I. Das Volk und die Bürger
In einer Betrachtung zur 200jährigen Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution hat Jürgen Habermas gefragt, welche Bedeutung und Gestalt der damals so wirkmächtige Grundsatz der Volks-souveränität heute in einer repräsentativen Demokratie mit eingespielter Elitenkonkurrenz wie der (noch nicht vereinten) Bundesrepublik hat und haben sollte Unter der Überschrift „Volkssouveränität als Verfahren“ rät er dazu, sich den Volkssouverän nicht mehr als „Die Nation“ oder „Das Volk“ und auch nicht als die Summe aller Stimmbürger vorzustellen. Vielmehr ziehe Volks-souveränität sich in heterogenen Massengesellschaften in die demokratischen Verfahren und deren kommunikative Voraussetzungen zurück. Er unterscheidet dazu die Ebene förmlicher Willensbildung in den konstitutionellen Institutionen und Organen der parlamentarischen Demokratie von , einer zweiten Ebene der Meinungsbildung in „einer sie umgebenden politischen Kommunikation“ zwischen „freien Assoziationen“, deren „Verflechtung autonomer Öffentlichkeiten ... als solche und im ganzen nicht organisiert werden kann“ Beide Ebenen hängen mit einer dritten Voraussetzung zusammen, nämlich „einer liberal eingestellten und egalitären ... resonanzfähigen politischen Kultur“
Voraussetzung für eine solche Volkssouveränität im Modus kommunikativer Verfahren ist freilich, daß die Willensbildung „innerhalb der parlamentarischen Körperschaften sensibel bleibt für die Ergebnisse einer autonomen Öffentlichkeiten entspringenden informellen Meinungsbildung in ihrer Umgebung“ Bezogen auf die Bundesrepublik des Jahres 1989 findet Habermas diese Annahme selbst „unrealistisch“. Die unverfaßte Öffentlichkeit von Publizistik und Medien, freien Initiativen und Bewegungen könne auf das politische System nur in der Weise einwirken, daß es den verfaßten Entscheidungsträgern wie einer „belagerten Festung“ die eigenen normativen Imperative aufnötige. „Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung.“
Das Bild, das Habermas hier von der (alten) Bundesrepublik zeichnet, kann man durchaus teilen: Einer pluralen und insgesamt diskussionsoffenen „Zivilgesellschaft“ steht relativ abgehoben ein staatlicher Politikbetrieb gegenüber, gegen dessen Abschottungstendenzen die außerparlamentarische Öffentlichkeit ihre Themen und Präferenzen zwar nicht erfolglos, aber doch nur mühsam zur Geltung bringen kann. Zu denken gibt, daß dies die heutige Gestalt von Volkssouveränität sein soll. Es fällt schwer, in diesem Bild einer Festungsmauer zwischen denjenigen, die Gesetze erlassen, und denjenigen, die sie zu befolgen haben, noch die Ideen von 1789 wiederzufinden.
Der für plurale Massengesellschaften tatsächlich unverzichtbare Gedanke, daß die Bedingungen legitimer Herrschaft heute vor allem in Regeln kommunikativer Verständigung liegen, bedarf der Ergänzung durch institutioneile Vorkehrungen, nach denen die je vorläufigen Ergebnisse dieser Verständigung sich Geltung verschaffen. Daß Parlamentswahlen diese Offenheit zwischen Diskussionsprozessen und politischen Entscheidungen noch gewährleisten, glaubt Habermas offenbar kaum noch; er erwähnt sie so beiläufig, als leisteten sie keinen nennenswerten Beitrag mehr zu einer Meinungs-und Willensbildung als kommunikativem Prozeß. Zur Volkssouveränität als Verfahren muß wohl die demokratische Legitimation im Verfahren hinzutreten, wenn nicht Verfahren zum Als-Ob von Volkssouveränität werden sollen.
Unvermutet haben diese Betrachtungen eine unmittelbar praktisch-politische Dringlichkeit erhalten. Mit der Wiedervereinigung ist jener in Präambel und Schlußartikel 146 des Grundgesetzes vorgesehene Zeitpunkt gekommen, in dem „das ge-samte Deutsche Volk ... in freier Entscheidung“ über seine endgültige Verfassung zu befinden hat. In der dadurch eröffneten Verfassungsdiskussion besteht Einmütigkeit darüber, daß diese gesamtdeutsche Verfassung im wesentlichen die bewährten Regelungen des Grundgesetzes übernehmen soll. Im einzelnen sind aber Richtung und Umfang von Änderungen noch offen. Umstritten ist auch, ob zu der in Art. 5 des Einigungsvertrages vorgesehenen „Befassung“ ein bloßer Parlamentsausschuß oder ein repräsentativ zusammengesetzter Verfassungsrat gebildet werden soll. Als außerparlamentarischen Diskussionsanstoß hat das den Bürgerbewegungen nahestehende „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ bereits den Entwurf eines veränderten Grundgesetzes sowie eines Gesetzes zur Zusammensetzung eines Verfassungsrats vorgelegt; weitere Vorschläge sind in Arbeit. Die Volkssouveränität ist also auch aktuell „im Verfahren“.
Einer der Streitpunkte in der Verfassungsdebatte ist insbesondere die Frage, ob der endgültige Text nach seiner Verabschiedung durch Bundestag und Bundesrat einem Volksentscheid unterzogen werden, mehr aber noch, ob er selbst Volksbegehren und Volksentscheid als Formen direktdemokratischer Bürgermitsprache enthalten soll. Die Auseinandersetzung um diese Frage ist nicht erst seit der Wiedervereinigung im Gange, und sie wird von Befürwortern wie Gegnern mit bemerkenswerter Vehemenz geführt. Befürworter aus den Reihen der Ökopax-Bewegungen Überhöhen die Einführung von Volksabstimmungen zu Überle -einer bensfrage nicht nur der Demokratie, sondern von Umwelt und Frieden: Nur der unverfälschte Bürgerwille könne den von mächtigen Interessen gegängelten „Volksvertretern“ noch bei ihrer Katastrophenpolitik in den Arm fallen. Gegner sehen gerade darin die Gefahr einer „anderen Republik“, in der ein emotionalisierter Unverstand ohne Kontrolle und Verantwortung über Wohl und Wehe des Staatswesens entscheide.
Zwischen beiden Extremen hat sich in den letzten Jahren eine nüchtern abwägende Fachöffentlichkeit herausgebildet Indem sie übertriebene Erwartungen und Ängste gleichermaßen dämpfte, hat sie insgesamt den Kreis der Stimmen wachsen lassen, die in plebiszitären Verfassungselementen als Ergänzung und Korrektiv zum parlamentarischen Regelverfahren ein Stück westlich-demokratischer Normalität sehen, auf die nun auch die deutsche Verfassungsentwicklung wieder einschwenken sollte. So hat die SPD sich mehrheitlich dazu entschlossen, an ihre frühere Programmtradition bis Weimar anzuknüpfen und in ihrem neuen Berliner Programm die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auch auf Bundesebene zu fordern; das Land Schleswig-Holstein hat bei der Neufassung seiner Landessatzung als eines der letzten „alten“ Bundesländer diese Form der Bür-germitsprache eingeführt.
Die konkrete Ausgestaltung solcher plebiszitären Elemente ist freilich in den einzelnen Landesverfassungen und nach den verschiedenen westeuropäischen und amerikanischen Regelungen höchst unterschiedlich, je nachdem, wer das Recht zur Einleitung eines Volksbegehrens hat, welche Verfahrenshürden vorgesehen sind und ob die Schlußabstimmung bindenden oder nur konsultativen Charakter besitzt
Dabei lassen sich in der beginnenden Verfassungsdiskussion seltsame Widersprüchlichkeiten in der Argumentation beobachten: So sind es Personen und Institutionen im Umfeld der GRÜNEN sowie der Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR, die am entschiedensten eine offene und breite Verfassungsdiskussion ohne enge Bindung an das bisherige Grundgesetz fordern -obwohl sie bei den gegebenen Macht-und Mehrheitsverhältnissen damit rechnen müssen, daß ein so zur Disposition gestelltes Grundgesetz in wichtigen Aspekten, etwa in Fragen des Asylrechts oder der Wehr-und Dienstpflicht, auch „rückwärts“, seiner bisherigen Liberalität zuwider, reformiert werden könnte. Demgegenüber möchten die konservativen Parteien und ihre intellektuellen Wortführer -z. B. die einhundert Staatsrechtler, die 1990 die Vereinigung beider deutscher Staaten auf dem „kurzen“ Weg nach Art. 23 GG statt über eine verfassunggebende Versammlung nach Art. 146 GG empfahlen -am liebsten jede inhaltliche Verfassungsdiskussion unterbinden, obwohl sie deren Ergebnisse nicht zu befürchten hätten Der vermeintliche Widerspruch wird erklärlich, wenn man sich von der Vorstellung löst, die Diskussion um direktdemokratische Elemente betreffe vor allem die Ebene institutionali-sierter Entscheidungsregeln, -in die sie freilich als Verfassungsinstitut einzuschreiben wären, und aus der daher Befürworter wie Gegner vorrangig ihre Argumente ziehen.
Nicht die Veränderungen an den Strukturen des Verfassungssystems motivieren die Heftigkeit der Debatte, sondern die damit implizierten Verschiebungen in den zugrundeliegenden Assoziationsweisen und Verständigungsprozessen, die Habermas als die Ebene der Meinungsbildung bezeichnet hat. Noch entscheidender wären die Auswirkungen einer konstitutionellen Anerkennung von „Volkssouveränität im Verfahren“ auf der materiell am wenigsten faßbaren Ebene der politischen Werthaltungen, Symbole, Traditionen und Vor-verständnisse, die unsere politische Kultur bestimmen. Ob anläßlich der Verfassunggebung für das bislang nur staatlich, nicht gesellschaftlich-kulturell geeinte Deutschland Formen direkter Demokratie in den Verfassungstext aufgenommen werden oder nicht, und ob sie bei der Annahme dieser Verfassung „im Verfahren“ angewandt werden, hat -so die Ausgangsthese -angesichts der politischen Traditionen und der im Prozeß der Vereinigung anstehenden Probleme die Bedeutung einer politisch-kulturellen Pfadentscheidung.
In stilisierender Entgegensetzung geht es darum, welche der beiden in der deutschen Verfassungsgeschichte schon seit jeher einander widerstreitenden, durch die Nachkriegsgeschichte beider deutscher Staaten in ihrem Widerstreit nochmals bekräftigten Demokratieverständnisse die künftige politisch-gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland prägt: ein etatistisch-obrigkeitliches Verständnis, für das der Grundsatz der Volkssouveränität wesentlich herrschaftslegitimierende Funktion hat, oder ein freiheitlich-republikanisches Verständnis, demzufolge Volkssouveränität der Autonomie und Selbstverwirklichung der Bürger und ihrer frei gewählten Zusammenschlüsse dient.
Während die erste in Einheitsvorstellungen von „Volk“ und „Nation“ denkt, setzt die zweite auf Gleichheit in der Vielfalt. Schon das Subjekt der Volkssouveränität wird danach verschieden gesehen: hier „das Deutsche Volk“, dort „die Bürgerinnen und Bürger“ Dem kommen entsprechend unterschiedliche Selbstbilder und Einstellungen in der Bevölkerung entgegen -beispielsweise die Differenz, die zwischen den beiden Slogans „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“ liegt.
Die Entscheidung für oder gegen direkte Demokratie, im Text wie im Verfahren der Neukonstituierung, enthält eine Parteinahme für die eine oder die andere Tradition der Volkssouveränität, deren Wirkung weit mehr in ihrer Symbolkraft als in ihrer praktisch-institutionellen Anwendung liegt.
Zugespitzt: Eine „andere“ Republik steht nicht dann zu erwarten, wenn Volksabstimmungen in die gesamtdeutsche Verfassung Eingang finden, sondern wenn sie ausgeschlossen bleiben. Sie sind als politisch-kulturelles Signal eine Bedingung der , Möglichkeit, daß die in der alten Bundesrepublik erreichten Verhältnisse an Liberalität und Weltoffenheit, Toleranz und Pluralität, Lernbereitschaft und Konfliktfähigkeit in Zukunft wiedererkennbar bleiben.
II. Plebiszit und Repräsentation
Vorschläge zur Einführung direktdemokratischer Elemente in das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland mußten sich lange Jahre mit einer herrschenden Lehrmeinung auseinandersetzen, das Grundgesetz verbiete jedwede Form plebiszitärer Willensäußerung, vom seltenen Fall einer Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG abgesehen. Dieser Streit kann im Lichte der neueren Literatur als erledigt betrachtet werden Wenn Art. 20 Abs. 2 GG davon spricht, die Staatsgewalt werde auf Bundesebene „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“ (Hervorhebung T. E.) ausgeübt, dann kann sich dies schon rechtssystematisch nicht auf jene Territorialplebiszite beziehen; es ist auch von den „Vätern und Müttern des Grundgesetzes“ im Parlamentarischen Rat nicht so verstanden worden. Die eher periphere Frage einer Korrektur von Ländergrenzen hätte im Artikel über die Verfassungsgrundsätze nichts verloren, und die davon betroffenen Territorialpopulationen hätten gedanklich nichts gemein mit dem Staatsvolk der Bundesrepublik als Inhaber der Volkssouveränität. Fast alle Landes-verfassungen sehen die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden vor, was nach dem Homogenitätsgebot des Art. 28 GG schwer vorstellbar wäre, wenn die Verfassungsordnung auf Bundesebene direktdemokratische Verfahren strikt ausschlösse. Sieben dieser Landesverfassungen waren bereits in Kraft, als der Parlamentarische Rat zusammentrat. So war dort auch die Ablehnung von plebiszitären Elementen im Grundgesetz keineswegs einhellig. Insbesondere die Vertreter der Zentrumspartei haben bis zuletzt die Aufnahme von Volksabstimmungen gefordert, dafür jedoch keine Mehrheit bekommen.
Auch wenn das Grundgesetz direktdemokratische Entscheidungen nicht verbietet und mit dem Passus „Wahlen und Abstimmungen“ geradezu einen Auftrag zur gesetzgeberischen Ausfüllung erteilt, hätte es keinen Sinn, die Einführung einer Volks-gesetzgebung allein auf diese beiden Worte im Grundgesetz stützen und alles übrige einem einfachen Ausführungsgesetz überlassen zu wollen. Als zweite Form der Gesetzgebung müßte der Volksentscheid ebenso ausdrücklich in der Verfassung benannt und geregelt sein wie das parlamentarische Normalverfahren. So war es in der Weimarer Reichsverfassung, so ist es in den Verfassungen der Bundesländer sowie anderer westlicher Länder, die Formen direkter Demokratie kennen. Ohne Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit kann -und sollte -es den Volksentscheid auf Bundesebene nicht geben. Das macht rückblikkend den Streit akademisch, ob das Grundgesetz in bisheriger Fassung Volksabstimmungen verbietet oder bloß unausgeführt läßt 1. Demokratie in Deutschland -ein Sonderweg Richtig bleibt, daß das Grundgesetz übergewichtig zugunsten einer repräsentativen, parlamentarischen Ausgestaltung der Demokratie optiert. Diese Besonderheit der westdeutschen Verfassung erklärt sich aus den Zeitumständen: Der Parlamentarische Rat verstand sein -bewußt nicht Verfassung genanntes -Werk als Provisorium für eine Übergangszeit, in einem Nachkriegsdeutschland, dessen schwache demokratische Traditionen nicht minder verwüstet erschienen als seine Städte. Dabei war er zaghafter als die westlichen Besatzungsmächte, die in den Jahren 1946/47 alle sieben neuen Landesverfassungen einem Referendum unterwarfen und die in diesen Verfassungen enthaltenen Systeme einer Volksgesetzgebung genehmigten. Auch das Grundgesetz sollte nach den Vorstellungen der Westmächte durch Volksabstimmungen in den einzelnen Ländern angenommen werden. Erst die sich abzeichnende Spaltung Deutschlands und die beginnende Konfrontation mit den kommunistischen Machthabern in der sowjetischen Besatzungszone, die ihre Herrschaft mit dem Mittel bestellter Plebiszite zu verankern trachteten und dabei nicht ohne Erfolg an einen gewerkschaftlichen Antifaschismus appellierten, verhalfen dem Gegenmodell eines vom Volkswillen weitgehend abgehobenen Parlamentarismus ausgesuchter „Notabler“ zum Durchbruch. Auf diesem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges vermochte der Parlamentarische Rat schließlich den widerstrebenden Westmächten sogar den Verzicht auf das Referendum über das Grundgesetz, und das hieß die Ausschaltung einer direkten Beteiligung des Volkes am Prozeß der Verfassunggebung, abzuringen
Aus den Zeitumständen wird auch verständlich, daß ein Liberaler wie Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat dem Gedanken an Volksabstimmungen mit dem Alarmruf „Cave canem" entgegentrat: Sie seien „in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen“ Das Schreckbild eines bissigen Hundes und die Warnung vor „jedem“ Damagogen sollten wohl nicht nur die überwundene NS-Diktatur, sondern mindestens genauso die kommunistische Agitation und in fragwürdiger Assoziation auch die sozialistischen Teile der Gewerkschaftsbewegung treffen. Daß Heuss diese aktuellen Bezüge nicht benannte und statt dessen als Begründung recht vage auf „Erfahrungen von Weimar“ verwies, kann als Ausdruck jener gedanklichen Gründungsfigur des westdeutschen Teilstaates verstanden werden, den Antikommunismus aus dem Anti-Nationalsozialismus abzuleiten und aus beiden die Legitimität der Bundesrepublik zu folgern. Es überrascht nicht, daß in der bundesdeutschen Staatslehre die Warnung vor „Weimarer Erfahrungen“ bereitwillig zur Abwehr direktdemokratischer Mitsprache übernommen und tradiert wurde, obwohl sie sich bei historischer Nachprüfung als oberflächliche Legende erweist. Was den Nationalsozialismus möglich machte, waren nicht die plebiszitären Elemente im Weimarer Regierungssystem, sondern die wirtschaftlichen und politischen Belastungen, unter denen die erste deutsche Republik antreten mußte; unter diesen Vorzeichen gesehen ist die Bilanz damaliger Anläufe zur direkten Demokratie nicht nur negativ, jedenfalls nicht negativer als die des Parlamentarismus der Weimarer Zeit Den Weg zur „legalen Machtergreifung“ öffneten den Nationalsozialisten nicht Plebiszite sondern Reichstagswahlen und zuletzt das Ermächtigungsgesetz.
Die geschichtlichen Gründe für das im Parlamentarischen Rat verbreitete Mißtrauen gegenüber dem Staatsbürger sind aber nicht nur in den Zeit-umständen zu suchen und reichen auch über die Weimarer Jahre zumindest bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die Leitideen von Nationalstaat, Republik und Demokratie gelangten jeweils von außen, verspätet und verfälscht sowie im Gefolge innerer und äußerer Niederlagen nach Deutschland. Von der restaurativen Romantik bis zum Wilheiminismus zieht sich eine Tradition konservativen Staatsdenkens, in der „Bürger“ geradezu definiert war als Nicht-Souverän. Diesem Bild des guten, nämlich apolitisch seinen Geschäften nachgehenden Stadt-einwohners, wurde in den entsprechenden Staats-lexika „Staatsbürger“ als Inbegriff des jakobinischen Aufrührers entgegengesetzt und mit weiteren Schmähworten wie „Demokrat“ und „Republikaner“ zusammengeschoben Dem standen zwar im Vormärz liberaldemokratische Traditionen gegenüber, die in der europäischen Aufklärung wurzelten und vom französischen und angelsächsischen Verfassungsdenken beeinflußt waren, mit dem Scheitern von 1848 aber weitgehend verloren-gingen. Übrig blieben ein halbierter, dem bourgeois statt dem citoyen verpflichteter Nationalliberalismus und die „Social-Demokratie“ mit ihrem damals eher instrumenteilen Verhältnis zur Demokratie Trotz herausragender Einzelpersönlichkeiten wie Hermann Heller in der Weimarer Zeit hat die (west) deutsche Verfassungsgeschichte erst mit der Niederlage des Nationalsozialismus den verlorenen Anschluß an westliches Verfassungsdenken wiedergewonnen. Kein Wunder, daß dieser „deutsche Sonderweg“ in der Staatslehre der Bundesrepublik selbst in ihren liberalen Exponenten nachwirkte und noch nachwirkt.
Zu dieser Gegenwärtigkeit deutscher Vergangenheit gehört auch das Mißtrauen gegen die demokratische Reife des Volkes, das in einer Verschlingung von Ursache und Wirkung seinerseits Ergebnis und Ausdruck einer noch um ihr Selbstbewußtsein ringenden demokratischen Tradition in Deutschland ist und zugleich deren Ausreifung im praktischen Vollzug verzögert. Wenn dieser Zirkel nicht anläßlich der Neukonstituierung des geeinten Deutschlands in Inhalt und Verfahren bewußt durchbrochen wird, kann er auch in der nächsten Phase deutscher Verfassungsgeschichte die Entfaltung eines demokratischen Selbstverständnisses behindern. 2. Bonner Erfahrungen Auch wenn der Verweis auf Weimarer Erfahrungen im Parlamentarischen Rat in mehrfacher Hinsicht oberflächlich war, gab es drei Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft unbestreitbar Gründe, die seine Entscheidung für ein strenges Repräsentationssystem zumindest verständlich machen. Heute, nach über 40jähriger Erfahrung, erfreut sich das Grundgesetz quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen einer fast uneingeschränkten Zustimmung.
Glaubhaft wird diese Hinwendung zu demokratischen Lebensformen nicht zuletzt durch eine breite demokratische Alltagskultur, die zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat das Geflecht einer „zivilen Gesellschaft“ entstehen ließ. In der alten Bundesrepublik wirken seit den sechziger Jahren vielfältige basisdemokratische Initiativen und Bewegungen informell an der politischen Willensbildung mit. Und in der ehemaligen DDR waren es selbstorganisierte Bürgerbewegungen, die durch ihr beharrliches Eintreten für demokratische Erneuerung zu Kristallisationkemen des Auf-und Umbruchs von 1989 wurden und damit den Weg für ein geeintes Deutschland eröffneten.
Die Sorge ist heute nicht mehr, ob die repräsentative Demokratie sich in Deutschland festigt, sondern daß sie sich inzwischen verfestigt hat zu einem „Parteienabsolutismus“ (W. D. Narr, H. Simon), der den gewachsenen Mitsprachebedürfnissen und ausgefächerten Kompetenzen einer pluralen Gesellschaft nicht mehr gerecht wird. Die in Art. 21 GG vorgesehene Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes hat sich in ein faktisches Politikmonopol verkehrt, während sich die Willensbildung des Volkssouveräns darauf beschränkt, bei Wahlen (im Wortsinne) seine Stimme abzugeben. Die Mängelliste der dadurch entstandenen „Zuschauerdemokratie“ (E. Fromm, R. Wassermann) ist bekannt; dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Aus-blendung längerfristiger und programmatisch „querliegender“ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions-und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Pa GG vorgesehene Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes hat sich in ein faktisches Politikmonopol verkehrt, während sich die Willensbildung des Volkssouveräns darauf beschränkt, bei Wahlen (im Wortsinne) seine Stimme abzugeben. Die Mängelliste der dadurch entstandenen „Zuschauerdemokratie“ (E. Fromm, R. Wassermann) ist bekannt; dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Aus-blendung längerfristiger und programmatisch „querliegender“ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions-und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Parlaments zugunsten der Exekutive und Kompetenzbehauptung statt Problemlösung 18).
Gerade angesichts einer Flut neuer Probleme, zu der die Aufgaben der Vereinigung noch hinzutreten, käme es aber darauf an, die Beteiligungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Kräfte zu erweitern und so die Lern-und Konsensfähigkeit des politischen Systems zu steigern. Indirekt und informell findet eine solche Mitsprache bereits vermittelt über Verhaltensänderungen im Alltag sowie über die Medienöffentlichkeit statt, und punktuell hat sie bereits rechtliche Anerkennung in Gestalt von Anhörungspflichten der Verwaltung und Verbandsklagerechten gefunden. Wenn aber Habermas die Kommunikation zwischen Bürgern und Politik in das Bild einer „belagerten Festung“ bringen kann, dann reichen solche Schlupflöcher offenbar nicht, die Mauern zwischen dem Bonner Parteienstaat und den „Bürgern draußen im Lande“ hinreichend durchlässig zu machen.
Die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid hätte hier die Bedeutung einer sinnfälligen Öffnung. Sie wäre in keiner Weise antiparlamentarisch, sondern ein außergewöhnliches Korrektiv zum parlamentarischen Normalverfahren. Es enthielte ein Element zusätzlicher Gewaltenteilung, also desjenigen Prinzips, aus dem Parlamente ursprünglich entstanden sind, und würde den Grundsatz der Volkssouveränität beleben, auf dem Demokratie und Verfassungsstaat westlicher Prägung beruhen. Ebensowenig würde die Rolle der politischen Parteien in ihrem ursprünglichen Verfassungsauftrag beschnitten; wohl aber der in der Verfassung nicht vorgesehene Elitenkomplex aus Partei-und Fraktionsspitzen, Ministerialbürokraten und Wirtschaftsführern. Die Parlamentarier könnten davon nur gewinnen. 3. Prinzipienstreit und Mischverfassung Daß solche direktdemokratischen Elemente mit dem Prinzip der Repräsentation grundsätzlich unvereinbar seien 19), kann nur jemand behaupten, an dem die Geschichte und die theoretische Diskussion der letzten zwei Jahrhunderte vorübergegangen sind. Seit der amerikanischen und französischen Revolution gibt es Ausgestaltungen direkter Demokratie nur als ein Element innerhalb von Mischsystemen; auch die Bundesrepublik Deutschland ist über ihre Landesverfassungen bereits heute ein solches Mischsystem. Die dabei praktizierten Formen von direkter Demokratie haben nirgends, selbst in der Schweiz nicht, dem Repräsentationsprinzip seinen Vorrang streitig gemacht. Daß die Bedeutung von Parlamenten und Parteien durch die Praxis solcher Mischverfassungen ausgehöhlt würde, ist nirgends belegt 20).
Ebenso ist in der westeuropäischen Demokratie-theorie seit Sieyes unbestritten, daß die republikanische Staatsform in bevölkerungsstarken Flächenstaaten nur repräsentativ zu verwirklichen ist; das eben stellt die Aufgabe, sie mit ihrem Prinzip der Volkssouveränität theoretisch und praktisch rückzukoppeln. Ernst Fraenkel hat dazu bereits in den Anfangsjahren der Bundesrepublik das Nötige gesagt: In ihrer reinen Form trügen „sowohl das repräsentative als auch das plebiszitäre System den Keim der Selbstvernichtung in sich“; es gelte, „beide Prinzipien zu Komponenten eines gemischten plebiszitär-repräsentativen ... Regierungssystems auszugestalten“ 21).
Mitte des 18. Jahrhundert verteidigte ein Staats-denker die absolute Monarchie gegen Montesquieu mit der Sentenz: „Die Souveränität (des Monarchen) teilen heißt, sie vernichten.“ Es klingt wie eine Paraphrase dieses Satzes, wenn Horst Ehmke heute die absolute Repräsentation mit den Worten verteidigt: „Würden wir im gesamten Bereich der Parlamentszuständigkeit bindende Volksabstimmungen zulassen, so würden wir (das) Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie nicht ergänzen, sondern aufheben.“ Dabei hatte die Sozialdemokratie bereits in ihrem ersten Programm im Jahr 1869 die direkte Gesetzgebung durch das Volk gutgeheißen als „Mittel der Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung“ Treffend daher der Einwurf von Ulrich K. Preuß, „daß die Verankerung direkter Demokratie nicht das Primat, sondern das Monopol des Parlaments in Frage stellt“
Dem zählebigen repräsentativen Fundamentalismus steht allerdings ein anti-repräsentativer, direktdemokratischer Fundamentalismus gegenüber, dem jede Repräsentation noch immer als Entartung der Demokratie gilt. Auch er hat seine Tradition, die auf keinen geringeren als Rousseau zurückzuführen ist. Nach 1848 war es insbesondere Moritz Rittinghausen, der in der entstehenden Arbeiterbewegung das Ideal der direkten Demokratie hochhielt, sie jedoch zugleich mit der Forderung, „das Repräsentativsystem bis auf die Wurzel auszurotten“ von politischer Wirksamkeit und möglichen Bündnispartnern isolierte. Ein Widerschein dieser Ambivalenz durchzieht heute die Arbeit der „Aktion Volksentscheid“ (AVE) in Achberg. In ihren Texten schwingen Demokratie-vorstellungen auf der Basis von Rousseauschem Gemeinsinn, Steinerschem Organizismus und Beuysscher Selbstgestaltung mit, die erst in den letzten Jahren und zähneknirschend ihren Frieden mit der parlamentarischen Demokratie gemacht haben Zum Abschied von diesem direktdemokratischen Idealismus gehört es auch, die Grenzen, Kehrseiten und Risiken plebiszitärer Verfahren illusionslos zu benennen
Ihre Gemeinsamkeit haben die Fundamentalisten beider Seiten darin, von der Einführung direktdemokratischer Verfahren große Veränderungen des politischen Systems der Bundesrepublik zu erwarten. In Wirklichkeit wären die praktischen Auswirkungen auf der Ebene der Partizipationsstrukturen weitaus geringer als die einen erhoffen und die anderen befürchten. So würde die gelegentliche Durchführung von Volksentscheiden nicht zu einer „anderen Republik“ etwa nach Art der Schweizer Konsensdemokratie führen, sondern lediglich eine -im einzelnen freilich wichtige -Variante innerhalb des verbandsförmigen, auf Interessenkonflikt und Elitenkonkurrenz fußenden westdeutschen Politikbetriebs bieten. Um ein Volksbegehren zu initiieren, müßten sich die Antragsteller verbands-ähnlich organisieren und Leitungsfunktionen bestimmen, so daß unweigerlich auch repräsentative Politikformen in die Kampagne einziehen würden. Schon weit im Vorfeld einer Abstimmung wäre die politische, rechtliche und fachliche Beratung von anerkannten Fachleuten erforderlich, so daß auch die erwünschte Selbsttätigkeit der Bürger nicht ohne technokratische Beimengungen bliebe. Aussicht auf einen Abstimmungserfolg hätte schließlich wohl nur eine Vorlage, die zumindest in der Endphase von bestehenden politischen Parteien oder Großverbänden mitgetragen würde, somit etablierten Interessen nicht zuwiderlaufen könnte. Und um beim Schlußentscheid zu obsiegen, muß eine Vorlage sich über Monate innerhalb des gesellschaftlich Mehrheitsfähigen halten; sie kann daher keine völlig anderen politischen Inhalte haben, als grundsätzlich auch auf parlamentarischem Wege durchsetzbar wären.
Eine Beimengung von direktdemokratischen Verfahrensmöglichkeiten würde also das etablierte Repräsentationssystem ausdifferenzieren und nicht etwa rückentwickeln -so wenig wie heute ökologische Rücksichten die industrielle Gesellschaft zur Agrargesellschaft rückverwandeln. In beiden Fällen geht es darum, den erkannten Gefahren einer einseitigen Entwicklung durch Wiederaufnahme des Verdrängten zu begegnen. 4. Erfahrungen mit direkter Demokratie Gegen eine Volksgesetzgebung wird ferner eingewandt, sie schaffe eine ständige Parallelität von zwei sich gegenseitig konterkarierenden Gesetzgebern und nehme die öffentliche Aufmerksamkeit willkürlich für wechselnde Modethemen in Beschlag. Die Erfahrung mit Volksentscheiden und Volksbegehren in den Bundesländern sowie im westlichen Ausland zeigt demgegenüber, daß die Bürgerschaft einen sparsamen Gebrauch vom Instrument der Volksinitiative macht und deren Erfolgsaussichten zuvor sorgfältig abwägt (die Schweiz stellt eine Ausnahme hiervon dar). Eine Grundüberlegung ist dabei, daß mit der Häufung von Abstimmungen die Wahrscheinlichkeit von Niederlagen zunimmt. Schon arbeitsökonomisch und sozialpsychologisch gibt es keine Alternative dazu, den Gesetzgebungsalltag weitgehend an dafür freigestellte Berufspolitiker zu delegieren. Otmar Jung resümiert über die Nachkriegsabstimmungen in den alten Bundesländern, sie hätten sich jeweils als „heilsame demokratische Korrektur“ erwiesen. Fallstudien berichteten „von selbstbewußtem Protest der Bürger und großen Leistungen ihrer Selbstorganisation, von teilweise erstaunlichem öffentlichen Problembewußtsein und kollektiver Lembereitschaft. Negative Rückwirkungen auf das parlamentarische Regierungs-bzw. das Parteiensystem sind nicht auszumachen, geschweige denn, daß die Weimarer Gespenster wieder Urständ gefeiert hätten.“
Dies wird auch anhand des Volksentscheides vom 17. Februar 1991 in dem Bayern deutlich, bei die bayerische Stimmbürgerschaft zwischen zwei Gesetzesentwürfen zur Müllentsorgung zu entscheiden hatte. Die Vorgeschichte dieses Volksentscheids seine Ergebnisse sich wie lesen ein „demokratiedidaktisches Exempel“
Angesichts wachsender Müllberge, unsicherer Deponien, immer neuer Verbrennungsanlagen, Gifte in Klärschlamm, Filterstäuben und Abgasen waren in Bayern rund 100 Bürgerinitiativen und -gruppen entstanden, die sich im Mai 1988 landesweit zu der Bürgeraktion „Das bessere Müllkonzept Bayern e. V.“ zusammenschlossen. Politische Parteien waren zunächst weder beteiligt noch interessiert. Mit einem Gesetzesentwurf, der Müllvermeidung, -Wiedergewinnung sowie Endlagerung statt Verbrennung vorsah, machte sich die Aktion auf den Weg der in Bayern relativ gut ausgestalteten dreistufigen Volksgesetzgebung. Die in der ersten Stufe der Volksinitiative erforderlichen 25000 Unterschriften kamen leicht zusammen. Das Bayerische Innenministerium wies jedoch den Antrag auf ein Volksbegehren als unzulässig zurück: Der Gesetz-entwurf überschreite den vom Bundesabfallgesetz gesteckten Rahmen. Die Bürgeraktion klagte mit Erfolg vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof: Bis auf zwei zu streichende Bestimmungen bewege sich der Entwurf innerhalb der müllwirtschaftlichen Landeskompetenz.
Nachdem die CSU (vier Monate vor der Landtagswahl) ein Abfallwirtschaftsgesetz verabschiedete, das wesentliche Forderungen der Bürgeraktion aufnahm, und die SPD das Begehren allein regional unterstützte, steigerte sich das medial kaum popularisierte Volksbegehren zum Prinzipienstreit zwischen aktiver Bürgerschaft und etablierter Politik. Der Termin für den Volksentscheid wurde nach erfolgreichem Begehren im Sommer 1990 auf den 17. Februar 1991 festgelegt. Die CSU brachte ihr parlamentarisch bereits verabschiedetes Abfall-gesetz als konkurrierenden Entwurf mit in den Volksentscheid ein. Der Bürgeraktion fehlte in diesem Gesetz vor allem das Verbot der Müllverbrennung.
Der Volksentscheid fand mit einer für bayerische Verhältnisse hohen Stimmbeteiligung von 44 Prozent statt. Der Entwurf der Bürgeraktion erhielt 43, 5 Prozent, für den Gegenentwurf der CSU-Landtagsfraktion stimmten 51 Prozent. Die CSU feierte ihren Wahlsieg und lobte das ihr aufgenötigte Gesetz als eines der fortschrittlichsten in Europa -für dessen Ausführung sie nun die Verantwortung trägt. Die Bürgeraktion wertete die wesentlich verbesserte Gesetzeslage, vor allem aber auch den Bewußtseinswandel als wichtigen (Teil-) Erfolg ihres Engagements und das Stimmergebnis als Achtungserfolg.
Dieses Beispiel zeigt alle Schwierigkeiten, aber auch alle Chancen einer Volksgesetzgebung. All dies könnte gedanklich auf die Bundesebene übertragen werden (von der landesrechtlichen Regelungsmaterie abgesehen). Besonders plastisch an diesem zweieinhalbjährigen Prozeß wird das Zusammen-und Widerspiel von direkter und repräsentativer Demokratie, das zwar Parteien und Parlament aus ihrer Ruhe geschreckt, sie zugleich aber an ihre demokratischen Funktionen erinnert und darin bestätigt hat. Gestärkt wurde aber auch ein demokratisches Bürgerbewußtsein, allen unvermeidlichen massendemokratischen Begleiterscheinungen zum Trotz. 5. Argumente und Interessen Direkte Demokratie ist keine bloße Frage von Entscheidungsregeln, auch nicht von Akzeptanz-beschaffung. Dahinter stehen Grundentscheidungen zur öffentlichen Freiheit und zur Rationalität von Herrschaft. In der Verfassungsdebatte geht es somit auch um die Verbindung zu jener älteren abendländischen Politiktradition von Aristoteles bis Kant, in der „Bürger“ nicht als Untertan, sondern als Inhaber politischer Teilhaberechte definiert ist
Andere als diese aufs Grundsätzliche zielenden Argumente erweisen sich bei näherer Betrachtung als sachfremd oder unbegründet. Unzulässig sind beispielsweise Überlegungen, die mit den erwünschten oder befürchteten Ergebnissen von Volksentscheiden operieren: Selbstverständlich können sowohl konservative wie reformorientierte Kräfte versuchen, für ihre Vorstellungen eine Stimmenmehrheit zu erlangen. Extremistische Kräfte würden sich dabei die verdiente Niederlage einhandeln und emotionalisierte Stimmungslagen sich durch die Dauer des Verfahrens zurechtpendeln. Unzulässig sind auch Argumente, die genauso für die parlamentarische Demokratie gelten und damit -unwillentlich oder nicht -das demokratische Prinzip selbst in Frage stellen: Der Bürger könne komplexe Regelungsmaterien nicht beurteilen -kann er das bei der Wahl von Kandidaten und den damit verbundenen Programmpaketen besser? Abstimmungen seien der Manipulation durch Medien und Interessen ausgesetzt -Bundestagswahlen etwa nicht? Für die Ergebnisse eines Volksentscheids sei niemand verantwortlich -auch bei einer Parlamentswahl gibt es nur die Sanktion, mit deren Ergebnissen leben zu müssen
Demgegenüber läge der wesentliche Vorteil einer Volksgesetzgebung im Verfassungsgefüge der erweiterten Bundesrepublik nicht in ihrer häufigen Anwendung, sondern ihrer bloßen Existenz. Schon die Möglichkeit eines Rückrufs durch die Bürgerinnen und Bürger würde dazu führen, das eingespielte Politikkartell an seine gesellschaftliche Verantwortung rückzubinden und für neue Inhalte und Formen zu öffnen. Und schon die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung müßte in der Bürgerschaft das demokratische Selbstbewußtsein stärken gegenüber einer tiefverwurzelten obrigkeitlichen Tradition.
III. Vereinigung -national oder republikanisch?
Auch wenn das Grundgesetz kaum verändert würde: „Der Sache nach handelt es sich ... um eine Neukonstituierung“ (D. Grimm) Es geht um die endgültige Verfassung des gesamtdeutschen Staates. Die Sorge liegt nahe, daß damit fragwürdige Traditionen nationalstaatlicher Obrigkeit wieder übernommen würden. Was wird aus jenem Stück republikanischem Zivilismus, das sich in den vierzig Jahren westdeutscher Teilstaatlichkeit und Teilsouveränität entwickeln konnte? Hatten politische Rationalität und demokratische Kultur nicht auch deswegen eine Chance, weil der Weg zu einer Politik nationaler Machtentfaltung nach innen wie nach außen versperrt war? Welche politischen Instrumente und Verfahren werden sich nun herausbilden, um mit den enormen sozioökonomischen Problemen und Gegensätzen fertig zu werden und fortbestehende politisch-kulturelle Fremdheiten zu überbrücken? Wie werden sich dabei die Erfahrungen und'Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger aus der ehemaligen DDR auswirken? Dies ist die Realität, in die heute die Diskussion um eine direktdemokratische Verfassungserweiterung gestellt ist. 1. Modalitäten der Vereinigung Schon der Modus der Vereinigung bewirkte eine Gewichtsverlagerung zugunsten der Exekutive. Die Entscheidung für einen Beitritt der neuen Länder nach Art. 23 GG anstelle einer Vereinigung über Art. 146 GG war möglicherweise innen-und außenpolitisch alternativlos; dennoch beinhaltete sie zugleich eine Entscheidung gegen die Mitwirkung von Parteien und ziviler Gesellschaft in einer verfassunggebenden Versammlung. Zumindest objektiv hat diese Form der Vereinigung die nationalstaatlichen Interessen den republikanischen Belangen vor-und übergeordnet. Das priorisiert auch in der Folge die im nationalen Rahmen lösbaren Probleme, auf Kosten der nur republika-nisch auf der Grundlage von Pluralität, Freiheit und Solidarität lösbaren
Im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht augenblicklich das wirtschaftliche Desaster in den Ländern der ehemaligen DDR. So dramatisch der Kollaps von Produktion und Beschäftigung ist und soviel Not daran hängt: Die wirtschaftlichen Aufgaben der Vereinigung erscheinen in historisch relativ kurzer Frist lösbar -nicht nur, weil die Wirtschaftskraft der alten Bundesrepublik dies erlaubt. In der Bewältigung dieser Art von Problemen hat sich das politische System der Bundesrepublik geformt, die politischen Instrumente samt ihrer eingespielten Konfliktrituale stehen bereit, Denkkategorien und Know-how sind darauf ausgerichtet. Die Kehrseite dessen ist, daß Ansätze eines „neuen Denkens“ auch dann keine Chance auf Gehör hatten und haben, wenn sie Möglichkeiten aufzeigen, den Übergang verträglicher zu gestalten, beispielsweise durch Genossenschaften Arbeitsplätze zu erhalten.
Hinter den unmittelbar wirtschaftlichen Fragen tauchen jedoch andere Probleme auf, die sich staatlichen Lösungsstrategien um so mehr entziehen, je weiter sie von Verteilungsfragen entfernt sind. Vielleicht läßt sich mit entsprechenden finanziellen Anreizen relativ bald eine funktionierende Verwaltung und Justiz schaffen. Wie aber steht es mit jener sozialen Infrastruktur, die ein Stück Identifikation und Verankerung im sozialen Milieu erfordert, wie Bildung, Sozialarbeit, Gesundheitswesen, Kinderbetreuung und Altenpflege, kultur-schaffende Institutionen und Berufe? Was ersetzt die zwar beengten, aber Solidarbeziehungen ermöglichenden Kollektive und „Nischenkulturen“ in der ehemaligen DDR, angesichts eines Konkurrenzkampfes ums individuelle Fortkommen?
Zumindest für die jetzt im Berufsleben stehenden Altersgruppen in den neuen Bundesländern wird die Erfahrung mit diesem Umbruch und der Schock der Arbeitslosigkeit ihre Einstellung zur Demokratie des Grundgesetzes nachhaltig prägen. Nur mit wirtschaftlichem Erfolg wird die „Demokratieakzeptanz“ (Heiner Geißler) auch nachträglich nicht zu schaffen sein
Noch kaum absehbar sind die psychosozialen Folgen dieses Zusammenbruchs vertrauter Identitätcn, die noch viele Jahre in Gestalt von Alkoholismus und Drogen, Kriminalität, Fremdenfeindlichkeit, psychischen Störungen und zerbrochenen Partnerschaften nachwirken werden. Dazu Wolfgang Thierse: „Derzeit werden ja nicht nur Arbeitsplätze, sondern -durch eine bestimmte Art des politischen Umgangs miteinander -ganze biographische Zusammenhänge entwertet und zerstört.“ Eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit diesem Zusammenbruch und den damit verbundenen Gefühlen von Schuld, Scham, Demütigung, Wut und Neid werden vielleicht erst die Kinder der heutigen Erwachsenen leisten können -wie in Westdeutschland nach 1968 die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Väter. Die Stasi-Akten sind dabei nur das sichtbarste Zeichen und die Spitze eines Eisbergs. Hier sind enorme sozialpsychologische Energien unverfaßt im politischen Untergrund angehäuft. Die eingespielten zentralstaatlichen Instrumente von Geld und Recht werden dort nicht hinreichen. 2. Probleme und Lösungen: Die neue und die alte Moderne Ulrich Beck hat darauf hingewiesen, daß zusätzlich zu diesen Problemen einer aufholenden „ersten Modernisierung“ in den neuen Bundesländern zugleich schockartig die Probleme der „zweiten Modernisierung“ anstehen, für die sich in den alten Bundesländern in den letzten Jahren mühsam ein Bewußtsein entwickelte. Im Mittelpunkt stehen die riskanten Kehrseiten der technisch-industriellen Entwicklung sowie die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Probleme waren auch in den alten Bundesländern keineswegs gelöst; die Ansätze zu ihrer Thematisierung erscheinen nun zurückgedrängt und überlagert vom Problem der Vereinigung und der Verdüsterung des internationalen Klimas.
Die drängenden Wirtschaftsprobleme bringen zwar die alten Steuerungsmittel wieder zu Ehren, jedoch sind die Widersprüche und Gefahren der „Risikogesellschaft" mit diesen Instrumenten gerade nicht zu erreichen. Während die mittel-und langfristigen Probleme sich komplex zu einer „postmodernen“ Unübersichtlichkeit auffächern, vollzieht sich auf der Ebene der Lösungsstrategien eine Retraditionalisierung -sinnfällig etwa am Bei-spiel der pensionierten Beamten, die aus dem Ruhestand reaktiviert und in die neuen Bundesländer geschickt werden.
Die sozialen Spannungen und ungefaßten Energien sind immer weniger von einer staatlichen Zentralinstanz her zu erfahren, zu deuten und zu beheben, zugleich aber fällt das politische Denken just in diese Illusion zurück. Die Gefahr dieser Entwicklung liegt auf der Hand: In dem Maße, wie Lösungsstrategien sich als unzureichend zur „Bewältigung“ der Probleme erweisen, wächst die Versuchung, das Scheitern durch noch einfachere Konzepte zu überspielen. Der Retraditionalisierung der Mittel kann so zum Einstieg in die Spirale eines sich selbst verstärkenden Autoritarismus werden. Rousseau: „Je weniger sich die Einzelwillen auf den Gemeinwillen beziehen ..., desto mehr muß die Zwangsgewalt wachsen.“ 3. Institutionelle Vielfalt und soziale Kompetenz Solche „postproduktionistischen“ Problemlagen können in Wirklichkeit nur umgekehrt, nämlich dezentral, „unterhalb“ der staatlichen Ebene im selbstbezüglichen Nahbereich und mit einer „wachsenden Beimischung von aufgeklärter, solidarischer und verantwortlicher Handlungsorientierung und Selbstbindung der Bürger“ bearbeitet werden. Die Vielfalt der „neuen sozialen Bewegungen“ in Westdeutschland hat davon eine Vorstellung gegeben. Sie haben als Sensoren gesellschaftlicher Probleme, Laboratorien neuer Lösungsmodelle und Kapillarwurzeln gesellschaftlicher Kleinarbeit soziale Funktionen erfüllt, zu denen keine Behörde imstande gewesen wäre Diese Funktionen sind in den neuen Bundesländern und im Verhältnis zwischen alten und neuen Bundesbürgern genauso unersetzlich
Fast die einzige Hilfestellung, die staatliche Instanzen dafür bieten können, ist ein entgegenkommendes politisch-institutionelles Milieu, das solche Prozesse gesellschaftlicher Selbstgestaltung erleichtert und ermutigt, zumindest nicht behindert.
Ob solche „Assoziationsverhältnisse“ (C. Offe) gewollt sind, die mit ihren Solidarimpulsen die Probleme der deutsch-deutschen Entfremdung bearbeiten und damit zugleich die politische Kultur in der erweiterten Bundesrepublik vor einer autoritären Verengung bewahren können, wird sich auch in der Verfassungsdiskussion erweisen. Sonst „würde sich dann, und zwar auf der Ebene des Massenbewußtseins, der Rückfall auf den , nationalen’ Modus der sozialen und politischen Integration anbieten“
Mit anderen Worten: Die republikanischen Motive von Freiheit, Gleichheit und Solidarität haben derzeit nicht Konjunktur; sie sind aber die einzigen, die längerfristig und tiefergehend mit den Problemen von Ungleichheit und Unfreiheit fertig werden können, die der Zusammenbruch der DDR hinterlassen hat, und die damit zugleich die Gefahr eines Rückfalls in ältere deutsche Traditionen von Ungleichheit und Unfreiheit zu bannen vermögen.
So definiert sich gesellschaftlicher Fortschritt heute angesichts der Vielschichtigkeit der Problemlagen über die politisch-institutionelle Form: In einer zerklüfteten Gesellschaft wie der erweiterten Bundesrepublik besteht er heute darin, ein möglichst breit gefächertes Geflecht von Foren der gesellschaftlichen Selbsterkennung, Arenen der Konfliktaustragung und Instrumenten solidarischen Engagements zur Verfügung zu stellen Die sozialen Kohäsionskräfte, die im vereinten Deutschland auf der Ebene der ökonomischen Lebensbedingungen und der Sozialisationserfahrungen noch lange brüchig bleiben werden, können sich mit Hilfe eines solchen institutional gardening (Fritz W. Scharpf) in der Form der Auseinandersetzung herausbilden. Die Chance selbstorganisierten Engagements würde zugleich denjenigen Rahmen schaffen, in dem demokratische Erfahrungen gesammelt werden und Prozesse der Selbstqualifikation stattfinden können.
Eine direktdemokratische Verfassungserweiterung wäre ein Baustein in einem republikanisch-demokratischen Gesellschaftsverständnis. Dabei sind Volksentscheide nicht die einzige, vielleicht nicht einmal die alltagspraktisch wichtigste Form der Bürgermitsprache, auch wenn sie -zur rechten Zeit mit dem richtigen Thema eingesetzt -ein machtvolles politisches Instrument sein können. Damit von diesem Instrument ein verantwortlicher Gebrauch gemacht werden kann, muß es eingebettet sein in ein Geflecht anderer Formen der Bürgerbeteiligung unterhalb der Entscheidungsebene Aber von allen Formen außerparlamentarischer Bürgerbeteiligung ist allein die Volksgesetz-gebung als Entscheidungsverfahren möglicher Gegenstand eines Verfassungstextes. Stellvertretend für alle außerkonstitutionellen, sogar außerjuridischen Formen selbstorganisierter Bürgerbeteiligung, mehr aber noch als Symbol eines in der Verfassung zum Ausdruck kommenden Verständnisses von Volkssouveränität hätte seine Verankerung in der künftigen gesamtdeutschen Verfassung eine Signalfunktion.
IV. Bürgerfreiheit im Gebrauch
Betrachtet man die derzeitigen Mehrheiten im Bundestag, muß man realistisch davon ausgehen, daß es das Instrument direktdemokratischer Bürgermitsprache auch in der gesamtdeutschen Verfassung (vorerst) nicht geben wird. „Machbar“ erscheint nur die Einführung eines parteienstaatlichen Volksbefragungsrechts „von oben“ -und das wäre nicht wünschbar, denn es würde noch unterstreichen, daß in Deutschland Bürger und Zivilgesellschaft dem Staat rechenschaftspflichtig sind, statt umgekehrt. So wird Deutschland einstweilen seinen radikal-repräsentativen und etatistischen Sonderweg weitergehen.
Aber bei aller Bindekraft sind Verfassungen kein festgeschriebener Zustand, sondern ein Prozeß und ein geschichtliches Projekt Auch ohne direktdemokratische Rechte im Grundgesetz ist die westdeutsche Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren demokratischer geworden. Es dient nicht der geistigen Freiheit, sich auf Alles-oder-Nichts-Ergebnisse zu fixieren. Das „Armageddon“ der Verfassungstraditionen wird auch diesmal nicht stattfinden, und statt „Sieg“ oder „Niederlage“ wird es Kompromisse geben.
Mindestens drei Entwicklungen deuten darauf hin, daß die Frage der Volkssouveränität im Verfahren der beginnenden Verfassungsdiskussion zumindest ambivalent beantwortet werden wird: 1. In den Verfassungsentwürfen der fünf neuen Bundesländer sind überall Formen direkter Demokratie vorgesehen. 2. Die Verfassungsdiskussion enthält in sich ein republikanisches Formelement, das auszugrenzen den Vertretern etatistischen Denkens nur unvollkommen gelingen kann. Die Debatte um die künftige Verfassung läßt sich nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit führen. Die anlaufende Diskussion enthält bereits ein Stück Volkssouveränität im Verfahren. Auch wenn alternative Verfassungsentwürfe wie die des „Runden Tisches“ oder jetzt des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ wenig Berücksichtigung finden, hinterlassen sie dennoch ihre Spur im deutschen Verfassungsdenken 3. Vor allem aber kann das veränderte Grundgesetz nicht ohne abschließenden Volksentscheid zur Verfassung des geeinten Deutschlands werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hat die Bevölkerung der ehemaligen DDR ihr JaWort zur Vereinigung bislang zwar praktisch-politisch, an keiner Stelle aber verfassungsförmlich gegeben. Erst der Verfassungsentscheid wäre die endgültige Selbstverpflichtung auf die Bundesrepublik, aus der die Bundesregierung ihr Recht auf legitime Herrschaft ableiten könnte. Zweitens vermag das Grundgesetz nur diejenige Legitimation zu übertragen, die es selbst besitzt. Bleibt es bei einer bloß parlamentarischen Verabschiedung mit Zweidrittelmehrheit nach den Regeln des Art. 79 über Grundgesetzänderungen, so würde mit dem Verfahren des Grundgesetzes dessen Vorläufigkeit in die neue Verfassung miteinwandern. Die Endgültigkeit der neuen Verfassung wäre dann zwar verbal behauptet, aber nicht in einem entsprechenden Gründungsakt vollzogen. Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates ergibt sich geradezu ein Auftrag dieses Gremiums, die in-Art. 146 in Aussicht gestellte gesamtdeutsche Verfassung dereinst vom Volk ratifizieren zu lassen. Das folgt z. B. aus der Begründung, die Carlo Schmid (SPD) am 8. Mai 1949 dafür gab, das Grundgesetz keiner Volksabstimmung zu unterziehen: „Es ist alter und guter Brauch, daß eine Verfassung durch das Volk sanktioniert werden muß. Aber wir wollen hier ja keine Verfassung machen ... Wir haben hier doch nur einen Schuppen, einen Notbau, und einem Notbau gibt man nicht die Weihe, die dem festen Hause gebührt.“
Wenn der im kommenden Volksentscheid zum Abschluß gebrachte Verfassungstext seinerseits keine Form plebiszitärer Bürgermitsprache enthält, dann ergibt sich der Widersinn, daß das Instrument direktdemokratischer Volkssouveränität bemüht wird, um seine praktische Wirksamkeit abzuschaffen. Der Stimmbürger hätte seinen Verzicht auf künftige direktdemokratische Mitsprache zwar erklärt, aber im Verfahren der Volkssouveränität zugleich dementiert Auch wenn ein Verfassungsreferendum nur das Recht nachträglicher Zustimmung einräumt: Das Tabu wäre gebrochen und noch im Rechtsverzicht das Recht grundsätzlich anerkannt. Beide Signale würden in der künftigen Verfassungsgeschichte weiterwirken -als der altvertraute Selbstwiderspruch deutschen Staatsdenkens.
Wie sich das geeinte Deutschland entwickelt, ist allemal -mit oder ohne konstitutionelle Anerkennung -abhängig davon, daß eine genügend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern „Wir sind das Volk“ sagt und praktiziert. Auch ohne Verfassungsbestimmung ist das Unternehmen einer Nation ein „tägliches Plebiszit“ in dem ständig um Mehrheiten gerungen wird. Für öffentliche Freiheit, Gleichheit und Solidarität gibt es keine Garantie, aber auch keine Alternative: Nur wer sie nutzt, erhält sie.