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Protestantische Kultur und DDR-Revolution | APuZ 19/1991 | bpb.de

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APuZ 19/1991 Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß Zur moralisch-politischen Erneuerung im Einigungsprozeß. Anregungen aus katholischer Sicht Protestantische Kultur und DDR-Revolution Bürgerbewegungen, politische Kultur und Zivilgesellschaft Das „Immunsystem“ des „real existierenden Sozialismus“

Protestantische Kultur und DDR-Revolution

Ehrhart Neubert

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die theoretische Aufarbeitung der politischen Phänomene der DDR-Revolution verlangt, den soziokulturellen Hintergrund und die Grundorientierungen der politischen Kultur zu berücksichtigen. Diese waren in der DDR vor allem durch den Protestantismus geprägt. Der Protestantismus ist seinem Wesen nach auf gesellschaftliche Kommunikation angelegt und findet seine Identität in gesellschaftlicher Partizipation, wenn es gelingt, eine theologische und institutioneile Selbständigkeit zu bewahren. Die Ausgrenzungsstrategie des sozialistischen Staates verstärkte den Selbstbehauptungswillen und das Suchen nach einem eigenen gesellschaftlichen Standard. Der DDR-Protestantismus konnte mit seinem Konzept der „kritischen Solidarität“ trotz Anpassungsleistungen seinen Anspruch auf gesellschaftliche Mitwirkung behaupten. Er konnte Öffentlichkeit schaffen und die Folgeprobleme der Industriegesellschaft relevant bearbeiten. Besonders die sozial-ethisch engagierten Gruppen in den Evangelischen Kirchen und die sie inspirierenden Theologen haben eine kritische und innovative Funktion in der DDR-Gesellschaft übernommen. Darum wuchsen in diesem Umfeld die politischen Subjekte, die in der Krise des SED-Staates zu Sprechern und Akteuren der Revolution wurden. Die Vermittlung zwischen den protestantischen Akteuren zur säkularisierten Bevölkerung konnte gelingen, weil der Protestantismus selbst nicht scharf von der säkularisierten Umwelt abzugrenzen ist. Außerdem war es dem DDR-Sozialismus nicht gelungen, eine eigene politische Kultur dauerhaft zu installieren.

I. Einleitung

Der vehemente Umbruch in der DDR legt es nahe, von einer Revolution zu sprechen. Doch ist der Revolutionsbegriff durch deterministische Theorien belastet, die ihm heils-und unheilsgeschichtliche Qualitäten andefinieren und Einzelereignisse zu epochalen Veranstaltungen der Weltgeschichte werden lassen. Möglicherweise handelt es sich bei solcher Epochenbestimmung aber nur um nachträgliche weltanschauliche Urteile oder gar um Illusionen der Beobachter Daher empfiehlt es sich, „Revolution“ als eine relativ willkürliche historiographische Markierung innerhalb eines längeren Prozesses zu betrachten. So läßt sich der Begriff auf den Fluß oder auch den Sturzbach auffälliger Ereignisse beziehen. Das Besondere wäre aber das Flußbett, in dem sich die Phänomene bewegen. Im Falle der DDR-Revolution hieße das, das Gemeinsame der heterogenen Phänomene zu suchen und zwischen Symptomen und Faktoren zu unterscheiden.

Die Wandlungen in der DDR sind unter verschiedenen Aspekten betrachtet worden Sie wurden durch außenpolitische Konstellationen, vor allem den Wandel in Osteuropa, begünstigt; sie waren Folge eines Systemkollapses und einer Implosion der Organisationsgesellschaft sie ergaben sich aus dem Modernisierungsdefizit des Sozialismus und der Erosion seiner Institutionen und Machtapparate sie repräsentieren die Niederlage des Sozialismus in der ideologischen und politischen Systemauseinandersetzung sie versprechen die Verwirklichung zivilgesellschaftlicher Ideen sie motivierten sich durch das Bedürfnis nach Befreiung und Freiheit und lassen sich auf sozialpsychologische Raster spannen

Diesen Erklärungen soll ein weiterer Aspekt hinzugefügt werden. Es ist der Versuch, einen Zugang zu finden, der analytische Einzelergebnisse einbindet und zugleich die Einheit von Inhalt und Form der Handlungen der Revolution wahrt. Die DDR-Revolution soll hier als eine protestantische betrachtet werden, d. h. als ein Wandlungsprozeß, dessen wesentliche Faktoren auf die protestantische politische Kultur zurückgehen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen muß ausdrücklich darauf verwiesen werden, daß die These von einer protestantischen Revolution nicht eine Art direkte oder indirekte Machtergreifung der Evangelischen Kirchen meint, sondern vielmehr voraussetzt, daß der Protestantismus zur säkularen Umwelt ein enges Verhältnis hat und dieses sich nicht in der Kommunikation von Institutionen erschöpft.

Für Außenstehende galt es das Phänomen zu verkraften, daß im Herbst 1989 aus der sozialistischen DDR eine „Pfaffenrepublik“ zu werden schien, wie spöttisch angemerkt wurde. In der Kirche und an deren Rande formierten sich kritische Gruppen, die zu den Trägern der ersten politischen Opposition wurden. Die großen Stadtkirchen waren die Kristallisationspunkte des Widerstandes. Kirchliche Mitarbeiter, Theologen und Kirchenleitende saßen an den Runden Tischen, in Untersuchungskommissionen und Bürgerkomitees, übernahmen Vermittlungsaufgaben und agierten als moralische Schiedsrichter. Die Ironie und Abwehr, mit der auf diese Befunde reagiert wurde, zeigt die Schwierigkeiten ihrer Deutung und Bewertung. Die Protestanten hatten offenbar gegen eine Rollenzuweisung verstoßen, die im gesellschaftlichen Selbstverständnis des Westens festgeschrieben ist. Westdeutsche Politiker und Kirchen-leute sahen in dem Phänomen den „Ausdruck eines Schadens“ oder in der Politisierung der Kirchen etwas Verheerendes Dem entspricht eine Haltung, die im Religiösen eine Restfunktion individuellen Weltverständnisses ohne gesellschaftlich gestaltende und sozialisierende Potenz sieht. Das ist gewiß auch von den Kirchen selbst gefördert worden, weil sie christliche Religiosität als traditionales Sonderverhalten definiert haben und die Theologie mit exklusiven Ansprüchen ausstatteten. Unter dem Eindruck des politisierten Protestantismus im Osten wird hier eine Korrektur angemahnt, weil nun sichtbar ist, „wie stark die Kirche einen Teil der politischen Kultur bildet“ Um diesen protestantischen Anteil zu erfassen, genügt es nicht, die revolutionären Akteure vorzuzeigen. Es muß der Zusammenhang zwischen Protestantismus und sozialem Prozeß dargestellt werden, der in den politischen Ereignissen an die historische Oberfläche getreten ist.

II. Protestantismus in der DDR-Gesellschaft

Den ostdeutschen Kommunisten ist es nicht gelungen, aus den kirchlichen Institutionen und Gruppen einen gesellschaftlichen Sonderbezirk zu schaffen, der nur Funktionen der eigenen Reproduktion aufrechterhielt und damit den Status einer „asozialen“ Sekte bekommen hätte. Die Religionspolitik begründete sich mit dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche und zielte dabei strikt auf eine gesellschaftliche Ausgrenzung der Kirchen. Gleichzeitig sollte allerdings die Kirche politisch in Anspruch genommen werden, da eine auf den „Kult“ beschränkte Kirche sozial neutralisiert und politisch handhabbar erschien. Beides ist nicht gelungen.

Um sich behaupten zu können, mußten die Kirchen zunächst für die Sicherung ihrer Substanz sorgen. Trotz erheblichen Mitgliederschwundes konnte das volkskirchliche Organisationsschema in etwas reduzierter Form aufrechterhalten werden Es bedeutete eine beachtenswerte Kulturleistung, daß der überwiegende Teil des kirchlichen Kunstgutes, die traditionsreiche kirchliche Architektur, das evangelische Schrifttum und die Kirchenmusik, gepflegt und fortgeführt wurden. Theologische Forschung und Ausbildung, Erwachsenenbildung, Akademie-und Jugendarbeit und die verschiedenen Arbeitsfelder der Diakonie blieben ebenso erhalten wie das evangelische Pfarramt und Pfarrhaus als spezifisches Milieu kultureller Vermittlung.

Die kulturellen und sozialen Aktivitäten waren im kirchlichen Selbstverständnis auf Mission und gesellschaftliche Teilhabe ausgelegt. Wurden sie, wie etwa im Bildungswesen, unterbunden, galt das als schroffe Unterdrückung religiöser Freiheiten. Das Streben nach Teilhabe, Mitsprache und Mitgestaltung gewann seit der erzwungenen Trennung von der EKD und der Gründung des „Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR“ im Jahr 1969 deutliche Konturen, da nun die Fixierung auf die Ost-West-Problematik abgebaut werden konnte und sich die Kirchen stärker auf die Probleme des Landes konzentrierten. Für die sozialethisch engagierten informellen Gruppen der Kirchen, die sich seit 1980 bildeten, war die soziale Partizipation konstitutiv. Diese Gruppen repräsentierten die „Neue Soziale Bewegung“ als Reflex auf die Industriegesellschaft in der DDR-Variante Sie waren fast vollständig unter dem Dach der Kirchen untergebracht. Dort konnten sie vorhandene Freiräume nutzen und haben diese kräftig ausgeweitet. Mit dieser Bewegung kamen zahlreiche Menschen in die Kirche und ihre Arbeitsformen hinein. Zugleich wurde sie aber von Menschen mit kirchlicher Sozialisation getragen, Theologen und Laien. Ein Teil der gemeindlichen Jugend-und Sozial-arbeit wurde von der Bewegung erfaßt, was schon deswegen problemlos ging, weil Freiwilligkeit, mutiges Engagement und Selbstorganisation auch dort Strukturprinzipien waren. Mit diesen Gruppen wurde der innergesellschaftliche zum innerkirchlichen Konflikt Zusätzlich hatten die Gruppen die Zersetzungsstrategie der Staatssicherheit auszuhalten, die mit Hilfe informeller Mitarbeiter Gruppen und Kirche polarisieren woll-te Trotz dieser Beschwernisse behaupteten sie, nicht zuletzt wegen der zahlreichen engagierten Theologen, ihren Platz in den Kirchen und wurden dort als eine kirchliche „Sozialgestalt“ legitimiert Obwohl es innerhalb des DDR-Protestantismus sehr verschiedene Interessenlagen gab, wurde insgesamt versucht, seinen gesellschaftlichen Anspruch zu realisieren. In existentieller Bedrohung wirkte sich aus, daß er ursprünglich selbst ein Ergebnis eines öffentlichen, sozialen und politischen Diskurses war. Die reformatorische Streitbarkeit der frühen Neuzeit setzte Theologie und Kirche öffentlicher Kritik aus und forderte die politischen Handlungsträger heraus, sich öffentlich zu verantworten und ihre Entscheidungen ethisch zu begründen. Die Reformatoren agierten selbst politisch und stießen Neuerungen im Sozialwesen an. Andererseits haben Fürsten, Stände und Kommunen in theologischen Bekenntnisfragen entschieden, Kirchen-und Gottesdienstordnungen reformiert und soziale Änderungen eingeführt, ohne sich auf kirchliche Ämter oder besondere Lehrbefugnisse berufen zu können. Religion wurde in neuer Form vergesellschaftet und gewann Öffentlichkeit durch die technische Errungenschaft der „Presse“, die als Instanz sozialer Kontrolle und als Forum der Interessen zum Medium der Reformation wurde. Die Eigenständigkeit der kirchlichen Institutionen wurde aber in der engen Verflechtung des Sozialen und des Religiösen nicht aufgegeben. Diese Polarität ermöglichte ja erst Öffentlichkeit. Sie bedeutete für das Individuum neben der Einordnung in das Sozialgefüge die gleichberechtigte Teilhabe am „Priestertum aller Gläubigen“. Für die theologische Definition einer kirchlichen Identität entstanden damit Schwierigkeiten. Luthers neuplatonische Lehre von der wahren unsichtbaren Kirche oder die Zwei-Reiche-Lehre sind theoretische Versuche, die die Balance zwischen kirchlicher Eigenständigkeit und Vergesellschaftung der Kirche definieren sollten. In der Praxis ist dies dem Protestantismus wohl nur selten gelungen. War es doch immer leichter, die Kirchen an staatliche Institutionen anzulehnen und sie für staatliche Interessen gebrauchen zu lassen. Und es gab die Versuchung, die Kirche als Gegengesellschaft zu verstehen und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. In der DDR konnte dieses Problem gelöst werden. Das mag freilich dem Umstand zu verdanken sein, daß der Staat sich selbst aus dem christlichen Grundkonsens zurückzog. Nun mußte bei strikter Wahrung kirchlicher Eigenständigkeit der Anspruch auf Öffentlichkeit verteidigt werden. Die dafür geprägten Formeln „Kirche für andere“, „kritische Solidarität“ und auch „Kirche im Sozialismus“ drückten dies aus. Die Formel „Kirche im Sozialismus“ ließ sich zwar für unkritische Anpassung mißbrauchen, bewahrte aber in der Konfrontation mit einem übermächtigen System die kirchliche Eigenständigkeit. Da die Konzepte das kirchliche Eigeninteresse mit dem Dienst an der Gesellschaft verknüpften, blieb die Distanz zum Staat gewahrt. Die SED-Regierung betrachtete die gesamte Gesellschaft als ihre ureigenste Domäne, setzte Sozialismus, Gesellschaft und Staat in eins und forderte durch die Verdrängungsstrategie das Ringen der Kirchen um einen gesellschaftlichen Ort nur noch heraus.

Seit 1945 und seit der Staatsgründung 1949 wurden die Rechte der Kirchen zunehmend beschnitten Mit der Verfassung von 1968 ging den Kirchen schließlich der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechtes verloren. Damit hatten sich die Machthaber den Vorrang der Politik vor dem Recht gesichert. In den folgenden Dauerverhandlungen konnten die Kirchen aber ihre Interessen öffentlich anmelden und als Vertreter der Anliegen der Bevölkerung auftreten. Unversehens wurden sie so zu einem inoffiziellen politischen Instrument und damit in der zentralistisch-monistischen Gesellschaftsorganisation Element eines faktischen Pluralismus, der die behauptete Interessen-einheit ad absurdum führte. Die veröffentlichte Meinung des sozialistischen Staates konnte nicht mehr mit Öffentlichkeit identifiziert werden.

Je mehr die Staatspartei ihre Basis im Volk verlor und sich die Legitimitätsressourcen verbrauchten, wurden die Kirchen zur einzigen Öffentlichkeit von sozialer Relevanz. Zwar wirkten in der DDR auch westliche Medien, doch sie hatten eigentlich nur eine Verstärkerfunktion. Die Öffentlichkeit der Künste war in ihrer chiffrierten Form ohnehin nur einem kleinen Kreis Intellektueller zugänglich, deren kritische Vertreter wiederum zu einem großen Teil in den Kirchen angesiedelt waren. Akute politische und soziale Probleme wurden nur dort öffentlichkeitswirksam bearbeitet und in Sozialisationsprozesse eingespeist. Die innerkirchliche Demokratie und Interessenpluralität verhinderte, daß innovative und stabilisierende Impulse neutralisiert wurden. Die Diskussion in den Kirchen spiegelte und enthielt alle Konflikte der DDR-Gesellschaft. für nicht kirchlich orientierte Menschen repräsentierten die protestantischen Kirchen einen über den privaten Bereich hinausgehenden Anspruch und wurden damit auch Hoffnungsträger der Demokratisierung.

Die katholische Kirche wuchs nicht in eine vergleichbare Rolle hinein In den gemeinsam erfahrenen Repressionen hatte sich ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Christen ausgebildet. Trotz dieses ökumenischen Geistes unterschieden sich die sozialen Rollen der beiden Konfessionen. Die katholische Kirche hielt sich im Dialog und im kritischen Diskurs zurück und blieb auf eigentümliche Weise im Land fremd. In ihrem Bereich bildeten sich kaum politisch engagierte Gruppen. Deshalb haben sich einzelne Katholiken den Protestanten angeschlossen. Den katholischen Gläubigen wurde in politisch defizitärer Lage keine kirchlich getragene Ersatzidentität angeboten, darum haben nur vereinzelte Amtsträger an der DDR-Revolution überhaupt teilgenommen.

Der elementare Unterschied der Konfessionen weist auf eine spezifische Kommunikation des Protestantismus in und mit der säkularen Gesellschaft hin, die von individuellen religiösen Entscheidungen unabhängig ist. „Die Konfessionen sind mehr als Privatangelegenheit Einzelner. Sie sind überindividuelle Mächte mit eigener Morphologie.“ Dazu gehört eine politische Kultur, die einerseits Werte, Deutungsmuster und Verhaltensweisen in den Evangelischen Kirchen reproduziert und sie zugleich vergesellschaftet. Der Protestantismus stand vor der Herausforderung, sich in den öffentlichen Diskurs einzubringen, diesen in sich zu führen und die Grenzen zur säkularisierten Umwelt fließend zu halten. Für die Prägung der politischen Kultur durch den Protestantismus ist es von nachrangiger Bedeutung, ob eine größere Anzahl von Menschen sich selbst als evangelische Christen fühlt, Rollen kirchlichen Verhaltens übernimmt oder Bekenntnisaussagen der Kirchen verinnerlicht hat. Die protestantisch-christlichen Orientierungen und Verhaltensweisen werden auch säkular verflacht vermittelt. Indem sie in säkularer Gestalt auftreten und der religiösen und ethischen Kontrolle der kirchlichen Institution entzogen sind, werden solche zivilen Orientierungen vergröbert, aber nicht abgeschwächt. Die Privatisierung und Individualisierung der DDR-Gesellschaft als Reaktion auf den bürokratischen Verwaltungsstaat und die industriegesellschaftliche Organisation haben das gefördert.

Die DDR war zu einer „Nischengesellschaft“ geworden, die als „Gesellschaft von unten“ funktionierte, in der es unterhalb der Schwelle der offiziellen Gesellschaftsorganisation eine inoffizielle gab, die Bereiche der Wirtschaft, (Sub-) Kultur, Wissensvermittlung und Informationsverarbeitung umfaßte. Diese zweite Kultur war nun nicht eine amorphe Sammlung von heruntergekommenen Haltungen und pathogenisierten Einstellungen, sondern in allen Niveauunterschieden ein Reservoir ethischer Orientierungen, mindestens ein Bereich mit elementarem Orientierungsbedürfnis, in dem der Restbestand an protestantisch-christlicher Tradition kräftig wirkte. Das konnte freilich, von außen betrachtet, auch als preußisch, kleinbürgerlich, provinziell und philisterhaft eingestuft werden.

Die Kirchen verfügen darüber hinaus über spezifische Mittel der religiösen Chiffrierung, die von der säkularen Umwelt mehr oder weniger dechiffriert werden können. Dies hat sich im Herbst 1989 gezeigt, als sich über die Kultur des religiösen Widerstandes und seiner Symbole (wie Friedens-gebete, Parolen der Gewaltlosigkeit, Kerzendemonstrationen) die Verbindung zu den säkularisierten Menschen herstellen ließ Religiöse Sitten, Feiertage, künstlerische Motive und Redewendungen wurden in der säkularisierten Bevölkerung überliefert, wenn auch der biblisch-mythologische Hintergrund oft nicht mehr verstanden wurde. Daraus ergaben sich jedoch keine unüberwindbaren Kommunikationshemmnisse, sondern es wurde vielmehr ein Informationsbedarf erzeugt. So kam es gerade in den urbanen und stark säkularisierten Zentren zu einer Vermittlung zwischen der Bevölkerung und den protestantischen Aktivisten und Institutionen. An den näher zu bestimmenden Inhalten der politischen Kultur zeigt sich, daß der Protestantismus selbsterzeugte Bedürfnisse bediente, die säkularisiert zu dringlichen politischen und sozialen Forderungen wurden und die letztlich den Verlauf und das Ergebnis der DDR-Revolution bestimmt haben.

III. Faktoren des Umbruchs

Am Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Orientierungs-und Sozialisationsbedarf und den sozialgeschichtlichen und theologischen Eigenarten des Protestantismus läßt sich die protestantische Dominanz der politischen Kultur der DDR inhaltlich aufzeigen. In diesem Zusammenspiel realisierte sich protestantische Weltaneignung in der Menschenrechtsfrage, der spezifischen Rationalität und Ethik. Gerade in diesen Bereichen konnte die marxistische Gesellschaftspolitik keine eigene politische Kultur schaffen oder so konsolidieren, daß die der Protestanten aufgehoben wurde. Die Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft mit eigener Kultur und entsprechendem Individualverhalten scheiterte. Die Formel „Sozialismus“ deckte am Ende nur noch ein gewaltsam zusammengehaltenes Organisationsgefüge. Selbst die Traditionen der Arbeiterbewegung, der proletarischen Kultur und des kommunistischen Widerstandes gegen den Faschismus, die in sich Ansätze politischer Kultur trugen, verkamen. Sie lebten nur noch in einer kleinen Gruppe Intellektueller weiter, hatten keinen sozialen Hintergrund mehr, fanden kaum Eingang in die Neuen Sozialen Bewegungen und waren schließlich nur noch eine private Option.

Die Idee von der Autonomie des Individuums gegenüber Staat und Kirche wurde von der Reformation auf eine breite religiöse Grundlage gestellt. Der Glaube an die Zuwendung Gottes zum Menschen und dessen Antwort im individuellen Glauben wurden zum Bekenntnis erhoben. Das Gewissen begründet damit Gemeinschafts-und Gesellschaftsfähigkeit. Das durch Gott und nicht durch die Kirche gerechtfertigte Individuum war nicht mehr Objekt des ihm vermittelten Heils, sondern anteilnehmendes Subjekt, das mit unanfechtbarer Heilsgewißheit ausgestattet ist. Dies begründet seinen Rechtsanspruch in der Gemeinschaft. So konnte sich im Protestantismus die Lehre von den unveräußerlichen Menschenrechten entfalten wenn diese auch relativ spät ausformuliert wurde.

Die DDR-Protestanten standen in dieser Tradition und konnten sie mit der modernen Menschenrechtsdiskussion verbinden Wenn auch das Eigeninteresse des Staates anerkannt und theologisch legitimiert wurde, blieben die individuellen Menschenrechte Thema informeller Gruppen und kirchlicher Arbeitskreise. Die Kirchen mußten sich zudem mit Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen und wurden zum Anwalt der Opfer. Diese Aufgabe verlangte eine theologische Fundierung, die der kollektivistischen und etatistischen Rechtspraxis entgegenstand. Wegen der Disfunktionalität des staatlichen Rechtssystems hatte die SED ein Petitionswesen installiert, das die Bürger von Gnadenakten abhängig machte und entmündigte. Die Protestanten setzten dagegen die Autonomie des Gewissens und die unantastbare Würde der Person. Hier hat sich in einem Lernprozeß eingeschärft, daß staatliche Interessen kein Selbstwert sind und Recht am Gewissen der Staatsbürger zu messen ist. Dies entsprach dem Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, die mit Hilfsgesuchen Pfarrer und kirchliche Behörden geradezu überschüttete und Erwartungen äußerte, die in keinem Verhältnis zum tatsächlichen politischen Einfluß der Kirchen standen.

Der Protestantismus hat in der Überführung der traditionellen Askese zur „innerweltlichen Askese“ eine Zweckrationalität hervorgebracht, die Voraussetzung der Wirtschaftsgesinnung des „Kapitalismus“ war. Sie erscheint idealtypisch vor allem im Calvinismus und Puritanismus, hat aber in der lutherischen Berufsidee kompatible Motiv-strukturen. Arbeit soll auch hier Gewinn abwerfen, Akkumulation ermöglichen und ihre Mittel sollen rationell und nicht verschwenderisch sein. Im lebensfreudigen Luthertum wurde Arbeit mit Lebenssinn identifiziert und galt als „rechter Gottesdienst“. Die religiösen Ursprünge dieser Arbeitsethik waren in der DDR gewiß vergessen, wirkten aber als Handlungsmuster weiter, die die Umerziehung des Menschen gemäß einem sozialistischen Arbeitsverständnis und Eigentumsverhältnis scheitern ließ.

Die Evangelischen Kirchen beheimateten auch in der DDR bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten und Milieus, die der protestantischen Arbeitsethik verpflichtet waren. Infolge des sozialen Strukturwandels wanderte die technische Intelligenz, die wiederum eine von Berufsidee und Zweckrationalität geprägte Population darstellte, als dominierender Biographietyp in die Kirchen ein. Das Defizit an ökonomischer Zweckrationalität im Sozialismus frustrierte diese Menschen, sie reagierten mit Verweigerung, Passivität und waren demotiviert. Viele Menschen litten darunter, daß ihr ernsthaftes Bemühen um sinnvolle Arbeit vom System um den Effekt gebracht wurde. Vielen wurde diese Frustration zum Motiv der Flucht.

Die protestantische Rationalität formte darüber hinaus ein säkulares Weltverständnis. Die reformatorische Zeit-und Religionskritik legitimierte sich im Rückgriff auf die Heilige Schrift, deren Intentionen mit vernünftiger, rationaler Interpretation zurückgewonnen werden sollten. Damit wurde die Kirchengeschichte Gegenstand vernünftiger Kritik, und Heilsgeschichte und Historie wurden voneinander getrennt. Die aufklärerische Potenz des Protestantismus kam auch gegen den vulgären DDR-Marxismus zur Geltung, der die Menschheitsgeschichte als eine von der Ökonomie geleitete „Heilsgeschichte“ betrachtete und einer Metaphysik verhaftet blieb, die von den eigenen erkenntnistheoretischen Grundlagen wegführte. Paradoxerweise mystifizierte die säkulare marxistische Philosophie die Realität, während der Protestantismus erneut zur Entmythologisierungsinstanz wurde. So haben die Protestanten mit ihrer sozial-ethischen Arbeit die Verhältnisse und Probleme der Industriegesellschaft wahrgenommen eine systemgerechte Funktionalisierung ethischer Aussagen überwunden und konnten sich unter den Intellektuellen ein besonderes Ansehen verschaffen. Die staatlichen Institutionen liefen in den letzten Jahren den kirchlichen Aktivitäten hinterher und befremdeten viele Bürger durch ihre antiquierten moralischen, familien-und jugendpolitischen und medizin-ethischen Aussagen. Sie bezogen sich auf ein klassenkämpferisches Wertesystem, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatte.

Mit ihrer Rationalität setzten sich die Protestanten stets einem nicht steuerbaren Selbstaufklärungseffekt aus. Um diesen zu umgehen oder abzumildern, verabsolutierten sie gern ihre eigene Geschichte und reformatorische Lehrsätze, als seien etwa die Biographie der Reformatoren oder deren zeitbedingte Entscheidungen offenbarungsträchtig. Daraus folgte ein orthodoxer Konservatismus, der unfähig war auf politische, soziale und wissenschaftliche Veränderungen integrativ zu reagieren. Im anderen Extrem wurde wiederum die Rationalität selbst verabsolutiert. An die Stelle Gottes traten die Wahrheit, das Gute, die Weltgeschichte, das Volk oder andere abstrakte Hypostasen des Gottesbegriffes. Mangels deren Reproduzierbarkeit in einem religiösen Bezugssystem konnte sich ein ethischer Indifferentismus oder ein hemmungsloser Pragmatismus durchsetzen. Schon Luther sah hier eine Gefahr und polemisierte deswegen gegen die verselbständigte Rationalität, die „Hure Vernunft“. Die Vernunft war für ihn Mittel der Welt-aneignung, aber sie sollte nicht Selbstzweck sein, weil dann die Fundamente individueller und sozialer Verantwortung aus den Angeln gehoben würden. Darum bemüht sich die protestantische Theologie immer wieder darum, die Bindung des Individuums an Gott festzuschreiben trotz seiner Freiheit, die soziale Ordnung selbst zu wählen.

In der DDR-Kirchengeschichte ist dies wiederum deutlich geworden. Der Protestantismus hat mit theologischen Mitteln seinen eigenen partikularen Bezugsrahmen gesprengt und nationale, ökonomische und kirchliche Eigeninteressen aufklärerisch hinter sich gelassen. Die politische Vernunft der Überlebensforderung konnte mit der ethischen Vernunft der Bergpredigt in Übereinstimmung gebracht werden Die globale Überlebensfrage wurde zum sozialethischen Bewährungsfeld Das bedeutete keine Verschiebung der eigenen Probleme auf eine höhere Ebene. Durch den theologischen Bezug auf die Friedensfrage, die Probleme der Ökologie und der internationalen Gerechtigkeit konnten die sozialethischen Kriterien für die eigene Situation gewonnen werden. Diese erschloß sich nun als regionale Variante eines globalen Zusammenhanges, und die Unmenschlichkeit des DDR-Systems konnte als Teil weltweiter Unzulänglichkeiten identifiziert werden. Die eigene schuldhafte Verstrickung durch Nutznießung der Weltordnung wurde erfahrbar, da diese auch ein Produkt christlicher und protestantischer Weltveränderung war. In sehr unterschiedlicher Weise ist das im DDR-Protestantismus formuliert worden.

In den sozialethisch engagierten Gruppen, deren Theoriehaushalt und Lebensweise, äußerte sich ein religiöses Weltverständnis, das mit dem Überlebensparadigma das Plausibilitätsproblem lösen konnte. Die Formeln Frieden, Gerechtigkeit und Erhaltung der Natur (Schöpfung) wuchsen in den Gruppen zu Symbolen heran. Auf diesem Wege wurden Grundnormen der interpersonellen und innergesellschaftlichen Kommunikation gewonnen. Die Formeln wurden zu Sozialisationsvehikeln, die nicht hinterfragbare Werte konstituierten, Handlungen und religiöses Ersatzhandeln ermöglichten. So konnten traditionelle Intentionen christlich-protestantischer Inhalte und Formeln auf individuelle oder kleingruppenspezifische Bedürfnisse zugeschnitten werden. Die postmaterialistischen Bewußtseinslagen der modernen indu-striegesellschaftlichen Neuen Sozialen Bewegungen traten so als eine christliche Religiosität auf, die in eine neue Sozialgestalt transformiert war. Das führte zu einem theologischen Dissens. Manche Theologen sahen die theologische und institutioneile Vermittlung gefährdet. Zudem sahen sie sich vom Staat gedrängt, die neuen religiösen Gruppen unter kirchliche Kuratel zu stellen, diese im Sinne des Systems „politikfähig“ zu machen und eine traditionelle politisch neutralisierte theologische Identität von den Gruppen zu verlangen Solche Polarisierungs-und Differenzierungsversuche gingen aber ins Leere, weil das Phänomen der Gruppen und der sie inspirierenden Theologen in sich einheitlich war und trotz aller inneren Verwerfungen und äußeren Störungen die gesellschaftlichen Probleme homogen bearbeitete. Die aus der sozialen Situation herausgewachsene Bewegung war weder mit administrativen noch ideologischen Mitteln zu kanalisieren.

IV. Doppelte politische Realisierung

Die aktualisierte Ethik der Protestanten wurde zum Politikum ersten Ranges. Die Theologen und Gruppen, die in der Krise des SED-Staates zu politischen Akteuren wurden, hatten religiös fundierte und die soziale Realität erreichende Motive. Der SED-Staat dachte und handelte in den Kategorien eines fiktiven Klassenkampfes und konnte die eigene Krise und Legitimitätsdefizite -im Unterschied zum Reformansatz Gorbatschows -nicht mehr erfassen, da ihm die globale Dimension verschlossen war. Nur im protestantischen Bereich war die Partikularität überwunden und in der Legitimitätskrise konnte der Appell an das Gewissen Organisationstechnik und Herrschaftswissen kraftvoll überholen. Für die Protestanten bestand auch nicht das tagespolitisch interessante Problem, den Sozialismus zugunsten des Kapitalismus abzuschaffen. Beide Ordnungen waren für sie Organisationsformen des Industrialismus, der das Leben gefährdete.

Wer von ihnen noch „Sozialismus“ sagte, meinte kaum den real existierenden Staatsindustrialismus, sondern den Wert Gerechtigkeit, der in der DDR verschüttet und im Westen als politisches Motiv meist allein national oder eurozentrisch bezogen schien. Die Protestanten knüpften damit an die religiöse Zivilisations-und Kulturkritik an, die der industriegesellschaftlichen Modernisierung mißtrauisch gegenüber steht, weil diese durch Enttraditionalisierung und Entsolidarisierung einer Versöhnung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen im Wege zu stehen scheint Es kam aber weder zu einer romantischen Weltflucht noch zu einer nationalistisch-faschistischen Überdehnung der Kulturkritik, weil im geschlossenen und abgegrenzten DDR-System erfahren wurde, daß eine mit sich selbst beschäftigte Provinzialität unfrei macht und die sozialen Motive retardiert.

So wurde die Zivilisationskritik zum Antrieb der Liberalisierung Hier lag ein breiter Konsens zwischen der Bevölkerung und allen protestantischen Aktivisten vor. Gemeinsam war das Verlangen nach Liberalisierung und Überwindung der sozialen und ökologischen Krise. Als es aber um eine Konkretisierung und programmatische Ausfüllung von Liberalisierung und Demokratisierung ging, offenbarte sich das protestantische Lager als gespalten. Die einen setzten auf die westlichen Traditionen des politischen und ökonomischen Liberalismus und wurden zu Protagonisten einer „kapitalistischen“ Marktordnung, die sich mit politischen Maßnahmen sozial und ökologisch verträglich gestalten sollte. Diese Traditionalisten und Institutionalisten unter den Protestanten entsprachen auch im breiten Maße den Erwartungen der Bevölkerung, in der mehrheitlich die protestantische Ethik in der globalen Totalisierung nicht nachvollzogen wurde. Hier bewirkte die politische Kultur der Protestanten, daß die Chance zur rationalen, politischen und ökonomischen Neuordnung mit dem Nachvollzug des westdeutschen Modells wahrgenommen wurde. Das Wahlverhalten der DDR-Bürger und die Angleichung des ostdeutschen an das westdeutsche Parteiensystem ist nicht auf die finanzielle und strukturelle Überlegenheit sowie den politischen Eingriff Westdeutschlands zurückzuführen. Bei der „Wende in der Wende“ handelt es sich um eine Bewegung aus der DDR für die Übernahme des westlichen Systems, in der sich Rechtsempfinden, ökonomische Rationalität und Unwillen an der Ideologisierung der Gesellschaft ausdrücken.'Auf den Straßendemonstrationen hat sich das freilich vergröbert gezeigt, als die Menschen die endgültige Abrechnung mit dem Sozialismus forderten und nach der D-Mark riefen. Dem ist nicht gerecht zu werden, wenn das moralisch als oberflächlicher Konsumnachholewunsch disqualifiziert wird, stammten doch die Motive aus der verwurzelten politischen Kultur. Diese Feststellung widerspricht nicht häufig geäußerten Empfindungen von DDR-Bürgern, die sich im eigenen Lande durch Westdeutsche bevormundet sahen oder einer Art Kolonisierung unterworfen fühlten. Nachdem aus der DDR heraus der Weg in die westliche Richtung eingeschlagen wurde, haben dann wohl tatsächlich die herbeigerufenen westlichen Helfer Erfahrungen, Phantasie und Wünsche der Ostdeutschen überholt.

Der andere Teil der Protestanten suchte durch Liberalisierung einen Weg zu finden, der seiner globalisierten Sozialethik gerecht werden konnte. Er hatte in der Bevölkerung weniger Rückhalt, was schon an den schlechten Wahlergebnissen der Bürgerbewegungen sichtbar wurde, die im wesentlichen von diesen kritischen Protestanten getragen waren. Sie konnten sich auch nicht durchsetzen mit dem Wunsch nach Ergänzung und Verbreitung demokratischer Vermittlung, die über die traditionellen westlichen Formen hinausgingen. Darum haben sie sich sowohl an der Verfassungsdiskussion beteiligt, wie sie auch als Kritiker der westdeutschen politischen Ordnung auftraten. Nicht der Wert der Demokratie, sondern der Selbstwert der demokratischen Institutionen war Gegenstand ihrer kritischen Einlassungen. Die Erfahrungen mit informeller Politik, mit direkter und an unmittelbaren Interessen orientierter politischer Vermittlung schlugen sich hier nieder.

Die der politischen Kultur des Protestantismus innewohnenden doppelten und sogar widerspruchsvollen Möglichkeiten der politischen Realisierung polarisieren nun aber nicht nur innerprotestantische Gruppen oder Parteiungen, sondern sind wohl auch ein grundsätzliches Problem protestantischer Aktivisten, in deren Herz dieser Widerspruch eingeschrieben ist. Uwe Thaysen zeigt das an Hand der Rolle der Protestanten am Runden Tisch

V. Ausblick

Die politische Bewegung in der DDR, der passive und aktive Widerstand, die Umsturzmotive und die Haltungen in der Übergangssituation bis zur Einheit Deutschlands waren durch die politische Kultur des Protestantismus in all seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit „informiert“. Das fordert heraus, nach der Zukunft zu fragen, die der Protestantismus in der offenen, zivilen und pluralen Gesellschaft haben kann. Wie kann er mit den Zuständen umgehen, die er wesentlich mit verursacht hat? Zweifellos war die DDR, wenn man von den Kirchenmitgliedszahlen -weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung -ausgeht, ein ausgeprägt säkularisiertes Land. Aber gerade weil es einen engen Zusammenhang von Säkularisation und Protestantismus gab, kann das zugespitzt auch bedeuten, daß es sich um das protestantischste Land handelte.

Das Wegfallen der antireligiösen Administration eröffnet für die Evangelischen Kirchen die Chance, ihre Mitgliederzahlen aufzubessern und ihre eigene Organisationsstruktur zu stabilisieren. Vor allem wären die Kirchen aber gut beraten, wenn sie die Erfahrungen der DDR-Zeit nicht verspielten, ihre Unabhängigkeit von Staat, Parteien und Wirtschaft verteidigten, ihr sozialethisches Engagement fortführten, das Nebeneinander von kritischen und stabilisierenden Tendenzen in den eigenen Strukturen aushielten, sich von innerer und gesellschaftlicher Pluralität nicht verprellen ließen und schließlich die säkulare Umwelt nicht als theologisiertes Feindbild betrachteten.

Der Protestantismus braucht sich weder verschämt noch trotzig als Restbestand eines ehemals blühenden Religionswesens zu verstehen. Gerade in seinen fließenden Grenzen zur säkularen Umwelt kann er seinen kommunikativen und sinnstiftenden religiösen Funktionen gerecht werden. Innerhalb des diffusen und „unbestimmten“ Feldes protestantischer Religiosität werden die eigentlich interessanten Kristallisationskerne des Protestantismus mit hoher sozialethischer Kompetenz und politischer Wirkung herausgebildet. Die Erfahrungen der Ostdeutschen können hierin auf den ganzen deutschen Protestantismus ausstrahlen.

Das vierzigjährige Sozialismusexperiment ist für den Protestantismus auch mit Lemerfahrungen des Bewältigens der industriegesellschaftlichen Entwicklung verbunden. Der Sozialismus hat den Protestantismus und seine politische Kultur nicht verdrängen können, was am Exempel der Herbstereignisse 1989 und des Umbauprozesses 1990 anschaulich wird. Schon in den letzten Jahren des DDR-Staates zeichnete sich die Dominanz der protestantischen Kultur ab. Es wird oft unterschätzt, daß die DDR-Marxisten in den achtziger Jahren „sozialismuseigene Lösungen“ immer schwerer definieren konnten und unter dem Eindruck objektiver politischer und ökonomischer Erfordernisse einem Wandel zusteuerten, der sich „sozialistisch“ kaum noch legitimieren ließ. Diese Nachbesserungen waren in kultureller und ökonomischer Hinsicht ein Nachgeben gegenüber den „protestantischen“ Elementen der politischen Kultur. So wurde die Ökonomie entgrenzt, um Effektivität und Innovationswilligkeit zu fördern, die privaten Strukturen wurden neu belebt, soziale Differenzierung sollte leistungsfördernd wirken. Die Marxisten bemühten sich, das christliche Arbeitsethos über ihre Blockpartei CDU zu mobilisieren. Im Rechtswesen sollte eine Art Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt werden. Doch alle Dynamisierungsbestrebungen kamen zu spät und waren halbherzig.

In der Krise des Systems fand daher die politische Kultur des Protestantismus Subjekte und Akteure, die gleichsam bereitstanden, um die Neuordnung vorzubereiten und umzusetzen. Diese politische Bereitschaftshaltung wird auch unter den neuen Bedingungen zum Zuge kommen. Sie wirkte sich aus, als die ostdeutschen Protestanten sich weigerten, die Einheit Deutschlands, zu der sie viel beigetragen hatten, triumphal zu feiern Sie haben dem Konzept der kritischen Solidarität gegenüber Staat und Gesellschaft trotz aller Anpassungsleistungen nicht abgeschworen und zeigen in differenzierter Form auch im Hinblick auf die neuen politischen Herausforderungen, daß ein solches Konzept aktualisiert werden kann.

Wenn die ostdeutschen Länder die gegenwärtige krisenhafte Umgestaltung bewältigt haben, wird sich der Zuwachs des protestantischen Elementes aus dem Osten auch auf den deutschen Beitrag zum europäischen Einigungsprozeß auswirken. Die Integration Osteuropas ist ohnehin nicht allein mit politisch-administrativen Mitteln zu bewerkstelligen und bedarf einer kulturellen Kommunikation. Dafür bietet sich der Protestantismus an, da er an einer Brückenfunktion zwischen Ost-und Westeuropa mitwirken kann.

Der Protestantismus hat sich ökumenisch geöffnet, von nationalen und nationalistischen Ersatzidentitäten nachhaltig befreit und wird einem An

Spruch an künftige deutsche Politik gerecht: „Freiwilliger Verzicht auf die in der Weltgeschichte bisher sonst normale Verwandlung ökonomischer Vormacht in politische Hegemonie“ Er fördert eine rationale Wirtschaftsgesinnung und legt zugleich die kritische Elle seiner Ethik an. Er fördert den Liberalismus, die Idee der Menschenrechte und klärt auf, ob die politischen Instrumentarien Feindbilder integrieren.

Aus dieser doppelten Orientierung wächst Osteuropa, seinen religiösen und sozialen Mentalitäten, ein solidarisches Verständnis zu. Ein überzogenes Sendungsbewußtsein von der politischen und ökonomischen Überlegenheit des Westens kann abgebremst werden, ohne politische und ökonomische Entwicklungsfaktoren zu behindern. Die Hoffnung russischer Demokraten, daß Öffnung und Demokratisierung in anstehenden Veränderungsprozessen Identitäten nicht aufheben sondern bewahren liegt den ostdeutschen Protestanten nahe. Auch die neuerliche Rückbesinnung russischer Vordenker auf eine in Ganzheiten transzendierte Moral und die Forderung nach Entfetischisierung von Fortschrittssymbolen 42) hat eine Entsprechung in den zivilisationskritischen Ansätzen des Protestantismus.

Voraussetzung einer solchen Brückenfunktion ist, daß der Protestantismus nicht in das Fahrwasser einer innereuropäischen Rekonfessionalisierungsund Christianisierungspolitik gerät. Dann würde die in der ehemaligen DDR gewachsene Verbindung zwischen der protestantischen Tradition, deren Institutionen und der säkularen Gesellschaft auseinanderfallen. Die protestantischen Kirchen würden zu Sekten in einer pluralen Sektenlandschaft werden und die Gesellschaft würde um Rückbezüge auf ihre Konstituanten gebracht.

Die Intentionen der protestantischen Revolution sind in vieler Hinsicht politische Wirklichkeit geworden. Das, was nicht erfüllt werden konnte, die geistige Fundierung und die sozialethische Orientierung der Politik auf das globale Überlebensparadigma und neue Formen unmittelbarer Demokratie, bleibt aber auch in seinem unvollendeten Versuch ein durch die Vorgänge der Jahre 1989 und 1990 historisch bekräftigter Anspruch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sigrid Meuschel, Revolution in der DDR, in: Die DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit, Köln 1990, S. 3ff.

  2. Dazu: Horst Lange/Uwe Matthes, Ein Jahr danach. Auf der Suche nach Fragen und Antworten zur Wende in der DDR, in: Deutschland Archiv, 23 (1990) 11, S. 1744ff.

  3. Vgl. Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, 19 (1990) 4, S. 292ff.

  4. Vgl. Michael Brie, Die Wende, in: Sonntag (1989) 45, S. 2.

  5. Vgl. Thomas Ammer, Von der SED zur PDS -was bleibt?, in: Die DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit, Köln 1990, S. 103 ff.

  6. Vgl. Ludwig Brus/Manfred Hentzschel, Die Dupierung einer Theorie durch die Praxis. Das Ende des Systemvergleiches und der Beginn der großen Transformation in kulturelle Vielfalt, in: Deutschland Archiv, 23 (1990) 7, S. 1035ff.

  7. Vgl. Artur Meier, Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/90, S. 3ff.

  8. Vgl. S. Meuschel (Anm. 1), S. 9f.

  9. Vgl. Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.

  10. Strategiepapiere des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der CDU/CSU, dokumentiert in: Frankfurter Rundschau vom 5. und 7. Oktober 1990 („Christdemokraten vergeben politische Zensuren an Protestanten“).

  11. Vgl. Axel von Campenhausen, Die Kirche braucht nur eine Stimme, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, Nr. 44 vom 2. November 1990.

  12. Christofer Frey, Brauchen wir einen neuen Kulturprotestantismus?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 34 (1990) 1, S. 4.

  13. Vgl. Olof Klohr u. a., Prognose 2000 -Kirchenstudie, Rostock-Warnemünde 1989.

  14. Vgl. Diaspora. Zum gegenwärtigen Gebrauch des Begriffs. Studie der Theologischen Studienabteilung, Berlin 1975, in: Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente, Berlin 1981.

  15. Vgl. Reinhard Henkys, Zwanzig Jahre Kirchenbund. Politische Lage zwang zur Trennung von der EKD, in: Kirche im Sozialismus, 15 (1989) 3, S. 91 ff.

  16. Vgl. Dieter Goetze, Neue soziale Bewegungen, in: Robert Hettlage (Hrsg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München 1990, S. 167 ff.

  17. Vgl. Rudi Pahnke, Wohl und Übel mitgesteuert. Gruppenbild mit Kirche, in: Jörg Hildebrandt/Gerhard Thomas (Hrsg.), Unser Glaube mischt sich ein, Berlin 1990.

  18. Vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle, Ich liebe Euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990.

  19. Vgl. Heino Falcke, Unsere Kirche und ihre Gruppen. Lebendiges Bekennen?, in: Kirche im Sozialismus, (1985), S. 145 ff.

  20. Vgl. Werner Krusche, Kritische Solidarität. Der Weg der evangelischen Kirchen in der DDR, in: Information und Texte, 3 (1990), hrsg. v. d. Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen, Berlin.

  21. Vgl. Zum Gebrauch des Begriffes Kirche im Sozialismus. Dokumentation. Theologische Studienabteilung, Information und Texte, 15, Berlin 1988; Richard Schröder, Was kann „Kirche im Sozialismus“ sinnvoll heißen?, in: Kontext, November 1988, S. 49ff.; Götz Planer-Friedrich, Kirche im Sozialismus?, in: Evangelische Kommentare, 21 (1989) 9, S. 503 ff.

  22. Vgl. J. Jürgen Seidel, Neubeginn in der Kirche? Die evangelischen Land-und Provinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftlichen Kontext der Nachkriegszeit (1945-1953), Göttingen 1989.

  23. Vgl. Klemens Richter, Die DDR-Katholiken nach der Wende, in: Deutschland Archiv, 22 (1990) 10, S. 1594ff.

  24. Werner Elert, Morphologie des Luthertums, München 1931, S. 9.

  25. Bärbel Bohley, Entscheidend sind Freiräume. Ansichten über die Gesellschaft von unten. Interview, in: Aufrisse Zwei, Berlin 1988, S. 80.

  26. Vgl. Rolf Schneider, Die Kerzenrevolution, in: Deutschland Archiv, 23 (1990) 6, S. 869 ff.

  27. Vgl. Gunter Zimmermann, Die politische Bedeutung der Zwei-Reiche-Lehre, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 32 (1987) 4, S. 392ff.

  28. Vgl. Edelbert Richter, Historische Erwägungen zu den Menschenrechten, in: Kirche im Sozialismus, 15 (1989) 5, S. 189ff.; ders., Andeutungen zu einer Kritik der klassischen Menschenrechtstradition, in: Festschrift für Heino Falcke, Erfurt 1989, S. 102ff.

  29. Max Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist, in: Soziologie, Weltgeschichte, Analysen, Politik, Stuttgart 1956, S. 377.

  30. Vgl. Matthias Schubert, Kirche des Volkes bleiben, in: Rudolf Schulze (Hrsg.), Nach der Wende. Wandlungen in Kirche und Gesellschaft, Berlin 1990, S. 78ff.

  31. Vgl. Heino Falcke (Anm. 19).

  32. Vgl. Aktion Sühnezeichen (Hrsg.), Textdokument: Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Berlin 1990.

  33. VgL Günther Krusche, Gemeinden in der DDR sind beunruhigt, in: Lutherische Monatshefte, 11 (1988), S. 499ff.

  34. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Wiederkehr der Religion? Über die Schwierigkeiten des Christen in der modernen Kultur, in: Evangelische Kommentare, 22 (1984) 1, S. 22ff.

  35. Vgl. Edelbert Richter, Demokratische Umgestaltung, in: Kirche im Sozialismus, 15 (1989) 2, S. 60ff.

  36. Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch, oder: Wo blieb das Volk?, Opladen 1990.

  37. Vgl. Joachim Matthes, Unbestimmtheit: Ein konstitutives Merkmal der Volkskirche?; Rüdiger Schloz, Das Bildungsdilemma der Kirche, beide in: Joachim Matthes (Hrsg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel, Gütersloh 1990.

  38. Christiane Haupt u. a., Einige Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung des sozialistischen Weltsystems, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 36 (1988) 7, S. 588ff.

  39. Im Spätsommer 1990 kam es zu einer öffentlichen Diskussion um die Frage, ob zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 Gottesdienste gehalten werden sollten und ob dieser Tag feierlich eingeläutet werden dürfte.

  40. Immanuel Geiss, Europäische Perspektiven nach der deutschen Einigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52-53/90 S. 45.

  41. Vgl. Fedotova, Demokratie, Kultur, Nation (russ.), in: Filosofskie nauki, (1990) 8, S. 3 ff. (Übersetzung Jörg Milbrodt). 42) Vgl. Novikova, Die Zivilisation vor der Entscheidung (russ.), in: Filosofskie nauki, (1990) 7, S. 3ff. (Übersetzung Jörg Milbrodt).

Weitere Inhalte

Ehrhart Neubert, geb. 1940; Referent für Gemeindesoziologie in der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen, Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Angst und Zuwendung. Sozialethische und theologische Aspekte des AIDS-Komplexes, Berlin 1989; Eine protestantische Revolution, Berlin 1990; zahlreiche Beiträge zur sozialen Entwicklung und zu sozialethischen und politischen Fragen des DDR-Protestantismus.