Europa durchlebte in der Nachkriegszeit eine Konstellation chronisch gewordener Konfrontation. In diesem Teil der Welt waren die weltpolitische Konfrontation, der ideologische Antagonismus, die systembedingten Abgrenzungsbemühungen und die Rüstungskonkurrenz besonders ausgeprägt. Ein gutes Jahr nach den tiefgreifenden Umbrüchen des Jahres 1989 kann man mit noch größerer Gewißheit als an der Wende 1989/90 behaupten: Dieses Europa der chronisch gewordenen Konfrontation (mit Einsprengseln von Entspannungspolitik) gibt es nicht mehr. Vielmehr ist in Europa ein politischer Prozeß zu beobachten, der letztendlich innerhalb eines Jahrzehnts eine Struktur entstehen lassen könnte, die auf vielfältiger und breitgefächerter Kooperation aufbaut.
Eine solche Struktur dauerhaften Friedens ist allerdings keineswegs ein zwangsläufiges Ergebnis der derzeit zu beobachtenden weltpolitischen Zäsur, die zum Ende des Ost-West-Konfliktes geführt hat: Es bedarf schon erheblicher Anstrengungen, um am Ende dieses Jahrzehnts feststellen zu können, daß die sich Anfang der neunziger Jahre überraschenderweise bietenden politischen Chancen wahrgenommen wurden und daß konsequentes politisches Handeln eine europäische Friedensordnung entstehen ließ, die wirklich ihren Namen verdient
Das alte Europa der Konfrontation, des ideologischen Antagonismus, der Abgrenzung und der Rüstungskonkurrenz provozierte in der Wissenschaft, einschließlich der Friedensforschung, viele analytische Bemühungen, um diese konfrontative Konstellation zu durchleuchten. In vielen theoretischen Abhandlungen wurde der Versuch unternommen, die weltpolitische Konfrontation zwischen Ost und West in der Kontinuität neuzeitlicher Geschichte zu sehen: Diese war weitgehend durch Hegemoniekonflikte und vielfältige Versuche von Gleichgewichtspolitik gekennzeichnet, weshalb es sich anbot, die zugespitzte bipolare Konstellation der Nachkriegszeit als zunächst letzte Variante einer solchen Spielart von Politik zu begreifen. Der ideologische Antagonismus, gewissermaßen das geistige Unterfutter des Ost-West-Konfliktes, wurde oft in Kontinuität einer sich seit der Französischen Revolution ideologisierenden internationalen Politik gesehen: Wo der ideologisehe Kampf in das Zentrum gerückt wurde, konnte allerdings Ideologiekritik nicht ausbleiben.
Die Abgrenzungsbemühungen erschienen als Inbegriff einer dissoziativen Politik, durch die ein Ausbruch von Gewalt durch Trennung der Konfliktparteien (und eben nicht durch ihre Zusammenführung) erreicht werden sollte. Daß ein solcher Versuch unter den Vorzeichen einer tiefgreifenden Konfrontation problematisch bleiben mußte, dokumentierte sich vor allem in der anhaltenden Rüstungskonkurrenz, in der eine sich immer stärker militarisierende Konfliktkonstellation zum Ausdruck kam. In einer derartigen Konstellation kann nicht überraschen, daß vor allem solche Theorien eine große Aufmerksamkeit auf sich zogen, die sich mit dem Zusammenhang von weltpolitischem Antagonismus und Rüstungskonkurrenz beschäftigten. Wie in den Erfahrungswissenschaften üblich, kamen dabei die Überlegungen, wie der Ost-West-Konflikt hätte transformiert werden können, zu kurz: Die apologetische oder kritische Abschreckungsanalyse beherrschte lange Zeit das Feld -also die Auseinandersetzung mit einer chronisch gewordenen Friedlosigkeit, nicht aber die Analyse dessen, was jenseits von Abschreckung an Friedensstruktur vorstellbar war.
Theoretische Bemühungen hinsichtlich der Konflikttransformation gab es noch am ehesten in der Friedensforschung. Realistischerweise ging es bei ihr um denkerische Entwürfe darüber, wie sich der vorhandene Konflikt anders als über Rüstungskonkurrenz bearbeiten ließe; als illusionär galt der Versuch, einen Konflikt von der Größenordnung des Ost-West-Konfliktes einfach aus der Welt schaffen zu wollen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es in der Friedensforschung vielfältige theoretische Reflexionen über Entspannungspolitik, kooperative Rüstungssteuerung und die Vertiefung wirtschaftlicher und menschlicher Kontakte über die Systemgrenzen hinweg gegeben hat, nicht aber theoretische Entwürfe über ein Europa jenseits der Abschreckung. „Jenseits von Abschreckung“ -das lag zu weit in der Ferne, schien unerreichbar und ein realistisches politisches Ziel nur für künftige Generationen zu sein Was niemand -wirklich niemand in Politik, Wissenschaft und Publizistik -erwartete, ist eingetreten: Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende. Zwar gibt es noch eine weltpolitische Konkurrenzsituation zwischen den USA und der Sowjetunion, obgleich derzeit unklar ist, welche Ausprägung diese finden wird; aber diese Mächtekonstellation ist nicht mehr mit ideologischem Antagonismus, Abgrenzung und Rüstungskonkurrenz in Europa rückgekoppelt. Europa lebt seit 1989/90 in einer Situation jenseits des Antagonismus, der Abgrenzung und militärischer Abschreckung. Am deutlichsten wird das Ende der Trennung des Kontinentes in dem Vereinigungsprozeß der beiden Teile Deutschlands sichtbar, denn die Trennung Deutschlands in zwei Staaten und deren Eingliederung in unterschiedliche ideologische Machtblöcke war Inbegriff der Konfrontationskonstellation in Europa.
Gibt es hinsichtlich dieser neuen Lage in Europa und insbesondere hinsichtlich einer wünschenswerten Politik der Friedensgestaltung unter den nun gegebenen neuen Prämissen relevante friedens-theoretische Überlegungen, die man in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der neuen Lage in Europa und insbesondere hinsichtlich der praktischen Aufgabenstellung im Prozeß der Neugestaltung Europas als konzeptuelle Leitperspektiven begreifen könnte? Bei der Beantwortung dieser Frage versteht sich von selbst, daß auch die Friedensforschung nicht über die eine Friedens-theorie verfügt, die ungeachtet von konkreten Kontexten und Problembereichen von flächendekkender Relevanz ist -Eine solche Friedenstheorie gibt es natürlich nicht; aber es gibt Einzeltheorien, die sich auf einen konkreten Zusammenhang, wie er bei der Neugestaltung Europas vorliegt, ausrichten und zu einer konzeptuellen Leitperspektive zusammenfügen und verdichten lassen.
Welche Teiltheorien, Theoriestücke oder theoretische Bausteine müßten im Hinblick auf die Probleme der Friedensgestaltung im Europa der neunziger Jahre bedacht werden? Und zu welcher Leitperspektive lassen sie sich zusammenfügen? Die nachfolgende Diskussion ist auf die praktische Relevanz theoretischer Reflexion ausgerichtet; deshalb wird schon zu Beginn des jeweiligen Argumentationsschrittes das entscheidende handlungsbestimmende Gebot signalisiert.
I. Das Gebot der Rechtsstaatlichkeit
Die Revolutionen im Europa des Jahres 1989 waren Freiheitsrevolutionen, die in den meisten Fällen gewaltfrei verliefen Sie hatten die Abschaffung von diktatorischen politischen Regimen zum Ziel. Im Zentrum Europas, d. h. in Polen, Ungarn, der DDR und der SFR, ist dieser Umbruch gelungen; in Südosteuropa (Bulgarien, Rumänien), auf dem Balkan (Jugoslawien, Albanien) und auch in der Sowjetunion ist das Ergebnis der politischen Veränderungen noch nicht von vergleichbarer Eindeutigkeit, obgleich der Trend der Entwicklung auch in diesen Ländern auf die, wenngleich mühsame, Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie weist. Damit wird in Europa eine Lage absehbar, in der es vom Atlantik bis zum Ural nur noch demokratische Rechtsstaaten geben wird. Für Ostmitteleuropa, also die Nahtstelle zwischen Westeuropa und der Sowjetunion, ist diese Lage ohnehin schon eingetreten.
Diese Entwicklung ist aus friedenstheoretischer Perspektive von grundlegender Bedeutung. Es kann zwar argumentiert werden, daß zwischen der rechtsstaatlichen und pluralistischen politischen Ordnung eines Staates und einem friedlichen Außenverhalten kein zwingender Zusammenhang besteht, doch existiert durchaus eine plausible Verbindung: Wo Rechtsstaatlichkeit die Grund-lägepolitischer Ordnung geworden ist, haben die betroffenen Gesellschaften gelernt, die in ihnen angelegten Werte-und Interessenkonflikte zivilisiert, d. h. auf der Grundlage von verfassungsmäßig festgelegten Spielregeln gewaltfrei auszutragen. Die in Konfliktzusammenhängen immer drohende Gewaltproblematik ist also in rechtsstaatlich verfaßten politischen Systemen prinzipiell bewältigt. Der Griff zur Gewalt gilt zu Recht als ein Angriff gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und damit gegen die demokratische Verfassung. Rechtsstaatliche Verfassungen sind also eine wichtige Grundlage des sozialen Friedens; sie sind von beispielhafter Bedeutung für die institutioneile Einhegung von Konflikten, wodurch die gewaltsame Durchsetzung von Interessenpositionen eliminiert wird. In sie , hineinsozialisiert lernt man, hinsichtlich öffentlicher und privater Belange mit anderen Menschen und insbesondere Interessengruppen -gerade auch bei widerstreitenden Interessen -gewaltfrei umzugehen. Diese Erfahrung im Innern von rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaften kann nicht ohne Folgen für deren Außenverhalten sein: Tendenziell schließen friedfertige Konfliktregelung im Innern und militärische Gewaltstrategien nach außen einander aus.
Noch einmal: Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend; ihn kennzeichnet keine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit; aber er ist von hoher Plausibilität. Wann immer in den vergangenen 40 Jahren rechtsstaatlich verfaßte Demokratien sich in ihrem Außenverhalten zu Gewalttätigkeiten hinreißen ließen, ließ sich aufgrund des Wider-B Standes der Gesellschaften eine so orientierte Politik nicht durchhalten. Es ist deshalb auch durchaus bemerkenswert, daß in, den vergangenen Jahrzehnten rechtsstaatlich verfaßte Demokratien (die Mehrzahl der OECD-Gesellschaften) gegeneinander keine Kriege mehr geführt haben und daß kriegerische Handlungen von ihnen nur gegen Nichtdemokratien erfolgten und in aller Regel früh-und vorzeitig zu Ende kamen.
Neben das systematische Argument (zivilisierter Umfang mit Konflikten im Innern und tendenziell auch nach außen) und die empirische Beobachtung (OECD/Frieden) tritt noch das utilitaristische Argument der klassischen liberalen Theorie, das Kant beispielhaft formulierte: Wenn, wie in einer rechtsstaatlichen Verfassung nicht anders möglich, die Zustimmung der Staatsbürger dazu erforderlich ist, zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so sei nichts natürlicher, als daß -da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten -sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen. Als Drangsale des Krieges nannte Kant: „selbst fechten und die Kosten des Krieges aus eigener Habe finanzieren zu müssen, die Verwüstungen zu erleiden und schließlich im künftigen Frieden die Kriegsschuldenlast abtragen zu müssen“
Man könnte dem Argument der klassischen liberalen Theorie noch ein aktuell-praktisches hinzufügen: In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und des politischen Pluralismus zum Inbegriff der Menschenrechts-politik rechtsstaatlich verfaßter Demokratien. Von propagandistischen Manipulationen abgesehen, ist internationale Politik heute ohne anhaltenden Rückbezug auf die Förderung von Menschenrechten nicht mehr zu begreifen. Natürlich fällt das Ergebnis der Menschenrechtspolitik immer noch weit hinter das zurück, was es sein sollte; aber es kann doch kein Zweifel bestehen, daß eine solche Politik auch Selbstbindungen impliziert. Rechts-staaten kommen leicht auf die Anklagebank, wenn sie nach außen propagieren, was sie in ihrem Innern und in ihrer eigenen Außenpolitik selbst nicht bestmöglich verwirklichen.
So läßt sich behaupten, daß aus systematischen, empirischen, utilitaristischen und praktischen Gründen vieles dafür spricht, daß rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaften tendenziell friedensfähiger sind als ihre Widerparts, Diktaturen und Despotien, und daß deshalb in der Folge des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa die Chancen des Friedens in diesem Europa größer geworden sind Die Grundprinzipien rechtsstaatlich verfaßter politischer Ordnungen -wie die Sicherung von Menschenrechten und Grundfreiheiten, die Gewaltenteilung sowie politischer Pluralismus und Meinungsvielfalt -stehen nunmehr in Europa nicht mehr prinzipiell zur Diskussion; sie sind als tragende Prinzipien der neuen politischen Ordnungen in den Staaten Osteuropas akzeptiert. Überdies wird man auch in den Staaten Osteuropas, in denen jetzt Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie Wurzeln schlagen, die Erfahrung machen, daß in modernen Gesellschaften Rechtsstaatlichkeit nur dann als selbstverständlicher Rahmen politischen Handelns akzeptiert wird, wenn sich alle Beteiligten in diesem Rahmen fair aufgehoben fühlen und wenn eine aktive Politik der Verteilungsgerechtigkeit verfolgt wird. Denn in modernen politisierbaren Gesellschaften, d. h. in Gesellschaften, die alphabetisiert und urbanisiert sind, wird praktisch jeder Streit von öffentlichem Belang zu einer hochpolitischen Frage, die sich überdies mit Hilfe moderner Massenmedien leicht dramatisieren läßt. Wo mit verfassungsmäßigen Spielregeln Schindluder getrieben wird und faire Kompromisse nicht angestrebt werden, droht im Grenzfall der Zusammenbruch rechtsstaatlicher Ordnung: Gesellschaften zerfallen und die Konfliktparteien munitionieren sich. Wenn es hart auf hart zugeht, bricht Bürgerkrieg aus; es droht -wie im Libanon, dem einst als „Schweiz des Nahen Ostens“ etikettierten Staat -eine „Libanonisierung“
Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Partizipationschancen und fairem Anteil an Wohlfahrt ist also nicht eine politische Orientierung, der man nach Belieben folgen kann oder auch nicht; sie ist vielmehr unter den heutigen Bedingungen leicht politisierbarer Gesellschaften, in der sich die unterschiedlichsten Interessen unschwer lobbyistisch organisieren können, eine konstitutive Bedingung der Lebensfähigkeit von rechtsstaatlichen Ordnungen. Heute erst zeigt sich die volle Bedeutung dessen, was von der Internationalen Friedens-und Freiheitsliga am Ende des letzten Jahrhunderts paradigmatisch wie folgt formuliert wurde: „Si vis pacem, para libertatem et justitiam.“
Auch kann in diesem Zusammenhang noch auf eine andere Beobachtung der klassischen liberalen Theorie zurückgegriffen werden, derzufolge eine politische und gesellschaftliche Ordnung mit hohen Partizipations-und Verteilungschancen, anders als eine diktatorisch-autoritäre Ordnung, konsens-und damit verteidigungsfähiger ist und anders als ungerechte Staaten der Beraubung der anderen und des Expansionismus nicht bedarf. Aus diesen Überlegungen folgt: Was immer in Europa dazu beiträgt, rechtsstaatliche Ordnungen zu begründen, Rechtsstaatlichkeit zu sichern und zu stabilisieren, dient dem Frieden -nicht weil gewissermaßen Frieden mechanisch und automatisch ein Nebenprodukt der Koexistenz von Rechtsstaaten wäre, sondern weil Rechtsstaatlich-keit, der Schutz von Freiheit, eine plausibel begründbare Grundlage und Hintergrundbedingung für das friedliche Zusammenleben von Völkern, Staaten und Nationen ist.
Aus dieser plausiblen Vermutung kann jedoch Gewißheit werden, wenn weitere friedenstheoretisch begründbare Gebote berücksichtigt werden.
II. Das Gebot der Erwartungsverläßlichkeit
Die Summe rechtsstaatlich verfaßter Einzelstaaten übersetzt sich, wie dargelegt, nicht automatisch in einen „Friedensbund“ (Kant). Eine Friedensordnung zwischen den Völkern muß, wie auch Kant zurecht betonte, ausdrücklich gestiftet werden. Dazu bedarf es zuallererst spezifischer Vorkehrungen auf der Ebene des Staatenverkehrs. Denn zwischen souveränen Staaten besteht natürlicherweise nicht eine eingespielte Erwartungsverläßlichkeit, sondern ein Sicherheitsdilemma -schon gar, wenn es sich um Konfliktbeziehungen handelt. Dann weiß niemand vom anderen, was er von dessen Handlungen halten soll: Dienen sie dem ehrlich gemeinten Ausgleich über Interessendivergenzen oder sind sie trickreiche Täuschungsmanöver? Liegt ihnen ein defensives außenpolitisches Programm zugrunde oder wird Defensive propagiert, obwohl Offensive gemeint ist? Soll eine Politik der Eindämmung wirklich eindämmen oder die Position der anderen Seite untergraben? Fragen dieser Art kreisen alle um den fundamentalen Tatbestand, daß es ohne entsprechende Vorkehrungen zwischen souveränen Staaten Erwartungsverläßlichkeit nicht gibt.
Eine solche kann hergestellt werden, wenn die Einzelstaaten miteinander institutionell derart verkoppelt werden, daß es zu einer wechselseitigen Voraussagbarkeit ihrer Motive und Handlungen kommt. Sind die Netze der Kooperation zwischen souveränen Staaten so dicht, daß aus ihnen erhebliche Zwänge zur Koordination politischen Verhaltens erwachsen, verliert das Sicherheitsdilemma an politischer Bedeutung und Brisanz. An seine Stelle treten politische Berechenbarkeit und Transparenz -Grundlagen wechselseitiger Erwartungsverläßlichkeit. Es findet dann eine allseitige Einbettung in ein zunächst breitmaschiges, im Laufe der Zeit immer engmaschiger werdendes Netz institutionalisierter Kooperation statt. Dann werden nationalistische Ausbruchsversuche schwierig und vor allem kontraproduktiv; schließlich werden sie unterbleiben.
Erwartungsverläßlichkeit zu institutionalisieren zielt also darauf, daß Ungewißheit vermindert wird. Das ist mehr als bloße Wechselseitigkeit (Reziprozität), denn Institutionen, die die Ungewißheit verringern, verändern im Laufe der Zeit den Charakter internationaler Politik, weil Erwartungsverläßlichkeit auf Dauer gestellt wird. Die Szene internationaler Politik wird überschaubar, nicht weil einzelne einen besseren Durchblick gewinnen, sondern weil die institutioneile Verklammerung mit der Folge routinemäßiger Treffen, gemeinsamer Komitees und Kommissionen sowie anhaltender formeller und informeller Konsultationen auf oberen, mittleren und unteren Ebenen für relative Gewißheit sorgt.
Dabei wird ein solcher Prozeß der wechselseitigen Adjustierung von Beurteilungen und Verhalten durch die Existenz gemeinsamer Wertmaßstäbe, so wie sie sich derzeit in Europa hinsichtlich der Grundfragen politischer, ökonomischer und sozialer Ordnung herausbilden, wesentlich erleichtert. Hier entsteht eine ganz andere Situation, als sie noch vor kurzem existierte: So ging es beispielsweise im Helsinki-Prozeß (KSZE) noch darum, trotz Nichtübereinstimmung in philosophischen und politischen Grundbewertungen zu einem Minimalkatalog gemeinsamer Verhaltensprinzipien zu gelangen. Dabei zustandegekommene semantische Kompromisse waren hilfreich, um den Dialog zwischen Ost und West aufrechtzuerhalten, aber in der Sache, beispielsweise bei der Durchsetzung von Menschenrechten, halfen sie nicht immer weiter. Heute kann man davon ausgehen, daß es im gesamten Europa möglich wird, verbindliche Urteilsmaßstäbe für richtiges bzw. falsches Verhalten kollektiv zu finden und festzulegen. Die Chance einer darauf aufbauenden gemeinsamen Politik ist nicht klein.
Im übrigen sollte nicht geringgeschätzt werden, daß in einem solchen kooperativen Arrangement die sogenannten „Transaktionskosten“ im Verkehr zwischen den Staaten trotz häufigerer und intensiverer Kommunikation sich deutlich verringern. Vieles findet routinemäßig statt, was ansonsten jeweiliger neuer Entscheidungen bedürfte; die Kommunikation wird auf Dauer gestellt, was entsprechende institutionalisierte Kommunikationskanäle voraussetzt; die multilaterale Konsultation wird erleichtert; einer substantiellen multilateralen Koordinierung von Politik stehen weniger organisatorische Hindernisse im Wege als im Falle von Ad-hoc-Arrangements; möglicherweise verringert sich auf diesem Wege auch der Zeitaufwand für politische Willensbildung und Entscheidungsfindung Aus friedenstheoretischer Perspektive ist bei der Bewältigung des internationalen Sicherheitsdilemmas eindeutig einem institutionalisierten Netzwerk von Kooperation der Vorzug vor den konventionellen Vorkehrungen des zwischenstaatlichen Machtmanagements zu geben, wie sie in Arrangements des Mächtegleichgewichts, der Hegemonialstruktur, der Allianzen und Gegenallianzen usf. zum Ausdruck kommen. Diese letzteren Vorkehrungen taugen nämlich nicht dazu, das Sicherheitsdilemma dauerhaft überwinden zu helfen; im Gegenteil sind sie oft genug für die Verlängerung und Verschärfung des Sicherheitsdilemmas verantwortlich. Zumindest handelt es sich um rückfallgefährdete Lösungen, d. h. um Modalitäten, bei denen letztendlich die Androhung bzw. Anwendung von Gewalt im zwischenstaatlichen Verkehr nicht ausgeschlossen werden kann.
Netzwerke der Kooperation sind ein Schritt über das Sicherheitsdilemma hinaus, indem jeder Einzelstaat in ein über ihn hinausgehendes kooperatives Arrangement eingebettet wird. „Einbettung“ war deshalb in den vergangenen Monaten einer der in politischen Diskursen am häufigsten verwendeten Begriffe: So sollte die Lösung der deutsche Frage in eine neue Europäische Sicherheitsstruktur „eingebettet“ werden; nach der Auflösung des Warschauer Paktes sollte eine Singularisierung der Sowjetunion verhindert werden, wozu u. a. ihre „Einbettung“ in eine sich institutionalisierende KSZE dienen sollte; die USA und Kanada sollten in eine neue Europäische Ordnung „eingebettet“ bleiben; durch „Einbettung“ in den gesamteuropäischen Prozeß sollte eine drohende politische und insbesondere ökonomische Peripherisierung der ostmitteleuropäischen Staaten verhindert werden -ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für den Aufbau eines kooperativen Netzwerkes und zur Abwehr drohender nationalistischer Alleingänge.
Kommt eine vernetzte Kooperation zustande, so entwickelt sie eine Eigendynamik: Kooperatives Verhalten fördert weitere Kooperation, so wie Konfrontation weitere Konfrontation auslöst. An die Stelle des Teufelskreises im letzteren Falle tritt eine Art von „Engelskreis“ im ersteren: Kooperation gewinnt eine sich selbst erweiternde Dynamik mit eingebauten positiven Rückkopplungen. Es kommt also darauf an, den Durchbruch zur Kooperation zu schaffen, kooperative Arrangements zu inszenieren und ihre Dynamik zu fördern. Dann wird Erwartungsverläßlichkeit zur Selbstverständlichkeit.
Auch demokratische Rechtsstaaten bedürfen einer solchen, auf die Veränderung des zwischenstaatlichen Verkehrs abstellenden Perspektive, um ihre potentielle Friedensfähigkeit zur Gewißheit werden zu lassen. Dazu sind friedenstheoretische Reflexionen, wie sie hier dargelegt werden, erforderlich. Ihre Anfänge gehen auf Grotius, Kant und vor allem auf den liberalen Pazifismus zurück, der sich gedanklich und praktisch um den Aufbau internationaler Organisation bemühte. Ihnen allen ging es um gemeinsame institutionelle Arrangements jenseits des einzelnen souveränen Staates, um gemeinsame Verhaltensregeln und um eine Konsensfindung hinsichtlich normativer Orientierung. Dabei war -zu Recht -nicht die Eliminierung von Konflikten das Ziel, sondern die Veränderung der Modalitäten, unter denen Konflikte ausgetragen werden. Es ging, wie in jeder Friedenstheorie an erster Stelle, um die Beseitigung von Gewalt und um die Institutionalisierung einer verläßlichen, gewaltfreien Konfliktregelung gerade angesichts bleibender Konflikte.
In diesem Zusammenhang wird in dem sich neugestaltenden Europa der sich institutionalisierenden KSZE eine hervorgehobene Bedeutung zukommen. Die KSZE ist eine Institution, über die Erwartungsverläßlichkeit institutionalisiert und damit Ungewißheit verringert werden kann. Dabei geht es zunächst um scheinbar Banales, wie z. B. um regelmäßige Treffen auf hoher politischer Ebene (Gipfeltreffen, fachministerielle Treffen, Fachausschüsse usf.) sowie um die Einrichtung gesamteuropäischer Gremien: einen Rat für Sicherheit und Zusammenarbeit, ein Ständiges Sekretariat, ein Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten, verschiedene Räte zur Koordinierung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, humanitären, rechtlichen und kulturellen Zusammenarbeit sowie des Umweltschutzes. Heute bedarf noch jedes gesamteuropäische Treffen auf hoher oder fachministerieller Ebene besonderer Beschlüsse: Staaten können sich beteiligen oder sich den Beratungen entziehen. Es ist wichtig, daß auch auf gesamteuropäischer Ebene institutioneile Zwänge zur Koordinierung und Konzertierung der Politik geschaffen werden. Sollte dieser Versuch mißlingen, droht Europa sich in neue, blockähnliche Gebilde zu zerklüften oder in einen Nationalismus zurückzufallen, der in den zwanziger und dreißiger Jahren verheerende Folgen hatte.
Die Struktur, die es heute zu vermeiden gilt, ist unschwer vorstellbar: ein institutionell gefestigtes Westeuropa, eine krisengeschüttelte Sowjetunion, die immer noch über das größte Militärpotential in Europa verfügen würde, und ein dazwischenliegendes Osteuropa, dessen Chance, sich über gesamteuropäische Institutionen Gehör zu verschaffen, vertan würde. Der Rückfall in nationalistische Politik, in neue Hegemonialstrukturen und in bilaterale Allianzen und Gegenallianzen wäre nur eine Frage der Zeit. Einem solchen drohenden Entwicklungstrend gilt es wirksam entgegenzuarbeiten.
Was wäre im Lichte der aufgezeigten theoretischen Perspektive im einzelnen zu tun? Eine wichtige Aufgabe der Gipfeltreffen und insbesondere des Rates für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der auf der Ebene der Außenminister tagen würde, müßte es sein, aktuelle Probleme der euro-15 päischen Sicherheit und Zusammenarbeit, insbesondere der Menschenrechte und des wirtschaftlichen Ausgleichs, zu behandeln sowie neue Vorschläge in diesen Bereichen zu erarbeiten.
Das Zentrum für Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Verifikation (Verifikationszentrum) müßte sicherheits-und militärpolitisch relevante Informationen sammeln und auswerten, insbesondere Bewegungen militärischer Einheiten und militärische Übungen notifizieren sowie Inspektionen und andere Kontrollaktivitäten registrieren und koordinieren. Alle Informationen, die sich aus der Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen und solcher Verifikationsverfahren ergeben, müßten erfaßt und sämtlichen KSZE-Teilnehmern zugänglich gemacht werden. Die durch den Abrüstungsprozeß erforderlich werdenden Inspektionsund Kontrollvorgänge bedürfen der Bündelung und Auswertung an einer Stelle. Dadurch werden übrigens neue Berufsrollen und Karrieremuster erforderlich, die von erheblicher Attraktivität sein können.
Das Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten (Konfliktzentrum) sollte die Aufgabe haben, Informationen zu potentiellen Konfliktursachen, zu Streitigkeiten und zu militärisch gewalt-trächtigen Vorfällen zu erfassen und gegen deren Entstehung vorbeugend zu wirken (Konfliktprophylaxe). Die Arbeit des Zentrums wäre auf Konfliktregelung und auf Lösungsmöglichkeiten auszurichten. Im Rahmen dieses Zentrums sollte auch ein unabhängig arbeitendes wissenschaftliches Institut für Konfliktforschung errichtet werden. Auch sollte frühzeitig ein Konsens angestrebt werden, demzufolge die Arbeit des Zentrums und des Instituts nicht nur auf zwischenstaatliche, sondern auch auf innerstaatliche Konflikte mit potentiell friedensgefährdenden FolgeWirkungen (z. B. ethnonationalistische und Minderheitenkonflikte) ausgerichtet würde. Es würde die wichtigste Aufgabe des Zentrums sein, eine von potentiellen Konfliktparteien akzeptierte institutioneile Plattform für friedliche Streitbeilegung zu schaffen. Dabei sollte auf bekannte Verfahren (Konsultation, Schlichtung, Vermittlung) zurückgegriffen werden, aber auch neue, in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte Möglichkeiten der Konfliktlösung (z. B. therapeutische Intervention, Provention) sollten erprobt werden.
Wenn auch in anderen Bereichen -wie beispielsweise im Umweltschutz -entsprechende Institutionen aufgebaut würden, könnte Politik auf gesamteuropäischer Ebene Durchsichtigkeit und Berechenbarkeit gewinnen, die heute schon im westeuropäischen Zusammenhang zu beobachten sind. Wenn überdies auch soziale Bewegungen sich vernetzen würden („demokratische Integration“) und sich ein vielfältiger unreglementierter Austausch über die bisherigen Grenzen hinweg intensiviert, so ließe sich die Kriegsgefahr in Europa praktisch eliminieren. Damit wäre zum ersten Mal in der neueren Geschichte Europas der Schutz vor Gewalt nicht durch die geschickte Manipulation von Gewaltpotentialen (wie beispielsweise im Falle der Abschreckungspolitik) erreicht, sondern -positiv und konstruktiv begriffen -in der Folge einer sich entwickelnden Friedensstruktur. Dazu können neben der KSZE auch andere Institutionen Beiträge leisten, beispielsweise eine sich erweiternde Europäische Gemeinschaft, ja selbst eine sich entmilitarisierende und politisierende NATO, in die möglicherweise die osteuropäischen Staaten und selbst die Sowjetunion aufgenommen werden könnten, um zu einer EATO (European-AtlanticTreaty-Organization) zu werden. Auch sind kooperativ-institutionelle Gemengelagen alter und neuer Institutionen vorstellbar.
III. Das Gebot ökonomischen Ausgleichs
Johann Gottlieb Fichte betonte 1796 in seiner Rezension von Kants „Zum ewigen Frieden“ das „Gleichgewicht des Besitzes, bei welchem jeder sich erträglich befindet“, als Voraussetzung des Friedens: „Sobald der Mehrheit die sichere Erhaltung dessen, was sie hat, lieber wird, als der unsichere Erwerb dessen, was andere besitzen, tritt die recht-und vernunftmäßige Konstitution ein.“ Fichte lebte noch zu Zeiten relativ stationärer, agrarischer Gesellschaften. Diese kannten krasse Ungleichgewichte des Besitzes, aber solche übersetzten sich noch nicht notwendigerweise in politische Konflikte und Friedlosigkeit. Inzwischen sind die stationären Gesellschaften mobil geworden, und soziale Mobilität in der Folge von Alpha-betisierung, Urbanisierung und Entbäuerlichung bzw. Proletarisierung wurde zur Grundlage der Politisierung moderner Gesellschaften. Ein wirkliches „Gleichgewicht des Besitzes, bei welchem jeder sich erträglich befindet“, ist in ihnen kaum noch erreichbar, allein schon, weil -abgesehen von widerstrebenden politischen Bedingungen -sozialer und technischer Wandel solche Gleichgewichtslagen auf Dauer nicht mehr zuläßt.
Dennoch ist Fichtes Überlegung heute von noch größerer Bedeutung als zu seiner eigenen Zeit. Denn krasse ökonomische Ungleichheit ist in sich modernisierenden und in modernen Gesellschaften immer wieder zum Ausgangspunkt politisch gewalttätiger Konflikte geworden. Deshalb ist heute die Bemühung um Verteilungsgerechtigkeit konstitutiv für die Aufrechterhaltung rechtsstaat-B lieber Ordnung; und selbst wenn Gleichheit ein unerreichbares, vielleicht sogar ein nicht wünschenswertes Ziel ist, so ist doch eine Politik des ökonomischen Ausgleichs für den sozialen Frieden unerläßlich. Wo im übrigen die Grenzen von erträglicher Ungleichheit bzw. dysfunktional werdender Gleichheit liegen, ist Gegenstand einer anhaltenden und letztlich argumentativ nicht lösbaren politischen Kontroverse.
Was für das Innere von Gesellschaften gilt, gilt auch in den Beziehungen zwischen den Gesellschaften. Hier hilft allerdings die klassische (und auch die neoklassische) liberale Theorie nicht weiter. Denn sie unterstellt, daß die freie Mobilität der ökonomischen Faktoren einen Wohlfahrtsgewinn für alle impliziere, ungeachtet von deren Ausgangslage. Diese Annahme ist aber nur von modellplatonischem Wert und beschreibt eine Ausnahmesituation, nicht aber die Regel: Unproblematisch wirkt eine freie Mobilität von ökonomischen Faktoren (Kapital, Arbeit, Technologie usf.) nur unter der Voraussetzung fortgeschrittener, tendenziell in allen Sektoren hochproduktiver Industriegesellschaften. Eine solche symmetrische Ausgangslage ist aber ein Spätprodukt von Entwicklung; sie besteht nicht zu Beginn von Modernisierungsprozessen, und sie stellt sich nur allmählich als Ergebnis einer erfolgreichen nachholenden Entwicklung ein. Der beste Beleg für diese Beobachtung ist die Entwicklungsgeschichte der heute hochindustrialisierten Gesellschaften selbst; aber auch das Zentrum-Peripherie-Verhältnis zwischen den derzeitigen Industriegesellschaften und weiten Teilen der Dritten Welt ließe sich anführen
Zwischen Westeuropa und Osteuropa bestand in der Nachkriegszeit zwar ein deutliches ökonomisches Gefälle, aber dieses Gefälle entbehrte der politischen Virulenz, da Westeuropa marktwirtschaftlich orientiert war, Osteuropa staatlich dirigierte Kommandowirtschaften besaß und beide in der Folge der Blockkonfrontation weitgehend voneinander getrennt waren. Auch wenn es seit den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zu einem -wenngleich zeitlich begrenzten -Aufschwung des ökonomischen Austausches kam, erreichte dieser niemals eine Größenordnung, der strukturelle Folgewirkungen vor Ort gehabt hätte. Das Gefälle war ein Wohlstandsgefälle; es blieb jedoch weithin ein abstrakter Sachverhalt, weil sich die Konstitutionsbedingungen der beiden Wirtschaftsformen total voneinander unterschieden.
Mit dem Ende der Kommandowirtschaften in Osteuropa (und tendenziell auch in der Sowjetunion) und der Überführung dieser Ökonomien in Marktwirtschaften gewinnt das Wohlstandsgefälle und das ihm zugrundeliegende Gefälle an ökonomischer Effizienz und Produktivität unmittelbar an politischer Virulenz, denn nunmehr entwickelt sich zwischen West-und Osteuropa ökonomische Interdependenz. Dabei ist zweierlei zu bedenken: Zum einen gibt es hinsichtlich des Übergangs von Kommandowirtschaften zu Marktwirtschaften keine historischen Vorläufer. Es handelt sich um beispiellose soziale Großexperimente. Zum anderen ist unübersehbar, daß das Mißlingen dieser Großexperimente mitten in Europa eine ökonomische Zentrum-Peripherie-Struktur von der Art entstehen lassen würde, wie sie aus den Nord-Süd-Beziehungen bekannt ist. Eine solche ökonomische Zerklüftung Europas würde aber die Entwicklung eines für die gesamteuropäischen Institutionen erforderlichen ökonomischen Unterbaus verhindern. Ohne solchen Unterbau ist ein funktionsfähiges kooperativ-institutionelles Netzwerk auf gesamteuropäischer Ebene langfristig nur schwer vorstellbar.
In den hochindustrialisierten Ländern Westeuropas (und des OECD-Clubs insgesamt) muß deshalb erkannt werden, daß in Osteuropa im wohlverstandenen Eigeninteresse Westeuropas massive öffentliche Sanierungshilfen und massive private Direktinvestitionen erforderlich sind, und daß es sich dabei um wirkliche Zukunftsinvestitionen handelt. Überdies wären beim ökonomischen Umbau Osteuropas elementare entwicklungspolitische Lehren zu beachten, die in den vergangenen zehn Jahren in einer entsprechenden entwicklungstheoretischen Diskussion verarbeitet wurden: Kommt es zwischen einer weiter-und einer mindervorgerückten Ökonomie zu einem regen, nicht kanalisierten Austausch, so besteht die Gefahr eines umfassenden und verheerenden Verdrängungswettbewerbes der überlegenen gegenüber der weniger entwickelten Ökonomie. Letztere muß sich also zumindest selektiv schützen, um als ökonomisches Gebilde überleben zu können. Ist der Schutz, der mit unterschiedlichen Mitteln zustandegebracht werden kann, zu hoch, droht die Gefahr einer Verkrustung alter und nicht über-lebensfähiger Strukturen; ist der Schutz zu gering, wird die unterlegene Ökonomie durch die vorgerücktere in der Folge eines erfolgreichen Verdrängungswettbewerbes überwältigt.
Zu den großen wirtschafts-und entwicklungspolitischen Aufgaben im Osteuropa der neunziger Jahre gehört es, die richtige Mischung von Öffnung und selektivem Schutz zu finden. Das ist immer noch dieselbe Problemstellung, die auf klassische Weise Friedrich List vor 150 Jahren thematisierte: „Wie ist nachholende Entwicklung im Kontext eines vorfindbaren krassen Entwicklungsgefälles erreichbar?“ Und wie schon zu seiner Zeit, so zeitigt auch heute noch jede Mischung von Öffnung und selektivem Schutz erhebliche Kontrover-sen, da jede Variante einer solchen Politik für die unterschiedlichen Hauptgruppen der Gesellschaft unterschiedlich positive oder negative Folgen hat. Das industrialisierte Europa kann durch großzügige Hilfe zur Entdramatisierung der damit zusammenhängenden potentiellen Konflikte beitragen; soll diese jedoch auf fruchtbaren Boden fallen, so sind in der östlichen Hälfte Europas an Ort und Stelle tiefgreifende Reformmaßnahmen unerläßlich. Was den zu erwartenden Erfolg angeht, so sollte man sich realistischerweise auf eine längere schmerzliche Durststrecke einrichten.
Es ist aber durchaus vorstellbar, daß in den West-Ost-Beziehungen, anders als in den Nord-Süd-Beziehungen, die Entwicklungshilfen innerhalb einer relativ überschaubaren Zeitspanne von ein bis zwei Jahrzehnten sichtbare Erfolge zeitigen werden. Der im Realsozialismus erzwungene Egalitarismus könnte sich als ein Aktivposten herausstellen, weil nach aller Erfahrung anfänglich egalitär angelegte Gesellschaften entwicklungsfähiger sind als solche, die sich von vornherein durch eine krasse Ungleichheit auszeichnen. Auch steht ein weiterqualifizierbares „Humankapital“ zur Verfügung, das oft in der Dritten Welt fehlt. Die Einbettung des Umwandlungsprozesses in die Neugestaltung Europas könnte sich als wichtiger Aktivposten herausstellen.
Fichte formulierte die These, daß ein in seinem Innern ungerechter Staat notwendig auf Beraubung der Nachbarn ausgehen müsse, um seinen ausgesogenen Bürgern einige Erholung zu geben und neue Hilfsquellen zu eröffnen. Wenigstens in Europa dürfte eine solche Gefahr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr bestehen. Aber daß politisch unbeherrschbar werdende massive Wanderungsbewegungen von Wirtschaftsflüchtlingen in der Folge des Entwicklungsgefälles und möglicherweise mißlingender Reformvorhaben in Osteuropa ausgelöst werden können, bezeichnet nicht nur eine hypothetische Denkmöglichkeit, sondern ist heute schon beginnende Wirklichkeit. Hinzu kommt, daß Westeuropa auch aus menschlichen Gründen kein Interesse an massiven Strömen von Wirtschaftsflüchtlingen haben kann. Folglich muß es um so mehr umfassende Hilfe vor Ort leisten. Dabei sollten durchaus die entscheidenden Lehren aus einer weithin fehlgeschlagenen Entwicklungszusammenarbeit zwischen Nord und Süd gezogen werden: Etwas Hilfe an vielen Stellen hilft nicht, und schon gar nicht, wenn es sich um unverdaubare technologische und industrielle Prestigeobjekte handelt. Und Hilfe ohne qualifizierte Auflagen -sei es aus Rücksichtnahme auf die politischen Klassen des Empfängerlandes, sei es aus dem Skrupel, nicht intervenieren zu wollen -hilft ebensowenig. Die Auflagen des Geberlandes sollten allerdings offengelegt werden und einer demokratischen Diskussion im eigenen Bereich wie im Geberland ausgesetzt werden.
Der Schutz vor Not und die damit im Zusammenhang stehenden Bemühungen um einen fairen ökonomischen Ausgleich gehören zu den elementaren Bedingungen des Friedens. Die Entwicklungstheorie hat die Probleme nachholender Entwicklung im Kontext ökonomischer Ungleichheit und starker Entwicklungsgefälle ausführlich thematisiert. Eine praxisrelevante friedenstheoretische Leitperspektive kann daran anknüpfen und die dabei gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse auf die neue Lage zwischen West-und Osteuropa übertragen. Vielleicht sind die vielen negativen und die wenigen positiven Erfahrungen mit Entwicklungsprozessen Anlaß, nunmehr im neuen Kontext von Entwicklungszusammenarbeit von vornherein die Prioritäten korrekt zu setzen: Dann müßte bei der Hilfe zur Selbsthilfe die erste Aufmerksamkeit der Landwirtschaft und einer landwirtschaftsnahen Industrie, der Ausbildungsförderung, der Qualifizierung der Infrastruktur, der Kompetenzsteigerung öffentlicher Verwaltung und einem mittelständischen Gewerbe, nicht aber industriellen Groß-und Prestigeobjekten gewidmet werden.
IV. Das Empathie-Gebot
In der frühen, historisch-vergleichenden Friedens-forschung wurde von Karl W. Deutsch herausgearbeitet, daß „responsiveness" bzw. Empathie ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung konföderativer Gemeinschaften sei Beide Kategorien bezeichnen die Fähigkeit, sich in die Position anderer -in ihr Weltbild und ihre Interessenlage -hineinzuversetzen und konstruktiv darauf zu rea-gieren. Man könnte also von erforderlichem Einfühlvermögen und damit zusammenhängendem Verantwortungsgefühl bzw. davon abgeleitetem Handeln sprechen. Deutsch hat „responsiveness“ als eine kritische Größe in seiner Friedenstheorie thematisiert. Wo sie vorlag, kam es zur Herausbildung von politischen, die einzelnen Staaten überwölbenden Gemeinschaften, in denen die Anwendung kriegerischer Gewalt prinzipiell beseitigt war. Es wird dann nicht mehr eine militärisch abgestützte Machtpolitik betrieben, sondern „Verantwortungspolitik“ (Genscher) Die Vielgliedrigkeit und Vielfältigkeit Europas begründen die besondere Relevanz des Gebots der Empathie: Das neue Europa ist zergliedert in politisch konsolidierte Gesellschaften, in Gesellschaften, die sich in einem tiefgreifenden Umbruch befinden, und in Gesellschaften, deren Entwicklung unprognostizierbar ist. Spitzenökonomien finden sich Seite an Seite mit rückständigen, unterentwickelten Gebieten. In weiten Teilen Europas hat aufklärerisches Gedankengut Wurzeln geschlagen und ist in den Mentalitäten verläßlich verankert, in anderen kommt erneut dumpfer Chauvinismus an die Oberfläche. Die Gefahr, die in einer solchen Lage droht, besteht im genauen Gegenteil von „responsiveness" und Empathie, also in selbstgefälliger Abschottung der fortgeschrittenen Regionen und in fundamentalistisch-chauvinistischer Trotzhaltung der Zukurzgekommenen. Ist Empathie bei den ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften besonders wünschenswert und für eine gedeihliche Entwicklung Gesamteuropas erforderlich, so kann man sie doch keineswegs als sicher unterstellen. Dabei droht am wenigsten eine „Festung“ des EG-Europas gegenüber anderen hochindustrialisierten Gesellschaften wie Nordamerika und Japan, da mit diesen eine hochentwickelte Interdependenz besteht und die Errichtung einer ökonomischen EG-Festung unmittelbar kontraproduktive Folgen hätte. Die eigentliche Festungsbildung droht vielmehr gegenüber den peripheren Gebieten Europas, die derzeit für die ökonomische Wohlfahrt des entwickelten Europas kaum mehr als marginale Bedeutung haben.
In diesen peripheren Gebieten selbst ist Empathie für das größere Europa nicht ohne weiteres zu erwarten. Man wird also auf die Belange dieser Gebiete, die heute im wesentlichen in Südosteuropa und auf dem Balkan liegen, besonders eingehen müssen, um sie für den gesamteuropäischen Prozeß zu gewinnen. Denn ohne ihre Einbettung in diesen Prozeß drohen die negativen Folgen von Reformversagen, von ethnonationalistischen Konflikten und von möglicherweise zwischenstaatlichen Konflikten in Gestalt politisch und wirtschaftlich motivierter Flüchtlingsströme unmittelbar auf das entwickelte Europa durchzuschlagen. Auch wenn Empathie auf absehbare Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach eine Einbahnstraße von den dynamischen Entwicklungspolen zu den peripheren Gebieten Europas sein wird, allseitige Wechselseitigkeit also zunächst ausbleiben könnte, wird sie doch für eine gedeihliche Entwicklung Europas von erheblicher Bedeutung sein. Hier sind die politischen Klassen, die maßgeblichen Interessengruppen und vor allem auch die sozialen Bewegungen gefordert.
Langfristig wird allerdings Europa nur Bestand haben, wenn Empathie zu einer umfassenden Angelegenheit wird und sich auf allen möglichen Ebenen vielseitige Loyalitäten herausbilden. Sie böten Schutz vor Chauvinismus. Dann könnte im Sinne von Norbert Elias auch jenseits des Nationalstaates eine Affektkontrolle zum Tragen kommen, ohne die eine rationale internationale Politik nicht möglich ist
V. Die friedenstheoretische Leitperspektive
Das sich neugestaltende Europa könnte zu dem werden, was Karl W. Deutsch in der zitierten frühen Untersuchung eine „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ genannt hat. Diese wäre konföderativ strukturiert und würde dem Prinzip der Subsidiarität folgen: Was auf unteren Ebenen geregelt werden kann, sollte dezentral bewerkstelligt werden; was nur auf höherer Ebene sich koordinieren läßt, sollte von dort aus gesteuert werden. So würde das heutige Europa institutionell über sich hinauswachsen, weil sich neue Institutionen auf der gesamteuropäischen Ebene herausbilden würden. Dennoch würde erheblicher Wert auf die größtmögliche Autonomie seiner Regionen und Subregionen gelegt werden.
Dieses Europa würde durch vielfältige Verflechtungen (Interdependenzen) gekennzeichnet; es wäre ordnungspolitisch relativ vereinheitlicht (Homologie); das Wohlergehen in einem Teil würde vom Wohlergehen in anderen Teilen abhängig (Symbiose); viele Austauschprozesse zwischen gesellschaftlichen Akteuren und Privatpersonen wären unüberschaubar und vielfältig-ungeordnet (Entropie); gemeinsame Institutionen würden dem gesamten Gebilde ein belastbares Rückgrat verleihen. So könnte eine kooperative Struktur entstehen, in der die verschiedenen Dimensionen der Friedenspolitik positiv aufeinander zurückwirken.
Deshalb sollten diese Dimensionen, wenn man sie einzeln diskutiert, immer im Zusammenhang aller übrigen gesehen werden: Der Schutz vor Freiheit durch Rechtsstaatlichkeit, der Schutz vor Gewalt durch Erwartungsverläßlichkeit, der Schutz vor Not durch ökonomischen Ausgleich und der Schutz vor Chauvinismus durch Empathie sind einzeln begründbare, aber doch in einer wechselseitigen Beziehung zu sehende friedenspolitische Bausteine. Ihre theoretische Begründung erfolgt meist nur eindimensional; aber ihre wirkliche Bedeutung finden sie vor allem in einer konfigurativ zu denkenden theoretischen Leitperspektive und in einem breit gefächerten Friedenskonzept Diese vermögen zu verdeutlichen, daß eine auf Rechtsstaatlichkeit, Erwartungsverläßlichkeit, ökonomischen Ausgleich und Empathie aufbauende Friedensstruktur eigener Art das schiere Gegenteil des konfrontativen Abschreckungsfriedens ist. Stehen hier der militärische Faktor und damit die Rüstungskonkurrenz mehr oder weniger an erster Stelle, so treten diese unter den neuen Bedingungen konsequent in den Hintergrund. Die Lage Europas, auch die militärische Sicherheitslage, kann dann nicht mehr aus dem Wechselspiel militärischer Optionen und Gegenoptionen erfaßt werden -eine Fixierung, die im Grunde genommen auch in der Vergangenheit schon problematisch war, weil sie zum Teil die Wirklichkeit verkannte.
Erforderlich sind nunmehr an erster Stelle politische Einschätzungen, ökonomische Trendanalysen und sozialpsychologische Lagebeurteilungen. Hinzu kommen ökologische Risikoanalysen, die für die Masse der Menschen von viel unmittelbarerer Relevanz sein werden als die Analyse unwahrscheinlich gewordener militärischer Eventualfälle
Ist die Neugestaltung Europas inzwischen schon zu einem unumkehrbaren Prozeß geworden? Kann wirklich nichts mehr schieflaufen? Das zu unterstellen, wäre vermessen und blind. Ein Europa der Nationalismen, der Allianzen und Gegenallianzen, der ökonomischen Zerklüftung und chauvinistischen Politik ist unschwer vorstellbar. Käme es zu einer solchen Regression in Europa, würde die auf Machtlagen-Analyse ausgerichtete Theorietradition, also der Realismus bzw. Neorealismus, hinsichtlich dieses Kontinents eine begründete Renaissance erfahren. Zur praktischen Aufgabe von friedenstheoretischen Bemühungen gehört deshalb auch der Versuch, einer solchen Regression entgegenzuwirken.
Im Falle des Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat dies nichts mit illusionärer Orientierung zu tun, sondern, wenn man so will, mit realpolitischem Spürsinn: In Europa bietet sich heute die Chance, eine Struktur dauerhaften Friedens aufzubauen. In einer Situation objektiv möglicher Weichenstellungen kann diese Chance genutzt, aber auch verspielt werden. Glücklich, wenn in solcher Konstellation Theorie und Praxis zueinanderfänden, denn in der Tat: Die Geschichte wiederholt ihre Angebote nicht. Und wenn überhaupt einmal Theorie für das praktische Leben taugt, dann in einer solchen relativ offenen Situation der Weichenstellung, des kairos.