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Direkte Demokratie im Vergleich | APuZ 23/1991 | bpb.de

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APuZ 23/1991 Artikel 1 Volkssouveränität im Verfahren Zur Verfassungsdiskussion über direkte Demokratie Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungsstaat Direkte Demokratie im Vergleich Direkte Demokratie in der Schweiz

Direkte Demokratie im Vergleich

Silvano Möckli

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Zusammenfassung

Ein Überblick über direktdemokratische Einrichtungen und Erfahrungen in der Schweiz, Kalifornien, Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Australien zeigt eine unterschiedliche Ausgestaltung und Anwendung. Volksabstimmungen über Sachfragen werden meist „von oben“ durch ein Staatsorgan ausgelöst, das Abstimmungsgegenstand, Fragestellung und den Zeitpunkt der Abstimmung bestimmt. Nur in der Schweiz, in Kalifornien und in Liechtenstein ist eine Auslösung „von unten“ über einen von den Stimmbürgern selbst bestimmten Gegenstand möglich; Italien kennt eine Auslösung „von unten“ zur Aufhebung bestehender Gesetze. Direkte Demokratie gehört in der Schweiz, in Kalifornien und in Liechtenstein zum politischen Alltag; in den anderen Staaten stellen direktdemokratische Entscheide außergewöhnliche Ereignisse dar. Dort, wo die direkte Demokratie am intensivsten gelebt wird, nämlich in der Schweiz und in Kalifornien, ist die Stimmbeteiligung am niedrigsten. Seit den siebziger Jahren ist in der Schweiz und in Kalifornien eine starke Zunahme der Zahl der eingereichten Initiativen feststellbar. Dabei werden insbesondere Umweltthemen artikuliert. Direktdemokratische Instrumente sind eher geeignet für politische Systeme mit einer nichtparlamentarischen Regierungsweise und mit einer auf Konsens ausgerichteten politischen Kultur. Insgesamt gesehen können sie sowohl den beharrungswilligen wie auch den veränderungswilligen politischen Kräften dienen.

Dieser Aufsatz gibt einen Überblick über Verfahren, Anwendung und Funktionen von direktdemokratischen Einrichtungen auf der obersten Staats-ebene in neun Staaten, nämlich in der Schweiz, im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien, in Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und in Australien. Das Schwergewicht liegt dabei auf der Schweiz und auf Kalifornien.

Tabelle 2: Zahl der Urnengänge (ohne Wahlen), Zahl der Urnenentscheide und durchschnittliche Stimmbeteiligung von 1970 bis 1990 auf nationaler Ebene (bzw. auf staatlicher Ebene in Kalifornien) Quelle: Vgl. Tabelle 1.

Sechs Typen von Sachabstimmungen werden unterschieden: das Plebiszit, die Volksbefragung, das fakultative Referendum, das obligatorische Referendum, die Volksinitiative und die Volksanregung. Es folgen eine knappe Beschreibung der direktdemokratischen Institutionen in den neun Als direktdemokratische Institutionen werden hier Volksabstimmungen verstanden, die über die Wahl des Parlaments und des Staatsoberhaupts Staaten sowie statistische Angaben über die Zahl der Urnengänge, die Zahl der Urnenentscheide, über die Abstimmungsgegenstände und die -ergebnisse.

Tabelle 3: Abstimmungen in sieben Staaten bis 1990 nach Sachbereichen Quelle: Vgl. Anm. 9; Ergänzung durch eigene Datensammlung.

Im Schlußteil wird nach den Funktionen der direkten Demokratie für Struktur und Prozesse des politischen Systems gefragt. Diese sind je nach politischem System, politischer Kultur und Ausgestaltung der direktdemokratischen Institutionen höchst unterschiedlich. Zwei dieser Funktionen sollen näher betrachtet werden, nämlich die Zusammenhänge zwischen der direkten Demokratie und dem Regierungssystem sowie zwischen der direkten Demokratie und der Innovationsfähigkeit eines politischen Systems.

I. Personen-und Sachabstimmungen

Abbildung 1: Personen-und Sachabstimmungen

hinausgehen, also Plebiszite, Referenden und Initiativen 1) (vgl. Abbildung 1). Bei einem weiter gefaßten Begriff der direkten Demokratie wären auch die „primaries" (Vorwahlen), die Volkswahl der Regierung, die Abberufung und versammlungsdemokratische Formen einzubeziehen.

Tabelle 4: Initiativen in Kalifornien (abgestimmt bis Ende 1990) und in der Schweiz (zustandegekommen bis Ende 1989) nach Sachbereichen Quelle: Angaben des Secretary of State of California und der Schweizerischen Bundeskanzlei.

Sachabstimmungen können nach verschiedenen Kriterien typologisiert werden. Eine erste Unterscheidung nach den Kriterien der Auslösung und der Beständigkeit unterteilt Sachentscheide in Plebiszite, Referenden und Initiativen. Das Plebiszit wird optional und ad hoc durch ein Staatsorgan (von oben) ausgelöst. Das Referendum ist eine dauerhafte, verfassungsmäßige Institution und wird ausgelöst „von unten“ oder „von oben“, nach genau festgelegten Regeln. Die Initiative wird durch Stimmbürger ausgelöst. Nach der rechtlichen Wirkung kann man unterscheiden, ob das Abstimmungsergebnis für die Staatsorgane bindend (dezisiv) oder nichtbindend (konsultativ) ist. Sachabstimmungen können darüber hinaus nach folgenden Kriterien analysiert werden: -Bestimmung des Abstimmungsgegenstandes: Kann nur ein Staatsorgan den Gegenstand bestimmen, oder steht dies auch den Stimmbürgern offen? -Festsetzung des Verfahrens: Ist das Verfahren dauerhaft normiert, werden ad hoc Normen geschaffen oder bestehen keine gesetzlichen Vorschriften? -Grad der Kontrolle durch die Regierung: Inwieweit kontrolliert die Regierung Fragestellung und Abstimmungskampagne? Ist die Abstimmungskampagne kompetitiv? -Zeitpunkt der Abstimmung: Wird erst mit der Volksabstimmung eine Sachfrage wirklich entschieden, oder wurde der eigentliche Entscheid schon vor der Abstimmung durch ein Staatsorgan gefällt?

Nach diesen Kriterien ergeben sich die bereits in Abbildung 1 herausgearbeiteten sechs Typen von Sachabstimmungen (vgl. Abbildung 2).

Wird diese Typologie angewandt auf die direkt-demokratischen Einrichtungen der untersuchten Staaten, so ergibt sich der in Abbildung 3 dargestellte Überblick (die Volksbefragung ist in keinem der Staaten vorgesehen).

II. Institutionen der direkten Demokratie in neun Staaten

Abbildung 2: Typen von Sachabstimmungen

1. Schweiz Die Schweiz 3) kennt seit 1848 das obligatorische Referendum für Total-und Partialrevisionen der Verfassung. Zur Annahme einer Verfassungsrevision bedarf es der Mehrheit der Abstimmenden und der Kantone. „Bundesgesetze sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 50000 stimmberechtigten Schweizer Bürgern oder von acht Kantonen verlangt wird“, heißt es in Artikel 89 Absatz 2 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV). Dies ist das fakultative Gesetzesreferendum. Diese Regelung „gilt auch für völkerrechtliche Verträge, die a) unbefristet und unkündbar sind, b) den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen und c) eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen“ (BV Art. 89, 3). Nach BV Artikel 89 Absatz 4 gibt es ferner ein optionales fakultatives Plebiszit: „Durch Beschluß beider Räte können weitere völkerrechtliche Verträge Absatz 2 unterstellt werden.“ Dem obligatorischen Referendum des Volkes und der Stände untersteht „der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften“ (BV Art. 89, 5). Darüber hinaus besteht nach BV Artikel 89 ein auflösendes Referendum bei dringlichen Parlamentsbeschlüssen .

Nach BV Artikel 120 Absatz 1 können 100000 Stimmberechtigte mittels einer Initiative die Total-revision der Bundesverfassung verlangen. Während diese Möglichkeit schon seit 1848 besteht, wurde die Initiative für eine Partialrevision der Bundesverfassung 1891 eingeführt. Nach BV Artikel 121 Absatz 2 können 100000 stimmberechtigte Schweizer Bürger das Begehren „auf Erlaß, Aufhebung oder Abänderung bestimmter Artikel der Bundesverfassung“ stellen. Das Begehren kann entweder in der Form einer allgemeinen Anregung oder eines ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht werden. 2. Kalifornien Kalifornien ist kein souveräner Staat. Die Einbeziehung in diesen Vergleich rechtfertigt sich insofern, als nirgendwo auf der Welt mehr Menschen über mehr Sachvorlagen abstimmen. Kalifornien kennt seit 1884 ein obligatorisches Verfassungsreferendum (Constitution of California, Art. XVIII, See. 4). Damit eine Vorlage zur Abstimmung gelangt, muß sie in beiden Kammern des Parlaments mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder verabschiedet worden sein. Das Gesetzesreferendum ist zum Teil obligatorisch, zum Teil fakultativ. Anleihen (bonds) unterstehen in Form eines Gesetzes dem obligatorischen Referendum (Constitution Art. XVI, See. 2), ebenso Gesetze, die frühere Initiativen abändern (seit 1946). Für ein fakultatives Gesetzesreferendum -das auch gegen Teile eines Gesetzes möglich ist -bedarf es einer Unterschriftenzahl von fünf Prozent jener Stimmen, die bei den letzten Gouverneurswahlen abgegeben wurden. 1987 bis 1990 betrug diese Zahl der notwendigen Unterschriften 372178. Kein Referendum ist möglich bei: calls for special elections (Anberaumung zusätzlicher Wahlen), tax levies (Steuererhebungen), dringlichen Beschlüssen und appropriations (laufende Staatsausgaben) (Constitution Art. II, See. 9). Das Parlament kann mit Zweidrittelmehrheit ein Gesetz für dringlich erklären und es so dem Referendum entziehen.

Die Definition der 1911 eingeführten Initiative in der Verfassung Kaliforniens lautet (Art. II, See. 8 a): „The initiative is the power of the electors to propose Statutes and amendments to the Constitution and to adopt or reject them.“ Kalifornien kennt sowohl die Initiative auf eine Partialrevision der Verfassung wie auch die Gesetzesinitiative. Die Zahl der einzureichenden Unterschriften beträgt für eine Gesetzesinitiative 372178, für eine Verfassungsinitiative 595485 (fünf bzw. acht Prozent der Stimmen, die bei den vorausgegangenen Gouverneurswahlen abgegeben wurden) Bis 1966 war neben der direkten auch die indirekte Initiative möglich. Seither kennt Kalifornien nur noch die direkte Initiative: Ein Volksbegehren gelangt direkt, ohne Beratungen im Parlament, zur Volksabstimmung. Diese direkte Initiative ist in der Schweiz unbekannt. Hier kann das Parlament eine Abstimmungsempfehlung abgeben sowie einen Gegenvorschlag ausarbeiten. 3. Frankreich Artikel 89 der Verfassung der Republik Frankreich vom 4. Oktober 1958 statuiert das obligatorische Verfassungsreferendum, das allerdings bei Übereinstimmung zwischen den vereinigten Parlamentskammern und dem Präsidenten umgangen werden kann. Die Initiative für eine Verfassungsänderung liegt beim Präsidenten, beim Premierminister und bei den Parlamentsmitgliedern. Stimmen beide Kammern des Parlaments dem Änderungsentwurf in gleicher Fassung zu, so unterliegt er der Volksabstimmung. „Der Änderungsentwurf wird jedoch nicht zum Volksentscheid gebracht, wenn der Präsident der Republik beschließt, ihn dem als Kongreß einberufenen Parlament vorzulegen“ (Art. 89, 3). Der Entwurf ist angenommen, wenn sich eine Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen dafür ausspricht.

Nach Artikel 11 kann der Präsident der Republik einen Volksentscheid über einen Gesetzesentwurf herbeiführen. Allerdings bedarf er dazu eines Vorschlags der Regierung oder der beiden Parlaments-kammern. Die Gegenstände, die zur Abstimmung gebracht werden können, sind in der Verfassung abschließend aufgezählt: die Organisation der öffentlichen Gewalt, die Zustimmung zu einem Vertrag der Gemeinschaft oder die Ratifizierung eines Vertrages, der, „ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, Folgen für das Funktionieren der Institutionen hätte“. Artikel 53, 2 der französischen Verfassung statuiert ferner ein obligatorisches Territorialreferendum auf Gesetzesstufe: „Keine Abtretung, kein Tausch, kein Erwerb von Gebieten ist gültig ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung.“ 4. Italien Italien kennt gemäß der Verfassung vom 27. Dezember 1947 (Artikel 138) das fakultative Verfassungsreferendum, das allerdings durch das Parlament umgangen werden kann. Das Verfassungsreferendum kann innerhalb von drei Monaten von 500000 Stimmberechtigten, von fünf Regional-räten (den Parlamenten der Regionen) oder einem Fünftel der Mitglieder einer Parlamentskammer ausgelöst werden, ist also Volks-, Regionen-oder Behördenreferendum. Zur Annahme in der Volksabstimmung bedarf der Verfassungsentwurf einer Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Verfassungsrevisionen müssen von beiden Kammern des Parlaments in zwei aufeinanderfolgenden Beratungen von der Mehrheit beider Kammern bei der zweiten Abstimmung angenommen werden. Wird die Revision bei dieser letzten Abstimmung von jeder Kammer mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder angenommen, ist ein Verfassungsreferendum nicht zulässig.

Auf der Ebene der Gesetze kennt Italien seit 1970 das sogenannte abrogative Referendum: Ein fakultatives Referendum ist nicht möglich vor dem Inkrafttreten neu beschlossener Gesetze, aber es ist zulässig zur ganzen oder teilweisen Aufhebung bereits wirksamer Gesetze. Gemäß Artikel 75 können 500000 Stimmberechtigte oder fünf Regionalräte einen Volksentscheid über ein Gesetz auslösen. Bestimmte Gegenstände sind allerdings davon ausgenommen: „Ein Volksentscheid ist nicht zulässig über Steuer-und Haushaltsgesetze, über Amnestien und Strafnachlässe sowie über die Ermächtigung zur Ratifizierung internationaler Verträge.“ (Artikel 75, 2). Ferner besteht ein Beteiligungsquorum: Die Mehrheit der Stimmberechtigten muß an der Abstimmung teilnehmen, sonst hat die Volksabstimmung keine Wirkung (das war erstmals bei der Referendumsabstimmung vom 4. Juni 1990 der Fall).

Das Verfahren beim abrogativen Referendum ist kompliziert und langwierig und gibt den Staatsorganen einen beträchtlichen Manövrierspielraum. Zunächst bestehen für die Einreichung eines Begehrens einschneidende zeitliche Schranken. So ist eine Einreichung nicht möglich zwischen dem 1. Oktober und dem 31. Dezember, ein Jahr vor der Neuwahl einer Parlamentskammer und sechs Monate nach Neuwahlen. Nach der Einreichung eines Referendumsbegehrens entscheidet der Verfassungsgerichtshof, ob das Begehren zulässig ist. Ist dies der Fall, so kann das Parlament den angefochtenen Erlaß aufheben oder substantiell ändern, womit die Volksabstimmung entfällt. Wird das Parlament vorzeitig aufgelöst, so ist das Prozedere eines eingereichten Referendums für ein Jahr suspendiert. Eine Abstimmung findet an einem Sonntag zwischen dem 15. April und dem 15. Juni statt.

Nach Artikel 71 der Verfassung steht die Gesetzesinitiative auch 50000 Wahlberechtigten zu, die einen ausgearbeiteten Gesetzesentwurf einreichen können. Erhält der Vorschlag freilich in den beiden Parlamentskammern keine Mehrheit, bleibt er wirkungslos. Es handelt sich hier also um eine Volksanregung. 5. Dänemark Seit 1915 kennt Dänemark das Verfassungsreferendum. Gemäß der geltenden Verfassung vom 5. Juni 1953 und dem Gesetz Nr. 50 vom 25. März 1953 ist das Prozedere bei einer Verfassungsrevision wie folgt: Beschließt das Folketing (Parlament) eine Verfassungsrevision, und „will die Regierung diese Sache fördern“ (§ 88 der Verfassung), so wird das Folketing neu gewählt. Stimmt das neugewählte Folketing der Verfassungsrevision in unveränderter Form zu, so hat innerhalb von sechs Monaten ein Verfassungsreferendum stattzufinden. Eine Mehrheit der Abstimmenden, die jedoch mindestens 40 Prozent der gesamten Wählerschaft ausmachen muß, ist nötig, damit die Verfassungsrevision, vorbehaltlich der Bestätigung durch den König, in Kraft tritt. Bis 1953 betrug das Quorum der Ja-Stimmen 45 Prozent.

Das dänische Gesetzesreferendum ist bezüglich der Auslösung kein Volksrecht, sondern ein Minderheitsplebiszit des Parlaments. Gemäß § 42, 1 der Verfassung kann ein Drittel der Mitglieder des Folketings (60 von 171) innerhalb von drei Werktagen nach der Verabschiedung der Gesetzesvorlage einen Volksentscheid darüber beantragen. Ist das Plebiszit beantragt worden, so hat die Parlamentsmehrheit die Möglichkeit, den Entwurf innerhalb von fünf Werktagen nach der Verabschiedung zurückzuziehen, so daß eine Volksabstimmung entfällt. Erfolgt dies nicht, so kommt die Gesetzesvorlage rasch zur Volksabstimmung, nämlich frühestens 12 und spätestens 18 Werktage, nachdem der Ministerpräsident bekanntgegeben hat, daß ein Volksentscheid über einen Gesetzesentwurf beantragt worden sei. Eine Vorlage ist in der Volksabstimmung dann abgelehnt, wenn die Mehrheit der Stimmenden, die jedoch mindestens 30 Prozent aller Stimmberechtigten ausmachen muß, mit Nein stimmt.

Es gibt eine Reihe von Materien, über die kein Volksentscheid möglich ist, nämlich Haushaltsgesetze, Nachtragsbewilligungsgesetze, vorläufige Bewilligungsgesetze, Staatsanleihengesetze, Gesetze über den Stellenplan für Staatsbeamte und -angestellte, Besoldungs-und Pensionsgesetze, Gesetze über die Verleihung der Staatsangehörigkeit, Enteignungsgesetze, Gesetze über direkte und indirekte Steuern, Gesetze zum Zweck der Erfüllung staatsvertraglicher Verpflichtungen sowie Gesetze, die den König und die Thronfolge betreffen.

In dringenden Fällen kann ein Gesetz sofort vom König bestätigt und in Kraft gesetzt werden. Ein Plebiszit ist gleichwohl möglich, und wird das Gesetz in der Volksabstimmung verworfen, so tritt es spätestens 14 Tage danach außer Kraft. Für Änderungen des Wahlrechtsalters gilt nach § 29, 2 das obligatorische Gesetzesreferendum. Eine besondere Regelung besteht gemäß § 20 auch für die Übertragung von Aufgaben an zwischenstaatliche Behörden. Eine solche Gesetzesvorlage bedarf im Parlament einer qualifizierten Mehrheit von fünf Sechsteln der Mitglieder. Wird nur eine einfache Mehrheit erreicht und hält die Regierung an der Vorlage fest, so findet eine Volksabstimmung statt. 6. Irland Jede Verfassungsänderung untersteht in Irland dem obligatorischen Referendum (Artikel 46 der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937). Ein Revisionsvorschlag muß im Dail Eireann (Abgeordnetenhaus) eingebracht und von beiden Häusern des Parlaments verabschiedet werden. Zur Annahme in der Volksabstimmung bedarf es einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Ein Gesetz kann in Irland vom Parlament im Einvernehmen mit dem Präsidenten der Volksabstimmung unterbreitet werden. Dieses Verfahren, das noch nie angewandt worden ist, ist allerdings recht kompliziert (vgl. Artikel 27). 7. Österreich Österreich kennt das Verfassungsreferendum sowie das Plebiszit für Gesetze. Das Verfassungsreferendum ist gemäß Bundesverfassungsgesetz (BVG), Artikel 42 bis 44, nur bei Totalrevisionen obligatorisch, bei Partialrevisionen kann es durch ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates bzw.des Bundesrates ergriffen werden, ist also ein Plebiszit. Das Gesetzesplebiszit ist ebenfalls Parlamentsreferendum. Nach Art. 43 BVG kann eine Vorlage durch Beschluß des Nationalrates oder auf Verlangen der Mehrheit seiner Mitglieder der Volksabstimmung unterstellt werden. Die Abstimmung ist allerdings nur konsultativ, d. h. das Ergebnis ist für das Parlament nicht bindend.

Gemäß Art. 41, 2 BVG und dem Volksbegehren-gesetz von 1973 können mindestens 10000 Stimmberechtigte, mindestens vier Mitglieder des Nationalrates oder mindestens je vier Mitglieder der Landtage dreier Bundesländer ein Volksbegehren einleiten. Gelingt die Einleitung, so bedarf es zum Zustandekommen der Volksanregung der Unterschriften von 100000 Stimmberechtigten oder je eines Sechstels der Stimmberechtigten in drei Bundesländern. Mindestens acht Wochen und spätestens sechs Monate, nachdem der Innenminister den Antrag auf ein Volksbegehren für zulässig erklärt hat, hat er eine Frist von einer Woche festzusetzen, innerhalb derer die Stimmberechtigten ihre Zustimmung zum beantragten Volksbegehren durch Eintragung ihrer Unterschrift in die bei den Eintragungsbehörden aufliegenden Eintragungslisten erklären können (Volksbegehrengesetz § 5).

Die Anregung hat, wenn das Parlament ihr nicht zustimmt, keinerlei weitere rechtliche Wirkungen. Das Parlament ist nicht verpflichtet, eine Volksabstimmung über den Gegenstand durchzuführen. Und selbst wenn es zur Abstimmung kommt, ist deren Ergebnis nicht bindend. 8. Liechtenstein Nach Artikel 66 Absatz 2 der Verfassung vom 5. Oktober 1921 können 1500 Bürger oder vier Gemeinden innerhalb von 30 Tagen ein Verfassungsreferendum auslösen, das nach dem Wortlaut der Verfassung nicht obligatorisch ist. Dem Fürsten kommt gegenüber den in Volksabstimmungen angenommenen Verfassungsrevisionen ein Vetorecht zu.

Für ein Gesetzes-bzw. Finanzreferendum sind die Unterschriften von 1000 Bürgern oder ein Begehren von drei Gemeinden nötig. Der Landtag (das Parlament) kann auch von sich aus ein Gesetz der Volksabstimmung unterstellen. Es kann ferner ein Gesetz oder einen Finanzbeschluß für dringlich erklären und so unbefristet dem Referendum entziehen. Der Fürst hat die Kompetenz, die Zustimmung zu einem Gesetz zu verweigern.

Nach Artikel 64, 4 der Verfassung können 1500 Bürger oder vier Gemeinden eine Verfassungsinitiative einreichen. Gemäß Artikel 111 ist die Initiative schon im Landtag angenommen, wenn das bei der ersten Sitzung einstimmig beschlossen wird oder bei zwei aufeinanderfolgenden Sitzungen jeweils mit Dreiviertelmehrheit. Wenn der Landtag eine Initiative ablehnt, findet nach der Verfassungspraxis eine Volksabstimmung statt.

Für eine Gesetzesinitiative bedarf es nach Artikel 64, 2 1000 Unterschriften von Stimmberechtigten oder eines Begehrens von drei Gemeinden. Finanzwirksame Gesetze müssen auch neue Einnahmen vorschlagen. Lehnt der Landtag die Initiative ab, so muß eine Volksabstimmung stattfinden. Nach der liechtensteinischen Verfassung kann der Landesfürst erfolgreichen Volksinitiativen die „Sanktion“ (Zustimmung) verweigern. 9. Australien Australien hat nach dem Vorbild der Schweiz 1901 das obligatorische Verfassungsreferendum eingeführt. Für eine Verfassungsrevision ist zunächst ein übereinstimmender Beschluß der beiden Kammern des Parlaments nötig. Falls eine Kammer die Revision ablehnt oder nicht daraufhin zusammentritt, kann der Generalgouverneur ein Referendum anordnen (Artikel 128, 3 der Verfassung). Damit eine Vorlage in der Volksabstimmung angenommen ist, bedarf es wie in der Schweiz sowohl einer Mehrheit der Abstimmenden wie auch einer Mehrheit der Gliedstaaten. Als zusätzlichen Schutz der Interessen der Einzelstaaten bestimmt Artikel 128, 5, daß Verfassungsänderungen, welche den Anteil der Vertretung der Staaten in den Häusern des Parlaments oder eine Änderung des Staatsgebietes betreffen, ohne Zustimmung der Mehrheit der Wähler in den betreffenden Staaten keine Gültigkeit erlangen.

III. Die Abstimmungspraxis

Abbildung 3: Direktdemokratische Einrichtungen in neun Staaten

1. Die Zahl der Urnenentscheide und Urnengänge Für die hier untersuchten Staaten sind die Zahlen der Urnenentscheide bis Ende 1990 aus Tabelle 1 ersichtlich. Die weitaus meisten Urnenentscheide wurden in Kalifornien gefällt, gefolgt von der Schweiz und (mit weitem Abstand) Liechtenstein. Die Annahmequote ist am höchsten in Frankreich (90 Prozent), am geringsten in Australien (18 Prozent). Auffallend ist die fast gleiche Annahme-quote (47 Prozent) in der Schweiz und in Liechtenstein. Sieht man sich die Zahl der Urnengänge, die Zahl der Urnenentscheide und die durchschnittliche Stimmbeteiligung in den vergangenen zwanzig Jahren an (vgl. Tabelle 2), so fällt auf, daß sowohl die Schweiz wie auch Kalifornien in den siebziger und achtziger Jahren Rekorde zu verzeichnen haben: 42 Prozent aller Urnenentscheide in der Schweiz seit 1848 bzw. 30 Prozent aller Urnenentscheide in Kalifornien seit 1884 wurden nach 1969 gefällt.

Nur in der Schweiz, in Kalifornien und in Liechtenstein wurden die Stimmbürger in den vergangenen 20 Jahren im Durchschnitt mehr als einmal jährlich zu den Urnen gerufen. In diesen Staaten gehören Sachentscheide zum politischen Alltag Die Stimmbeteiligung lag in der Schweiz und in Kalifornien im Durchschnitt bei gut 40 Prozent. In Liechtenstein, wo immerhin 22 Urnengänge stattfanden, ist die Beteiligung konstant hoch. Auffallend ist die hohe Beteiligung von über 90 Prozent in Australien; zwei Urnengänge fanden zusammen mit Wahlen statt, überdies herrscht Stimmzwang. Die hohe Beteiligung in Australien deutet auf eine hohe Konfliktintensität hin. 2. Abstimmungsgegenstände Die folgende Unterteilung der Abstimmungsgegenstände nach Sachbereichen stützt sich auf Butler/Ranney, Magleby und Bugiel

Es würde den Rahmen sprengen, alle Abstimmungsgegenstände der Schweiz und Kaliforniens aufzuführen; einzig die Initiativen werden nach Sachbereichen gruppiert (Tabelle 3) \

Die meisten Abstimmungsgegenstände betrafen Verfassungsfragen, insbesondere Organkompeten-zen und das Wahlrecht. In Liechtenstein und Australien dominierten „pragmatische Fragen“, zum Beispiel aus den Bereichen Bauten, Steuern, Jagd (Liechtenstein), Wirtschaft und Finanzen (Australien). Hinsichtlich der Schweiz und Kalifornien macht eine Einteilung der Initiativen in Anlehnung an Lee mehr Sinn. Ihr Ergebnis läßt sich in Tabelle 4 ablesen. Die Gegenstände, die mittels Initiativen zur Volksabstimmung gebracht wurden, spiegeln die großen gesellschaftlichen Streitthemen wider. In Kalifornien dominierten nach den Reformen der Progressivisten bis in die zwanziger Jahre Verfassungsfragen und Fragen der öffentlichen Moral. In den dreißiger Jahren wurden in der Schweiz und in Kalifornien zahlreiche Initiativen zu Wirtschaftsund Sozialfragen eingereicht. In der Schweiz betrafen nach 1945 sehr viele Initiativen die Sozialversicherung. Seit den siebziger Jahren füllen neue Themen die Liste der Verhandlungsgegenstände, insbesondere Umwelt, Atomkraft und Verkehr. Allein 1990 betrafen 7 von 18 Initiativen in Kalifornien Umwelt-themen.

IV. Funktionen der direkten Demokratie

Tabelle 1: Zahl der Urnenentscheide bis Ende 1990 Quelle: David Butler/Austin Ranney (Hrsg.), Referendums. A Comparative Study of Practice and Theory, Washington 1978; eigene Datensammlung.

. ein ganzer Politikbetrieb läuft anders, wenn eine Opposition vorhanden ist oder ein Verfassungsgericht existiert oder aber eben die Möglichkeit besteht, das Volk anzurufen“ Direkte Demokratie ist ein wichtiges Strukturelement innerhalb eines politischen Systems, das -wenn die Initiative vorhanden ist -als Hebel dazu dienen kann, andere Strukturelemente des Systems zu verändern. Freilich ist es schwierig, generelle, für alle Staaten gültige Aussagen zu machen über die Funktionen von Initiative und Referendum. Die tatsächlichen Konsequenzen der direkten Demokratie für die Struktur eines politischen Systems und den politischen Prozeß können je nach politi-scher Situation, institutioneilen Rahmenbedingungen, politischer Kultur und politischen Akteuren höchst unterschiedlich sein. Eine „Theorie“ der direkten Demokratie gibt es nicht. Fast jede Volksabstimmung hat ihre eigene Geschichte. Direkte Demokratie mit Initiative und Referendum gehört nur in der Schweiz, in etwa der Hälfte der Gliedstaaten der USA und in Liechtenstein zum politischen Alltag, während Sachabstimmungen in anderen Staaten außergewöhnliche politische Ereignisse sind. Falls, nach allgemeinem Urteil, die direkte Demokratie in der Schweiz und in den USA zufriedenstellend funktioniert, so bedeutet das nicht, daß es bei ihrer Einführung in anderen Staaten ebenfalls so sein müßte.

Die Funktionen der direkten Demokratie können untersucht werden im Hinblick auf Struktur, Pro-zesse und Inhalte der Politik, und zwar jeweils auf der Makro-, der Meso-und der Mikroebene, also auf der Ebene des Gesamtsystems, jener des Zwischenbereichs von Staat und Staatsbürger und jener des einzelnen Bürgers. Die vorliegende Analyse beschränkt sich auf eine kurze Betrachtung der Funktionen auf der Makroebene und greift als Beispiele das Regierungssystem und die Innovationsfähigkeit des politischen Systems heraus. 1. Direkte Demokratie und Regierungssystem Verträgt sich die direkte Demokratie mit einer parlamentarischen Regierungsweise, das heißt mit einem Regierungssystem, in dem das Parlament die Regierung stürzen und eventuell die Regierung das Parlament auflösen kann? Meist wird die Auffassung vertreten, daß direkte Demokratie mit parlamentarischer Regierungsweise nicht kompatibel sei. Als abschreckendes Beispiel dient oft die Weimarer Republik. Noch vor ihrem Untergang schrieb Maurice Battelli: „Man kann jedoch voraussehen, daß sich die direkte Demokratie, kombiniert mit dem parlamentarischen System, für die politische Stabilität als heikel erweisen wird. Das Referendums-und Initiativrecht haben ihren Ursprung in Staaten, wo die verschiedenen Staatsorgane einander nicht direkt verantwortlich sind, und es macht nicht den Anschein, daß diese Rechte in einem parlamentarischen System ohne schwerwiegende Mißstände fortbestehen können.“

In der Tat stehen Regierung, Parlamentsfraktionen, Parteien und Stimmbürger in einer parlamentarischen Demokratie in einer anderen Entscheidungssituation als etwa in den nichtparlamentarischen Demokratien der Schweiz oder Kaliforniens, wo die Regierung nicht gestürzt werden kann. In der parlamentarischen Demokratie, insbesondere in einem majoritären politischen System, wo die Macht in den Händen der parlamentarischen Mehrheit konzentriert ist muß sich die Partei-und Fraktionsdisziplin über das Parlament hinaus auf das Verhalten bei Volksabstimmungen erstrekken, soll die Regierung nicht gefährdet werden. Nicht mehr der eigentliche Abstimmungsgegenstand steht dann im Vordergrund, sondern das Vertrauen oder das Mißtrauen in die Regierung bzw. in ein Staatsoberhaupt. Die Abstimmung wird zu einem Surrogat für Wahlen, der Abstimmungskampf zum Wahlkampf, in dem es außer den Parteien kaum weitere Akteure gibt. Sind die Parteibindungen stark, so wird das Abstimmungsergebnis das Kräfteverhältnis der Parteien widerspiegeln. Auf den Bestand der Regierung wirkt das Abstimmungsergebnis dann ähnlich wie eine Vertrauensfrage im Parlament: Verliert sie, muß sie unter Umständen zurücktreten.

Im majoritären System Australiens ist das Verfassungsreferendum Zankapfel im Parteienwettbewerb. Sachabstimmungen, sofern sie nicht zusammen mit Wahlen stattfinden, werden von den Oppositionsparteien oft für einen Zwischenwahlkampf benutzt. Die Korrelation zwischen Wahl-und Abstimmungsverhalten ist hoch. Eine Vorlage hat nur dann eine Erfolgschance, wenn die beiden großen Parteien gemeinsam dahinterstehen. „Insgesamt scheint die australische Erfahrung vorwiegend die negativen Seiten der Referendumsdemokratie widerzuspiegeln.“ In einem majoritärparlamentarischen Kontext müssen auch die Verfassungsreferenden in Irland gesehen werden.

In der präsidialen Demokratie Frankreichs ist der Ausgang der Plebiszite eng mit dem Prestige bzw.dem Schicksal des Staatspräsidenten verbunden. Die Plebiszite de Gaulles waren stets auch ein Vertrauens-bzw. Mißtrauensvotum in seine Person als er das Plebiszit vom 27. April 1969 verlor, trat er zurück.

Italien ist eine weniger stark majoritär ausgerichtete parlamentarische Demokratie als Australien. Die Position der Regierung wird aber zumindest vom Abstimmungsergebnis beeinflußt. Das Regierungssystem Italiens -1990 eine Koalitionsregierung von fünf Parteien unter der Dominanz der Democrazia Cristiana -ist nicht wegen des abrogativen Referendums instabil; dieses ist an sich weder stabilitäts-noch instabilitätsfördernd. Es stellt ein weiteres taktisches Instrument im Parteien-wettbewerb und eine zusätzliche Option für die Parteien dar, ihre Forderungen durchzusetzen. Die Existenz der Regierung war zuweilen direkt mit dem Ausgang von Volksentscheiden verknüpft, so 1985 bei der Abstimmung über die „scala mobile“ (automatische Angleichung der Löhne an die Inflationsrate), als Ministerpräsident Craxi für den Fall einer Niederlage den sofortigen Rücktritt angekündigt hatte. Auch nach der Abstimmung über fünf Referenden, über die in Ita-lien am 8. November 1987 entschieden wurde, fühlte sich Craxi, nunmehr nicht mehr Ministerpräsident, als Sieger im Kampf gegen den „Atomstaat“. Er liebte es, neben dem Regierungsbündnis auch die „Front des Referendums“ zu pflegen. „Die italienische Erfahrung hat nicht die Unvereinbarkeit von direkter und repräsentativer Demokratie erwiesen,“ meint Michle Guillaume-Hofnung Die Praxis in Italien ist indessen noch zu kurz für eine Beurteilung.

Zwar spielt auch in der nichtparlamentarischen Demokratie die Parteibindung beim Abstimmungsverhalten eine wichtige Rolle. Aber der Stimmbürger kann sich auf den Sachentscheid konzentrieren und muß nicht den Fortbestand bzw.den Sturz der Regierung in den Entscheid einkalkulieren. Absolute Fraktions-und Parteidisziplin ist nicht nötig. Vielmehr bilden sich temporäre Abstimmungskoalitionen aus Vertretern verschiedener Parteien. Neben den Parteien treten weitere Akteure im Abstimmungskampf auf, so Interessenverbände, Bürgerbewegungen und gemeinnützige Organisationen. Das Abstimmungsergebnis hat keinen Einfluß auf das Vertrauen oder Mißtrauen in die Regierung. Damit verringert sich allerdings auch die Bedeutung der Wahlen

In der Schweiz, in Liechtenstein und in den USA gehen Theorie und Praxis davon aus, daß das Abstimmungsergebnis keinen Einfluß auf den Bestand der Regierung haben soll. Das gleiche gilt für Dänemark, dessen Regierungssystem, obwohl parlamentarisch, konsensuell ausgerichtet ist Im schweizerischen Bundesstaat und in vielen Kantonen hat die direkte Demokratie den Übergang von einem eher majoritären zu einem konsensuellen System beschleunigt. Die schweizerischen Konkordanzregierungen sind nicht nur, aber auch eine Folge der direkten Demokratie. In den USA sind die Parteien auf der Gliedstaatenebene keine wichtigen Akteure im direktdemokratischen Prozeß. In Kalifornien ist die Regierung, da vom Volk gewählt, vom Parlament in ihrer Existenz nicht abhängig. In Liechtenstein dürfte zwar eine engere Beziehung zwischen Abstimmungs-und Wahlverhalten gegeben sein; die Position der Koalitionsregierung wird aber durch Abstimmungsergebnisse nicht in Frage gestellt. Die nichtparlamentarische Regierungsweise gestattet es den Parteien in der Schweiz, in den USA und in Liechtenstein, in der Regierung vertreten zu sein und mit direktdemokratischen Instrumenten Opposition zu betreiben. 2. Direkte Demokratie und die Innovationsfähigkeit des politischen Systems Eine der ersten Fragen, die sich politische Akteure bei der Diskussion über direkte Demokratie stellen, ist gewöhnlich: Was nützt mir dieses Instrument für meine Politik? Konservative erhoffen sich bewahrende, Progressive verändernde Wirkungen. Die Diskussion darüber, ob direkte Demokratie eher den politischen Wandel begünstigt oder verhindert, ist alt und taucht insbesondere in den Reihen linker politischer Bewegungen regelmäßig auf. Gerade die veränderungswilligen Kräfte stehen vor dem Dilemma, einerseits dem Volk mehr Rechte zu geben, andererseits fortschrittliche Entscheidungen nicht zu verhindern. In der Bundesrepublik Deutschland haben radikale Linke vor Volksentscheiden gewarnt. Sie würden offenkundig machen, daß die Linke keine Mehrheit habe. „Zudem werde gerade durch die direkte Demokratie eine breite Identifikation von Bevölkerung und Staat erreicht. Die Linke dürfe daher eine Volksabstimmung nur fordern, wenn letztlich gesichert sei, daß sie nicht stattfände.“

Initiativen haben Signal-und Artikulationsfunktion. Sie signalisieren politische Probleme, für die Handlungsbedarf besteht. Sie erlauben es Gruppierungen ohne politischen Entscheidungsanteil, ein Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren und gegen den Willen der Staatsorgane einen Volksentscheid herbeizuführen. Mit der Initiative können politische Entscheidungsprozesse in Gang gebracht, aber auch politische Entscheidungen rückgängig gemacht werden. In der Schweiz bringt die Initiative etwas Bewegung in ein ansonsten träges politisches System. Im politischen System des Kleinststaates Liechtenstein ist die Initiative ein Element, welches den politischen Wandel begünstigt. In der homogenen Gesellschaft Liechtensteins herrschen ein Übermaß an Konkordanzzwängen und eine geringe Fähigkeit, Konflikte offen auszutragen. Die direkte Demokratie ist ein Element der Konkurrenz in einer stark auf Konkordanz ausgerichteten Gesellschaft Weniger geeignet als zur Artikulation scheint die direkte Demokratie hingegen zur unmittelbaren Durchsetzung von Innovationsbegehren. Der „Input“ in das politische System wird dank direktdemokratischer Möglichkeiten erhöht, der Durchfluß durch das politische System ist indessen zusätzlichen Hindernissen ausgesetzt. Direktdemokratische Prozesse sind schwer steuerbar, ihr Ausgang ist oft ungewiß.

Es wäre verkürzt, als Indikator für die innovativen Wirkungen von Initiativen nur die Abstimmungsergebnisse zu verwenden. Gerade für die Schweiz, wo seit 1891 nur jede zehnte Initiative, die zur Abstimmung gelangte, angenommen worden ist, würde sich vorschnell der Schluß ergeben, daß die direkte Demokratie konservativ wirkt. Initiativen haben nicht nur direkte, sie haben auch indirekte Wirkungen, und zwar vor und nach einer Abstimmung. „In fact, many new ideas have reached the public agenda through the ballot, and even when defeated, have often opened up discussion that led to later adoption of part or all of some proposals." 21) Abgelehnte, zurückgezogene und nicht zustandegekommene Initiativen sind nicht funktionslos. In drei Vierteln aller Fälle reagieren Regierung und Parlament in der Schweiz mit Konzessionen an die Initianten, gewöhnlich mit Veränderungen. Die direkten Erfolgschancen von Initiativen in Kalifornien sind etwa dreimal höher als in der Schweiz. Allerdings sind die indirekten Wirkungen geringer, da ein Rückzug von Initiativen und eine Kompromißlösung vor der Abstimmung nicht möglich sind. Teilt man die in der Schweiz bis Ende 1989 zustandegekommenen 178 Initiativen grob nach ihrer Stoßrichtung ein, so ergibt sich, daß 125 eher auf Innovationen zielten, 32 eher auf Bewahrung bzw. Reversion; sind nicht klassifizierbar. Nach einer Zusammenstellung von Schmidt zielten 74 von 199 Initiativen, über die in den USA zwischen 1977 und 1984 abgestimmt wurde, auf eher konservative Maßnahmen ab, 79 auf eher fortschrittliche. Die Erfolgsquote war mit 45 bzw. 44 angenommenen Initiativen in beiden Kategorien fast gleich hoch.

Initiative wie Referendum verstärken in der Schweiz und in Kalifornien die Rückkoppelung des politischen Systems an die Gesellschaft. Die Initiative wirkt in der Tendenz eher innovativ und dynamisch, das Referendum eher konservativ und bremsend. Die hohen Erfolgsquoten von über 60 Prozent bei obligatorischen Referenden in der Schweiz und in Kalifornien belegen nicht, daß Verfassungsänderungen leicht durchzubringen wären; sie weisen vielmehr darauf hin, daß im Vorfeld der Abstimmungen gute Kleinarbeit geleistet wurde im Abbau von Widerständen.

„Das Referendum begünstigt die gegenwärtige Rechtslage und erschwert Innovationen.“ Verfassungsänderungen müssen in der Tat breit abgestützt sein, um in der Volksabstimmung eine Chance zu haben. Das obligatorische Verfassungsreferendum wirkt in der Schweiz konservativ, das fakultative Gesetzesreferendum gar „prophylaktisch“ konservativ Das fakultative Referendum in der Schweiz hat vielleicht gerade dann die größte Wirkung entfaltet, wenn es nicht ergriffen wird, denn dies zeigt, daß es gelungen ist, alle „referendumsfähigen Gruppen“ einzubinden, d. h.deren Interessen zu berücksichtigen. Dies wiederum ist nur möglich bei einem Konsens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, was größere Reformen ausschließt. Etliche Innovationen wurden in der Schweiz wegen des Referendums um Jahrzehnte verzögert oder gar verunmöglicht, so der Ausbau des Sozialstaates, das Frauenstimmrecht oder der UNO-Beitritt. Musterbeispiel für die Bremswirkung des Referendums sind die vergeblichen Bemühungen um die Totalrevision der Bundesverfassung, die vor mehr als 20 Jahren in Angriff genommen wurde.

Wie in der Schweiz und in Kalifornien sind auch in anderen Staaten die Erfahrungen bezüglich der Innovationsfähigkeit zwiespältig. In Frankreich haben Plebiszite die Lösung der Algerienfrage erleichtert. In Italien hat das Referendum Gesetzen über die Ehescheidung und den Schwangerschaftsabbruch die nötige Legitimation verschafft, in Irland wurden das Ehescheidungs-und das Abtreibungsverbot per Referendum bekräftigt. In Australien führt das Verfassungsreferendum zu einer Blockierung beinahe aller Revisionsvorhaben. In Liechtenstein wurde das Frauenstimmrecht 1968, 1971 und 1973 verworfen, bevor dessen Einführung 1984 knapp mit 51, 3 Prozent Ja-Stimmen gutgeheißen wurde.

Als Schlußfolgerung kann formuliert werden: Direkte Demokratie nützt nicht generell den beharrungswilligen oder den veränderungswilligen politischen Kräften. So werden auch weiterhin Akteure mit wenig politischem Entscheidungsanteil mehr direkte Demokratie fordern und versuchen, mit direktdemokratischen Instrumenten ihre Ziele zu verwirklichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum konsultativen Referendum vgl. Ulrich Rommelfanger, Das konsultative Referendum. Eine verfassungstheoretische, -rechtliche und -vergleichende Untersuchung, Berlin 1988. Er kommt zum Schluß, daß in den westlichen Demokratien den meisten konsultativen Entscheidungen faktische Bindungswirkung zukommt, indem die Staatsorgane das Volksvotum akzeptieren und ihr Verhalten danach ausrichten.

  2. Vgl. David B. Magleby, Direct Legislation. Voting on Ballot Propositions in the United States, Baltimore-London 1984; Charles Bell/Charles Price, California Government Today. Politics of Reform?, Chicago 19883; Thomas E. Cronin, Direct Democracy. The Politics of Initiative, Referendum, and Recall. Cambridge, Mass. -London 1989; Rudolf Billerbeck, Plebiszitäre Demokratie in der Praxis: zum Beispiel Kalifornien, Berlin 1989; Silvano Möckli, Direkte Demokratie in Kalifornien. Die Abstimmung vom 8. November 1988 (Beiträge und Berichte des Instituts für Politikwissenschaft an der Hochschule St. Gallen, 128 [1989]).

  3. Wegen der geringen Beteiligung von 38 Prozent bei den Wahlen vom 6. November 1990 werden diese Unterschriften-zahlen ab 1991 leicht reduziert.

  4. Da es keine „Communaute“ (Zusammenschluß von Frankreich und seinen Kolonien) mehr gibt, hat diese Bestimmung nur noch historische Bedeutung.

  5. Der letzte Satz von Artikel 75 der Verfassung lautet: „Das Gesetz bestimmt die Einzelheiten des Verfahrens beim Volksentscheid.“ Ein entsprechendes Gesetz (Nr. 352) wurde erst am 25. Mai 1970 erlassen; der Verfassungsartikel blieb also 23 Jahre lang toter Buchstabe.

  6. Zu berücksichtigen ist, daß diese Staaten Elemente direkter Demokratie auch auf den unteren Staatsebenen institutionalisiert haben.

  7. Vgl. David Butler/Austin Ranney (Eds.), Referendums. A Comparative Study of Practice and Theory, Washington 1978, S. 14; D. Magleby (Anm. 4), S. 33; Karsten Bugiel, Das Institut der Volksabstimmung im modernen Verfassungsstaat. Zur Verfassungslage und Rechtspraxis bürgerlicher Sachentscheidungsrechte, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 18 (1987) 3, S. 418.

  8. Vgl. Eugene C. Lee, California, in: D. Butler/A. Ranney (Anm. 9), S. 95.

  9. Otmar Jung, Direkte Demokratie: Forschungsstand und -aufgaben, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21 (1990) 3, S. 496.

  10. Maurice Battelli, Les institutions de la dömocratie directe en droit Suisse et en droit compar moderne, Paris 1932, S. 106.

  11. Vgl. Arend Lijphart, Democratic Political Systems: Types, Cases, Causes, and Consequences, in: Journal of Theoretical Politics, 1 (1989) 1, S. 33-48.

  12. Robert Schediwy, Empirische Politik. Chancen und Grenzen einer demokratischen Gesellschaft, Wien 1980, S. 132.

  13. Vgl. Wolfgang Schröder, De Gaulle und die direkte Demokratie, Köln 1969.

  14. Michele Guillaume-Hofnung, Le Referendum, Paris 1987, S. 108.

  15. Die Position der Gewählten ist in der nichtparlamentarischen Demokratie insofern stärker, als eine Abwahl während der Amtsperiode nicht möglich ist. Sie wird auf der anderen Seite geschwächt durch die direktdemokratischen Initiativund Nachentscheidungsmöglichkeiten.

  16. Vgl. Kenneth E. Miller, Policy-Making by Referendum: The Danish Experience, in: West European Politics, 5 (1982) 1, S. 63.

  17. Claus-Henning Obst, Chancen direkter Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Zulässigkeit und politische Konsequenzen, Köln 1986, S. 17.

  18. Vgl. Michael Ritter, Besonderheiten der direkten Demokratie Liechtenstein im Vergleich zur Schweiz, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung, 11 (1990) 1, S. 8.

  19. Betty H. Zisk, Money, Media, and the Grass Roots. State Ballot Issues and the Electoral Process, Newbury Park 1987, S. 266.

  20. Vgl. David D. Schmidt, Initiative News Report, November 30, 1984, S. 4.

  21. R. Rhinow (Anm. 3), S. 234.

  22. Vgl. H. Werder (Anm. 3), S. 48: „Der defensive Charakter des Referendums hat... eine Benachteiligung aller jener Gruppen zur Folge, welche eine Veränderung des Status quo und eine aktive staatliche Politik anstreben.“

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