I. Einleitung
Infolge des bereits „historischen“ Wandels der osteuropäischen Länder kann es dem außenstehenden Beobachter auf den ersten Blick überholt erscheinen, heute noch eine theoretische Auseinandersetzung mit dem „real existierenden Sozialismus“ führen zu wollen. Die jüngsten Veränderungen in diesen Ländern haben Verfechter westlich-marktwirtschaftlicher Ordnungskonzepte veranlaßt, „das Ende“ dieser Gesellschaftsordnung zu feiern. Diese Einschätzung bestätigt eine Feststellung des exil-sowjetischen Wissenschaftlers und Schriftstellers Alexander Sinowjew, der ein charakteristisches Merkmal der westlichen Wahrnehmung dieser Entwicklungen in Osteuropa darin sieht, daß „den Seifenblasen und dem Schaum der Geschichte hier weit mehr Bedeutung beigemessen wird als ihren Strömen in der Tiefe“
Mit den politisch-ökonomischen Reformen in den ost-und mitteleuropäischen Ländern des ehemaligen „Realsozialismus“ soll der Übergang zu einer alternativen Gesellschaftsordnung anvisiert werden, doch bedeutet dies noch lange nicht, daß sich sozialstrukturelle Veränderungsprozesse innerhalb kurzer Zeiträume bereits vollzogen haben bzw. postautoritäre Transformationsprozesse innerhalb dieser Gesellschaften bereits diagnostizierbar sind. In der gegenwärtigen Situation kann jedoch davon ausgegangen werden, daß ein Wandel angefangen hat. Ob er aber lediglich die gesellschaftliche Fassade erreichen oder aber die einzelnen gesellschaftlichen Lebensbereiche in ihren tieferen Schichten erfassen wird, bleibt zunächst fraglich. Das soziologische Forschungsinteresse gilt in erster Linie der analytischen Rekonstruktion des Charakters -der Tiefe und des Umfangs -der Veränderungen in den einzelnen ehemaligen Ostblockstaaten. Die Abschaffung der „realsozialistischen“ Symbolik bedeutet keinesfalls, daß der Übergang zu einer Gesellschaftsordnung nach westlichem Vorbild gesichert ist. Vielmehr muß berücksichtigt werden, daß die postautoritären Transformationsprozesse in den einzelnen Ländern auf spezifischen Voraussetzungen basieren, die auf die Besonderheiten ihrer „realsozialistischen“ Entwicklung zurückzuführen sind.
Die „Analysen sozialer Dynamiken (sind) niemals völlig zu trennen von Analysen der sozialen Strukturen, in denen sie sich entwickeln“, weil „Struktur und Dynamik beides Abstraktionen von derselben Realität sind und sich deshalb niemals völlig voneinander separieren lassen“ Wir gehen mit David Lockwood davon aus, daß der Begriff „sozialer Wandel“ eine Umbildung der herrschenden institutionellen Ordnung der Gesellschaft bezeichnet, so daß man von einem Wandel im „Typ der Gesellschaft“ sprechen kann Die institutioneile Ordnung eines sozialen Systems wird in diesem Zusammenhang als eine Gesamtheit von gesetzten Mustern der Funktionsweise dieser Gesellschaft verstanden. Diese Muster beziehen sich sowohl auf die Beziehungen der Handelnden eines sozialen Systems (soziale Integration) als auch auf die Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems (Systemintegration) Obwohl sie nichts anderes als Resultate menschlicher Tätigkeit und Wechselwirkungen zwischen den Individuen sind, tendieren sie dazu, sich von ihren Entstehungsbedingungen zu entkoppeln und eine eigene Dynamik zu entwickeln, die auf die Reproduktion dieser Bedingungen hin gerichtet ist. Das „Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung.“ In diesem Sinne sprechen wir vom „Immunsystem des Realsozialismus als von den für eine (in unserem Fall für die „realsozialistische“) Gesellschaft charakteristischen Integrationsmustern, die ihre Struktur bzw. Wirkungsweise trotz veränderter ordnungspolitischer Rahmenbedingungen aufrechterhalten und einen tradierten Rahmen gesellschaftlichen Geschehens darstellen, die die Umwälzungsaktivitäten und -bedingungen prägen und dadurch dem Wandel entgegenwirken (können).
Durch die Historizität jahrzehntelanger „sozialistischer“ Entwicklung sind Integrationsmuster entstanden, die auch nach der Abschaffung äußerlicher und symbolischer Merkmale des „Realsozialismus“ das Beharrungsvermögen sozialstruktureller und persönlicher Eigentümlichkeiten fördern und damit wesentliche Schranken für politische Demokratisierung und marktwirtschaftliche Veränderungen darstellen. Die analytische Erfassung der Erscheinungsformen des „Immunsystems“ des „Realsozialismus“ ist eine wesentliche Voraussetzung für die Hypothesenbildung bei der weiteren Erforschung einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche in den ost-und mitteleuropäischen Ländern.
Aus dieser Sicht impliziert die soziologische Reflexion auf den Wandel ein Spektrum diverser Möglichkeiten. Den einen Pol bildet -infolge der Wirkung des „Immunsystems“ des „Realsozialismus“ -die Reduzierung der Veränderungen auf die politische Fassade (nicht-oder gar antisozialistisch), wobei die Funktionsweise und die Handlungslogik des „Realsozialismus“ aufrechterhalten bleiben. Diese Möglichkeit läßt sich als Pseudo-Wandel im Rahmen des „realsozialistischen“ Systems charakterisieren. Der Gegenpol wäre durch eine Über-windung dieses Systems bzw.der Wirkung seines „Immunsystems“ zu kennzeichnen; in diesem Sinne läßt sich von einer Systemtransformation sprechen. Die jeweiligen Entwicklungen, die empirisch ausgearbeitet werden sollen, bilden Punkte auf einem Kontinuum zwischen diesen beiden Extremen. Sie hängen sowohl von den Besonderheiten der Konstellation sozialer und politischer Kräfte als auch von den länderspezifischen Mustern des praktisch-politischen Umgangs mit den Folgeerscheinungen der „realsozialistischen“ Entwicklung ab.
II. Zentrale Elemente des „real existierenden Sozialismus“
Das gestaltende Element der gesellschaftlichen Konstruktion des „real existierenden Sozialismus“ war die kommunistische Ideologie -genauso wie die Religion für die Kirche. Diese Ideologie stellt ein Normensystem dar, in dem die Legitimität idealer gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen kodifiziert und äußerlich durch bürokratische Herrschaft garantiert war. In diesem Sinne handelte es sich um einen ideologischen Integrations-und Repräsentationsmechanismus, der „sozialistische“ Deutungsmuster gesellschaftlicher Wirklichkeit in diesen Ländern prägen und garantieren konnte. Der bürokratische Partei-und Staatsapparat aktualisierte nach Bedarf die ideologische Doktrin, verbreitete sie unter der Bevölkerung, plante, organisierte und lenkte deren Aktivitäten in die Richtung jeweiliger Zielsetzungen, kontrollierte und gewährleistete die Übereinstimmung des Verhaltens der Menschen in den diversen Lebensbereichen mit den ideologischen Normen Dieser Staats-und Parteiapparat durchdrang alle „Poren“ des gesellschaftlichen Lebens und entwickelte sich zur entscheidenden Sozialisationsinstanz für den Berufs-und Lebenslauf der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.
Die von Karl Marx festgestellte Tendenz, daß jede neue Gesellschaftsordnung alle Lebensbereiche ihren Anforderungen unterordnet vollzog sich in der „real existierenden sozialistischen Gesellschaft“ als totalitäre gesellschaftliche Subordination unter die Kriterien der herrschenden Staats-und Parteiideologie. Die Aufrechterhaltung der Macht um jeden Preis stellte das entscheidende Handlungsprinzip und letztlich den Selbstzweck des Herrschaftssystems dar. Diejenigen, die den ersten Versuch gestartet haben, den wissenschaftlichen Anspruch des marxistischen Gedankengebäudes praktisch-politisch zu verwirklichen, besaßen zum Teil keinerlei Bezug zu den wissenschaftlich-kulturellen Bedingungen, unter denen Marx seine Ideen entwickelte. Unter den Bedingungen einer bäuerlichen Agrargesell-schäft und feudalen Sozialstrukturen im vorrevolutionären Rußland ist die Dominanz der Funktionäre der bolschewistischen Partei, die aus diesem sozialen Milieu stammten, verständlich. Es entwikkelten sich quasi-missionarische Sozialismusdeutungen, deren Utopien dem Gemeinschaftsethos russischer Bauemgemeinden verwandter sind als der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Industriegesellschaften im westlichen Sinne.
Folgende Merkmale der ländlichen Sozialorganisation besitzen eine prägende Rolle für die politische „Umformulierung“ und praktische Konkretisierung der Marxschen Ideen zu einem kohärenten „realsozialistischen“ Gesellschaftsmodell: -die Dominanz traditioneller und charismatischer Herrschaftsstrukturen und starre hierarchische Organisationsformen; -die organische Solidarität einer „moral economy“ mit traditionell legitimierten Verhaltenserwartungen und moralischer Kontrolle abweichenden Verhaltens von außen, z. B. durch Ausschluß bzw. Ausschlußdrohung aus der Gemeinschaft; -eine soziale Statusverteilung auf ideologisch-politischer Grundlage; -vorindustrielle Formen der Arbeitsorganisation und die dadurch bedingte führende Rolle der physischen Stärke in der gesellschaftlichen Wertskala sowie die damit verbundene „Gigantomanie“; -die Bewertung individueller Abweichungen von gemeinschaftlichen Normen als soziale Bedrohung, was die Dominanz primitiver kollektivistischer (egalitärer) Werte erklären kann; -Paternalismus und traditionelle Patron-Klient-Verhältnisse als Merkmale feudaler Abhängigkeiten; -die Geschlossenheit gegenüber der äußeren Welt und die Feindlichkeit gegenüber der „Stadt“ (der „Zivilisation“, dem Anderen).
Diese traditionellen Merkmale bäuerlich-feudaler Sozialorganisation prägten die Modernisierungsvisionen der kommunistischen Eliten in der UdSSR, die insbesondere im rapiden Industrialisierungsund Urbanisierungsprozeß verwirklicht worden waren. Aus dieser Perspektive ist es leicht verständlich, daß alle Hinweise von Marx über die Aufhebung, Überwindung des Privateigentums und seiner Folgeerscheinungen von den kommunistischen Eliten nur als dessen absolute physische Vernichtung interpretiert werden konnten. Einmal konstituiert, „(wählt) jede gesellschaftliche Struktur für sich die Personen aus, die sie braucht, um funktionieren zu können, und eliminiert in irgendeiner Form die, die in sie nicht hineinpassen. Sind geeignete Personen nicht zu haben, so müssen sie erfunden bzw. unter Berücksichtigung der benötigten Spezialfähigkeiten »produziert werden. Mit ihren Techniken der Sozialisation und , Bildung schafft sich die Gesellschaft selbst das nötige Personal, um in Betrieb zu bleiben... jede Gesellschaft bringt die Männer hervor, die sie braucht.“
Das Amalgam von traditioneller Lebenswelt, persönlichen Abhängigkeiten und Gemeinschaftsethos sowie sozialistischen, insbesondere durch den technischen Fortschritt inspirierten Modernisierungsvisionen konnte nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch-politisch und normativ-ideologisch mit nur wenigen Ausnahmen (Griechenland) ganz Osteuropa oktroyiert werden. Nun kann keinesfalls behauptet werden, daß der kommunistische Herrschaftsapparat nur aus hauptamtlichen Parteifunktionären bestünde, die unmittelbar alle gesellschaftlichen Lebensbereiche kontrollierten. Die Partei existiert, aber sie repräsentiert als Organisation nur die äußerliche Seite der „Parteidiktatur. Der innere Aspekt der Subordination erfolgte durch die sog. Kaderpolitik, der zufolge alle personalpolitischen Entscheidungen bezüglich bestimmter Dienstpositionen durch entsprechende Partei-gremien bestätigt werden müssen. Dies führt zu einer permanenten Ausrichtung persönlicher Eignungskriterien, z. B. im Hinblick auf Berufslaufbahnen und Karrierechancen, unter das ideologische Diktat eines parteipolitischen Opportunismus. Der typische Vertreter der Herrschaftselite ist derjenige, der zu derartigen Dienstpositionen zugelassen wurde und dadurch verpflichtet ist, die Priorität der Parteiinteressen gegenüber den beruflichen Normen zu gewährleisten. Indem er seine berufliche Rolle ausübt, ist er gleichzeitig Vertreter und Garant der bestehenden Gesellschaftsordnung. Durch die institutionalisierte Lösung des Konflikts zwischen den beruflichen und ideologischen Normen zugunsten der letzteren wird nicht nur das Funktionieren der einzelnen Institutionen und Lebensbereiche im Sinne der herrschenden Ideologie garantiert, sondern es wird dem Professionalismus ein offener Krieg erklärt. Professionelle Handlungskriterien erscheinen in dieser Perspektive als permanente Herausforderung und latente Opposition gegenüber der Partei und werden auch dementsprechend behandelt. Loyal ist in diesem Sinne die rituelle Bekundung der eigenen Treue und die Fähigkeit, sich im symbolischen Rahmen der ideologischen Dogmen verständlich machen zu können. Berufskenntnisse und -fähigkeiten stellen keine erstrangigen Kriterien für die Aufstiegschancen des einzelnen dar. Die ideologisch-politische Loyalität wird zu einem Gegensatz zu den professionellen Handlungskriterien und zur ausschlaggebenden Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg.
Das kommunistische Gesellschaftsbild ist letztlich eine Umkehrung des Bildes, das der Kapitalismus zur Zeit von Marx und zum Teil auch Lenins bot. Diese Feststellung ist von besonderer Relevanz im Hinblick auf die analytische Rekonstruktion der „post-sozialistischen“ Modernisierungsvisionen in den ost-und mitteleuropäischen Ländern. Kommunistische Gestaltungsvisionen konnten in der Regel kaum das Niveau allgemeiner normativer Imperative wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit überschreiten Die historische Legitimation und das zentrale Integrationsmuster der „realsozialistischen“ Gesellschaftsordnung beruhen auf dem logischen Schema der Negation des Kapitalismus der Vergangenheit, ohne aber genügend differenziert eine positive, konstruktive pro-, grammatische Plattform anzubieten. Dieses Bild beinhaltet vor allem Hinweise darauf, was diese „alternative“ Gesellschaft nicht sein darf. Auf diesem Grund entsteht eines der zentralen Integrationsmedien der „realsozialistischen Gesellschaftsordnung“, nämlich das Feindbild im weitesten Sinne des Wortes. Dieses Feindbild hatte eine prägende Wirkung auf die Semantik der Selbstthematisierung dieser Gesellschaften. Das Feindbild als Denkfigur war tief im gesellschaftlichen Bewußtsein verwurzelt und tendierte bis zur historischen Wende in den ost-und mitteleuropäischen Ländern ständig zu einer Selbstaktualisierung. Auch an den jetzigen Ausbrüchen des Nationalismus sind nicht zuletzt Folgewirkungen dieser Denkfigur zu erkennen.
Eine der logischen Folgen derartig negativ definierter Identität ist, daß die ganze Geschichte der „sozialistischen Entwicklung“ als ein ständiger „Krieg gegen die bürgerliche Gesellschaft“ und gegen die eigene Bevölkerung dargestellt und legitimiert werden konnte Der Kampf gegen den für die bürgerliche Gesellschaft typischen Individualismus und die persönliche Autonomie ist mit der Zerstörung des eigentlichen gesellschaftlichen Lebens identisch. Dort, wo im industriellen Zeitalter die Individualität, die freie Person, keinen Bestand haben kann, verwandelt sich die Gesellschaft zu einem mechanischen Aggregat von Menschenwesen, das jegliche Interventionen zuläßt.
Angesichts der Rolle des Feindbildes für diese Gesellschaftsordnung ist die militärische Organisation das Vorbild für die Funktionsweise des „real existierenden Sozialismus“. Durch diese Lebensform werden Persönlichkeitsmerkmale gefördert, die existenziell wichtig für das Überleben sind, aber eher den Idealtypus des Kriegers an der Front darstellen. Es kann gar kein Zufall sein, daß die militärische Begrifflichkeit in der Terminologie der Parteiprogrammatik einen wichtigen Platz inne-hatte (die ideologische, ökonomische, soziologische Front, der Vorgesetzte etwa als „Kommandeur der Produktion“ usw.).
Die Zerstörung des bürgerlichen Erbes infolge des Versuches, aus einer Kritik der bürgerlichen Ideologie eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, ist das entscheidende Merkmal der Identität des „real existierenden Sozialismus“. Der missionarische Eifer brauchte Gewalt, um sich gegen die Realität durchsetzen zu können. Timothy Garton Ash spricht im Zusammenhang mit den historischen Veränderungen in den osteuropäischen Ländern von der „counter-revolution of reality". Die aktive Negation, die Zerstörung, stellt ein wesentliches Merkmal der Identität der Gesellschaften des „real existierenden Sozialismus“ dar.
Der normative Ansatz in bezug auf die Realität, die in die vorgeschriebenen Formen (bei Paralysierung aller spontanen Kräfte) der Gesellschaft eingepreßt werden muß, ist der wesentliche Grund für die Behauptung, daß die Gesellschaften des „real existierenden Sozialismus“ ein typisches Beispiel für künstlich geschaffene Gesellschaftskonstruktionen sind. Das entscheidende Differenzierungskriterium zwischen künstlich geschaffenen und „naturwüchsig“ entwickelten nationalen Gesellschaftsformen liegt darin, ob sich innergesellschaftliche Interessen selbst spontan organisieren können.
Der künstliche Charakter der „realsozialistischen“ Gesellschaftsordnung ist dadurch bedingt, daß sie ständig gegen die Realität, die ihr widerspricht, kämpfen muß. Aus dieser Sicht läßt sich die tragende Funktion der Ideologie in dieser Gesellschaftsordnung weiter konkretisieren. Die entscheidende Aufgabe der Ideologie besteht auch darin, die Realitätswahmehmung utopisch zu verzerren. Sie soll „die Menschen daran hindern, die Wahrheit des Lebens zu erkennen, soll ihre Sicht der Realität vernebeln“ Die ideologische Doktrin wird als eine Wahrheit letzter Instanz dargestellt; die Monopolisierung der. Gesellschaftserkenntnis durch führende strategische Gruppen bzw. die kommunistischen Eliten wird durch den „wissenschaftlichen Charakter“ der marxistisch-leninistischen Ideologie begründet. Die Verletzung dieses Monopols durch wissenschaftlich objektive Urteile über die Gesellschaft gilt dann verständlicherweise als Verleumdung des sozialistischen Gesellschaftssystems und wird als Verbrechen betrachtet bzw. behandelt.
III. Zur Logik sozialer Intervention und Innovation
Der künstliche Charakter der Gesellschaftskonstruktion des „real existierenden Sozialismus“ kommt auch durch die spezifische Funktionsweise dieses sozialen Systems als zentralverwaltete Planwirtschaft zum Ausdruck. Die Idee der zentralen Planung ist ein Kernelement in der kommunistischen Gesellschaftsdoktrin. Sie wird als die praktische Verwirklichung der Verfügungsgewalt über das gesellschaftliche Eigentum angesehen, das als Negation des Privateigentums dargestellt wird. Die marxistische Dämonisierung des Privateigentums als Quelle sozialer Ungleichheit infolge der kapitalistischen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in der modernen Fabrikorganisation soll staatliche Wirtschaftssteuerungskonzepte legitimieren. Die zentralistische Planung als Zielsetzung der gesellschaftlichen Entwicklung beruht ihrerseits auf der Legitimation rationaler bürokratischer Herrschaft im Sinne Max Webers. Die Leitungsorgane dieses Verwaltungsapparates verfügen über die Definitionsmacht, gesellschaftliche Entwicklungsziele vorzugeben und sie zu realisieren. In diesem Sinne hat sich im „Realsozialismus“ ein bürokratischer Regulierungsmodus gegenüber der Gesellschaft verselbständigt: Man kann hier von einer „sozialistischen Gesellschaftsorganisation“ im Gegensatz zu modernen Konzeptualisierungen der westlichen Industriegesellschaften als „Organisationsgesellschaften“ sprechen.
Demzufolge ist der Plan in den Gesellschaften des „real existierenden Sozialismus“ niemals ein neutrales technisch-organisatorisches Instrument gewesen, in das allein wirtschaftliche Kennziffern Eingang gefunden hätten. Allemal war der Plan ein zentrales und zentralisiertes Medium, mittels dessen über die Bedürfnisbefriedigung von Klassen, Schichten, Gruppen und einzelnen Personen entschieden wurde.
Da im Fall der Gesellschaften des „real existierenden Sozialismus“ sowohl das Gesellschafts-als auch das Menschenbild, die durch den Plan verwirklicht werden, ideologisch geprägt sind, und da ihre konkreten Merkmale durch die Spitze des ideologischen Apparats willkürlich, gemäß bestimmten Wunschvorstellungen definiert werden, wäre die Diagnose für diesen Gesellschaftstypus treffender, wenn er als die absolute Herrschaft der Ideologie oder als „Ideologiegesellschaft“ bezeichnet würde.
Die zentralen Steuerungsinstitutionen bzw. die zu steuernden Tätigkeitsbereiche unterlagen in der Regel keinen Effektivitätskriterien. Ihre erste und wichtigste Funktion war es, nach außen einen funktionstüchtigen und modernen Eindruck zu vermitteln. Sie sollten vor allem als Aushängeschild dienen. Andererseits gilt in der Gesellschaft des „real existierenden Sozialismus“ das Zulassungs-bzw. Existenzberechtigungsprinzip: Alles, insofern es etwas zur Legitimierung des Herrschaftsanspruchs beitragen kann, hat ein Recht auf Bestand. In diesem Sinne waren die eigentlichen Funktionen der einzelnen Tätigkeitsbereiche bzw. Institutionen unwichtig; an erster Stelle erfolgte ihre Funktionalisierung nach den ideologischen Kriterien.
Die erste Folge der Verwandlung der Ideologie in einen universalen Hebel des gesellschaftlichen Le-bens ist die Liquidation des Staates als solchen und die Verwandlung der Gesellschaft zu einer geschlossenen Organisation. Aus der Staatsorganisation entfallen alle Elemente mit allgemein regulierender Bedeutung: die Funktionen der staatlichen Rechtsordnung, die für die ganze Gesellschaft gleich sind. Es kommt zum rechtlichen Nihilismus. Der Staatsapparat verwandelt sich in ein administratives, d. h. hierarchisches Organisationssystem der elitären Macht. Politik wird durch Verwalten ersetzt. Die Revolutionsethik ersetzt die staatliche Rechtsregelung. Auf diese Art und Weise findet der Relativismus der Elite eine Rechtfertigung in der Ideologie, die dadurch Rechtskraft erhält.
Nach Lenin ist alles, was der proletarischen Revolution dient, moralisch. Begründet wird durch diese These ein eigentümlicher Prozeß der Verschränkung moralischer und utilitaristischer Handlungsmotive. Der ideologische Apparat ist zum unumgänglichen Subjekt der Deutung und Gestaltung von Gesellschaft stilisiert worden; derartige Moral und nicht individuelle Leistungen bestimmten den gesellschaftlichen Entwicklungspfad und die individuellen, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Die Abschaffung marktvermittelter Konkurrenz bewirkte bei den bürokratischen Eliten die Illusion der „Allmächtigkeit“, der unbegrenzten Steuerungsmöglichkeiten, die ein typisches Merkmal des technokratischen Denkens und Handelns wurden. Dazu gehörten insbesondere: -die Illusion der Möglichkeit, alle gesellschaftlichen Prozesse „von oben bis unten“ durch eine zentralisierte und rational geplante Verwaltung erfassen und steuern zu können;
-ein naives Rationalitätsmodell instrumenteilen Verwaltungshandelns ohne Reflexion auf Information, Unsicherheiten, Ressourcenknappheiten und Motivation der betroffenen Akteure;
-ein technokratischer Glaube, daß ein enger Kreis von Super-Fachleuten existiert, die am besten wissen, was genau jeder einzelne braucht und welches der effektivste Weg ist, diese Notwendigkeit zu verwirklichen
In dieser Weise wird jede Veränderung seitens der Herrschenden in ein Problem technischer Art um-gedeutet. Die Deutung und Gestaltung sozialen Wandels reduziert sich dabei auf eine Frage der Einführung neuer oder der Umgestaltung alter Organisationsformen. Diese Logik stellt die formelle, instrumentelle Seite des „Gesellschaftsgestaltungsverfahrens“ im „real existierenden Sozialismus“ dar.
IV. Die „sozialistische Persönlichkeit“
Durch die verordnete Dominanz der Ideologie in der Gesellschaft und infolge ihrer über Jahrzehnte hinweg dauernden Auswirkungen hat sich die gesellschaftliche Konstruktion des „Realsozialismus“ institutionalisiert und habitualisiert. Parallel zur historischen Erstarrung der negativen Identität und der „Innovationslogik“ dieser Gesellschaftsordnung erfolgte die wesentliche Beeinträchtigung ihrer eigenen Evolutionspotentiale. Die von Max Weber diagnostizierte Entzauberung der modernen Welt aufgrund umfassender Reflexion auf die Ziele und Folgen eigenen Tuns war in den westlichen Industriegesellschaften eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines Wirtschaftslebens, das individueller Initiative freien Raum bot und Wirtschaftsinteressen im politischen System Artikulationsmöglichkeiten verschaffte.
Dem Menschen in einer Gesellschaft des „real existierenden Sozialismus“, der in eine durch den totalitären Anspruch einer herrschenden Ideologie geprägte Realität hinein sozialisiert worden ist, ist die Chance zur Entwicklung derartiger Qualitäten und rationaler Reflexionsmöglichkeiten auf eigenes Tun und eigene Handlungsziele entzogen worden, weil er in einer verzauberten Welt gelebt hat. „Die Gesellschaft ist im Menschen ... Die Gesellschaft errichtet in seinem Bewußtsein die geistigen Strukturen, durch die er die Welt -und sich -wahrnimmt.“ Derartige totalitäre Lebensformen implizieren „Anpassungsdruck, repressive Erziehung, körperlichen und seelischen Terror, ... Gehirnwäsche ... und Entfremdung von der eigenen Natur, ... Unterdrückung der Gefühle, Verbot von Wut, Schmerz und Lust, statt dessen Erziehung zu Disziplin und Härte und damit zu einer Verlogenheit, die schließlich zur zweiten Natur wird“ Die gesellschaftliche Hegemonie der kommunistischen Ideologie führte zu einer geschlossenen Gesellschaftsorganisation, in der die Ausdifferenzierung eigenständiger staatlich-administrativer und wirtschaftlicher Handlungslogiken auf enge Grenzen stieß. Totalitäre Erfahrungen erzwingen individuelle Anpassungsstrategien. Für den autoritätsgläubigen, gefühlsblockierten und aggressiv gehemmten Menschen im Staatssozialismus sind Bewußtsein und Handeln auf externe Steuerungen angewiesen. Die Verletzung der „Spielregeln“ ohne negative Folgen wird als ein Erfolgserlebnis wahrgenommen. Die kollektive Moral schützt vor dem Risiko individueller Abweichungen. Das Kollektiv ist für die Handlungen seiner Mitglieder verantwortlich; es ist ein wesentliches Vermittlungsglied, durch das der ideologische Apparat Kontrolle über die Individuen ausübt. Daß eine derartige kollektive Moral nicht unbedingt zur Entwicklung individueller Risikostrategien und selbstverantwortlichen Handelns beiträgt, bedarf keiner weiteren Argumentation.
Der Konformismus wird unter diesen Umständen zu einer Überlebensbedingung: Je stärker der Anpassungsdruck, desto ausgeprägter erscheint die konformistische Disposition der einzelnen, desto mehr soziale Energie wird dafür verwendet. Der paternalistischen Fürsorgepflicht herrschender Eliten entspricht ein „infantiles“ Gefühl der garantierten Vorsorge durch diese Gruppen, das eine der wichtigsten Absicherungen des Systems gegen sozialen Wandel darstellt. Dieser sozialistische Paternalismus funktioniert vor allem durch die beinahe unbewußte Überzeugung, einen quasi-natürlichen Anspruch der Masse auf die Leistungen staatlicher Sozialpolitik geltend machen zu können. Der Vergleich mit den westlichen Industriestaaten in bezug auf Konsummöglichkeiten vermittelt dem einzelnen die Legitimation dafür, daß die staatlichen Institutionen sein Schuldner seien -derjenige, der bis jetzt gegeben hat, muß weiter geben, ohne dabei irgendeine Gegenleistung erwarten zu dürfen. Die auf diesem Weg entstandene Passivität und die Risikofeindlichkeit werden zu wesentlichen Strukturmerkmalen des Habitus der „sozialistischen Persönlichkeit“.
Durch Alltagserfahrungen unter den Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ werden dem individuellen Bewußtsein Merkmale vermittelt, die eher charakteristisch für das vormoderne Zeitalter sind. Alltägliche Erfahrungen in einer Realität, die keine berechenbare Struktur besitzt und die der bürokratischen Willkür ausgesetzt ist, hat den Glauben an Wunder zu einem wesentlichen Bestandteil eines quasi-religiösen Verzauberungsbewußtseins aufgewertet. Man darf keine eigene Meinung haben bzw. eigene Initiative ergreifen, weil die Entwicklung durch „höhere“, „alles besser wissende“ Instanzen gelenkt wird, an denen zu zweifeln sündhaft und unmoralisch wäre. Dieser „realsozialistische“ Habitus erweist sich heute als schwerwiegendes Hindernis für eine Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft. In diesem Sinne hat die These, daß „Ideologie ... zur Absicherung des einmal Gewordenen gegenüber dem neu Werdenden“ diene ihre brisante Bestätigung gefunden.
V. „Real existierender Sozialismus“ und Reform
Die Berücksichtigung der Tatsache, daß die aktive Negation ein wesentliches Merkmal gesellschaftlicher Identität des „real existierenden Sozialismus“ darstellt, ist von großer Bedeutung, wenn man versucht, die gegenwärtigen reformbezogenen Aktivitäten in den osteuropäischen Ländern zu verstehen. Das Fehlen einer positiven Identität hat eine prägende Wirkung auf jegliche Umgestaltungsprogramme. Die Reformprogramme sind nach demselben strukturellen Muster aufgebaut wie das ursprüngliche Gestaltungsprogramm, nämlich als Negation. Alle wissen, was sie nicht wollen, aber positive Projekte in bezug auf die künftige Gesellschafts-und insbesondere Wirtschaftsordnung sind nicht erkennbar. Auch an der Konzipierung der Reformvisionen als „Negation der Negation“ sind nicht zuletzt prägende Folgewirkungen der „realsozialistischen“ Gesellschaftsordnung zu erkennen. Das läßt sich besonders deutlich an dem negativistischen Vokabular der programmatischen Äußerungen ablesen: Es geht in der Regel um „De-Montage“, „Ab-Bau“, „Vernichtung“ des „kommando-administrativen Systems“. Was aber „die Montage“, „den Aufbau“, „die Gestaltung“ der neuen Gesellschaft anbelangt, sind sich alle Programme sehr ähnlich und nicht sehr aussagekräftig. Sie vermitteln eher wieder die scheinbar mögliche Übernahme eines neuen -des westlichen -Vorbildes als einzig denkbare Entwicklungsperspektive. Derartige Hoff-nungen basieren auf einem ausgesprochen bescheidenen sozialwissenschaftlichen Reflexionsniveau: Die Transformationsprozesse erfolgen nicht in einem „sozial luftleeren Raum“. Vielmehr müssen bei der Problematisierung der Transformation von Wirtschaftssystemen die Folgen der jahrzehntelangen „sozialistischen Entwicklung“ und die dadurch gesetzten Grenzen eines tatsächlichen Wandels verstärkt Beachtung finden.
Programmatische Überlegungen lassen sich durch einige Parolen darstellen, nämlich „Demokratie“, „Rechtsstaat“, „Marktwirtschaft“. Ihnen schließen sich sogar die ehemaligen kommunistischen Parteien an. Andererseits gibt es keine erkennbaren Zeichen dafür, daß diese Äußerungen auf einer selbstkritischen Analyse der Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation basieren; Modell-, Transfer-und Wunschdenken treten wieder in den Vordergrund. Programme beinhalten die implizite Annahme, daß die Umsetzung von Reformzielen nur eine Frage geschickter Machtausübung sei, die es ermöglichen würde, alte Organisationsstrukturen durch neue (nach westlichem Muster) zu ersetzen bzw. sie mit neuen Personen zu besetzen, um die gestellten Ziele zu erreichen. Dieses „Substitutionsdenken“ ist die genaue Kopie eines instrumentellen Politikverständnisses bzw. von „Gesellschaftsinnovationsmustern“, die typisch für die ganze Entwicklungsgeschichte des „Realsozialismus“ waren. Auch „die jetzt stattfindende, schnelle Orientierung auf den Westen geschieht unter dem Druck der eigenen, inneren Unsicherheit und der Sehnsucht nach neuer kräftiger Führung, die das überkommene Autoritätsbedürfnis befriedigen soll“ Die Logik der Reformprogramme wiederholt im wesentlichen jene der Legitimationsmuster der Gesellschaftskonstruktion des „real existierenden Sozialismus“. Aus dieser Sicht impliziert die Unterschätzung der Phänomene des Strukturkonservatismus die Gefahr, daß der Transformationsprozeß nur einer neuartigen Ritualisierung gleichkommt, hinter deren Fassade die Merkmale (Handlungs-und Entscheidungsschemata, Macht-und Privilegstrukturen) des staatssozialistischen Systems „konserviert“ werden.
Die intendierten Transformationsprozesse in den einzelnen Ländern basieren auf spezifischen Voraussetzungen ihrer „realsozialistischen“ Entwicklungsgeschichte. Zudem hat die Typisierung des westlichen Vorbildes als Synonym für die Moderne eigentlich keinen erfahrbaren Realitätsbezug. In den einzelnen westlichen Industriegesellschaften haben sich je eigene Formen der Sozialorganisa-tion entwickelt, die kein homogenes Vorbild darstellen können. Diese basieren auch auf sozialen und historischen Voraussetzungen, was die Möglichkeiten der technischen „Verpflanzung“ von Institutionen des Westens generell in Frage stellen sollte.
Unter den Bedingungen einer Pluralisierung des politischen Lebens kommt der Definitionsmacht einzelner Akteure in bezug auf die „Spielregeln“ eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Zu den „Absicherungen“ des „realsozialistischen“ Systems gehört auch die Tatsache, daß „nicht jedermann heutzutage Reformator werden kann ... Einerseits muß er , Nomenklatura-Kader 1 sein ... Ohne seine Erfahrung als , Apparatschik 1 hätte der Reformator gebundene Hände. Solange die Macht mit dem Apparat identisch ist, ist der Kampf gegen den Apparat nur mit den Mitteln des Apparats möglich ... Andererseits sind jedoch die Apparatschiks Söhne des Apparats, die ihm untreu werden, um ihn zu retten ... Der Reformator ist nicht gegen den Apparat überhaupt; er ist für seine Gesundung ... Er will nur eine gesunde Gesellschaft auf ihr (der Nomenklatura -C. S.) System aufhängen, um ... das System zu heilen.“
Nach Niklas Luhmann ist gerade die personelle Kontinuität ein entscheidender Hinweis für einen Strukturkonservatismus. Personen stellen für Organisationen Entscheidungsprämissen dar, da sie es sind, „die dem Entscheidungsbetrieb Körper und Geist, Reputation und persönliche Kontakte zur Verfügung stellen und dadurch teils ausweiten, teils einschränken, was entschieden werden kann. In vielen Hinsichten und für viele Arten von Organisationen liegt hier die schärfste Absicherung von Redundanz: Wenn man eine Person kennt, kann man sich leicht eine Vorstellung davon machen, wie sie entscheiden wird ... Außerdem sind Personen im Unterschied zu Programmen kaum veränderbar; sie lassen sich allenfalls als ein festgeschnürtes Paket von Entscheidungsprämissen im System von einer Position auf andere versetzen ... Diese Art von Redundanz ... (ist) praktisch nur für Mitglieder der Organisation erkennbar, während externe Beobachter sich an die Programme, an die Geschäftsverteilung und den Dienstweg halten müssen und dann oft nicht verstehen können, weshalb die Organisation ihre Entscheidungsmöglichkeiten nicht ausschöpft.“ Die offene Frage der Gestaltungskonzeptionen für die Zukunft beinhaltet also die Gefahr der Restauration in Form einer antisozialistischen „Umhüllung“ jener Ordnung, gegen die die Idee der „Umgestaltung“ gerichtet ist. Ausgerechnet dieser Problemkreis bleibt im Laufe der Reformbemühungen offen und unreflektiert. Mit anderen Worten: Es läßt sich eine Variante des Pseudo-Wandels im Rahmen des alten Systems als „Realsozialismus“ ohne Kommunisten bzw. Sozialisten an der Macht als Gegensatz zum „klassischen“ Modell bezeichnen, bei der die Strukturmuster und Handlungslogiken der staatssozialistischen Praxis aufrechterhalten bleiben.
Die Struktur der Verteilung von Macht und Privileg, die den Ausgangspunkt des Wandels darstellt, läßt sich in der Kurzformel zusammenfassen: Alles, was bei den Vertretern des Staates bzw.der Partei konzentriert war, war dem Rest der Gesellschaft enteignet. „Die ungleiche Verteilung von Kapital, also die Struktur des gesamten Feldes, bildet somit die Grundlage für die spezifischen Wirkungen von Kapital, nämlich die Fähigkeit zur Aneignung von Profiten und zur Durchsetzung von Spielregeln, die für das Kapital und seine Reproduktion so günstig wie möglich sind.“ Aus dieser Sicht ist die Ausgangssituation des Transformationsprozesses durch eine gewaltige Konzentration von ökonomischem, kulturellem und sozialem „Kapital“ auf der Seite der ehemaligen kommunistischen Eliten gekennzeichnet, das unter den gegenwärtigen Bedingungen neu eingesetzt werden kann und wird. „... die Akkumulation von Kapital, ob nun in objektivierter oder verinnerlichter Form, braucht Zeit. Dem Kapital wohnt eine Überlebenstendenz inne; es kann ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen. Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist.“
Die meisten Töchter und Söhne der „Nomenklatura“ haben Elite-Schulen besucht. Viele von ihnen sind entweder im Ausland aufgewachsen oder haben zumindest an ausländischen Universitäten studiert. Dadurch beherrschen sie nicht nur westliche Sprachen, sondern sind durch die alltägliche Erfahrung mit den Äußerlichkeiten des Verhaltens der Menschen im Westen vertraut. Dies ermöglicht ihnen, auf eine neue, andere Art mit den Vertretern der westlichen Welt zu kommunizieren als die Generation der Väter. In diesem Sinne sind sie darauf vorbereitet, als Aushängeschilder des Systems zu dienen, um damit seine Glaubwürdigkeit aufs neue zu erkämpfen und der alten Nomenklatura neue, internationale Reputation zu verschaffen, auch wenn ihre Denkstrukturen und moralischen Prinzipien sich nicht wesentlich verändert haben.
Bei diesen jungen leitenden Parteikadern läßt sich eine modernere Interpretation Leninscher Grundprinzipien von der kommunistischen Moral feststellen, die den üblichen Vorstellungen über die mangelnde Anpassungsfähigkeit des „real existierenden Sozialismus“ widerspricht. Sie verzichten zum Teil auf die ursprüngliche kommunistische Symbolik, sogar auf die Bezeichnung „Kommunisten“. Sie sind bereit, auf die verfassungsmäßige Garantie der führenden Rolle der Kommunistischen Partei zu verzichten; sie lassen Opposition zu und diskutieren mit ihr. Auch die größere Toleranz in bezug auf Äußerlichkeiten gehört zu dem moderneren Auftreten, obwohl dies auch einen Teil des Kalküls darstellt, nach dem sie ziemlich genau wissen, wie sie den zum Teil bewußt unter dem Druck der gegenwärtigen Situation konzedierten Machtverlust auf anderen Wegen -und sei es qua kultureller, wirtschaftlicher, administrativer Kompetenz -kompensieren können. Auch für den Fall, daß sie im Moment die politische Macht ganz aufgeben und in die Opposition gehen müssen, sind Absicherungen vorgesehen. Wenigstens durch das Parteivermögen sind ihnen wesentliche Einflußmöglichkeiten im wirtschaftlichen Bereich auch in der Zukunft sicher. Paradoxerweise besitzen sie die besten Chancen, sich unter den veränderten Bedingungen anzupassen, einflußreiche Schlüsselpositionen anhand ihrer Kompetenz und Erfahrung mit der Macht zu besetzen. Dadurch ist die Möglichkeit institutionalisiert, in Entscheidungssituationen ihre ideologisch legitimierten Wandeisvisionen zu verwirklichen. Der Vorsprung der ehemals herrschenden Eliten ist durch die Konvertibilität zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital garantiert. Die Gefahr, daß eine ähnliche Struktur von Macht und Privilegien hinter neuen Legitimationsformeln entstehen kann, wird durch eine Akzentsetzung auf die institutioneilen Formen verstärkt. Deshalb besteht eine tatsächliche Transformation zum großen Teil in der Umgestaltung des Verteilungssystems der Gesellschaft. Das Gegenteil wäre identisch mit der Unterschätzung der Anpassungsfähigkeit des „Immunsystems“ der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung an die sich wandelnden Kontextbedingungen. Die bisherige Geschichte des „real existierenden Sozialismus“ kann als eine Reihe sich ablösender totalitärer Herrschaftsformen beschrieben werden, in deren Rahmen eine zunehmende Entdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme erfolgte. In diesem Sinne stellt der Modernisierungsprozeß im „Realsozialismus“ eine negative Illustration für die These von Claus Offe dar, der die Quelle der westlichen Modernisierung in der Entfesselung der Eigenrationalität einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme sieht Im „Realsozialismus“ führt die Unterordnung einzelner Teilbereiche unter das Ziel der Herrschaftssicherung und die daraus folgende Negierung ihrer Eigenrationalität zu einer Reduzierung des Modernisierungs-Prozesses auf die „Erneuerung der Fassade“. Die Strukturmuster, die Denk-und Wahmehmungsstereotypen und Handlungslogiken, die sich hinter der Fassade befinden und den Kem des „realsozialistischen“ Systems ausmachen, scheinen aufrechterhalten worden zu sein. Die Trägheit der jahrzehntelang andauernden „sozialistischen“ Entwicklung impliziert die Gefahr, daß sich hinter der neuen opportunen „antisozialistischen“ Fassade die Ergebnisse dieser Entwicklung und zugleich die mit ihnen verbundenen Komponenten des Strukturkonservatismus „konservieren“, wenn sich die Veränderungen auf einen Pseudo-Wandel im Rahmen des „realsozialistischen“ Systems reduzieren würden. Eine tatsächliche Systemtransformation ließe sich als ein Prozeß gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Limitierung unterschiedlicher Lebensbereiche und Handlungslogiken charakterisieren. Das wäre der erste Schritt und zugleich die grundlegende Voraussetzung für einen radikalen sozialen Wandel, ja für die Entstehung einer „civil society“, damit der gesellschaftliche Verwaltungsanspruch von Staat und Partei aufgehoben wird. Dieser Schritt stellt jedoch keine Garantie dafür dar, daß das „Immunsystem des Real-sozialismus“ außer Kraft gesetzt wird. Wenn wir mit Pierre Bourdieu davon ausgehen, daß der Habitus als ein System von Denk-, Wahrnehmungs-und Handlungsschemata, die das Individuum seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft verdankt, zur Reproduktion seiner Entstehungsbedingungen tendiert dann ist eine wesentliche Komponente der Funktionsweise des „Immunsystems“ des Staatssozialismus angesprochen. Seine Wirksamkeit beruht vor allem darauf, daß er die Ebene der unbewußten Wahrnehmungsund Handlungsstereotypen beherrscht und als „körpergewordene“ Struktur eine relative Autonomie gegenüber der aktuellen Situation behält.
VI. Fazit
Wenn vom „Immunsystem“ des „Realsozialismus“ die Rede ist, wird dadurch die Auffassung vertreten, daß infolge der Legitimations-und Funktionsweise der gesellschaftlichen Konstruktion des „real existierenden Sozialismus“ im Laufe ihrer Durchsetzungs-und Entwicklungsgeschichte die tiefsten Schichten des gesellschaftlichen Lebens nach Kriterien der herrschenden Ideologie funktionalisiert worden sind. Bei der Thematisierung dieser Folge-phänomene handelt es sich nicht um die bewußten Verfechter der „sozialistischen Gesellschaftsordnung“. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Sozialisationseffekte und Dimensionen der Sozialstruktur, die trotz veränderter ordnungspolitischer Rahmenbedingungen ihre Wirksamkeit aufrechterhalten haben. Diese Folgen sind bei weitem nicht allein durch die Abrechnung mit einigen Vertretem der früheren Machtspitze oder durch das Bekenntnis zu bestimmten alternativen Wunschvorstellungen ausgeräumt.
Eine tatsächliche Veränderung setzt eine längere „Räumungsperiode“ bzw. eine „Säkularisierung“ im Sinne etwa des „Verfalls des Meta-Sozialen“ (Alain Touraine) voraus, in der ein Boden für die Entwicklung moderner demokratischer Denk-, Wahrnehmungs-und Handlungsstereotypen geschaffen werden kann. Bis dahin sind alle Reformversuche fragwürdig. In diesem Sinne stellt „eine , psychische Revolution, die den Stalinismus als Lebensform ablöst“ einen wesentlichen Aspekt und zugleich eine Voraussetzung für jene tiefgreifenden sozialen Veränderungen dar, die in Verbindung mit der Umstrukturierung des Verteilungssystems der Gesellschaft durchgeführt werden sollen.
Die möglichen Verlaufsformen des Wandels sind durch das historische Erbe der ehemaligen staats-sozialistischen Gesellschaften geprägt. Das Ausmaß des „Immunsystems“ des „Realsozialismus“ in den einzelnen „postsozialistischen“ Ländern ist jedoch eine offene Frage, der empirisch nachgegangen werden sollte. Genauso wie die Ausgangs
Situation im einzelnen länderspezifisch ist, werden auch länderspezifische Verarbeitungsmuster in bezug auf die Folgephänomene der „realsozialistischen“ Entwicklung entstehen. Die Unterschiede lassen sich vor allem auf den Modernisierungsgrad (Industrialisierung, Entwicklung soziokultureller und politischer Traditionen) vor der „sozialistischen Revolution“ zurückführen. Die analytische Erfassung des Wandels sollte den Transformationsprozeß sowohl synchron -in der Vielfalt seiner länderspezifischen Varianten -als auch diachron -in seinen Verlaufsetappen in den einzelnen Ländern -untersuchen. Das Ausmaß des Wandels läßt sich dabei vor allem an der Distanz erkennen, die die institutionelle Ordnung gegenüber dem „Immunsystem“ des „real existierenden Sozialismus“ erreicht hat.