I. Von Europa lernen?
Spätestens seit dem sogenannten Iran-Schock zeichnet sich der Zusammenbruch des europäischen Entwicklungsmodells sowohl in der Dritten Welt als auch in Europa ab. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Experten in West, Ost und Süd davon ausgegangen, daß allein die Imitation des kapitalistischen oder des kommunistischen Entwicklungsweges die Dritte Welt in ein goldenes Zeitalter dauerhafter Prosperität führen würde. Offen oder versteckt orientierte man sich an dem berühmten Satz von Karl Marx: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minderentwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.“
Eingeläutet wurde die atemlose Aufholjagd der Dritten Welt durch US-Präsident Harry S. Truman, der am 20. Januar 1949 vor dem Kongreß verkündete: „Wir müssen ein kühnes neues Programm in Gang setzen, um die Wohltaten unseres wissenschaftlichen und industriellen Fortschritts für Besserstellung und Wachstum der unterentwikkelten Gebiete einsetzen zu können.“
Die Zweiteilung der Welt in sogenannte entwickelte und unterentwickelte Gebiete schuf eine neue Ordnung. Horizontal ließen sich so verschiedene Welten wie die der Harijans, der Tuareg und der Zapoteken als gleichartig einstufen, und vertikal im Vergleich zu den reichen Nationen auf eine Position hoffnungsloser Rückständigkeit verweisen. Ein neues Weltbild hatte seinen bündigen Ausdruck gefunden: Die Höhe der Zivilisation eines Landes läßt sich an der Höhe seiner Produktion ablesen
Der Imperativ wirtschaftlichen Wachstums wurde zum geschichtsteleologischen Glaubensbekenntnis: Von Entwicklung zu sprechen hieß nichts anderes, als das europäische Gesellschaftsmodell auf die gesamte Welt zu projizieren. Fortan lautete die magische Formel für die „Unterentwickelten“: Aufholen. Der Süden wollte -überspitzt ausgedrückt -so werden wie der Norden, nur schneller. Die Entwicklung ganzer Gesellschaften wurde zur Aufgabe einer neuen Klasse von Sozialingenieuren.
II. Wachstum ohne Entwicklung
Im Zeichen des postkolonialen Wettlaufs um die Dritte Welt lernten die Propagandisten in Ost und West sehr bald, die komparativen Vorteile ihres jeweiligen Fortschrittsmodells anzupreisen. Tatsächlich jedoch basieren die gängigen Modelle kapitalistischer und kommunistischer Entwicklung auf einer Reihe gemeinsamer Annahmen -Beide Modelle erklären Unterentwicklung mit einem strukturellen Mangel an Kapital, technischem Know-how und Infrastruktur, aber auch mit der ineffizienten Organisation der Gesellschaft, kurz: Armut durch Kapitalmangel. -Sie setzen Entwicklung mit wirtschaftlichem Wachstum und forcierter Industrialisierung gleich. Entwicklung wird nur durch Wachstum möglich. -Beide Modelle gehen davon aus, daß die Wachstumsgewinne gleichsam automatisch zu den ärmeren Regionen und Bevölkerungsgruppen der Dritten Welt „durchsickern“ werden (trickle-down-Effekt).
Alle drei Annahmen des konventionellen Wachstumskonzepts haben sich als problematisch, wenn nicht gar als falsch erwiesen. Auch ohne zu „masochistischer Selbsterniedrigung“ (P. Berger) zu neigen, kann man argumentieren, daß europäische Gesellschaftsmodelle nicht kritiklos in außereuropäische Kulturen exportiert werden können, zumindest nicht ohne erhebliche soziale Kosten. Hierfür sprechen theoretische wie empirische Überlegungen: -Ausgerechnet in den ärmsten Ländern der Dritten Welt wollte sich trotz energischer Bemühungen wirtschaftliches Wachstum nicht einstellen. Mehr noch: Die Hungerländer der südlichen Hemisphäre sind seit Anfang der achtziger Jahre durch wirtschaftlichen Verfall geprägt, nicht durch wirtschaftlichen Fortschritt. -In den entwickelteren Schwellenländern war zwar ein historisch präzedenzloses Wachstum zu verzeichnen, nicht selten aber auch eine beschleunigte Zunahme von Armut, Unterernährung und Arbeitslosigkeit. Zweifellos wäre es absurd, dieses Ergebnis als „Entwicklung“
zu bezeichnen. -Wirtschaftliche Fortschritte -wenn sie sich denn einstellten -wurden von den herrschenden Staatsklassen abgeschöpft. Der erhoffte trickle-down-Effekt trat nicht ein. Die Entwicklungsdiktaturen der Dritten Welt verkamen -von erklärungsbedürftigen Ausnahmen abgesehen -zu Diktaturen ohne Entwicklung. -Die kapitalistischen und kommunistischen Modelle konnten die drängendsten Probleme der Dritten Welt kaum lösen. Wie sich zeigen sollte, haben sie in einigen Fällen bestimmte soziale und wirtschaftliche Probleme sogar erst hervorgerufen. „Die Experten (beschlich) die Ahnung, daß es mit hohen Wachstumsraten nicht getan war. Armut vermehrte sich gerade im Schatten von Reichtum, die Arbeitslosigkeit zeigte sich wachstumsresistent, und der Ernährungslage war mit Stahlwerken auch nicht zu helfen.“
Das ersehnte goldene Zeitalter weltweiten Wohlstands erwies sich als Illusion und wurde als solche erkannt. Die Weltbank -bislang durch Kritik am orthodoxen Wachstumskonzept nicht sonderlich aufgefallen -kommt denn auch in ihrem neuesten Bericht zu folgendem Resümee: „Vielen Entwicklungsländern ist es nicht nur mißlungen, mit den Industrieländern Schritt zu halten, ihre Einkommen sind vielmehr gesunken“ wirtschaftliche Fortschritte seien vor allem den oberen Klassen zugute gekommen. „Für viele Arme in der Welt waren die achtziger Jahre ein verlorenes Jahrzehnt -in der Tat eine Katastrophe.“ Und weiter heißt es: „Eine deutliche Verbindung zwischen Auslandshilfe und Verringerung der Armut hat sich nur schwer finden lassen.“ Wirtschaftliches Wachstum in der Dritten Welt war „Wachstum ohne Entwicklung“ (wie immer man Entwicklung auch im einzelnen definieren mag).
III. Grundbedürfnisse und Entwicklung von „unten“
Die ersten Entwicklungsdekaden hatten enttäuschende Ergebnisse gezeitigt. Die überkommene Wachstumsstrategie mußte revidiert werden. Entwicklungsprogramme und Projekte entdeckten endlich die existentiellen Bedürfnisse der Armen. Kein geringerer als Weltbankpräsident McNamara gab 1973 die neue Losung aus: „Wir sollten danach streben, absolute Armut bis zum Ende dieses Jahrhunderts auszurotten. Das heißt praktisch, Unterernährung und Analphabetentum zu beseitigen, Kindersterblichkeit zu vermindern, die Lebenserwartung auf das Niveau der entwickelten Welt zu heben.“
Analytisch, nicht jedoch faktisch, wird seither zwischen materiellen und immateriellen Grundbedürfnissen unterschieden. Zu den materiellen Grundbedürfnissen hat man bestimmte Mindesterfordernisse an Nahrung, Kleidung, Wohnung und Arbeit gezählt, zu den immateriellen Bedürfnissen menschliche Würde, kulturelle Identität und demokratische Teilhabe. Die Bedeutung gesellschaftlicher Mitbestimmung kann nicht genug betont werden. Julius Nyerere, ehemaliger Staatspräsident Tansanias, äußerte sich zu dieser Problema-tik folgendermaßen: „Die Vollmacht zur Beteiligung am eigenen Entscheidungsprozeß hat absolut grundlegenden Charakter. Wenn nicht jeder wirksam Anteil an seiner Regierungsgewalt hat, statt immer nur Entscheidungen anderer Leute auszuführen, kann es keine Gleichheit in menschlicher Würde und in der gesellschaftlichen Stellung geben. Ebensowenig wird es dabei ein größeres Maß an Fortschritt zur wirtschaftlichen Entwicklung geben.“
Das Grundbedürfniskonzept beruht auf zwei Annahmen: -Es gibt universelle Werte der Menschheit, die für alle Völker, Epochen und Weltanschauungen verbindlich sind. „Die Grundbedürfnisstrategie ist ... nicht unsere Erfindung. Alle großen Religionsbegründer, Jesus, Mohammed und Buddha, haben darauf hingewiesen, daß die Grundbedürfnisse der Armen nicht befriedigt werden. Das ist eine sehr alte und auch humanistische Idee. Aber die ökonomische Anwendung wurde total aus dem Auge verloren.“
-Wirtschaftliches Wachstum ist nicht Voraussetzung für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern seine Folge. Die Verbesserung der Ernährungssituation, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Garantie demokratischer Rechte werden das Wirtschaftswachstum erhöhen (und nicht umgekehrt). Anstelle eines trickle-down-Effektes kommt es also zu einem trickle-up-Effekt: Die konventionelle Wachstumsstrategie wird vom Kopf auf die Füße gestellt.
Mit der Konzentration auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse ist die Debatte über „Entwicklung“ zum Ausgangspunkt der Ökonomie zurückgekehrt. In dieser Rückbesinnung auf das Fundamentale und Existentielle steckt zugleich das Eingeständnis des Scheiterns vieler Theorien, Konzeptionen, Programme und Pläne, des Scheiterns vor allem der Aufholstrategie. „Niemand kann sich ein Indien vorstellen, wo die 1000 Mio. Menschen, die um die nächste Jahrhundertwende dort leben dürften, mit 250 Mio. Personenautos durch die Gegend fahren. Das wäre westeuropäischer Standard. Im Augenblick gibt es in Indien eine halbe Million Autos, und diese reichen aus, die Luft in indischen Großstädten unerträglich zu machen... Peru könnte die Europäische Gemeinschaft im Pro-Kopf-Einkommen in 359 Jahren, Uganda schon in 356 Jahren einholen, bei Pakistan würde es allerdings 1356 Jahre dauern.“
Für die praktische Entwicklungspolitik heißt dies: Abschied nehmen von der stadtzentrierten Industrialisierungsstrategie mit ihren kapitalintensiven Großprojekten. Statt dessen müssen die Bedürfnisse jener Milliarde Armer und Entrechteter in den ländlichen Hungergebieten, aber auch in den Slums der Städte, der Landlosen, der Frauen und Kinder und des Lumpenproletariats ins Zentrum entwicklungspolitischen Interesses rücken.des
Eine solche Politik, die direkt und unmittelbar die Lebensbedingungen der Armen verbessern will, sollte sich inhaltlich durch folgende Punkte auszeichnen: -Erstens durch die Verbesserung der Subsistenzmöglichkeiten armer Landbewohner. Hier geht es um die Ausweitung kultivierter Bodenflächen, um die Einführung ökologischer Formen des Landbaus und um die Förderung ländlicher Kleinindustrien. Notwendige, möglicherweise sogar hinreichende Bedingung für eine Verbesserung der Lebensbedingungen wäre der Zugang der Landlosen zu produktivem Land; mit anderen Worten: Nach aller Erfahrung ist das Problem ländlicher Armut ohne umfassende Agrarreformen nicht zu lösen.
-Zweitens durch die Schaffung von Arbeit und Einkommen in den Elendsquartieren der wuchernden Metropolen. Da der Versuch, Beschäftigung im formalen Wirtschaftssektor zu schaffen, aus den bekannten Gründen gescheitert ist, muß der informelle Sektor, die Schattenwirtschaft der städtischen Armen, gefördert werden; allerdings ohne das produktive Potential der Hinterhofwirtschaft durch Formalisierung zu ersticken. Denn die informellen Kleinstbetriebe produzieren mit arbeitsintensiver Technologie und orientieren ihre Erzeugung am kaufkraftarmen Proletariat.
-Drittens muß der Staat sich vom autoritären Militärstaat zum demokratischen Staat wandeln, eine Forderung, für die auch immer mehr Revolutionäre in der Dritten Welt ihr Leben riskieren. „Die Demokratisierung des Entwicklungsprozesses ist eine Grundbedingung für die sozioökonomische Erholung und Umgestal-tung", sagt Adebayo Adedeji, Vorsitzender der UN-Wirtschaftskommission für Afrika, „und unter dieser Demokratisierung verstehen wir größere Rechte für die Menschen, ihre Einbindung in die Entscheidungsfindung, in Umsetzungs-und Kontrollprozesse." Der demokratische Entwicklungsstaat muß soziale Basisdienste für die Armen anbieten, z. B. im Gesundheitswesen (durch den Einsatz sogenannter „Barfußärzte“), im Wohnungsbau durch lokale Baugenossenschaften und in der ländlichen Bildung durch lebenspraktische Erziehung.
Mit den Worten der Weltbank heißt dies: „Empirische Erkenntnisse legen nahe, daß schnelle und politisch dauerhafte Fortschritte im Kampf gegen die Armut durch eine Strategie erzielt werden können, die zwei gleichrangige und gleichgewichtige Elemente umfaßt: Das erste Element ist die produktive Nutzung der Arbeitskraft der Armen, über die sie im Überfluß verfügen, das zweite die Versorgung der Armen mit sozialen Basisdiensten.“
Die Schlüsselworte lauten: „Empowerment of the Poor“ und „People’s Economy“, die Stärkung einer -im wahrsten Sinne des Wortes -VolksWirtschaft. Konkret bedeutet dies die Förderung von sogenannten „Graswurzelinitiativen“ und Kleinstprojekten, die auf das kollektive Erfahrungswissen der Einheimischen, auf ihre Eigeninitiative und Selbsthilfe zurückgreifen. „Nicht Millionenprojekte, sondern Millionen von Projekten“ wurde zum neuen Slogan der bundesrepublikanischen Entwicklungshilfe.
IV. Die „Modernisierung“ der Armut
Was zunächst als kopemikanische Wende in der Entwicklungspolitik gefeiert wurde, erwies sich bei näherem Hinsehen als problematisch. In der theoretischen Diskussion produzierte das Grundbedürfniskonzept mehr Fragen als Antworten. Und in der Praxis lief es Gefahr, von einer großen Koalition interessierter Kreise aus Industrie-und Entwicklungsländern blockiert zu werden.
Die theoretischen und methodischen Probleme liegen auf der Hand: Der herkömmliche Maßstab für „Entwicklung“, das Sozialprodukt, mußte durch ein System sozialer Indikatoren ersetzt werden, um Grundbedürfnisse und Lebensbedingungen zumindest annäherungsweise messen zu können. Die ersten Versuche,. einen „Index für physische Lebensqualität“ zu entwickeln (mit dem wichtigen Bestandteil der durchschnittlichen Lebenserwartung) sind mit der sarkastischen Bemerkung kommentiert worden: „Ein längeres Leben muß kein besseres Leben sein.“ Und der jüngste Versuch der Vereinten Nationen, einen Indikator für sogenannte „menschliche Entwicklung“ (Human Development Index) zu kreieren, läßt noch Schlimmeres befürchten Immerhin sollte zu denken geben, daß laut UN eine überdurchschnittliche „humane“ Entwicklung Staaten wie Kampuchea, Vietnam, Kuba, Sri Lanka, Chile, Albanien, Südkorea und die VR China aufweisen, die als „Dracula-Regime" (Th. Hanf) bezeichnet worden sind. Eine konsensfähige Messung und Bewertung in bezug auf das, was menschliche Entwicklung ausmacht, steht also noch aus und ist wegen seiner normativen Inklination nur schwer zu realisieren.
Die Ansichten darüber, was konkret unter Grundbedürfnissen zu verstehen ist, gehen bisweilen erheblich auseinander. Inzwischen konnte jedoch Einigkeit darüber erzielt werden, daß basic needs nach Kontinenten und Kulturen zu differenzieren sind, etwa was Kleidung, Nahrung und Wohnung anbelangt. Kontrovers wird hingegen unverändert die Frage diskutiert, ob die Verwirklichung materieller Grundbedürfnisse Vorrang vor der Verwirklichung immaterieller Werte -etwa kultureller Identität und politischer Teilhabe -haben sollte.
Trotz konzeptioneller Neuerungen ist der Grundbedürfnisansatz bislang immer noch Messung ohne Theorie. Er liefert nicht -wie etwa die Dependenz-und die Modernisierungstheorien -geschichts-und gesellschaftsanalytisch begründete Erklärungen für die Ursachen der Armut. Schwerwiegender noch: Der basic-needs-Ansatz blendet die internationalen Dimensionen der Unterentwicklung, ungleiche Austauschverhältnisse, Auslandsverschuldung, EG-Agrarprotektionismus, aus und „ignoriert damit einen wesentlichen Bedingungsfaktor seiner eigenen Durchführbar-keit" Ebensowenig berücksichtigt das Grundbedürfniskonzept die innenpolitischen Widerstände eines Kampfes gegen das Massenelend, sondern „prangert nur die Folgen seiner Unterlassung an“ Dies verweist ganz allgemein auf die politische Naivität der Grundbedürfnisstrategie. Sie ist -wie sich sehr bald zeigen sollte -in weiten Teilen Rhetorik ohne Politik.
Entwicklungshilfe ist auch Geschäft. Und die Gewinne aus kleinen Selbsthilfeprojekten können nicht mit jenen aus Flughäfen, U-Bahnen und Staudämmen konkurrieren. Folglich betrachtet die Exportindustrie der reichen Länder Grundbedürfnisvorhaben mit Zurückhaltung. Nicht selten wird der Kampf gegen die Armut zum humanitären „Sozalklimbim" erklärt oder zur „Software“, wo doch Auslandshilfe harten Wirtschafts-und Beschäftigungsinteressen dienen sollte, und zwar denen der reichen Länder.
Auch die Großorganisationen der internationalen Hilfe-Industrie sind für einen Kampf gegen das Massenelend schlecht gerüstet; ein Vorgehen, das basisnahe, milieugerechte Kleinprojekte unter der Beteiligung der Armen voraussetzt. Der Zwang für zentralistische Planungsbürokratien, in einem vorgegebenen Zeitraum zugewiesene Mittel ausgeben zu müssen (im Fachjargon heißt dies: „Die pipeline muß freigepumpt werden“), bedeutet in der Praxis eine bürokratieimmanente Prämie auf große Entwicklungsprojekte mit möglichst viel physischer „hardware“. Ein industrielles Großvorhaben ist für die Entwicklungsverwaltung leichter abzuwickeln als 100 ländliche Kleinprojekte (ein Phänomen, das in zentralen Planwirtschaften unter der Überschrift „Tonnenideologie“ thematisiert An quantiativem Wachstum orientierte wird).
Großprojekte sind aber ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Grundbedürfnisstrategie ursprünglich anvisierte
Es kann nicht erstaunen, daß der Kampf gegen die Armut auf die größten Widerstände bei den Reichen in der armen Welt stößt. Unter den Regierungen ist der Verdacht verbreitet, das Grundbedürfniskonzept sei ein Angebot Zweiter Klasse, das der Dritten Welt die „High-Tech“ -Verfahren der führenden Industriestaaten vorenthält und dann eine Art technologische Apartheid zementieren soll. Sie befürchten eine Neuauflage des Morgenthau-Planes, der die Dritte Welt auf die landwirtschaftliche Erzeugung beschränken -und damit die neokoloniale Vorherrschaft der Industrienationen verewigen solle.
Die Großprojekte der Hilfe-Industrie sind ein begehrtes Objekt jener rentseekers, die unter den Staatsklassen der Dritten Welt eher die Regel als die Ausnahme sind. Schließlich ist es inzwischen kein Geheimnis mehr, daß in Bereicherungsdiktaturen erhebliche Möglichkeiten bestehen, persönliche Profite aus Großinvestitionen herauszuschlagen.
Der letzte und vermutlich wichtigste Grund, den Kampf gegen die Armut zu sabotieren, ist ein politischer. Eine erfolgreiche Mobilisierung der Armen, Selbstbestimmung und politische Teilhabe bedeuten den Beginn einer sozialen Revolution. Und diese ist erfahrungsgemäß der Anfang vom Ende illegitimer Macht und Privilegien der Staatsoligarchien. Sie reagieren mit den bekannten Methoden der Konterrevolution, die durch die Anwendung von „Zuckerbrot und Peitsche“ gekennzeichnet sind. Gemäßigte Mittelschichten werden gezielt privilegiert, und gegen „unbelehrbare“ Bürgerrechtsbewegungen wird mit eiserner Faust vorgegangen.
Was mit großer Emphase als Lösung der sozialen Frage des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde, verkam nicht selten zu bloßer Rhetorik. Eine unheilige Allianz aus organisierten Interessen blockierte weiterreichende Sozialreformen. Der Kampf gegen die Armut wurde entweder nicht angegangen oder gesellschaftspolitisch kastriert und auf diese Weise „dazu verurteilt, den jeweiligen Status quo des jeweiligen Entwicklungslandes zu stützen und zu fördern“ Die Armen wurden nicht erreicht -auch deshalb, weil man sie nicht erreichen wollte. Was bleibt, ist die unleugbare Tatsache, daß das Schicksal der „Verdammten dieser Erde“ (F. Fanon) seither nicht mehr von der internationalen Tagesordnung zu streichen ist.
V. Dauerhafte Entwicklung und „Eco-Development“
Die Armut wuchs, statt abzunehmen. Die Auslandsverschuldung der Dritten Welt stieg nahezu exponentiell an. Gegen Ende der achtziger Jahre mehrten sich die Anzeichen einer globalen Umweltkrise, etwa in Gestalt des Treibhauseffekts, des Ozonlochs und der Vernichtung der tropischen Regenwälder. Offenbar hatte die konventionelle Wachstumsstrategie lediglich die Sackgasse verlängert, in der die Menschheit steckte. „Und wenn wir dies erkennen, müssen wir alle Überzeugungen begraben, an denen sich unsere westliche Zivilisation in den letzten zweihundert Jahren berauscht hat.“
Das überkommene Entwicklungsmodell sieht dem wirtschaftlichen Fortschritt der Menschheit keine prinzipiellen Grenzen gesetzt. Es beruht auf jener abendländischen Ethik, nach der der Mensch sich die Erde untertan machen solle und müsse. Die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen liegt jenseits des Horizonts einer materialistischen Wachstumsideologie (ökologische Blindheit).
Die europäisch-industrielle Zivilisation gilt als Maß aller Dinge. Ihre Werte, Tugenden und Techniken setzen weltweit die Maßstäbe -zum Guten wie zum Schlechten. Folglich gelten außereuropäische Kulturen als irgendwie „inferior“ oder „rückständig“. Ihre kulturelle Identität -sofern noch vorhanden -muß dem zivilisatorischen Fortschritt geopfert werden (EuroZentrismus).
Beide Annahmen des europäischen Fortschritts-modells werden neuerdings vom Konzept des Eco-Development radikal in Frage gestellt.
Die orthodoxe Sicht, unbegrenztes Wachstum sei eine Art ewiges Gesetz, muß relativiert werden. Unendliches Wachstum ist in einer Welt mit endlichen Ressourcen weder möglich noch wünschenswert. Andererseits ist eine generelle Fortschritts-feindlichkeit auch nicht angezeigt, da es nicht sinnvoll ist, den Wachstumsmythos durch einen Mythos vom Null-Wachstum zu ersetzen. Statt Wachstum einer „Ramboökonomie“ (E. U. v.
Weizsäcker) sei dauerhafte Entwicklung notwendig: „Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Nur auf diese Weise könne ein Überleben der Menschheit auf Dauer gesichert werden. „Öko-Entwicklung“ beruht daher auf einem Begriff des Fortschritts, der sich auf die spezifischen kulturökologischen Bedingungen einer spezifischen Region bezieht. Überlebensnotwendig ist nach ihm die Formulierung eines angepaßten Entwicklungsmodells, das der Kultur -im Sinne historisch erlernter Lebensmuster dem Wirtschaftspotential und der natürlichen Umwelt einer bestimmten Region entspricht. Entwicklung bedeutet dann die effiziente Nutzung des vorhandenen Potentials, so daß das ökologische System (als äußere Grenze) erhalten und die Grundbedürfnisse der Menschen (als innere Grenze) befriedigt werden.
Folgt man den Öko-Theoretikern, so wird das Überleben des Raumschiffs Erde von zwei Seiten bedroht: Vom Überkonsum in den reichen -und vom Unterkonsum in den armen Gesellschaften; wenn man so will, von einer doppelten Fehl-Entwicklung der Menschheit. „Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die derzeit reiche Minderheit der Weltbevölkerung ein ressourcenverbrauchendes und umweltschädigendes Wohlstandsniveau beansprucht, das weit über das für alle Menschen ökologisch mögliche Niveau hinausgeht.“ In Überflußgesellschaften sind Umweltschäden die Folge exzessiven Wachstums und ungebremster Nachfrage nach immer mehr Gütern und Dienstleistungen. Sie sind das Ergebnis von Materialismus und Gewinnsucht.
In Drittweltgesellschaften hingegen sind die meisten Umweltschäden die Folge von Armut, nicht von Überfluß. Da ein System struktureller Gewalt den Armen den Zugang zu Produktionsmitteln (Agrarflächen, Kapital, Bildung) verwehrt, bleibt ihnen häufig nichts anderes übrig, als jene natürlichen Ressourcen -freies Land, Wälder, Seen -auszubeuten, zu denen sie (noch) Zugang haben. Armut ist unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen eine zentrale Ursache der Umweltzerstörung. Und Umweltzerstörung ist umgekehrt eine zentrale Ursache der Armut. Der Teufelskreis lautet: Armut -Bevölkerungswachstum -Umweltzerstörung -Armut.
Nach Lage der Dinge wird der oligarchische Konsumstandard der reichen Minderheit für die Mehrheit der Weltbevölkerung auf Dauer unerreichbar bleiben. „Unser heutiges Wohlstandsmodell geht zu Lasten der ganzen Welt, und es ist nicht auf die ganze Welt ausweitbar; dazu reichen die Ressourcen nicht aus.“ Eine worst-case-Konstellation würde sich einstellen, wenn erstens das oligarchische Verbrauchsniveau der reichen Minderheit weiter anstiege, zweitens die Weltbevölkerung weiter wachsen und drittens die arme Welt weiter eine Strategie aufholenden Wachstums verfolgen würde. Für alle drei Entwicklungen gibt es plausible Prognosen
Gesucht wird ein Entwicklungsmodell, das eine Quadratur des Kreises leistet: Dem Problem der Überentwicklung einerseits und dem der Unter-entwicklung andererseits ist gleichzeitig beizukommen, ohne das Raumschiff Erde in die Luft zu sprengen. „Ein wesentliches Element einer Strategie der dauerhaften Entwicklung muß daher die Beseitigung der absosluten Armut, das heißt, die Sicherstellung eines materiellen Mindeststandards (, floor‘) für alle sein, möglicherweise aber auch die Festlegung eines Höchststandards (, ceiling‘) für die Reichen dieser Erde.“
VI. Unsere gemeinsame Zukunft und alternativer Lebensstil
Die Forderung nach alternativen Modellen ist neuerdings Gemeingut jeder Diskussion. Aber leider kennen wir nicht einmal die richtigen Fragen, von den richtigen Antworten ganz zu schweigen. Die Spannbreite der Diskussion wird unverändert markiert durch professionelle Wachstumsoptimisten (IWF, Weltbank, neokonservative Regierungen) auf der einen -und Pessimisten (Drittweltbewegungen, Umweltschützern) auf der anderen Seite. Eine mittlere Position vertritt neuerdings die Süd-kommission (Nyerere-Kommission). Sie sieht zwar in schnellerem und dauerhaftem Wachstum einen Entwicklungsimperativ, propagiert aber ein qualitatives Wachstum, das die Einkommen der Armen steigert und die natürliche Umwelt schont
Wahlweise werden in der Diskussion Begriffe wie „dauerhafte“, „alternative“, „angepaßte“ oder „gerechte“ Entwicklung gebraucht, um die neue Qualität von Entwicklung zu umschreiben. Neu heißt dabei, Abschied zu nehmen von einer naiven Fortschrittsgläubigkeit, die nicht selten nach dem Motto argumentierte: „Der Fortschritt hat uns die Probleme gebracht, der Fortschritt wird sie auch lösen.“ Übereinstimmung scheint auch darin zu bestehen, daß jedes Modell dauerhafter Entwicklung folgende notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen erfüllen muß: -Ziel humaner Entwicklung kann nicht die Maximierung abstrakter Wachstums-und Produktivitätsziffern, sondern muß die Befriedigung existentieller menschlicher Bedürfnisse sein.
-Entwicklung bedeutet zuerst und vor allem die Emanzipation der Armen und Entrechteten.
Schutz der Menschenrechte, demokratische Freiheiten und politische Teilhabe sind ein Muß. Entwicklungspolitik darf nicht hinter die Menschenrechtscharta der UN zurückfallen.
-Die gängige These „Demokratie durch Entwicklung“
ist vom Kopf auf die Füße zu stellen:
„Entwicklung durch Demokratie“. Dies bedeutet nicht den Export eines Westminster-Modells, wohl aber Orientierung an Menschenrechten, Machtkontrolle und friedlichen Machtwechsel (Werte, für die Menschen von Peking bis Kapstadt ihr Leben riskieren).
-Alternative Entwicklung muß primär von unten kommen, auf Eigeninitiative und Selbstorganisation basieren und ökologisch gesund sein.
Ökologisch gesunde Entwicklung heißt Bewah-rung vorhandener Ökosysteme. Lokale Ressourcen müssen weitgehend erhalten, die Umwelt durch sanfte Technologien geschont werden.
Alternative Entwicklung kann nur dauerhaft sein, wenn der Übergang vom anachronistischen Nationalstaat zur „Weltinnenpolitik“ (C. F. v. Weizsäkker) gelingt. Eine neue Weltordnung muß zwei notwendige, möglicherweise hinreichende Bedingungen erfüllen. Sie muß erstens durch Reform des Weltwirtschaftssystems einen dauerhaften Ressourcentransfer von Reich zu Arm sichern (gegenwärtig findet -global wie national -ein Transfer von Arm zu Reich statt).
Und sie muß zweitens weltweite Abrüstung in Gang setzen, um der Menschheit die schmerzhafte Wahl zwischen Butter und Kanonen zu ersparen. „Solche Vorschläge (mögen) auf dem Hintergrund der politischen Wirklichkeit unserer Tage utopisch erscheinen. Aber um die Grundlage für ein menschenwürdiges, freies und gerechtes Zusammenleben aller zu schaffen, gibt es dazu keine Alternative.“
Schließlich werden Weltmodelle dauerhafter Entwicklung (unabhängig von der Frage, wie sie im einzelnen aussehen mögen) nicht ohne alternative Lebensformen in den Industriegesellschaften möglich sein. Entwicklung in diesem Sinne muß in der Ersten Welt beginnen. Die Problemkinder der Welt sind die reichen Gesellschaften und nicht die armen. Hier sei nur auf die banale Tatsache verwiesen, daß 16 Prozent jener Bevölkerung, die in den Wohlstandsfestungen der Welt leben, 73 Prozent der Erdressourcen verbrauchen.
Die revolutionären Konsequenzen für unsere Lebens-, Wirtschafts-und Zivilisationsformen beschreibt Kurt Biedenkopf so: „Wenn ... letztlich technisch-naturwissenschaftliche Entwicklungen bestimmen, was Fortschritt ist.. dann kann das Fortschrittskonzept keine Kriterien für die Begrenzung der Expansivität des Materiellen liefern. Die Expansivität selbst ist das Konzept... Damit steht unsere westliche Industriegesellschaft einer Aufgabe gegenüber, für die es in ihrer bisherigen historischen Entwicklung kein Vorbild gibt: Sie muß selbst eine inhaltliche Begrenzung ihrer Handlungsräume finden. Begrenzung in diesem Sinne heißt: Sie muß ihr gesellschaftliches und industrielles Handeln in einer Weise begrenzen, die enger ist als die Grenze, welche ihr durch ihr jeweiliges tatsächliches technisch-wissenschaftliches Können gezogen ist. Eine Begrenzung durch Einsicht und Notwendigkeit. Letztlich geht es um eine Begrenzung durch eine Ethik der Verantwortung.“
Die wissenschaftliche und moralische Debatte über einen alternativen Lebensstil nach dem Motto „anders leben, um zu überleben“, steht erst am Anfang. Und so kann es nicht verwundern, daß sie nahezu den gesamten Horizont abendländischer Weitsicht umfaßt. Neue Asketen fordern weltweite Askese, Rationierung, Planung und Steuerung. Neue Hedonisten propagieren ein qualitatives Wohlstandsmodell, das eine Halbierung oder Drittelung des Verbrauchs an Energie, Wasser und Bodenschätzen ohne Verzicht auf Wohlstand möglich macht. Ohne an dieser Stelle auf politische Einzelheiten eingehen zu können, ist festzuhalten: Gesucht wird eine Weltordnung, die eine Zukunft ohne Zwang sichert. „Der entscheidende Haken am alternativen Lebensstil ist der Ausschluß einer Alternative zum alternativen Lebensstil. Während es in unserer Gesellschaft zumindest teilweise möglich ist, alternativ zu leben, wird es in einer alternativen Gesellschaft keine Chance mehr geben, nicht alternativ zu leben.“
Um die schöne neue Welt einer Öko-Diktatur zu verhindern, ist eine Rückbesinnung auf die einfache Tatsache notwendig: Europa hat der Welt mehr zu bieten als nur die „abgepackten Lösungen“ (I. Illich) der technisch-industriellen Zivilisation. Von Europa ging einst der Ruf der Französischen Revolution nach „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ aus. Nur wird das manchmal vergessen.