der Unternehmen in Ostdeutschland ausgelöst, was zu Auflösungserscheinungen und damit zum Sinken des Ertragswertes der Unternehmen führte. Immerhin handelt es sich hier um den Verkauf von über 9000 Untemehmenseinheiten mit über 40000 Betriebsstätten. Ihr Verkaufswert wurde von der Treuhand mit 600 Mrd. DM (Herbst 1990) angegeben. Im Sommer 1990 sprach man sogar von 800-1000 Mrd. DM.

Um alle ehemaligen DDR-Unternehmen zu privatisieren, müßten die Nettoinvestitionen der Unternehmen der alten Bundesrepublik (173 Mrd. DM, 1989) dreieinhalb Jahre lang ausschließlich in die neuen Bundesländer umgelenkt werden. Eine solche Umleitung der Nettoinvestitionsströme würde die Innovationskraft in Westdeutschland beträchtlich verringern und das vereinte Deutschland zu einer zweitklassigen Wirtschaftsmacht machen.

Betriebswirtschaftlich kann diese Therapie nicht aufgehen, weil sie zwangsläufig zu negativen Zukunftserwartungen bei den Managern und Arbeitnehmern führt. In der Hoffnung, sofort zu privatisieren, wurden die simpelsten Regeln des Umgangs von Unternehmen in einer Wettbewerbs-wirtschaft außer Kraft gesetzt. So bekamen die interessierten westdeutschen Unternehmen mit Hilfe der Treuhand alle für sie relevanten Informationen über ihre Konkurrenten, wodurch es zu einem Kinderspiel wurde, diese vom Markt zu verdrängen. Oftmals wurde ihnen direkt oder indirekt ohne jede eigentumsrechtliche Legitimation Entscheidungsbefugnisse über das Schicksal dieser Unternehmen eingeräumt.

Somit wurde -obwohl nur ein Teil der Unternehmen privatisiert werden konnte -flächendeckend der Innovationsprozeß in der Industrie lahmgelegt, wodurch die ohnehin nicht ausreichende Wettbewerbsfähigkeit weiter zu sinken begann. Nicht zufällig hört man in ostdeutschen Unternehmen immer wieder: „Wir wissen nicht, was die Treuhand mit uns vorhat.“

Obwohl die totale Privatisierungsstrategie gescheitert ist, fällt es den Politikern, dem Sachverständigenrat und wirtschaftswissenschaftlichen Instituten schwer, dies zuzugeben. Bisher sind nach Angaben der Treuhand 2100 Unternehmen verkauft. Die Treuhand ist stolz darauf, 350000 Arbeitsplätze im gewerblichen Bereich gesichert zu haben. Dies sind jedoch nur 10 % der Arbeitsplätze des verarbeitenden Gewerbes im Jahre 1990. Was aber geschieht mit den restlichen 90%, den über 3 Mio. Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe, die bisher nicht privatisiert werden konnten?

Der Sachverständigenrat und die fünf Wirtschaftsinstitute fordern, daß, wenn diese nicht privatisierbar sind, sie liquidiert werden müssen: „An der Privatisierung entscheidet sich damit letztlich auch, welche Unternehmen sanierungsfähig und welche stillgelegt werden müssen.“ Ähnlich äußerten sich auch die Forschungsinstitute: „Was nicht privatisiert werden kann, ist zumeist auch nicht sanierungsfähig.“ Dies ist ein Horror-szenario für Millionen Menschen, das selbst Till Necker, Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), schaudern läßt. In seiner Reaktion auf diese Gutachten heißt es: „Entschieden widersprechen muß ich aber der Ansicht, Unternehmen, die im Osten noch nicht im internationalen Wettbewerb bestehen können, hätten keine Lebensberechtigung.“

IV. Betriebswirtschaftliche Kriterien allein reichen nicht aus

Die Frage, welche industriellen Arbeitsplätze erhalten oder stillgelegt werden sollen, kann mit betriebswirtschaftlichen Kriterien allein nicht entschieden werden, obwohl Treuhand und Sachverständigenrat meinen, daß dies möglich sei. Immer wieder hören wir von den Vorstandsmitgliedern der Treuhand, sie gingen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien vor und nicht nach Struktur-oder gar industriepolitischen. Natürlich betreibt die Treuhand mit jeder ihrer Entscheidungen Struktur-und Industriepolitik. Die Frage ist nur, ob eine Strukturpolitik, die sich rein an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientiert, wirklich dem Gesundungsprozeß in den neuen Bundesländern zu dienen vermag. Nach betriebswirtschaftlichen Kriterien müßte ein Unternehmen stillgelegt werden, wenn seine Betriebskosten höher sind als die Kosten seines Konkurses. Mit einem solchen Kriterium ignoriert man jedoch völlig die spezifischen Probleme einer sich von den Fesseln der Kommandowirtschaft befreienden Wirtschaft und nimmt ihr jede Chance, mittelfristig wettbewerbsfähig zu werden.

Die Kosten eines liquidierten Arbeitsplatzes im verarbeitenden Gewerbe -die letztlich der Steuerzahler tragen muß -ergeben nach Berechnungen der Beratungsfirma McKinsey in den neuen Bundesländern bei Berücksichtigung des Multiplikatoreffekts mindestens 300000 DM. Hiernach müßte die Liquidierung eines Arbeitsplatzes in der gewerblichen Wirtschaft, die den Verlust von zwei Arbeitsplätzen in anderen Bereichen nach sich zieht, verhindert werden, wenn es möglich ist, ihn mit einem Aufwand bis zu 300 000 DM zu modernisieren. Wenn nach den vorliegenden Prognosen in der gewerblichen Wirtschaft in diesem Jahr etwa 1, 8 Mio. Arbeitsplätze verschwinden sollten, dann würde dies langfristig den Steuerzahler etwa 540 Mrd. DM kosten. Ist es dann nicht sinnvoller, diese Mittel für die Modernisierung der vorhandenen Produktionsstätten und die Herausbildung einer modernen Struktur auszugeben, als Hunderttausende in das berufliche Nichts zu jagen?

Die nicht seltene Vorstellung -wie sie z. B. auch der Herausgeber der Wirtschaftswoche, Wolfram Engels vertritt -, daß es möglich sei, das vorhandene Produktionspotential niederzureißen und es von Westdeutschland aus neu aufzubauen, zeugt von einem leichtsinnigen Übermut. Er schreibt: „Einen Aufschwung im Osten, also eine Entwicklung, die auf die vorhandenen Kapazitäten aufbaut, kann es nicht mehr geben. Es geht heute um einen vollständigen Neuaufbau.“ Ein solcher Irrglaube könnte für die neuen wie für die alten Bundesländer katastrophale Konsequenzen haben, denn ohne die Integration des Produktions-und Innovationspotentials der ehemaligen DDR-Betriebe in den strukturellen Anpassungsprozeß wird es nicht möglich sein, die Zunahme der Arbeitslosigkeit zu stoppen und sie möglichst bald abzubauen. Strukturelle Anpassungen erfolgen immer durch Kombination vorhandener mit neuen Arbeitsplätzen.

Es ist eine Illusion zu glauben, daß moderne Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern von Westdeutschland finanziert werden könnten. Ein industrieeller Arbeitsplatz einschließlich der Bau-kosten erfordert in der alten Bundesrepublik 250000 DM. Wir haben in der Industrie der neuen Bundesländer etwa 2, 5 Mio. Beschäftigte. Um 80 % dieser Plätze neu zu gestalten, wären 500 Mrd. DM Investitionen erforderlich. Dies ist ein Betrag, der selbst das reiche Westdeutschland überfordern würde. Makroökonomisch würde dies nämlich bedeuten, daß sieben Jahre lang die Bruttoinvestitionen der westdeutschen Industrie (1988 waren es 77, 66 Mrd. DM) ausschließlich in die neuen Bundesländer umgelenkt werden müßten, um hier die notwendigen Arbeitsplätze zu schaffen. Falls das getan werden sollte, wäre das der sichere Ruin der westdeutschen Industrie.

Es steht außer Zweifel, daß mit dem üblichen Kapital-und Technologietransfer es kaum möglich sein dürfte, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in ausreichender Zahl in den neuen Bundesländern zu schaffen. Nach einer Ifo-Umfrage sind in diesem Jahr 10 Mrd. DM Investitionen in der Industrie der ehemaligen DDR vorgesehen. Diese würden 44000 Arbeitsplätze nach westdeutschen Maßstäben schaffen. Inzwischen könnte aber schon mehr als das zwanzigfache an Arbeitsplätzen vernichtet sein.

V. Privatisierungja, aber nicht um jeden Preis

Sicher ist es notwendig, den Anteil der Staatsbetriebe in der Industrie möglichst schnell zu verringern. Hierbei muß die Privatisierung sich jedoch nicht nur betriebswirtschaftlichen, sondern auch volkswirtschaftlichen Kriterien stellen. Es gibt in Westeuropa eine Jahrzehnte lange Tradition der Privatisierung von Staatseigentum. Sie stand immer unter der Maxime: „Privatisieren ja, aber nicht um jeden Preis.“

Um die Frage nach den Kosten gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurde die Mär von der maroden ostdeutschen Wirtschaft in die Welt gesetzt Die gesellschaftlichen Kräfte des vereinten Deutschlands müssen davon ausgehen, daß es noch eine längere Periode dauern wird, bis in den neuen Bundesländern der Anteil der privaten Unternehmen den für westliche Industrieländer üblichen Anteil von über 80% erreichen wird. Fundamentalistische Ungeduld läßt nur die sozialen Kosten der Systemtransformation astronomisch steigen. Eine gemischtwirtschaftliche Strategie jedoch, die auf einem breiten Konsens beruhen sollte, muß der Mehrzahl der Betriebe, obwohl sie noch nicht privatisiert werden konnten, die reale Chance geben, mittelfristig wettbewerbsfähig zu werden.

Dies würde bedeuten, daß im Rahmen einer gemischtwirtschaftlichen Strategie es über einen längeren Zeitraum möglich sein sollte, eine Koexistenz von Privatunternehmen, Staatsuntemehmen sowie von Unternehmen mit gemischtem Eigentum zu ertragen. Alle westlichen Industrieländer haben eine solche unfriedliche Koexistenz von privaten, gemischtwirtschaftlichen und staatlichen Unternehmen ertragen können. Man kann nicht sagen, daß die soziale Marktwirtschaft dort am erfolgreichsten war, wo am radikalsten öffentliche Unternehmen privatisiert worden sind. Man denke nur an die fragwürdigen Früchte der Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher.

VI. Eine neue Einstellung der Treuhand zu den noch nicht privatisierten Betrieben ist nötig

Eine gemischtwirtschaftliche Strategie verlangt von der Treuhand eine neue Einstellung zu den noch nicht privatisierten Unternehmen. Man darf sie nicht als ein Überbleibsel aus einer unseligen Vergangenheit ansehen, sondern als Produktionseinheiten, in denen sich noch fast 90 % der Arbeitsplätze befinden, und denen man helfen muß, möglichst bald wettbewerbsfähig zu werden. Das Wichtigste ist hierbei, dem Management dieser Unternehmen die Möglichkeit zu geben, das Risiko von marktwirtschaftlichen Entscheidungen selbst zu tragen.

Ein Management, dem es vor allem darum geht, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, kann sicher auf die Ünterstützung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften bauen -dies sowohl bei den Tarifverhandlungen als auch bei der Produktivitätsentwicklung. Andernfalls würde bei schnellem Lohnwachstum und sinkender Produktivität die Abwärtsspirale nicht gestoppt werden können.

Wenn die Produktivität in den letzten Monaten stark gesunken ist und die Löhne um 50-100 % gestiegen sind, so ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, daß es nicht gelungen ist, die Sozialpartner in den Prozeß der strukturellen Anpassung zu integrieren. Ein großer Teil der Arbeitnehmer wäre bereit gewesen, auf Lohnerhöhungen zu verzichten (in der ehemaligen DDR stiegen die Löhne jährlich nur um 3-4%), wenn sie in den Prozeß der Modernisierung und damit Erhaltung ihrer Arbeitsplätze einbezogen worden wären. Tatsächlich aber hat die Strategie der totalen Privatisierung alle Hemmnisse für Lohnerhöhungen niedergerissen, da die Arbeitnehmer davon ausgehen mußten, daß sie über kurz oder lang ohnehin ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Die Lohnerhöhungen sind für sie eine Art Vorsorge für bevorstehende schwierige Zeiten.

Durch die wachsende Kluft zwischen der Lohn-und Gehaltsentwicklung und der Produktivität hat sich die Wettbewerbssituation der Unternehmen in den neuen Bundesländern weiterhin verschlechtert. Immer mehr Arbeitnehmer werden vor die Alternative gestellt, entweder im westlichen Teil Deutschlands nach Arbeit zu suchen oder in ihrer Heimat durch Langzeitarbeitslosigkeit ihr „Humankapital“ in einem schmerzhaften Entwertungsprozeß zu verlieren. Weiterbildungsmaßnahmen, Beschäftigungsgesellschaften, ABM-Aktivi-B täten können diesem Entwertungsprozeß entgegenwirken, sie können aber Arbeitsplätze in wettbewerbsfähigen Unternehmen nicht ersetzen. Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze können nur in sanierten Unternehmen entstehen. Hierzu wurde von einer Gruppe amerikanischer Ökonomen unter Leitung von Georg Akerlof (Berkley-Gruppe) vorgeschlagen, der weiteren Zerstörung der Arbeitsplätze durch Lohnsubventionen in Relation zur Entwicklung der Produktivität (Wertschöpfung) entgegenzuwirken. Dieser Vorschlag wurde vom Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung weiterentwickelt. Sein Nutzen besteht ohne Zweifel darin, „daß durch Lohnsubventionen sowohl die Arbeitnehmer als auch die Unternehmer als auch der Fiskus profitieren“ werden, weil er von der Integration „vorhandener Kapazitäten“ ausgeht Dies wiederum ist nur möglich, wenn der gegenwärtige Ausnahmezustand in den Unternehmen der neuen Bundesländer möglichst bald beendet wird.

In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, die Funktion der Treuhand kritisch zu überdenken. Gegenwärtig ist sie noch nicht -wie ständig behauptet wird -eine Dienstleistungseinrichtung für noch nicht privatisierte Unternehmen der ehemaligen DDR. Sie ähnelt vielmehr in ihrer Struktur, Arbeitsweise und Größe sehr stark der ehemaligen Plankommission der DDR. Den Unternehmen hat sie die Entscheidungsbefugnisse genommen und das Management ist völlig von ihr abhängig. Zwangsweise teilt sie auch die Gebrechen ihrer Vorgängerin: Sie unterliegt keinerlei demokratischer Kontrolle und trägt nicht das Risiko für ihre Entscheidungen.

Gegenwärtig läßt die Treuhand „Unternehmenskonzepte“ von den Unternehmen der neuen Bundesländer erarbeiten, auf deren Grundlage sie entscheiden will, „in welchem Umfang Unternehmen schrumpfen müssen, um den Anschluß an eine innovatorische Zukunft zu gewinnen“ Wochen werden vergehen, bis alle „Untemehmenskonzepte“ eingetroffen sein werden, Monate, bis man sie ausgewertet haben wird. Ganz wie bei der alten Plankommission, die ähnliches mit „Intensivierungskonzepten“ versuchte, wird man nach angestrengter Arbeit schließlich nicht mehr wissen als zuvor über die tatsächliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Inzwischen aber verstreicht wertvolle Zeit, in der die Unternehmen warten und nichts unternehmen, was ihre Lage verbessern könnte.

Papierene Konzepte bewirken in der gegenwärtigen Situation nichts. Die Sanierung muß aus den Unternehmen selbst kommen. Notwendig sind Rahmenbedingungen, die in der Lage sind, dem Management und der Belegschaft Sicherheit zu geben und ihnen zu vermitteln, daß es sich lohnt, Risiken zu übernehmen und das vorhandene Innovationspotential zu nutzen und zu erweitern.

VII. Das Innovationspotential in den neuen Bundesländern -erhalten und erneuern

Die Unfähigkeit, das Innovationspotential in den neuen Bundesländern zu erkennen und es in den Anpassungsprozeß zu integrieren, wird vor allem auch auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung (F& E) sichtbar. Nur Ignoranten können daran zweifeln, daß die DDR auch nach internationalen Maßstäben über ein beachtliches Forschungspotential verfügte.

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung waren durchaus beachtenswert, wenn auch die DDR-Führung versuchte, sie zu schönen. Bereinigt man die offiziellen Forschungsausgaben der DDR und berechnet man sie entsprechend der in der OECD verwendeten Methodik (Frascati-Handbuch), so wird sichtbar, daß der Anteil der F& E-Ausgaben am Bruttosozialprodukt der DDR mit 2, 8 % (1989) etwa genauso groß war wie der der Bundesrepublik mit 2, 7%. Der Anteil der F& E-Ausgaben an den Ausrüstungsinvestitionen der Industrie der DDR machte immerhin 23, 6% (1989) aus. Der entsprechende Anteil in der Bundesrepublik war 32, 3% (1987).

Gegenüber anderen westeuropäischen Ländern -wie z. B. Italien -war sowohl der Anteil der F& E-Ausgaben am Bruttosozialprodukt als auch an den Ausrüstungsinvestitionen in der DDR mehr als doppelt so hoch. Die Zahl der Forscher pro 1000 Beschäftigte war mit 16 Forschern in beiden deutschen Staaten gleich und damit wesentlich höher als in der Mehrzahl der EG-Länder.

Die Unterschiede in der Struktur des Forschungspersonals sind auch nicht so dramatisch, wie allge-mein angenommen wird. Die Natur-, Ingenieur-, Agrar-und MedizinWissenschaften machten in der Bundesrepublik 98, 1 % des Forschungspotentials aus, in der DDR 94, 1 % (1989). Es war auch nicht so, daß die Mehrzahl der Forscher in der DDR im Staatsapparat herumgesessen hätte. Zwei Drittel des Forschungspotentials waren, wie auch in der Bundesrepublik, in der Wirtschaft tätig.

Die Zahl der Forscher pro 1000 Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe ging Ende der achtziger Jahre mit 34 (1987) in der Bundesrepublik und mit 28 (1989) in der DDR nicht weit auseinander. Im Maschinenbau war sie faktisch identisch und in der Elektrotechnik und Feinmechanik/Optik waren die Unterschiede auch nicht allzu dramatisch.

Daß es in diesen Industriezweigen zu solchen dramatischen Einbrüchen gekommen ist, ist sicher auch eine Folge dessen, daß nichts unternommen wurde, um das Industrieforschungspotential in den ehemaligen DDR-Betrieben neu zu formieren und gerätetechnisch zu modernisieren. Im Unterschied zur Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft tat man nichts, um eine Wissenschafts-und Technologiegemeinschaft zu schaffen. Aber nur im Technologieverbund mit westdeutschen Unternehmen und Instituten hätte eine Chance bestanden, in kurzer Zeit wettbewerbsfähige Produkte hervorzubringen und damit die Zerstörung von Arbeitsplätzen zu verhindern. Statt dessen war es das Forschungspotential, das als erstes von Entlassungen und Kurzarbeit betroffen war.

Die „Evaluierung“ des Forschungspotentials durch den Wissenschaftsrat hat, trotz aller guten Absichten, die Forscher der ehemaligen DDR in einem Grade verunsichert, daß dieses bedeutende Potential sich gegenwärtig in Auflösung befindet. Um zu verhindern, daß die neuen Bundesländer die Voraussetzungen verlieren, mit ihrem eigenen Innovationspotential die wirtschaftliche Entwicklung zu sichern, gilt es, die Bedingungen zu schaffen, daß sie in ihrer Heimat Arbeitsplätze und Zukunftsaussichten finden können. Besonders kritisch ist die Situation des Forschungspotentials der Wirtschaft. Von den 86000 Forschern in der Wirtschaft der ehemaligen DDR sind heute nur noch weniger als ein Drittel vorhanden. Die übrigen zwei Drittel sind entweder in die alte Bundesrepublik abgewandert, sind arbeitslos oder „Frührentner“

Wie verschiedene Studien zeigen, ist gegenwärtig im EG-Raum die Verfügbarkeit und Qualität von „Humankapital“ der ausschlaggebende Standort-faktor. Mangel an gutausgebildeten Fachkräften besteht faktisch in allen Regionen -sowohl in den rückständigen wie in den Spitzenregionen.

Die neuen Bundesländer verfügen auch im Vergleich zur alten Bundesrepublik und zu den anderen EG-Ländem über ein bedeutendes Humankapital. Die Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen war 1988 in beiden deutschen Staaten fast identisch. In der DDR waren 62, 5 % der Berufstätigen Facharbeiter, in der Bundesrepublik 58%. Der Anteil der Beschäftigten mit Hoch-und Fachschulabschluß betrug in der DDR 21, 2% und in der Bundesrepublik 18, 8%. Dieses Humankapital zu erneuern und strukturell zu vervollkommnen, jedenfalls nicht beschäftigungslos werden zu lassen, ist eine entscheidende Aufgabe bei der Vitalisierung des ehemaligen DDR-Raums. Ein Massenexodus von Leistungsträgern in die westlichen Bundesländer würde Ostdeutschland dauerhaft zu einer Kummer-Region des vereinten Deutschlands machen. Eine Zerstörung des Humankapitals in den neuen Bundesländern kann nur im Rahmen von wettbewerbsfähigen Unternehmen verhindert werden.

VIII. Reaktivierung von Innovation und Management

Der dramatische Rückgang der Industrieproduktion in den letzten Monaten ist nicht so sehr das Ergebnis des Zusammenbruchs der Märkte der Ex-DDR in Osteuropa. Seine eigentliche Ursache liegt in der Schwäche des Angebots, d. h. im Fehlen von wettbewerbsfähigen Erzeugnissen, effizienter Technologien und marktorientierter Innovationsstrategien. Eine Analyse des Ifo-Instituts München zeigt, daß sich in den neuen Bundesländern nur 23 % der Erzeugnisse in der Einführungsund Wachstumsphase des Innovationszyklusses befinden, dagegen 67 % in der Stagnations-und Schrumpfungsphase. Im Vergleich hierzu waren in den alten Bundesländern 48 % in der Einführungsund Wachstumsphase und 52 % in der Stagnationsund Schrumpfungsphase Hier ist der Zeitfaktor ausschlaggebend. Zeitverluste im Innovationsprozeß sind irreversibel. Sie sind auch durch Kostensenkungen, Personalabbau oder Steuererleichterungen nicht wettzumachen. Es ist wohlbekannt, daß z. B. im Elektronikbereich ein Produzent, der bei einem neuen Speicher-Chip nur 16 Monate nach dem Erstproduzenten auf dem Markt erscheint, nur noch ein Fünftel von dessen Erlösen realisieren kann. Falls er erst drei Jahre nach dem Pionier auf den Markt kommt, werden seine Grenzkosten die Grenzerträge übersteigen, und er wird die Produktion einstellen müssen.

Es kann also nicht darum gehen, die knappen Mittel flächendeckend zu verteilen und mit ihnen Löcher zu stopfen. In der Industrie muß vor allem durch gezielte finanzielle Hilfe und Anreize zur Forschungskooperation mit Unternehmen der alten Bundesrepublik erreicht werden, daß die Innovationskraft ostdeutscher Unternehmen -vor allem im produzierenden Gewerbe -sich erhöht. Durch das gegenwärtige Klima des Abwartens und der Ungewißheit in den Unternehmen der Ex-DDR über die Pläne der Treuhand ist der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung -die Innovationstätigkeit -lahmgelegt worden. Mit jedem Tag sinkt der Ertragswert der Unternehmen. Dies führt wiederum bei den potentiellen Käufern und Teilhabern zum Abwarten in der Hoffnung, später noch preisgünstiger einsteigen zu können.

Eine Reihe von Unternehmen in Westdeutschland hat zwar mit einer Vielzahl von Kooperationsaktivitäten ihren Anspruch auf bestimmte Betriebe angemeldet -es sollen mehr als 2 000 sein -, aber zu größeren Investitionen und Technologietransfer ist es bisher nur selten gekommen.

Eine entscheidende Ursache für das Erliegen der Innovationsprozesse in den neuen Bundesländern ist die Situation der Industriemanager. Der größte Teil von ihnen ist abberufen oder nur geschäftsführend tätig, ohne eine vertragliche Sicherstellung. Falls sie zu selbstbewußt und unbequem werden, diskriminiert man sie als Wendehälse aus der SED-Zeit. Wenn sie dagegen entgegenkommend sind, so heißt es, wie ein Schweizer Firmenberater höhnte, „die lassen sich doch von jedem aus dem Westen über den Tisch ziehen. Versuchen Sie es mal: Die unterschreiben alles, was Sie wollen.“

Dies ist ein Zustand, der nicht gerade dazu angetan ist, eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen und erfolgversprechende Innovationsstrategien in den Unternehmen zu implementieren. Sollen die Unternehmen in den neuen Bundesländern langfristig wettbewerbsfähig werden, dann muß das Management -aber auch die Arbeitnehmerschaft -die Möglichkeit haben, sich mit den Unternehmen identifizieren zu können.

Hierfür ist es nicht gerade hilfreich, wenn Vorstandsmitglieder der Treuhand aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen und öffentlich erklären, daß sie auf das Managementpotential in den neuen Bundesländern verzichten und zehntausende Manager aus der alten Bundesrepublik für Unternehmen in den neuen Bundesländern anwerben wollen. Von den mittleren Managern in der ehemaligen DDR behaupten sie, daß diese lediglich an die pünktliche, quantitative Erfüllung der Pläne gewöhnt seien. Wer nur halbwegs informiert ist, wie die zentrale Planwirtschaft funktioniert hat, der weiß, daß die wesentlichen Aktivitäten in den Betrieben sich am Plan vorbei vollzogen haben. Dies erforderte eine enorme Flexibilität und auch den Mut zum Risiko, allerdings in einer deformierten Weise. Es wäre ein Verhängnis, wenn man dem mittleren Management in der Ex-DDR jetzt nicht die Chance geben würde, am Aufbau der Wirtschaft der neuen Bundesländer maßgeblich mitwirken zu können. Man stelle sich vor, was aus der deutschen Industrie geworden wäre, wenn die angloamerikanischen Besatzungsmächte darauf bestanden hätten, die Chefetagen mit „politisch unverdächtigen“ Harvard-oder Oxfordabsolventen zu besetzen.

Es ist schon beschämend, daß ein amerikanischer Firmenberater wie Charles R. La Mantia uns Ratschläge geben muß, wie wir mit den Managern in Ostdeutschland umzfgehen haben. Sein Rat ist: „Es wäre falsch, die ostdeutschen Manager zu unterschätzen. Sie lernen schnell hinzu. Der zweiten und dritten Generation sollte eine Chance gegeben werden. Die Manager der ostdeutschen Betriebe brauchen mehr Freiraum, sie brauchen Kapital, sie brauchen westliche Partner, um schnell wettbewerbsfähige Produkte anzubieten. Dafür ist der Transfer von Technologien und Produktideen notwendig, aber nicht die Aufgabe der Selbständigkeit aller ostdeutschen Firmen.“

Was wir gegenwärtig in den neuen Bundesländern brauchen, sind dynamische Unternehmer und Manager aus Ost und West, die selbstbewußt und risikobereit genug sind, an der Grenze von Wissen und Nichtwissen die dortigen Chancen für Innovationen zu erkennen und entschlossen zu nutzen.

IX. Das ostdeutsche Paradigma der Systemtransformation und die Lehren für die Länder Mittel-und Osteuropas

Die Systemtransformation in der Ex-DDR zeigt, welche komplizierten ökonomischen und sozialen Probleme hierbei bewältigt werden müssen -selbst unter den äußerst günstigen Bedingungen und beträchtlichen Solidarleistungen der alten Bundesrepublik. Die hier gemachten Erfahrungen sind nicht nur für die Reformländer von großem Nutzen, sondern auch für die westlichen Länder bei ihren Bemühungen, diesen Prozeß zu unterstützen. Folgende deutsch-deutsche Erfahrungen können für den Reformprozeß dieser Länder von Nutzen sein: -Einführung einer marktwirtschaftlichen Währungsverfassung als ein entscheidender Ausgangspunkt für den Transformationsprozeß von der zentralen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft. Sie muß aber mit einem Programm des strukturellen Wandels verbunden werden. Man kann sich auf die Koordinationsfähigkeit des Marktes nicht verlassen, wenn die notwendigen Bedingungen dazu noch nicht gegeben sind. -Um die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zu erhöhen, geht es vor allem darum, das vorhandene produktive Potential in leistungsfähigen Unternehmen neu zu formieren. Eine totale Privatisierung der Unternehmen gleich zu Beginn ist selbst unter günstigen Bedingungen -

wie im vereinten Deutschland -nicht zu realisieren.

Neben Privatbetrieben werden über eine längere Zeit gemischtwirtschaftliche Unternehmen existieren, die Sch aber voll dem Wettbewerb stellen müssen. Den westeuropäischen Anteil an Privatuntemehmen von über 80 % anzustreben an den Gesamtbeschäftigten ist zwar wünschenswert, aber nur längerfristig zu erreichen. -Der Zutritt zu den Märkten der Länder Mittel-und Osteuropas muß für westliche Unternehmen zunächst im Ausmaß und in der Struktur vom Staat geregelt werden. Es muß verhindert werden, daß die ausländischen Investitionen sich nur auf die Schaffung von Vertriebskanälen ihrer Waren konzentrieren und nichts zum Strukturwandel der Produktion und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen. -Die Vernichtung des beträchtlichen Forschungspotentials und die Vernachlässigung vorhandenen Human-Kapitals in den Reformländern muß verhindern werden. Deshalb brauchen die Reformländer Unterstützung bei der Schaffung eines modernen Systems der Weiterbildung sowie bei der Reorganisation der Bildungs-und Forschungseinrichtungen. Mit den Forschungsinstituten dieser Länder muß eine umfassende Kooperation angestrebt werden. Nur so können die Erzeugnisse und Technologien modernisiert werden. -Von besonderer Bedeutung ist die Förderung und Weiterbildung einer neuen Generation von Managern. Jenen Managern, denen es gelingt, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ein leistungsfähiges Unternehmen zu formieren, sollte ein Teil des Unternehmenskapitals als persönliches Eigentum überschrieben werden.

Damit kann die Auflösung von Produktionspotentialen und Verschleuderung von bisherigem staatlichen Eigentum verhindert werden. -Die Systemtransformation kann nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, eine leistungsfähige Verwaltung zu schaffen. Die Rechtsnormen der EG sowie deren Erfahrungen bei der Wirtschaftsförderung sind für die Länder von großer Bedeutung. Enge Arbeitsbeziehungen, Weiter-

bildungs-und Hospitationsmöglichkeiten müßten bald initiiert werden. -Die Integration der Reformländer in die europäische Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft setzt eine intensive kulturelle Kommunikation mit den Eliten dieser Länder voraus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Otto Schlecht, Maß und Mitte, in: Wirtschaftswoche vom 3. 5. 1991, S. 41.

  2. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 2. 2. 1991,

  3. Vgl. Harry Maier/Siegrid Maier, Vom innerdeutschen Handel zur deutsch-deutschen Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft, Köln 1990, S. 31 ff.

  4. Vgl. DIW-Wochenbericht, Nr. 24/91 vom 13. 6. 1991, S. 324 ff.

  5. Vgl. Die ostdeutsche Wirtschaft in der Anpassungskrise, IAW, Berlin 1991, S. 27.

  6. DIW-Wochenbericht (Anm. 4), S. 326.

  7. Till Necker, Ohne lebensfähige Industrie kein selbsttragender Aufschwung in den neuen Bundesländern, in: Forum, hrsg. vom Institut der deutschen Wirtschaft, Nr. 23 vom 4. 6. 1991, S. 2.

  8. Charles R. La Mantia, Von Japan lernen, in: Wirtschaftswoche vom 10. 5. 1991, S. 56.

  9. Vgl. Wirtschaftswoche vom 24. 5. 1991, S. 14.

  10. Vgl. FAZ vom 21. 6. 1991, S. 16.

  11. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Sondergutachten vom 13. 4. 1991, S. 14.

  12. DIW-Wochenbericht, Nr. 18/19 1991 vom 3. 5. 1991. S. 250.

  13. T. Necker (Anm. 7), S. 2.

  14. Wolfram Engels, Rauchschleier, in: Wirtschaftswoche vom 26. 4. 1991. S. 214.

  15. Eduard Cointreau, Privatisierung, Düsseldorf 1987, S. 65.

  16. Vgl. Harry Maier, Die Mär vom maroden Osten, in: Die Zeit vom 15. 2. 1991, S. 23.

  17. Wolfram Engels, Offensiv vertreten, in: Wirtschaftswoche vom 21. 6. 1991, S. 109-114.

  18. Birgit Breuel, Das erschlägt jede Bilanz, in: Wirtschaftswoche vom 24. 5. 1991, S. 18f.

  19. Vgl. Harry Maier, Gnadenlose Dampfwalze, in: Die Zeit vom 7. 6. 1991, S. 86.

  20. Vgl. Ifo-Konjunkturtest in den neuen Bundesländern, Ifo-Schnelldienst, Nr. 16/17 vom 10. 6. 1991, S. 11.

  21. Nicolas G. Hayek, Da droht Revolution, in: Wirtschaftswoche, Nr. 1/2 vom 4. 1. 1991, S. 46.

  22. Ch. R. La Mantia (Anm. 8), S. 56.

Weitere Inhalte

Harry Maier, Dr. rer. oec., geb. 1934; vormals Professor der Akademie der Wissenschaften der DDR und stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften; seit 1988 Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftswissenschaften an der Nordischen Universität und ab 1990 an der PH Flensburg. Veröffentlichungen u. a.: Innovation oder Stagnation, Köln 1987; (zus. mit Siegrid Maier) Vom innerdeutschen Handel zur deutsch-deutschen Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft, Köln 1990.