I. Vorbemerkung
Die Bürgerbewegungen haben in der ersten Phase der demokratischen Revolution in der ehemaligen DDR nicht nur als Kristallisationspunkt des Massenprotestes eine tragende Rolle gespielt, sondern sie waren auch die Geburtshelfer der Demokratie. Die dynamische Entwicklung in der DDR nach der Öffnung der Mauer hat die Bürgerbewegungen vor neue programmatische und politische Herausforderungen gestellt, denen sie zum Teil nicht gewachsen waren. Ihr Versuch, einen eigenen Entwicklungsweg für die DDR -jenseits des politischen und ökologischen Krisenmanagements westlicher Gesellschaften -zu entwerfen, war angesichts des Wunsches einer großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung zum Scheitern verurteilt. Für diese Mehrheit war die nationale Vereinigung die einzige realistische Perspektive, um so schnell wie möglich Anschluß an die demokratischen, sozialen und ökologischen Standards der Bundesrepublik zu finden.
Auch wenn die Bürgerbewegungen im Einigungsprozeß an Einfluß verloren haben, halte ich es dennoch für zu pessimistisch, sie als die eigentlichen Verlierer der Herbstrevolution zu bezeichnen. Innerhalb weniger Monate haben sie einen Prozeß der Institutionalisierung durchlaufen und sind dabei trotz aller Rückschläge -vor allem auf kommunaler Ebene -zu einem nicht zu unterschätzenden Faktor der politischen Kultur beim Übergang der Gesellschaft vom Totalitarismus zur Demokratie geworden. Sowohl ihre Entstehungsgeschichte in der alten DDR als auch ihr Agieren in den verschiedenen Phasen des demokratischen Umbruches enthält wichtige Elemente einer Zivil-gesellschaft, die auch im vereinigten Deutschland aufgegriffen werden können.
II. Der Entstehungsprozeß der Bürgerbewegungen
Die Bürgerbewegungen, die im Vorfeld des Herbstes 1989 die politische Bühne im SED-Staat betreten haben, sind personell und programmatisch aus dem Potential der neuen sozialen Bewegungen in der DDR hervorgegangen. Ulrike Poppe, bekannte Vertreterin der Gruppierung Demokratie Jetzt, spricht rückblickend davon, daß „aus den früheren, kleinen oppositionellen Gruppen ... 1989 DDR-weite Sammlungsbewegungen gewachsen (waren). Deren Forderungen nach Achtung der Menschenrechte, nach Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit waren für das aufbegehrende Volk durchaus orientierungsstiftend.“
Das Rückgrat dieser oppositionellen Gruppen bildeten vor allem die seit Ende der siebziger Jahre in den großstädtischen Zentren, aber auch in kleineren Provinzstädten entstandenen Friedens-und Umweltgruppen, die sich im Schutzraum der Kirche angesiedelt hatten. Detlef Pollack und andere Autoren weisen zu Recht darauf hin, daß „die Kirche ...der einzige gesellschaftliche Ort (war), der nicht in den partei-und staatsoffiziellen Gesellschaftsaufbau einbezogen war und daher vom Partei-und Staatsapparat auch nicht unmittelbar gesteuert und kontrolliert zu werden vermochte. Die Kirche war deshalb auch als einzige gesellschaftliche Institution in der Lage, den politischen alternativen Gruppen sowohl einen gewissen rechtlichen Schutz zu gewähren als auch eine Plattform für ihr politisches Wirken zur Verfügung zu stellen.“ Für die Anbindung dieser Gruppierungen an die Kirche waren also weniger religiöse als politisch-pragmatische Gründe ausschlaggebend.
Hubertus Knabe kommt in seiner „Typologie“ der neuen sozialen Bewegungen im Sozialismus zu dem Schluß, daß diese trotz der unterschiedlichen systemischen Voraussetzungen strukturelle „Affinitäten in Bezug auf Inhalte, Formen und soziale Zusammensetzung“ zu westlichen neuen sozialen Bewegungen aufweisen und interpretiert ihre Entstehung als „gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, der durch die Widersprüche der industriellen Lebensweise auch in sozialistischen Staaten ausgelöst wird.“
Die mobilisierenden Themen und Aktionen gruppieren sich vor allem um die ethischen Fragen eines anderen Umgangs mit der Natur (Baumpflanzaktionen, Verschwendung von Ressourcen für Militärausgaben, Auswirkung der industriellen Lebensweise auf die Dritte Welt).
Der Entstehungsprozeß der neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik ist als „Ausdruck der spezifischen , Modernität 1 der westdeutschen Gesellschaft“ analysiert worden. Auch wenn man im programmatischen Selbstverständnis der DDR-Oppositionsgruppen der frühen achtziger Jahre allgemeine zivilisationskritische Motive, wie sie für die westdeutschen neuen sozialen Bewegungen typisch sind, ausmachen kann, läßt sich ihr Entstehungsprozeß eben nicht im Kontext einer entwikkelten „Modernität“, sondern im Gegenteil als Reflex auf eine vormoderne „Modernität“ von Ökonomie, Staat und Gesellschaft in der DDR deuten. Die spezifisch realsozialistisch-ruinöse Form der forcierten Industrialisierung, das fehlende Angebot an individuellen Gestaltungsspielräumen und politisch ungebundener Interessenartikulation, die Innovationsträgheit des politischen und ökonomischen Systems sowie die autoritär und zentralstaatlich verfaßte Politik haben wesentlich zum Anwachsen des gesellschaftlichen Protest-potentials beigetragen.
Es ist eine Kernaussage der sozialwissenschaftlichen Forschungen über neue soziale Bewegungen in westlichen Ländern, daß die herrschenden Eliten und das herrschende Institutionensystem im Rahmen des repräsentativ-demokratischen Systems durch die Aktivitäten der neuen sozialen Bewegungen unter verstärkten Legitimitätsdruck gesetzt werden „Vom Formprinzip her verkörpern neue soziale Bewegungen antiinstitutionellen Widerspruch und Kampfansage zugleich gegen die Organisationsprinzipien etablierter Politik.“ Der Institutionenapparat der westlich parlamentarischen Gesellschaften hat aber eine erstaunliche Lernfähigkeit bei der Integration neuer politischer issues und Politikformen an den Tag gelegt. Das starre, von der SED zentralistisch gelenkte Staats-system war dagegen weder fähig noch willens, die Impulse der außerhalb der herrschenden Institutionen operierenden Opposition aufzunehmen. Im Gegenteil: Die Aktivitäten der basisdemokratisch orientierten DDR-Oppositionsgruppen wurden von der SED als Infragestellung ihres Monopolanspruchs auf Wahrheit und Macht aufgefaßt und durch umfassende staatliche Repression beantwortet.
III. „Kulturelle Modernisierung“
Da die neuen sozialen Bewegungen vor diesem Hintergrund nicht die gleichen demokratischen Anstöße und innovatorischen Effekte auf das politische System im SED-Staat ausüben konnten wie in den flexibleren westlich parlamentarisch verfaßten Gesellschaften, stellt sich die Frage, welche Rolle sie „im Prozeß der kulturellen Modemisie-rung“ der formierten Gesellschaft der DDR gespielt haben.
Zur Charakterisierung des sozialen und politischen Milieus, in dem die DDR-Friedens-und Ökologiebewegung entstanden ist, werden vor allem die Begriffe „Gegen-oder Subkultur“ verwandt. Als Träger einer „zweiten Öffentlichkeit“ unterminieren die verschiedenen Gruppierungen mit selbst herausgegebenen Zeitschriften, innerkirchlichen Informationsmaterialien und Veranstaltungen das staatliche Monopol auf Information und artikulieren das Bedürfnis von Teilen der Gesellschaft nach einem Übergang von dem herrschenden instrumenteilen zu einem expressiven Politikverständnis. Dennoch wird den Oppositonsgruppen von Kennern der politischen Alternativszene im Umfeld der Kirche eine größere unmittelbare Wirksamkeit bei relevanten Teilen der „unpolitischen“ Bevölkerung abgesprochen. Diese Einschätzung wird auch durch ihr geringes quantitatives Potential, das bei maximal 10000 bis 15 000 Personen gelegen haben dürfte, gestützt Daß den aus der „Gegenkultur“ hervorgegangenen Bürgerbewegungen im Herbst 1989 dennoch eine Schlüsselstellung beim Sturz der SED-Staatsmacht zugefallen ist, hat tieferliegende Ursachen.
Betrachtet man politische Kultur als „das Resultat von politischer Sozialisation, durch die politische Orientierungen, Einstellungen und Kenntnisse“ vermittelt und erworben werden, so lassen sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre signifikante Veränderungen in der politischen Kultur der DDR feststellen. Entgegen der weitläufigen Vorstellung von einer monistischen Einheitskultur, hatte sich auch in der DDR „eine Konkurrenz verschiedener politischer Kulturen“ entwickelt.
Volker Gransow unterscheidet in seiner Typologie der politischen Kultur der ehemaligen DDR u. a. die dominante „kommunistische Zielkultur“ und die „industrialistische Kultur“ von der „alternativen Kultur“, deren Hauptthema „die Suche nach anderen Existenzformen ... in einer nicht-verseuchten Umwelt“ sei Hauptträger dieser alternativen Kultur sind in seinem Verständnis nicht nur die aktiven Teile der Friedens-und Ökologiebewegung in der DDR, sondern auch Teile der Jugend, der Homosexuellen-und Frauengruppen und der Künstler, die sich in den Hinterhöfen der Großstädte und in zurückgezogenen Bauernkaten auf dem Lande ein eigenes Milieu geschaffen haben. Auch eine neue Autorengeneration, die Anfang der achtziger Jahre zu schreiben beginnt und ihre Werke in selbst herausgegebenen Samisdat-Zeitschriften veröffentlicht, trägt „zum Abbau von Gesinnung und vermeintlichen Sinn im , realen Sozialismus bei“, indem sie „das ideologische Sprachmaterial poetisch zersetzt und verballhornt.“ Nach Hubertus Knabe besteht das Gesamtspektrum dieses staats-und parteikritischen Potentials „aus durchaus unterschiedlichen Segmenten, ... die im Verlauf von politischen Umbruchprozessen und individuellen Lebensentwicklungen zueinander“ finden
Soziostrukturell ist die Entstehung alternativer Milieus in den Prozeß eines sozialen Wandels der DDR-Gesellschaft eingebettet. Der Zwang zur „partiellen Modernisierung“ hat seit Beginn der siebziger Jahre unter der Oberfläche der repressiven „monosemischen Offizialkultur zu einer Enttraditionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft beigetragen, auch wenn dieser Prozeß durch systemimmanente vormoderne Tendenzen der „Ent-Differenzierung“ und der „Einengung von Entwicklungspotentialen“ immer wieder gebremst worden ist. Doch das Anwachsen und die Politisierung gesellschaftlicher Partizipationsbestrebungen konnte nicht mehr aufgehalten werden. Kulturell gesehen haben sich in diesem Prozeß Sozialtechniken der Individualisierung gegen den Absolutheitsanspruch von Partei und Staat herausgebildet und behaupten können. Im Westen ist diese Entwicklung häufig durch den Begriff der „Nischengesellschaft“ (Günter Gaus) charakterisiert worden.
Auf diesem Humus konnten Ende der siebziger Jahre alternative Protestmilieus entstehen. Die sozial-ethischen Gruppen im Raum der Kirche als politische Kerne und Vorläufer der Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 waren in diesem Sinne zugleich konzentrierter politischer Ausdruck und Katalysator der Veränderungen in der politischen Kultur der DDR. Sie verkörperten und beschleunigten die Entwicklung ziviler Elemente in den Schattenstrukturen der sogenannten second society und waren Keimformen und Vorboten einer Zivilisierung der Gesellschaft. „Auf der Grundlage einer vorhandenen kommunikativen und organisa-torischen Infrastruktur“ konnten die Bürgerbewegungen im Herbst 1989 zum Kristallisationspunkt des Massenprotestes werden. Dabei war die faktische Durchbrechung des Organisations-und Öffentlichkeitsmonopols der SED durch die Gründung des Neuen Forums und anderer Gruppierungen und die Formierung einer eigenen Öffentlichkeit der erste Schritt auf dem Weg von einer marginalisierten Opposition zu einer umfassenden Demokratiebewegung. Die ersten Forderungska-taloge der Bürgerbewegungen lesen sich wie der Ruf nach den „institutioneilen Voraussetzungen“ einer Zivilgesellschaft: Organisationsfreiheit, freie Wahlen, Zulassung einer unzensierten Öffentlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Garantie der demokratischen Grundrechte. Bei der Durchsetzung dieser Forderungen zur Rekonstruktion einer Zivilgesellschaft haben die Bürgerbewegungen zunächst einmal die Pionierarbeit geleistet.
IV. Die Rolle der Bürgerbewegungen beim Übergang zu einer Zivilgesellschaft
Der weitere Verlauf des politischen Umbruchprozesses, insbesondere das Ergebnis der Volkskammerwahlen im März 1990, hat bei den Bürgerbewegungen zur Ernüchterung geführt. Zum Teil haben sie sich im Prozeß der deutschen Einheit als Opfer einer erneuten Marginalisierung gefühlt. Dabei wird übersehen, daß die Bürgerbewegungen trotz der ihnen im letzten Herbst zugewachsenen Bedeutung beim Sturz der Politgerontokratie und bei der Demontage des SED-Regimes „von Herkunft und Programmatik ... nur ein schmales gesellschaftliches Spektrum“ repräsentiert haben. Insbesondere die programmatische Nähe der meisten Bürgerbewegungen zu einem reformierten Sozialismus, ihre zum Teil kruden wirtschaftspolitischen Vorstellungen und ihre zweideutige Haltung zur deutschen Einheit haben trotz anfänglicher Sympathie zu einer zunehmenden Distanzierung großer Teile der DDR-Bevölkerung von den Revolutionären der ersten Stunde geführt. Insofern muß meines Erachtens der Rückgang des Einflusses der Bürgerbewegungen und damit auch des Potentials einer radikaldemokratischen Umgestaltung der Gesellschaft als „Normalisierungsprozeß“ charakterisiert werden. Im Verlauf dieses Prozesses sind die Bürgerbewegungen auf ihre eigentliche Größe zurückgeworfen worden.
Dennoch ist ihr Platz in den neuen Bundesländern keinesfalls überflüssig geworden. Das durch den Zusammenbruch der alten Strukturen entstandene gesellschaftliche Vakuum muß demokratisch neu fundiert werden, „öffentlich ausgetragene Konflikte als Mittel produktiver Gesellschaftsgestaltung müssen noch geübt werden“ Insofern könnte den Bürgerbewegungen beim Übergang von einer latenten zu einer manifesten Zivilgesellschaft aufgrund ihrer Erfahrungen auch in Zukunft eine wichtige Funktion zufallen, zumal sich in ihrem Umfeld in der Vergangenheit am stärksten die zivilen Elemente der Gesellschaft angesiedelt haben. Als Fixpunkte der Entwicklung und Festigung einer demokratischen politischen Kultur müßten gerade jetzt die normative Akzeptanz freiheitlicher Grundwerte, Toleranz, Minderheitenschutz, Zivilcourage, Bürgerengagement und demokratische Verkehrsformen unter den Mitgliedern der Gesellschaft verankert werden. „In Gesellschaften mit nie vorhandener oder lange unterbrochener demokratischer Tradition muß Partizipation in ihren elementarsten Formen neu erlernt werden, gilt es, die Möglichkeiten unmittelbarer Beteiligung, staatsbürgerlicher Selbständigkeit und politischer Auseinandersetzung zu erkunden und einzuüben. Die Demokratisierung der Gesellschaft muß als Selbsttätigkeit von unten beginnen und kann nicht einfach nur dekretiert werden.“ Wolfgang Templin, einer der Veteranen der DDR-Oppositionsgruppen, hebt hier auf das Problem ab, daß der Sturz der totalitären Gesellschaftssysteme in Osteuropa allein noch kein Modell für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft enthält.
Die Zivilgesellschaft ist ein Entwicklungsprojekt und die Befreiung von der totalitären Diktatur kann in vielen osteuropäischen Staaten nicht ohne weiteres auf noch vorhandene demokratische Traditionen rekurrieren, die nur freigelegt werden müßten. Im Gegenteil: Auf der Gesellschaft der DDR lastet als Erbe die Erfahrung von fünfzig Jahren Diktatur. Mentalitäten, politische Einstellungen und Wertevorstellungen von mindestens zwei Generationen sind in dieser Zeit wesentlich geprägt worden. Die vermeintliche Abrechnung der DDR als selbsternannter antifaschistischer Staat mit dem Nationalsozialismus wurde durch die faktische Übernahme und Konservierung undemokratischer, autoritärer und obrigkeitsstaatlicher Verkehrsformen konterkariert. Die Strukturen der Bevormundung und Entmündigung, der Hierarchisierung und Innovationsverhinderung auf allen gesellschaftlichen Ebenen durch den autoritär-administrativen Staat haben tiefe Spuren im soziokulturellen Gefüge der DDR hinterlassen.
Trotz des Einsickerns der normativen Werte westlicher Kultur und Zivilisation in den letzten Jahrzehnten, halten sich in der DDR immer noch hartnäckig „alte, offenbar konservierte politisch-kulturelle Traditionsmuster, wie sie in der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre hinein dominierten“ Dirk Berg-Schlosser weist darauf hin, daß gerade „in Umbruchsituationen, wie z. B. ... in der DDR ... politisch-kulturellen Kontinuitäten sogar häufig ein höherer Stellenwert zu(kommt) als z. B. institutioneilen Betrachtungsweisen“ Darüber hinaus wird der Demokratisierungsprozeß durch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen in Folge des Einigungsprozesses erschwert. Das in der friedlichen Revolution errungene demokratische Bewußtsein und Selbstbewußtsein droht durch die Wucht der ökonomischen und sozialen Probleme zunächst ins Hinter-treffen zu geraten. Dies könnte bei relevanten Teilen der Bevölkerung -vergleichbar mit der Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland -im Rahmen einer „nachholenden“ Industrialisierung über Jahre zu einer vorrangigen Betonung ökonomischer Sicherheiten gegenüber politischen Freiheiten führen. Hinzu kommt, daß sich die politisch durchaus gewollte und individuell entlastende Verdrängung der Vergangenheit hemmend auf eine tiefgreifende Demokratisierung der Gesellschaft auswirken kann.
In der Entwicklung einer neuen politischen Kultur wird der Ballast der Vergangenheit nicht so schnell abgeworfen werden können. Handlungsblockaden, Motivationsmangel sowie rationales und irrationales Angstverhalten, hervorgerufen durch die psychosozialen Diktaturschäden, sind unberechenbare Faktoren im weiteren Demokratisierungsprozeß. Die Strukturen der bundesrepublikanischen Demokratie können bei der Bewältigung dieser Probleme hilfreich sein, ersetzen aber nicht eigene Erfahrungen und Formen bei der Vergangenheitsbewältigung und Demokratieentwicklung in den neuen Bundesländern.
Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die Bürgerbewegungen auf eigene Vorstellungen zurückgreifen möchten. Der durch das Grundgesetz abgesteckte institutionalisierte Rahmen der repräsentativen Demokratie und die nach der Vereinigung formal vorhandenen Voraussetzungen einer Zivilgesellschaft (wie Parteienpluralismus, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Rechtsgebundenheit der Verwaltung) reichen ihnen nicht aus. Von Jens Reich, einem führenden Mitglied des Neuen Forums, stammt der Ausspruch: „Wir wollen die politische Kultur des 21. Jahrhunderts entwickeln“. Die basisdemokratischen Erfahrungen und Organisationsformen des politischen Um-bruchs sollen als Elemente direkter Demokratie und als Ergänzung parlamentarisch-repräsentativer Formen für die politische Gestaltung des neuen Deutschland fruchtbar gemacht werden. „Mit den Runden Tischen ... und den Bürgerkomitees waren Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation entstanden. Anstatt vom demokratischen Rechtsstaat abgelöst zu werden, könnten diese den Weg in die zivile Gesellschaft eröffnen. Das Vermächtnis des revolutionären Herbstes, der diese Formen hervorgebracht hat, ist die Infragestellung gesellschaftlicher Repräsentation ausschließlich durch die Parteien, die notwendige Erweiterung der Demokratie durch direkte Einflußnahme der Bürgerinnen und Bürger und die Offenbarung tatsächlich parteiübergreifender Wertorientierung.“
Zum Vermächtnis des Herbstes 1989 gehört auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, den Ulrich K. Preuß als „Suche nach der Zivilgesellschaft“ charakterisiert hat Sogenannte „Publicinterest-Gruppen" werden im Verfassungsentwurf des Runden Tisches „als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle“ unter den besonderen Schutz der Verfassung gestellt. Das Ziel entsprechender Abschnitte des Verfassungsentwurfes ist die „Stärkung des einzelnen Bürgers gegenüber korporativer Macht“ Auch aus dem Entwurf für ein Statut des Neuen Forums geht die Absicht hervor, die Macht der Parteien und des Staates zugunsten direkter Elemente von Demokratie einzuschränken: „Das Neue Forum ist eine unabhängige politische Vereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die gegen das Übergewicht der Parteien und des Staates in der gegenwärtigen repräsentativen Demokratie antritt und sich für die Gestaltung einer Demokratie einsetzt, in der Autonomie und Mitbestimmung der Kommunen und Regionen zum wesentlichen Element eines Systems föderativer Demokratie wird.“
Im Selbstverständnis der Bürgerbewegungen ist vor allem die Kommune der Ort, in dem Demokratie eingeübt und praktiziert wird. Kommunalpolitik wird als eine spezifische Form verstanden, um neue kulturelle Milieus zu schaffen und demokratisches Bewußtsein zu entwickeln. Pavel Strohner, Mitglied des zentralen Arbeitsausschusses des Neuen Forums, schreibt in der Zeitschrift „Bündnis 2000“: „Die neuen gesellschaftlichen Veränderungen (Verschärfung der Umweltkrise, abnehmende Bedeutung der Nationalstaaten, Erstarkung multinationaler Konzerne) erfordern eine Weiterentwicklung der Demokratie. Zum einen sind stärkere Akzente auf die regionale und kommunale Selbstverwaltung zu legen, zum anderen sind demokratische Instrumente zum Interessenausgleich zwischen den Regionen weiterzuentwickeln. Die kommunale und regionale Selbstverwaltung erfordert eine wesentlich engere Verbindung von Bürger und Verwaltung und neue Formen der politischen Mitbestimmung (Bürgerforen, -initiativen und -begehren).“ Die Bürgerbewegungen haben aus diesen Einsichten längst die Konsequenzen gezogen und mischen zum Teil beim Aufbau der neuen demokratischen Strukturen auf kommunaler Ebene kräftig mit. In Rostock zum Beispiel ist das Bündnis 90 nach den Kommunalwahlen im letzten Jahr in eine gemeinsame Koalition mit SPD, CDU und Liberalen eingetreten und hat inhaltlich und personell auf das Regierungsbündnis Einfluß genommen. Christoph Klee-mann, Mitglied des Neuen Forums und jetziger Bürgerschaftspräsident von Rostock, hat diesen Schritt folgendermaßen begründet: . Kommunalpolitik darf nicht zu Parteipolitik degenerieren, weil da, wo Parteien ihr Programm durchsetzen, meist das Einzelschicksal der Bürger zu kurz kommt. Das hatten wir nicht nur bei der ehemals mächtigen Partei, diese Gefahr besteht bei allen Parteien... Ich möchte, daß das Bündnis 90 mit in kommunalpolitische Verantwortung hineinkommt, weil dieses bürgerbewegende Element demokratiekonstituierend wirkt. "
Es ist natürlich legitim, diese zum Teil emphatischen Demokratievorstellungen als ein Politikverständnis zu charakterisieren, „das sich an einem idealen Maßstab der Verhältnisse orientiert“ und deshalb idealistische Züge trägt. „Der revolutionär-idealistische Impetus reibt sich an den Spielregeln der repräsentativen Demokratie.“ Eine weniger idealisierende Sicht-und Denkweise müßte von der „Anerkennung der Unvermeidlichkeit der staatlichen Organisation moderner Gesellschaften, ...der Wichtigkeit und der Bedeutung unabhängiger Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft, der Betonung der prozeduralen und institutionellen Momente von Demokratie“ und der nachdrücklichen „Verteidigung politischer Pluralität“ ausgehen.
Auch einige Vertreter der Bürgerbewegungen selber fordern einen stärkeren Realitätsbezug ihrer Politik. Konrad Weiß, einer der führenden Köpfe von Demokratie Jetzt, sieht sogar die Gefahr, daß die Bürgerbewegungen als Erinnerungsvereine an den Deutschen Herbst 1989 „sich weiter ... zersplittern und zu sehr in peripheren Gefilden“ aufhalten „Wenn die Bürgerbewegungen wirklich das politische Modell für das 21. Jahrhundert sein sollen, dann müssen sie stärker auf die politischen Realitäten eingehen, zugleich aber um Öffnung bemüht sein.“
Doch trotz ihrer ungewissen Zukunft in dem sich neu formierenden politischen Kräftefeld Gesamt-deutschlands und unabhängig von den Erfolgsaussichten ihres emphatischen Demokratieverständnisses, haben die Bürgerbewegungen durch die Verknüpfung von parlamentarisch-repräsentativen mit demokratisch-partizipatorischen Organisations-und Politikformen wichtige Anstöße für die politische Kultur einer Zivilgesellschaft gegeben.