I. Vom Ost-West-zum Nord-Süd-Konflikt?
Die gegenwärtige Rede vom „Nord-Süd-Konflikt“ ist weder neu noch unumstritten. Bis heute konkurriert der Begriff mit weniger polarisierenden Termini wie dem der „Nord-Süd-Beziehungen“ oder dem des „Nord-Süd-Problems“ Gibt es überhaupt eine globale Konfliktformation zwischen Süd und Nord, und wenn ja, welches sind die Akteure, Interessengegensätze und Streitmodi dieser Formation? Wie steht es um die Konfliktfähigkeit und Konfliktwilligkeit des „Südens“ bzw.der „Dritten Welt“, die ja bekanntlich sozio-ökonomisch und politisch sowie kulturell extrem heterogen strukturiert ist? Gerät der Begriff des „NordSüd-Konflikts“ nicht überhaupt zu einer irreführenden Formel zu einer Zeit, in der nach Ende des Kalten Krieges sich zwischen Bi-und Multipolarität neue Aggregatzustände des internationalen Systems herausbilden, und überkommene globale Konfliktmuster ohnehin Regionalisierungs-und Nationalisierungstendenzen zu weichen scheinen? Abgesehen von seinem inflationären Gebrauch in der Alltagssprache ist der Begriff des „Nord-SüdKonflikts“ als wissenschaftlich-analytischer Terminus in seiner Bedeutung nicht eindeutig.
Der Nord-Süd-Gegensatz gehört seit den sechziger Jahren zu den großen weltpolitischen Konfliktkonstellationen, durch die internationale Politik strukturiert wird Dabei gilt der „Nord-Süd-Konflikt“ im Kern als ein sozio-ökonomischer, außenwirtschaftlicher und verteilungspolitischer Interessenkonflikt zwischen Entwicklungsländern und (westlich-kapitalistischen) Industrieländern, in dem jedoch auch machtpolitische Elemente sowie kultu-rell geprägte Norm-und Wertedifferenzen eine Rolle spielen Aufgesetzt ist dieser Konflikt einem fundamentalen Nord-Süd-Entwicklungsgefälle in den Bereichen der technologischen Kompetenz, der ökonomischen Produktivität und des materiellen Lebensstandards.
Der Begriff „Nord-Süd-Konflikt“ entstand Anfang der siebziger Jahre als Korrespondenzbegriff zum „Ost-West-Konflikt“, um eine politisch konfrontative Phase der Nord-Süd-Beziehungen zu bezeichnen Dies war die Zeit der im Zuge der Ölkrise ausgetragenen ordnungspolitischen Auseinandersetzung um die von den Entwicklungsländern geforderte „Neue Weltwirtschaftsordnung“, als der Süden mit Hilfe der Kartellstrategie der OPEC und der organisierten Gegenmachtbildung durch Blockfreie und die Gruppe der 77 den Westen unter Druck setzte. Nur in dieser Phase hat es bislang einen „Nord-Süd-Konflikt im Sinne einer anhaltenden politisch virulenten Konflikt-konstellation“ gegeben
Der Nord-Süd-Konflikt hat „bisher noch keinen Organisationsgrad erreicht, der einen Vergleich mit dem Ost-West-Konflikt rechtfertigen würde“ Infolge der anhaltenden Interessendifferen-zierung und mangelnden Durchsetzungsmacht der Dritten Welt in den internationalen Beziehungen entspricht der Nord-Süd-Konflikt nicht der kompakten Formation und machtpolitischen Virulenz des Ost-West-Konflikts. Insgesamt ist er in Substanz, Organisation und Konfliktträchtigkeit vielschichtiger, zerklüfteter, diffuser, ungeordneter, unübersichtlicher und unberechenbarer als jener.
Zu bestimmten Zeiten bestand ein mehr oder minder enger, wechselseitiger Zusammenhang zwischen Nord-Süd-und Ost-West-Konflikt. Dieser Zusammenhang war besonders intensiv in der zweiten Hälfte der siebziger und der ersten Hälte der achtziger Jahre, als es „eine Integration beider Konfliktformationen zu einem umfassenden Welt-konflikt“ gab Blocklogik, Interventionspolitik und Stellvertreterkriege machten damals die Dritte Welt zur „Süddimension des Ost-West-Konflikts“. Seit Mitte der achtziger Jahre wurden jedoch Ost-West-und Nord-Süd-Konflikt im Zuge der Entspannung zwischen den Supermächten wieder entkoppelt. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts scheint nun der Nord-Süd-Konflikt als eigenständige Konfliktformation stärker akzentuiert hervorzutreten, „den viele Beobachter für langfristig noch prägender halten und als Zeitbombe für eine friedliche Zukunft der Menschheit ansehen“
Dem Nord-Süd-Konflikt dürfen keine irreführenden Vergleiche mit dem kompakt formierten und militärisch hochgerüsteten Ost-West-Konflikt oder unversöhnliche Interessengegensätze unterschoben werden Heute und auf Sicht ist „nicht von einem Nord-Süd-Konflikt im Sinne sich antagonistisch verstehender und organisierter Konfliktparteien auszugehen“ Die Rede vom sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt ist zwar keine Leerformel, doch darf dabei nicht primär an eine militärisch geprägte Konfliktaustragung gedacht werden. Hinsichtlich neuer militärischer Bedrohungsanalysen muß vor voreiligen Dramatisierungen ge-warnt werden. Die mögliche Verfügung einzelner Staaten der Dritten Welt über Raketen und Massenvernichtungsmittel schafft weder eine generelle Nord-Süd-Konfliktfront, noch eröffnet sie die Aussicht auf einen künftigen militärischen Nord-Süd-Konflikt Aller Wahrscheinlichkeit nach „wird es eine große einheitliche Konfliktfront zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern nicht mehr geben, sondern eher vielfältige Kleinkonfliktfronten, die aus spezifischen Problemlagen resultieren,... oder in der Folge von tiefen politischen und sozio-ökonomischen Zerrüttungen“ Die vom Nord-Süd-Gefälle ausgehende Friedensgefährdung „liegt nicht in der Gefahr eines militärischen Nord-Süd-Zusammenstoßes oder eines weltrevolutionären Flächenbrandes, sondern im Konfliktpotential von Hunger, Klassenkämpfen und Staatskrisen, von inner-und zwischenstaatlichen Verteilungskämpfen und Massenfluchtbewegungen“ sowie in anderen, neuen Sicherheitsproblemen wie armutsbedingter Umweltzerstörung mit globalen Wirkungen Die eigentliche „Stärke“ des Südens liegt in seiner „Schwäche“, in seiner „Chaosmacht“ und seinem politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Destabilisierungspotential für das internationale System Diese Gefahren sind kaum zu überschätzen, doch hilft gegen sie ihrer Natur nach kein Ausbau militärischer Kapazitäten 1. Neue Bedrohungen aus dem Süden?
Außen-und Sicherheitspolitiker, Militärs und Teile der Wissenschaft sowie etliche Publizisten richten ihr Augenmerk seit geraumer Zeit vermehrt auf neue militärische Bedrohungen und Gefahren aus dem Süden. Sie verweisen namentlich auf die Ausstrahlungseffekte von Regionalkonflikten und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln und Raketentechnologie, vor allem in arabisch-islamische Regionen Vorderasiens und Nordafrikas. Zunehmend wird befürchtet, „daß Konfliktherde in Zukunft auch außerhalb Europas liegen und nach Europa hineinwirken können, sei es wegen ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen, sei es wegen der gestiegenen Reichweite von modernen Waffen, sei es wegen Ansteckungsgefahren und Instabilitäten aller Art“ Für manche Sicherheitsexperten „zeichnet sich die heute noch paradox anmutende Möglichkeit ab, daß sich süd-und eines Tages auch westeuropäische Länder veranlaßt sehen könnten, militärische Vorsorge gegen Gefahren zu treffen, die nichts mehr mit der traditionellen , Gefahr aus dem Osten zu tun hätten“ 18). Es sei zu vermuten, daß „militärische (Gegen-) Macht im Nord-Süd-Verhältnis in Zukunft wahrscheinlich eine weit größere Rolle spielen“ werde als bisher Selbst für Friedensforscher zeigt sich am Beispiel der weltweiten Proliferation von konventionellen Großwaffen, Nuklear-, Chemie-und Raketenwaffen, „daß die Dritte Welt auch im klassischen machtpolitischen Bereich keine zu vernachlässigende Größe darstellt“ doch warnen sie andererseits vor Dramatisierungen: punktuell sei zwar eine Bedrohung von Industrie-ländern real gegeben, hingegen schaffe die Verfügung einzelner Staaten der Dritten Welt über ABC-Waffen und Raketen „schlimmstenfalls singuläre Gefahrenlagen, denen durch spezifische Maßnahmen entgegenwirkt werden“ könne
Friedens-und Entwicklungsforscher sowie etliche Entwicklungspolitiker legen demgegenüber mehr Gewicht auf die Identifizierung qualitativ neuer Bedrohungen und Gefahren, die weitgehend nicht-militärischer Natur und damit eher einem Begriff der „erweiterten Sicherheit“ zuzuordnen sind Als solche gelten vor allem Probleme der Unter-entwicklung und Umweltzerstörung im Süden. Aus dieser Problematik erwachsen „Gefährdungen, deren Destruktivität größer sein könnte als die kriegerischer Auseinandersetzungen“ daher sollte mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts „die klassische Friedens-und Sicherheitspolitik von der Ökologie-und der Entwicklungsproblematik her neu definiert werden“ Es geht hierbei um grenzüberschreitende, die Souveränität einzelner Staaten überwölbende globale Menschheitsprobleme, wie etwa großräumige soziale und ökologische Katastrophen, Flucht-und Migrationsbewegungen, das Anwachsen fundamentalistischer Orientierungen namentlich im arabisch-islamischen Raum sowie um die Ausbreitung von Terrorismus und organisierter Wirtschaftskriminalität in Gestalt des Drogenanbaus und Drogenhandels. Dies sind neuartige Problemfelder, „die parallel zum Ost-West-Konflikt herangewachsen sind und jetzt aus seinem Schatten heraustreten“, und „die völlig neue Formen der grenz-und kompetenz-überschreitenden sicherheitspolitischen Regulierung verlangen“ Die Neuartigkeit und Unberechenbarkeit solcher Gefahren verunsichern viele Menschen in den Industrieländern. So wird beispielsweise befürchtet, „daß der , Wandermensch auch einmal als , Waffe eingesetzt werden könnte“ und es verbreitet sich namentlich in Westeuropa die „Furcht vor einer Invasion durch Außenseiter -moslemische Fundamentalisten und Terroristen, hungernde Afrikaner, Menschen, die vor Konflikten in der Dritten Welt geflohen sind“
Kritische Friedensforscher und Publizisten warnen vor diesem Hintergrund vor Militarisierungstendenzen. Hinter der berechtigten Sorge um den realen, harten Kem der Sicherheitsprobleme im Süden sind durchaus handfeste Eigeninteressen der mit Ende des Ost-West-Konflikts nach neuen Feindbildern und neuer Legitimation suchenden Militärs, Sicherheitspolitiker und der Rüstungswirtschaft zu erkennen. Gegenüber der Dritten Welt würden neue Bedrohungsvorstellungen gefördert, „um damit ein funktionales Äquivalent für die pazifizierende Wirkung des Ost-West-Konflikts zu schaffen“ So werde der „Süden zum Osten“ stilisiert, und es trete ein Feindbildwandel von „Marx zu Mohammed“ ein Zwar sei das „neue Feindbild Dritte Welt“ nicht eigentlich neu, „es besteht aber nun die Gefahr einer in dieser Form neuen und höchst brisanten Kombination“ Daher ist vor einem Ausbau Europas zur militärischen Supermacht mit hochtechnologischer und hochmobiler Interventionsstreitkraft und dem Feindbild vom islamischen Fundamentalismus zu warnen; das Ende der Nachkriegszeit in Europa darf nicht „den Beginn einer neuen Vorkriegsära zwischen Nord und Süd markieren“ Des weiteren ist die vielerorts beschworene neue „Bedrohung aus der Dritten Welt“ im wesentlichen eine „hausgemachte Bedrohung“ der Industrieländer selbst Durch Rüstungsexporte, eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung und fehlgeleitete Entwicklungspolitiken haben sie erst die Krisen und Probleme erzeugt und mit ausgelöst, durch die sie sich jetzt bedroht fühlen. Da zudem die neuartigen Gefährdungen im wesentlichen nichtmilitärischer Natur sind, ist eine direkte militärische Bedrohung aus dem Süden eher als zweitrangig einzuschätzen. 2. Nord-Süd-Dimensionen des Golf-Konflikts Seiner Frontbildung nach war der Krieg am Golf keine eindeutige Auseinandersetzung zwischen Süd und Nord, obwohl etliche Beobachter in ihm den Auftakt zu einem verschärften, militärisch aufgeladenen Nord-Süd-Konflikt sahen Formal handelte es sich um einen Konflikt zwischen einem Land des Südens, dem Irak, und einer breiten, multinationalen Koalition aus Staaten des Nordens (Ost und West) und des Südens (einschließlich etlicher arabisch-islamischer Länder) unter Führung der Supermacht USA. Ausgangspunkt des Konflikts war eine Süd-Süd-Auseinandersetzung (zwischen Irak und Kuweit), die sich dann entlang der angegebenen Fronten internationalisierte und im Rahmen der UNO globalisierte. Blickt man jedoch auf den substantiellen Kern des Golf-Konflikts, seinen historischen Kontext, seine Wahrnehmung in weiten Teilen der Dritten Welt sowie auf die politisch und militärisch wichtigsten Gegner des Irak (USA, England, Frankreich), so lassen sich in ihm durchaus Dimensionen eines Nord-Süd-Konflikts erkennen:
Zum ersten war er ein „Weltordnungskonflikt“ zwischen der „Chaosmacht“ des Irak einerseits und der „Ordnungsmacht“ der USA andererseits In der Zeit des Umbruchs von der alten bipolaren zu einer neuen Weltordnung wurde die schwerwiegende irakische Regelverletzung des Völkerrechts durch die globale Hegemonial-und Supermacht USA geahndet, um ein abschreckendes Exempel zu statuieren und zu demonstrieren, daß sie die Spielregeln der neuen Ordnung zu bestimmen hat.
Zum zweiten war er ein „Ressourcenkonflikt“ um Erdöl, wenngleich die plakative Formel „Blut für Öl“ auch zu kurz greift Doch hatte der Konflikt durchaus Züge eines „Wirtschaftskrieges“; es ging in ihm auch um die Kontrolle über das Golföl, um Versorgungssicherheit, um angemessene Mengen und nicht zu hohe Preise.
Zum dritten war er ein militärischer „Machtkonflikt“ zwischen einer aufstrebenden Regionalmacht der Dritten Welt und der Supermacht USA (sowie den europäischen Mittelmächten England und Frankreich). Im Zuge seiner militärischen Emanzipationsbestrebungen forderte der Irak die Vor-macht des Nordens heraus. Mit einem Massenaufgebot an Truppen und modernen Waffen, die für den Einsatz im Ost-West-Konflikt entwickelt worden waren, wurde der unbotmäßige Emporkömmling jedoch durch eine „Strafexpedition“ in seine Schranken verwiesen, und in einem „High-TechKrieg“ wurde abermals die militärische Überlegenheit der klassischen Mächte verdeutlicht. In diesem Sinne war der Golfkrieg der erste voll ausgebildete „Nord-Süd-Krieg“ der Zeitgeschichte.
Die Golfkrise hat somit auf eindringliche Weise „den Widerspruch zwischen dem Rüstungskontrollprozeß im Ost-West-Verhältnis und der von den Industriestaaten... mit inszenierten Rüstungsdynamik in der Dritten Welt offengelegt. Sie hat zugleich die selbstverschuldete Abhängigkeit des Westens von einer bestimmten Stabilitätsdefinition in der ölreichsten Region der Erde deutlich gemacht. Das heißt, die Dritte Welt rückt mit ihren Problemen... näher an Europa heran: ordnungspolitisch, wirtschaftspolitisch, militärisch.“ Für den Historiker Imanuel Geiss hat der Golfkonflikt auf dramatische Weise die „globale Achsendrehung der Welt-Konfliktlage von Ost-West nach Nord-Süd“ markiert, die „Wende vom verblichenen Ost-West-Konflikt zum neu aufbrechenden Nord-Süd-Konflikt“ Gleichwohl ist der Golfkrieg kein Modell-und Präzedenzfall für einen kriegerischen Austrag des Nord-Süd-Konflikts, sondern eher die Ausnahme als die Regel. Die meisten Kriege in der Dritten Welt werden wohl auch künftig Süd-Süd-Kriege sein, also Konflikte in und zwischen Entwicklungsländern.
II. Nord-Süd-Problemfelder: Ansätze zu einer friedlichen Bewältigung
1. Proliferation: Globalisierung von Rüstungskontrolle und Abrüstung Spätestens der Golfkonflikt hat einer breiteren Öffentlichkeit nachdrücklich das Problem der Weiterverbreitung (Proliferation) von Massenvernichtungsmitteln (atomare, biologische und chemische Waffen) und Raketentechnologie in der Dritten Welt vor Augen geführt Doch schon seit geraumer Zeit nehmen die Supermächte und Industrieländer in Ost und West angesichts dieses Problems neue Gefährdungen der internationalen Sicherheit wahr Sie befürchten eine Destabilisierung der überkommenen Weltordnungsstrukturen, eine „Diffusion der Macht“ (Ausbreitung moderner militärischer Machtmittel auf mehr Länder als früher), einen Verlust an Steuerung und Kontrolle der Rüstungsdynamik in der Dritten Welt, eine globale Neuverteilung militärischer Macht und damit ein Ende ihres machtpolitischen Oligopols sowie vor allem eine künftig mögliche direkte Bedrohung ihres Territoriums durch Länder oder terroristische Organisationen des Südens. Da die „Diversifizierung der Vernichtungstechniken“ nicht einer „Diversifizierung der Nichtverbreitungsanstrengungen“ entspricht stellen sich nach Beendigung des Kalten Krieges zwischen Ost und West völlig neuartige Probleme einer globalen Rüstungskontrolle und Abrüstung Wenn auch die Proliferation in ihren einzelnen Komponenten in unterschiedlichem Tempo und in einzelnen Regionen unterschiedlich stark voranschreitet (z. B. bei C-Waffen als der „Atombombe des Kleinen Mannes“ infolge der einfacheren Technologie und geringeren Kosten rascher als bei A-Waffen), so ist es doch nicht gänzlich unwahrscheinlich, daß möglicherweise künftig „erstmals in der Geschichte auch Länder, die bislang als militärisch unbedeutend klassifiziert wurden, über die Schlagkraft zur Bedrohung...der bislang Mächtigen verfügen“ könnten Alle Bemühungen, mit Hilfe von Verboten, Kontrollen, Beschränkungen und Sanktionen, gleichsam einer Art „Super-Cocom“ gegen den Süden, das Proliferationsproblem von Seiten der Industrieländer in den Griff zu bekommen (u. a. für Raketen das „Missile Technology Control Regime“), oder gar militärische Präventivschläge, können die Weiterverbreitung moderner Militär-technologie nicht mehr verhindern, sondern allenfalls erschweren und verlangsamen Nur im Rahmen einvernehmlicher, kooperativer Regelungen zwischen Süd und Nord wird das Proliferationsproblem konstruktiv zu bearbeiten sein.
Hierzu bedarf es aber der aktiven Mitwirkung der Dritte-Welt-Staaten, der glaubwürdigen Vorbild-wirkung der Industrieländer, die bereit sein müssen, ihre eigenen Arsenale an Massenvernichtungsmitteln zur Disposition zu stellen, der Absage an eine pauschale Diskriminierung des Südens beim sensitiven Technologietransfer, Sicherheitsgarantien und Anreize zum Verzicht auf Massenvernichtungsmittel sowie einer verstärkten Vertrauensbildung zwischen Süd und Nord und der Entwicklung eines Bewußtseins „Gemeinsamer Sicherheit“ Nur in einem solchen Kontext der Nord-Süd-Zusammenarbeit können global ausgelegte, multilaterale und völkerrechtliche Bemühungen zur Entschärfung des Proliferationsproblems, verbunden mit Ansätzen zur regionalen Konfliktverhütung und friedlichen Konfliktregelung sowie regionaler Rüstungskontrolle und Abrüstung, wirksam werden 2. Drogenhandel: Dämpfung von Angebot und Nachfrage Als gutes Beispiel für die Unangemessenheit der Militarisierung eines Nord-Süd-Problems kann der „Drogenkrieg“ gelten, den die USA seit Mitte der achtziger Jahre zur Bekämpfung des sogenannten „Narco-Terrorismus" in Teilen Lateinamerikas (Kolumbien, Bolivien, Peru) führen. Mit der Invasion Panamas im Dezember 1989 ging der „Krieg gegen Drogen“ gar in einen konventionellen Krieg gegen einen ganzen Staat über. Drogenhandel stellt in vielerlei Hinsicht einen „normalen“ Fall des Nord-Süd-Handels dar, der nur durch seinen außergesetzlichen Charakter Züge organisierter Wirtschaftskriminalität angenommen hat
Unverkennbar spielen im Drogenkrieg auch Budget-, Image-und Legitimationsinteressen von Militär und Regierung eine Rolle; nach Ende des Kalten Krieges schien das neue Feindbild „Droge“ hochwillkommen Doch stimmen Fachleute weitestgehend darin überein, daß militärischer Mittel-einsatz zur Bekämpfung von Drogenanbau und Drogenhandel „im günstigsten Fall wirkungslos, im ungünstigsten Fall kontraproduktiv“ ist Allenfalls wird an Symptomen des Problems kuriert, nicht jedoch werden dessen tieferliegenden Ursachen angepackt. Denn das Drogenproblem ist kein militärisches, sondern ein soziales und ökonomisches Seine Bearbeitung wird deshalb langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn sie an der Nachfrage in den Industrieländern und an dem Angebot in den Entwicklungsländern ansetzt, dort vor allem an dem ökonomischen Zwang von Menschen, mangels realistischer Alternativen (z. B. Anbau alternativer Feldfrüchte, Einkommensbeihilfen für Bauern) Drogen produzieren oder transportieren zu müssen. Erforderlich und sinnvoll wären also Programme mit ökonomischer und sozialer Zielrichtung sowohl in den Produzenten-als auch in den Konsumentenländern. 3. Fluchtbewegungen: Bekämpfung der Fluchtursachen Der Ruf nach dem Einsatz von Sicherheitskräften könnte auch lauter werden, wenn die Zuwanderung von Migranten und Flüchtlingen aus dem Süden nach (West-) Europa sich zeitgleich mit wachsender Zuwanderung aus Osteuropa so mas-siv verstärken würde, wie es von Experten für die neunziger Jahre infolge verschärfter demographischer, sozio-ökonomischer und ökologischer Bedingungen in weiten Teilen der Dritten Welt (z. B. Nordafrika) vorausgesagt wird Der im Mai 1990 von der ARD gesendete Spielfilm „Der Marsch“ führte dieses neue Problem der Nord-Süd-Beziehungen einem größeren Publikum dramatisierend vor Augen Wenn auch aller Voraussicht nach die Mehrzahl der Kriegs-, Armuts-und Umwelt-flüchtlinge wie bisher in den Regionen des Südens verbleiben wird, so könnte doch ein wachsender Teil von ihnen die Industriegesellschaften des Nordens erreichen und diese vor schwerwiegende soziale, wirtschaftliche und politische Herausforderungen stellen.
Statt der bisher vorherrschenden Abschreckungsund Restriktionspolitik gegenüber dem Migrations-und Flüchtlingsproblem wäre mehr Prävention und internationale Kooperation vonnöten, um dieses Problem einigermaßen friedlich und menschenwürdig zu bearbeiten. Erforderlich ist eine Bekämpfung der zentralen Ursachen von Migration und Flucht, nicht jedoch der Migranten und Flüchtlinge selbst. Flüchtlings-und Entwicklungshilfe sind ebenso aufeinander abzustimmen wie außen-und sicherheitspolitische Strategien zur vorausschauenden Verhütung von neuen Migrations-und Fluchtbewegungen Schließlich werden die Industriegesellschaften (West-) Europas in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse, soziale Verwerfungen zu vermeiden, wohl kaum daran vorbeikommen, zur Entschärfung unkontrollierter und illegaler Zuwanderung eine geregelte und kontingentierte Einwanderungspolitik zu betreiben. 4. Umweltzerstörung: Ökologische Vorsorge im Weltmaßstab Immer eindringlicher wird die globale und regionale Umweltzerstörung als ein zentrales, neues Problem nationaler und internationaler Sicherheit wahrgenommen Die möglichen Auswirkungen einer Nicht-Lösung der Umweltprobleme werden vielfach mit martialischen Formeln beschworen und mit denen eines weltweiten Atomkrieges verglichen. Es ist von einem „Krieg gegen die Natur“ die Rede, von einem „Atmosphärenkrieg“ und von einem „Grünen Krieg“, der den „Kalten Krieg“ ablöst. Unübersehbar ist, daß eine verschärfte regionale und globale Umweltzerstörung zu ökologisch geprägten inner-und zwischengesellschaftlichen Verteilungs-und Überlebenskämpfen sowie zu klassischen militärischen Konflikten führen kann Vor diesem Hintergrund tritt auch die ökologische Dimension des Nord-Süd-Gegensatzes deutlicher hervor
Aus der Sicht einiger Wortführer des Südens betreibt der Norden „Ökoimperialismus“, wenn er Umweltschutzmaßnahmen von den Entwicklungsländern fordert, obwohl die Industrieländer die Hauptverursacher der Umweltzerstörung sind. Umgekehrt werfen Vertreter des Nordens dem Süden vor, die „Umwelt als Waffe“ und als Instrument der Erpressung einzusetzen Angesichts der immer enger vernetzten Weltgesellschaft und der grenzüberschreitenden Natur der Umweltprobleme bedarf es jedoch eines allgemein anerkannten und funktionierenden internationalen Regel-systems für das globale Gemeingut Umwelt. Für die Legitimation und Effizienz eines solchen Regelsystems ist die Unterstützung und Mitwirkung von Seiten des Südens unabdingbar. Diese Zusammenarbeit mit dem Süden ist jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Zwar gibt es eine „ökologische Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Süd und Nord, doch ist diese unverkennbar asymmetrisch strukturiert. Eindeutiger Hauptverursacher der globalen Umweltzerstörung ist der industrialisierte Norden, in dem ein Viertel der Menschheit drei Viertel aller kommerzieller Energie und vier Fünftel aller Rohstoffe verbraucht. Auch besteht das ressourcenverschwenderische und umweltzerstöre-rische industrielle Zivilisationsmodell wohl kaum die „Umweltverträglichkeitsprüfung als Weltmodell“ Vielmehr müßten die Nord-Süd-Beziehungen auf der Grundlage eines alternativen, ökologisch tragfähigen Entwicklungsmodells neu gestaltet werden Dies kann jedoch nur mit den Entwicklungsländern geschehen, nicht ohne oder gar gegen sie. Dabei wird der Norden die Haupt-last der ökologischen Vor-und Fürsorge im Welt-maßstab zu tragen haben
Er muß seiner Glaubwürdigkeit halber mit gutem Beispiel vorangehen, muß durch Anreize und Belohnungen den Süden kooperativ einbinden, muß Ausgleichs-und Wiedergutmachungszahlungen leisten und Konzessionen beim Technologietransfer (z. B. zur Verhinderung der FCKW-Produktion in Entwicklungsländern) einräumen Solche Maßnahmen scheinen unumgänglich zu sein, um der ökologischen Schicksalsgemeinschaft zwischen Süd und Nord eine traurige Zukunft zu ersparen.
III. Süd und Nord: gemeinsame (Überlebens-) Interessen
1. Von der Interdependenz zur Kooperation?
Die vorstehenden Erörterungen haben gezeigt, daß Süd und Nord wechselseitig, wenn auch asymmetrisch miteinander verflochten und voneinander abhängig sind: ökonomisch (Rohstoffe, Märkte, Handel, Verschuldung), ökologisch (Umweltzerstörung, Klimakatastrophe), demographisch (Bevölkerungswachstum, Migration und Flucht, Zuwanderung) und militärisch (Ausstrahlungseffekte von Regionalkonflikten, Proliferation). Selbst wenn der Norden es wollte, könnte er sich nicht mehr einfach von den Problemen des Südens abkoppeln. Nord und Süd leben in einer „Ära der komplexen Interdependenz“ in „einer Welt“, auf dem „Raumschiff Erde“, sitzen gleichsam in „einem Boot“. Es gibt zwischen ihnen genügend sogenannte „global commons“ -weltumspannende, gemeinsame Anliegen und Problemfelder -und daraus resultierende gemeinsame (Über-lebens-) Interessen an deren friedlicher Bearbeitung, die eigentlich zu einem „Zwang zur Kooperation“ führen müßten, wie ihn die Brandt-, Palme-und Brundtland-Berichte immer wieder angemahnt haben Erforderlich wäre eine Philosophie und Struktur „gemeinsamer Sicherheit“ zwischen Süd und Nord, die sowohl der friedlichen Bearbeitung der herkömmlichen, militärischen Sicherheitsprobleme angemessen sein müßte als auch den qualitativ neuartigen Herausforderungen nichtmilitärischer Art.
Im Kern meint „Gemeinsame Sicherheit“ die Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen beider Seiten, Kooperation statt Konfrontation, Politisierung statt Militarisierung und (globale, kollektive) Gemeinnützigkeit statt (nationaler, regionaler) Eigennützigkeit. Einer solchen Philosophie müßte eine Struktur „Gemeinsamer Sicherheit“ entsprechen, die mit ihren prozeduralen, institutionellen und instrumentellen Elementen zum Bestandteil einer Neuen Weltordnung werden könnte: „Als Institutionen kommen... in erster Linie die internationalen Organisationen in Frage, als Instrumente am ehesten die Hilfe und die Kooperation für die Konfliktprävention, die vertraglich geregelte Kontrolle für die Prävention und das Konflikt-management, schließlich die kollektive Aktion für die Konfliktbewältigung.“ Gerade nach Über-windung des Ost-West-Konflikts ergibt sich für die Nord-Süd-Beziehungen die „historische Chance für eine Neuordnung des internationalen Systems im Sinne einer Aufwertung multilateraler Verhandlungspolitik“ gegenüber einseitiger militärischer Interessendurchsetzung
Allerdings bedeutet die Existenz gemeinsamer (Überlebens-) Interessen zwischen Süd und Nord nicht notwendigerweise, daß beide Seiten auch wirklich „vernünftig“ und „einsichtig“ im Sinne des Konzepts „Gemeinsamer Sicherheit“ handeln werden. So erwies sich der bisherige „Nord-Süd-Dialog“ in vielerlei Hinsicht „eher als hegemoniales Diktat der Stärkeren denn als ein Versuch, den Nord-Süd-Konflikt durch einen kooperativen Interessenausgleich zu entschärfen“ Womöglich setzt sich die Einsicht in die überlebensnotwendige Zusammenarbeit zwischen Süd und Nord erst dann durch, wenn die „Machtzentren der Welt -die Industrienationen und die Oligarchien im Süden . davon überzeugt“ sind, „daß das Festhalten am Status quo in eine allgemeine Katastrophe führen wird“ und sich die gegenwärtige Entwicklungs-und Umweltkrise noch weiter verschärft 2. Alt-Neue Welt(un) ordnung zu Lasten des Südens?
Skeptischen Beobachtern zufolge hat der Süden in einer neuen Weltordnung „keine Barmherzigkeit zu erwarten“ sondern wird sich auch weiterhin im wesentlichem dem Diktat der Mächtigen unterwerfen müssen. Die neue Ordnung würde damit der alten, bekannten Weltordnung -oder besser Weltunordnung -sehr ähneln. Sie wird wohl nicht mehr im Sinne des alten Ost-West-Konflikts bipolar sein, aber trotz Machtdiffusion und Regionalisierungstendenzen auch noch kein vollausgebildetes multipolares System unter maßgeblicher Beteiligung von Dritte-Welt-Staaten darstellen. Unwahrscheinlich ist allerdings auch eine unipolare Weltordnung des Welthegemons USA, der als „Weltpolizist“ eine Weltfriedensordnung („Pax Americana“) notfalls gar mit militärischen Mitteln durchsetzt
Eine wirkliche „neue“ Weltordnung, namentlich auch im Interesse des Südens, müßte gänzlich anders beschaffen sein. Sie erforderte den reformistischen Ausbau der Vereinten Nationen zu einem eigenständigen, effektiven System kollektiver Sicherheit jenseits der Hegemonialinteressen ihrer stärksten Mitglieder sowie, unter Einschluß anderer internationaler Organisationen und Regime, zu einer netzwerkartigen Koordinierungs-und Regelungsinstanz einer neuartigen, an den „global Commons“ ausgerichteten „Weltinnenpolitik“ die zugleich in ökologischer Hinsicht eine „Erdpolitik“ sein müßte. Ferner wären regionale Sicherheitssysteme und Friedensordnungen in der Dritten Welt erforderlich, die sich am KSZE-Modell Europas bzw. an regionalspezifischen funktionalen Äquivalenten orientieren könnten und auf Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung, friedliche Konfliktregelung sowie Konfliktprävention und auf vielfältige Zusammenarbeit in den Süd-Süd-Beziehungen hin angelegt wären. Im Inneren der meisten Staaten erforderte eine neue Weltordnung höhere Standards an demokratischer Legitimation von. Herrschaft, an privater und öffentlicher Rechtssicherheit, an Minderheitenschutz sowie an sozio-ökonomischer (Verteilungs-) Gerechtigkeit.
Eine neue Weltordnung muß zugleich auch eine neue, reformierte Weltwirtschaftsordnung beinhalten, die den vielfältigen ökonomischen Interessen des Südens besser gerecht wird, und die mit einer Weltwirtschafts-und Entwicklungspolitik verknüpft ist, die sich als präventive Sicherheitspolitik im Sinne des engen und erweiterten Sicherheitsbegriffs versteht. Entwicklung in einer neuen Weltordnung kann und darf angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung nur noch „Ökoentwicklung“ sein Zugleich muß sie aber auch eine an den elementaren Grundbedürfnissen orientierte „eigenständige und auf den Menschen ausgerichtete Entwicklung“ („self-reliant and people-oriented development") sein die allerdings in den Gesellschaften des Südens ein weitaus höheres Maß an demokratischer Mitwirkung und Achtung der Menschenrechte als bisher zur Voraussetzung hat.