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Das Ende der Nachkriegsordnung | APuZ 18/1991 | bpb.de

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APuZ 18/1991 Das Ende der Nachkriegsordnung Die Neugestaltung Europas. Perspektiven und Handlungsgebote Zur Neukonstellation der Mächte in Europa. Transformation der Bündnisse -Rüstungskontrolle -Sicherheit Die Bundeswehr der neunziger Jahre vor neuen Herausforderungen. Versuch einer Zwischenbilanz

Das Ende der Nachkriegsordnung

Wilfried Loth

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende gegangen und die Nachkriegsordnung Europas ist zerfallen, weil die Perestroika über die Intentionen Gorbatschows hinaus zu einer Auflösung des sowjetischen Imperiums geführt hat. Dieser Prozeß ist nicht mehr rückgängig zu machen. Entweder gelingt es nunmehr, die Sowjetunion in eine Föderation rechtsstaatlicher Republiken umzuwandeln, oder sie versinkt in weitgehender Anarchie mit bürgerkriegsähnlichen Zuspitzungen. Wenn rasche Fortschritte auf dem Weg zu einer wirklichen Friedensordnung in Europa erreicht werden sollen, ist dreierlei nötig: Eine Art Marshall-Plan für das östliche Europa, der Beitritt der Sowjetunion zur NATO und der Ausbau der Europäischen Gemeinschaft.

Ist jetzt die Nachkriegszeit zu Ende gegangen? Das Bedürfnis nach plakativen Epocheneinteilungen, das sich in dieser These widerspiegelt, führt etwas in die Irre. Vom Ende der Nachkriegszeit war schon wiederholt die Rede, jedesmal mit einer gewissen Berechtigung. 1949 ging die Zeit der Besatzungsregierungen in Deutschland zu Ende, wenig später die Zeit der ökonomischen Nachkriegskrise, in der für den Raubbau der Kriegsökonomie und die Kriegszerstörungen gezahlt werden mußte. 1955 endete das Ringen um die Nachkriegsordnung Europas mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der Bildung des War-schauer Paktes unter Einschluß der DDR. 1953, als Stalin starb, 1962 nach der Kuba-Krise und 1969 mit dem Beginn der sozialliberalen Ostpolitik glaubten viele, das Ende des Kalten Krieges ausmachen zu können, auch wenn die danach einsetzenden Phasen der Entspannung jedesmal prekär blieben. 1961, mit dem Bau der Berliner Mauer, endete für viele Deutsche die Zeit der deutschlandpolitischen Illusionen; 1982, mit dem Über-DiesesEnde, so überraschend es für alle war, kam nicht von ungefähr. Der ursprüngliche ordnungspolitische Konflikt, der den Ost-West-Konflikt konstituiert hatte, war schon lange bis zur Bedeutungslosigkeit verkümmert. Die sozialstaatlich verfaßten Gesellschaften des Westens hatten nur noch wenig mit dem klassischen Kapitalismus der Industrialisierungsära zu tun, gegen den sich die sozialistische Bewegung gewandt hatte; und das Gegen-modell des „real existierenden Sozialismus“ übte in der Amalgamierung mit sowjetischen Machtinteressen und Entwicklungsproblemen auf niemanden mehr auch nur noch die geringste Anziehungskraft aus.

Das Sicherheitsdilemma, das die beiden Paktsysteme gleichwohl in einem antagonistischen Verhältnis zueinander hielt, konnte doch nicht überdekken, daß Ost wie West vor gemeinsamen Problemen standen, die, wenn überhaupt, dann nur in gemeinsamer Anstrengung bewältigt werden konnten: der Gefahr der atomaren Vernichtung, der Umweltzerstörung und der Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt. In der Sowjetunion wuchs mit zunehmender Industrialisierung und wachsender Bedeutung der technischen Intelligenz Vorabdruck aus dem von Bruno Schoch herausgegebenen Band zu den Folgen der deutschen Einigung: „Friedensanalysen“, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1991. gang zur Regierung Kohl/Genscher, war dann nach einer Phase zunächst heftiger und zuletzt nur noch unterschwelliger Auseinandersetzungen ein neuer deutschlandpolitischer Konsens in der Bundesrepublik erreicht. 1968, in Teilbereichen auch schon früher, brachen die sozialmoralischen Milieus zusammen, welche die deutsche Gesellschaft seit der Ära der Reichsgründung geprägt hatten und über den Zusammenbruch von 1945 hinweg im Kem konstant geblieben waren.

Gelegenheiten, von der Nachkriegszeit Abschied zu nehmen, gab es also schon viele; und ebenso häufig waren Neuanfänge und vielversprechende Aufbrüche. Was jetzt zu Ende gegangen ist, ist der Ost-West-Konflikt, der als ordnungspolitischer Konflikt in die Zeit vor 1945 zurückreicht, und mit ihm die 1955 fixierte Nachkriegsordnung Europas, darin eingeschlossen die Existenz zweier deutscher Staaten, zweier antagonistischer Bündnissysteme und der Souveränitätsvorbehalt der Siegermächte für alle Deutschland „als Ganzes“ betreffenden Fragen.

I. Das Ende des Ost-West-Konflikts

die Zahl derjenigen, die erkannten, daß mit Planwirtschaft und Einparteiendiktatur auf die Dauer weder wirtschaftlicher noch sozialer Fortschritt zu erzielen war und daß das Land seine Kräfte in einem ebenso sinnlosen wie gefährlichen Rüstungswettbewerb überforderte.

Wer die Verhältnisse in der Sowjetunion und im östlichen Europa genau beobachtete, mußte schon lange zu dem Schluß kommen, daß sich diese Einsichten früher oder später durchsetzen würden. Durch Repression war die Krise des Sowjetsystems auf Dauer nicht mehr in den Griff zu bekommen. Dazu war die Industrialisierung der Sowjetgesellschaft unterdessen, anders als noch in der späten Chruschtschow-Ära, zu weit fortgeschritten: Die intellektuell qualifizierte Schicht war zu zahlreich geworden, und die Anforderungen an die Qualifizierung waren zu hoch. In den teilmodernisierten Gesellschaften des Ostblocks wuchs die Zahl derjenigen, die wußten, daß es grundsätzlich nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher; und zumindest in Polen gelang es ihnen, sich mit einer breiten, gesellschaftlich tief verankerten Widerstandsbewegung zu verbinden.

Es ist wahr, daß die Anzeichen einer Erosion des Sowjetsystems nur von einer Minderheit westlicher Beobachter gesehen wurden. Aber es verdient festgehalten zu werden, daß es diese Minderheit gegeben hat und daß sie in geradezu triumphaler Weise Recht bekam -gegen die große Mehrheit der Sowjetologen, die in ahistorischer Zuspitzung der Totalitarismus-Theorie stets die Unwandelbarkeit des sowjetischen Systems behauptet haben. Was freilich niemand voraussehen konnte, war der Zeitpunkt des Durchbruchs der Einsichten in die Unhaltbarkeit des sowjetischen Systems. „Als Historiker ist mir klar“, schrieb Leonid M. Batkin in der Anfangsphase der Perestroika, „daß das kommen mußte. Aber ich persönlich und meine Altersgefährten hätten das auch nicht mehr erleben können.“

Daß der Sowjetkommunismus seinen historischen Endpunkt erreichte, ist drei Umständen zu verdanken: Erstens hatte die Krise des Sowjetregimes ein Ausmaß erreicht, das ein bloßes Kurieren an Symptomen nicht mehr erlaubte. Zu der notorischen Unproduktivität und dem hoffnungslosen technologischen Rückstand waren gigantische Fehlplanungen gekommen. Korruption, Schattenwirtschaft und organisiertes Verbrechertum hatten ganze Sektoren der Sowjetgesellschaft überzogen; Jugendbanden, Alkoholismus und gewalttätiger Nationalismus signalisierten ein beängstigendes Ausmaß gesellschaftlicher Desintegration. Die Sowjetunion drohte im Marasmus eines unterentwickelten Landes zu versinken.

Zweitens rückte mit Michail Gorbatschow eine Führungsequipe in die Zentren der Sowjetmacht ein, die bereit war, der Realität der bevorstehenden Katastrophe ins Auge zu sehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Sie verfügte weder über ein geschlossenes Programm noch verstand sie ihr Tun von Anfang an als revolutionär. Die Entschlossenheit, sich nicht mit frommem Selbstbetrug zufrieden zu geben und wirkliche Resultate zu erreichen, hat sie jedoch immer weiter getrieben -zu immer erschreckenderen Einsichten und radikaleren Maßnahmen, bis schließlich die vollständige Übernahme der Grundsätze rechtsstaatlicher Demokratien und sozialstaatlicher Marktwirtschaften auf dem Programm stand.

Drittens hielt Gorbatschow auch dann noch an diesem Programm fest und wußte er es gegen vielfache Widerstände zu behaupten, als deutlich wurde, daß es zu einer Auflösung des Sowjetimperiums führte. Diese Auflösung war keineswegs in seinem Sinne, aber nachdem jeder Einsatz militärischer Gewalt gegen Unabhängigkeitsbewegungen jedweder Art die Perestroika zum Scheitern zu bringen drohte, waren ihm die Hände gebunden. Er konnte wohl noch taktieren, aber letztlich nicht mehr verhindern, daß sich die Nationalitäten gegen die Moskauer Zentrale auflehnten und die Länder des Warschauer Pakts von der Einparteienherrschaft befreiten, die Stalin ihnen aufgezwungen hatte. Die Angst vor dem Absturz ins Dritte-Welt-Elend ließ ihm nur noch die Flucht nach vorn in ein demonstratives Bekenntnis zur freiheitlichen Neuordnung Europas und der Sowjetunion; und der Mangel an akzeptablen Alternativen erlaubte es ihm, diesen Kurswechsel auch gegen hinhaltenden Widerstand durchzusetzen

Die westliche Politik der Stärke, wie sie etwa im Nachrüstungsbeschluß ihren Ausdruck fand, hat diese Entwicklung weder verursacht noch beschleunigt; das muß gegen allzu durchsichtige Legendenbildungen festgehalten werden. Sie hat sie im Gegenteil -ohne daß das ganze Ausmaß der verpaßten Chancen im nachhinein noch rekonstruiert werden könnte -wiederholt verzögert. Denn es ist ja umgekehrt ganz offenkundig, daß die Bemühungen um ein Durchlässigmachen der Grenzen zur Verbreitung westlicher Prinzipien im Machtbereich der Sowjetunion beigetragen haben und daß die Erfahrung westlicher Kooperationsbereitschaft der sowjetischen Führung den Abschied von den alten Einkreisungsängsten erleichtert hat. Daß der Wandel des Sowjetimperiums zuletzt dramatische Dimensionen annahm und zu Konsequenzen führte, die niemand recht durchdacht hatte, ändert nichts daran, daß die Rechnung, die im Konzept des „Wandels durch Annäherung“ steckte, jetzt aufgegangen ist.

Natürlich haben es die Praktiker der westlichen Entspannungspolitik nicht immer verstanden, die schwierige Balance zwischen Distanz und Kumpanei zu wahren, die notwendig war, wenn man über eine Anerkennung des Status quo zu seiner Über-windung gelangen wollte. Manch einer hat auch der Neigung nachgegeben, es sich im Status quo bequem zu machen; und wieder andere haben dabei auch noch Illusionen über das gepflegt, was sie für eine Verkörperung des Sozialismus hielten. Viel bequemer haben es sich freilich diejenigen gemacht, die ganz auf eine operative Ostpolitik verzichteten und mit ihrer Abschottungspraxis zur Vertiefung der Ost-West-Spaltung beitrugen. Wenn diese Kreuzritter des Kalten Krieges jetzt den Sieg für sich reklamieren, nur weil sie die westlichen Prinzipien immer lautstark auf den Lippen führten, muß das als Versuch plumper Erbschleicherei zurückgewiesen werden.

Nicht der Westen hat im Kalten Krieg gesiegt, sondern die westlichen Prinzipien sind im sowjetischen Machtbereich zum Programm geworden. Das ist etwas ganz anderes: Es ist neben und vor dem Erfolg westlicher Entspannungspolitik auch ein Erfolg der Sowjetunion selbst. Ihre Führer sind, indem sie sich aus dem Gewebe von organisiertem Mißtrauen, verkrusteten Dogmen und lähmender Repression hinausgewagt haben, über sich hinausgewachsen und haben damit bewiesen, daß der Untergang der Sowjetunion zumindest nicht unausweichlich ist. Die Sowjetunion hat strategisches Aufmarschgebiet verloren, aber sie hat auch Verbündete gewonnen, die ihr bei der Bewältigung ihrer Modernisierungsprobleme helfen können. Sie hat sich von den Lasten einer 45jährigen Überspannung ihrer Kräfte befreit.

Mit der Übernahme westlicher Prinzipien durch die sowjetische Führung und der osteuropäischen Revolution, die dadurch möglich wurde, ist nicht das Ende der Geschichte erreicht. Unterschiedliche Vorstellungen über die optimale Ordnung menschlichen Zusammenlebens, Verteilungs-und Machtkämpfe wird es auch in Zukunft geben; und die gegenwärtige heftige Abneigung großer Bevölkerungsmehrheiten im bisherigen Ostblock gegen alles, was mit dem Begriff „Sozialismus“ in Verbindung gebracht werden kann, mag bald in Enttäuschung über die negativen Folgen des freien Spiels der Kräfte umschlagen. Die Grabgesänge auf den Sozialismus könnten sich folglich als verfrüht erweisen. Voluntaristische Revolutionskonzepte nach Art des Leninismus, die Reduktion der Geschichte auf eine Geschichte der Klassenkämpfe und prinzipieller Verzicht auf Privateigentum dürften allerdings endgültig diskreditiert sein. Grundsätzlich wird aber -wegen der unabweisbar zunehmenden Bedeutung von Gemeinschaftsaufgaben -über die Institutionalisierung politischer Korrekturen der Marktkräfte noch intensiver nachgedacht werden als bisher.

Es gibt keine politische Kraft mehr, die den Anspruch erhebt, an der Spitze einer revolutionären Bewegung zu stehen, der weltweit die Zukunft gehört. In der Staatenwelt gibt es nicht mehr die Unterscheidung zwischen Ländern, die sich diesem Anspruch unterordnen müssen, und Ländern, die seine Abwehr als vorrangiges gemeinsames Interesse ansehen. Der Ostblock hat sich aufgelöst, und damit stellt sich auch das Sicherheitsdilemma, das Ost und West über den Anlaß ihres Konfliktes hinaus in einem antagonistischen Gegeneinander gefangenhielt, nicht mehr in der bisherigen Form. Der Westen hat keinen Anlaß mehr, sich von einem Osten bedroht zu fühlen, über dessen letzte Intentionen er sich nie definitiv sicher sein konnte; und die Länder, die bislang den Osten bildeten, haben ebensowenig Anlaß, sich vom Westen bedroht zu fühlen Insofern kann man tatsächlich von einem Ende des Ost-West-Konflikts sprechen.

Dieses Ende ist definitiv, auch wenn das Gelingen des demokratischen Projekts in den Reformländem Osteuropas noch keineswegs gesichert ist und in der Sowjetunion infolge des Fehlens liberaler Traditionen, der Beharrungskraft des Parteiapparats und der Apathie breiter Bevölkerungskreise mehr als fraglich erscheint. Die Ära des sowjetischen Zentralstaats ist in jedem Fall vorüber, und die Zeit seiner Beherrschung durch eine Partei leninistischen Typs erst recht. Wenn Gorbatschow und Jelzin scheitern -d. h. wenn es nicht gelingt, die Sowjetunion in eine Förderation rechtsstaatlich organisierter Republiken umzuwandeln -, dann droht eine weitgehende Anarchie mit bürgerkriegsähnlichen Zuspitzungen, vielleicht die Etablierung eines autoritären Regimes in der einen oder anderen Region, aber weder eine Rückkehr zur alten Ordnung noch eine anders akzentuierte zentrale Diktatur.

Dazu nämlich ist die Nomenklatura schon zu weit vom Zentrum der Macht abgedrängt und -anders als die Revolutionäre von 1917 -zu apathisch. Es fehlt ihr jede mobilisierende Utopie. Die Bevölkerung ist in zu unterschiedliche Erfahrungsräume separiert und, alles in allem, doch schon zu weitgehend in Bewegung geraten. Und die Armee, die bislang noch nie politisch eigenständig operieren durfte, ist selber zu heterogen, zu stark von unterschiedlichen Nationalitäten durchsetzt und unterschiedlichen Bewegungen ergriffen, als daß sie einen Bürgerkrieg als einheitlicher Machtfaktor überleben könnte. Die Vertreter der alten Ordnung, auf die sich Gorbatschow seit dem Winter 1990 wieder mehr und mehr stützt, können die Perestroika blockieren, aber sie können die verschiedenen Emanzipationsbewegungen nicht insgesamt wieder unter ihre Kontrolle bringen

Erst recht ist nicht zu sehen, mit welchen Machtmitteln die Revolutionen in Osteuropa wieder rückgängig gemacht werden sollten. Wer immer sich in der bisherigen Sowjetunion schließlich durchsetzen wird -er wird auf lange Zeit dringendere Sorgen haben als den abermaligen gewaltsa• men Export des eigenen Gesellschaftsmodells. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland kann zwar theoretisch noch gestoppt werden; doch macht ihre Präsenz nach der Auflösung des War-schauer Paktes auch strategisch nicht mehr viel Sinn, so daß sich die Moskauer Verantwortlichen schon überlegen werden, ob sie mit einer Aufkündigung der „ 2+ 4“ -Vereinbarungen den Verlust jeder Unterstützung bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise riskieren wollen. Ein „Befreiungskrieg“, der die Rote Armee wieder in die Mitte Europas zurückbrächte, ist nicht in Sicht. Und aus eigener Kraft können die Kommunisten die alten Machtstrukturen schon gar nicht wiederbeleben -

sieht man einmal von Rumänien ab, wo sie ja nicht wirklich beseitigt wurden.

II. Gefahren für die Friedensordnung

Mit dem Ende der Nachkriegsordnung kehren jedoch nicht einfach die Vorkriegsverhältnisse wieder zurück. Von gesellschaftlichen Wandlungen und vielfachen Lernprozessen abgesehen haben drei Elemente der Nachkriegsordnung die Umbrüche von 1989/90 überlebt:

-Europa befindet sich nach wie vor in der strategischen Reichweite zweier atomarer Supermächte. -Die Bundesrepublik Deutschland bleibt auch nach der territorialen Erweiterung in den Westen integriert.

-Der Westen bleibt als institutionalisierter Handlungsverbund erhalten.

Das ist jedoch nur ein vorläufiger Befund: Jedes dieser drei Elemente ist zugleich in Frage gestellt, weil es bisherige enge Funktionszusammenhänge verloren hat und neue Probleme aufgetreten sind, die mit den bisherigen Instrumentarien nicht mehr bewältigt werden können. Wie die Nach-Nachkriegsordnung aussehen wird, ist darum in mehrfacher Hinsicht offen.

Auf der einen Seite bietet das Ende des Ost-West-Konflikts Chancen, von denen bis vor kurzem niemand auch nur zu träumen gewagt hat. Den Menschen im bisherigen sowjetischen Machtbereich eröffnet sich die Aussicht auf persönliche Freiheit, rechtsstaatliche Sicherheit und produktiven Einsatz ihrer Kräfte. Abrüstung und Errichtung kooperativer Sicherheitsstrukturen können wesentlich schneller vorankommen als bisher, nachdem die bisherigen Verteidigungsszenarien jeden Sinn verloren haben und das Mißtrauen vor den Absichten der anderen Seite nicht mehr so leicht zu mobilisieren ist. Europa wird zwar noch lange an den Folgen seiner Spaltung zu tragen haben; gleichwohl kann es sicherheitspolitisch, ordnungspolitisch und wirtschaftlich zu einem Raum zusammenwachsen, in dem gemeinsame Strukturen die Bedeutung nationaler Grenzen relativieren und die Ausstrahlung der Europäischen Gemeinschaft eine Renaissance des alten Kontinents einleitet.

Andererseits birgt der gegenwärtige Umbruch aber auch Gefahren, die, wenn man ihnen nicht rechtzeitig und energisch genug begegnet, nicht nur diese alles in allem grandiose Vision zunichte machen können, sondern auch bereits bestehende integrative Strukturen bedrohen.

Da ist zunächst und vor allem die Gefahr nationalistischer und fundamentalistischer Regression in den Reformländern des östlichen Europas und im Vielvölkerstaat Sowjetunion. Zum Teil rührt sie daher, daß dieimperialistische Ordnungsfunktion, die die Sowjetmacht im Gefolge des Zarenregimes innegehabt hat, nicht mehr greift und die repressiven Methoden dieser Ordnungsmacht die ungelösten Nationalitätenprobleme langfristig noch verschärft haben. Hinzu kommt, daß das Ideal einer zivilisierten Gesellschaft aufgrund mangelnder materieller Voraussetzungen und vielfach gegenteiliger Erfahrungen oft so wenig glaubwürdig erscheint, daß nach dem Zerfall der Sowjetideologie nur nationale und ethnische Identitäten als Flucht-punkte der Orientierung übrigbleiben. Diese Tendenz kann sich in Zukunft noch erheblich verstärken, wenn Erfolge bei der wirtschaftlichen Umgestaltung ausbleiben: Die oft naiven Erwartungen an das westliche Wirtschaftsmodell können rasch in Enttäuschung umschlagen, die sich dann in aggressivem und destruktivem Nationalismus ein Ventil sucht.

Daraus resultieren nicht nur Gefahren für das Gelingen des demokratischen Projekts in der Sowjetunion und -in geringerem Maße -in den übrigen Reformländern des östlichen Europas. Es droht die Gefahr langwährender Regionalkonflikte und Bürgerkriege, die die gesamte osteuropäische Region in einen permanenten Unruheherd verwandeln, der auch in das westliche Europa ausstrahlt. Statt der Entwicklung produktiver Beziehungen stehen dann neue Asylantenströme ins Haus, und es fehlt auch der verläßliche Partner, dessen konstante Mitwirkung für die Schaffung stabiler Sicherheitsstrukturen in Europa unerläßlich ist.

Selbst wenn gewaltsame Zuspitzungen der Nationalitätenkonflikte vermieden werden können, bleibt fraglich, auf welche Partner sich die westliche Abrüstungsstrategie in Zukunft stützen kann. Hier wird die Achillesferse des Konzepts der Sicherheitspartnerschaft sichtbar: Es ging allzu sorglos und ohne die Rückwirkungen auf die inneren Verhältnisse im sowjetischen Machtbereich zu bedenken von der Existenz eines stabilen östlichen Partners aus, mit dem man Abrüstungsverträge schließen und sicherheitspolitische Maßnahmen verläßlich organisieren konnte.

Jetzt ist zwar das Grundmißtrauen geschwunden, das das Bemühen um kooperative Sicherheitsstrukturen so lange überschattet hat; gleichzeitig aber schwindet der bisherige Verhandlungspartner. Das Verhandeln wird schwieriger, das Einhalten von Absprachen ungewisser; und grundsätzlich ist auch nicht auszuschließen, daß dieser Auflösungsprozeß in der Moskauer Zentrale so katastrophale Befürchtungen hervorruft, daß die Bereitschaft, kooperative Sicherheitsstrukturen zu realisieren, wieder verloren geht.

Umso schwerer wiegen vor diesem Hintergrund die Gefahren, die von dem Umstand ausgehen, daß der Substanzverlust der beiden Blöcke so denkbar unterschiedlich ausgefallen ist. Nicht nur, daß er Anlaß zu einem westlichen Triumphalismus geben könnte, der das machtpolitische Vakuum, das der Zusammenbruch des Warschauer Pakts hinterläßt, bedenkenlos zur Ausdehnung der eigenen Macht nützt und damit die sowjetische Führung mutwillig in eine abermalige defensive Verhärtung treibt. Viel wahrscheinlicher sind Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit: der Glaube, das zerfallene Sowjetimperium seinem Schicksal überlassen zu können, und die Annahme, die verbliebenen Sicherheitsprobleme würden sich mehr oder weniger von allein lösen. Beides ist illusionär. Ohne den Druck einer hochgradig motivierten und präzise argumentierenden Friedensbewegung werden sich die Interessen, die mit dem militärisch-industriellen Komplex verbunden sind -trotz radikal veränderter Sicherheitslage -weitgehend behaupten; und die Unruhen, die im östlichen Europa und den sowjetischen Republiken zu erwarten sind, werden den Nutznießern des militärisch-industriellen Komplexes dann auch noch als Vorwand dienen, um den Rüstungsabbau zu bremsen.

Schließlich birgt auch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gewisse Gefahren für die europäische Friedensordnung, die nicht übersehen werden sollten Die europäischen Nachbarn und die Siegermächte haben diesen Beitritt, was immer sie jetzt sagen mögen, ursprünglich nicht gewollt. Lange Zeit waren ihnen zwei deutsche Staaten lieber als einer -nicht, weil die Deutschen mit Auschwitz das Recht auf einen Nationalstaat verwirkt hätten, wie eine verbreitete, aber unsinnige These behauptet, sondern weil die Macht eines einigen Deutschlands schon immer (das heißt: auch vor 1933) die Sicherheit seiner Nachbarn in Frage gestellt hat, zuletzt mit verheerenden Folgen für ganz Europa. Das Problem der Sicherheit vor Deutschland hat sich auch nicht dadurch erledigt, daß sich die weltpolitischen Maßstäbe nach 1945 vergrößert haben und die Deutschen zu Demokraten geworden sind. Was dadurch an Bedrohlichkeit verlorengegangen ist, wird durch die verstärkte Bedeutung des ökonomischen Faktors im weltpolitischen Kräftespiel zum Teil wieder wettgemacht.

Natürlich muß man den Nachbarn sagen, daß sie sich nicht durch veraltetes geostrategisches Denken irre machen lassen sollen. Nicht 16 Millionen Deutsche in einem Staatsverband mehr oder weniger sind das Problem, sondern die deutsche Wirtschaftskraft; und die ist so oder so beträchtlich. Volkswirtschaftlich stellt der Zuwachs der DDR erst einmal eine Belastung dar; und was sich einmal insgesamt an Stärkung des deutschen Potentials ergeben wird, mag durch größere Verläßlichkeit der Deutschen kompensiert werden, die nun nicht mehr wegen ihrer ungelösten nationalen Frage irritieren. Die Zwei-Staaten-Regelung, an die sich alle Welt gewöhnt hatte, war zwar eine Lösung für das Problem der staatlichen Existenz der Deutschen in Europa, die größere Stabilität aufwies als alle vorherigen Lösungsversuche. Aber sie war darum doch keine Ideallösung, vor allem deswegen nicht, weil sie mit der Hypothek der Unterdrückung der DDR-Deutschen belastet war. Und sie war auch nicht die einzig denkbare Lösung; bis sie 1955 festgeschrieben wurde, haben alle Siegermächte immer wieder über Alternativen nachgedacht. Der Zusammenbruch der Zwei-Staaten-Regelung sollte daher kein Grund zur Panik sein

Es bleibt aber, das muß man jetzt den Deutschen sagen, daß mit der Lösung nicht schon das Problem verschwunden ist. Niemand kann die DDR-Deutschen dafür kritisieren, daß sie die Chance der Gorbatschow-Revolution dazu genutzt haben, die Entscheidungen der Nachkriegszeit (an denen sie selber nicht beteiligt waren) zu ihren Gunsten zu korrigieren -am wenigsten die Westdeutschen, die Nutznießer dieser Entscheidungen gewesen waren. Aber es muß, nachdem die Zwei-Staaten-Lösung durch das Votum der DDR-Deutschen obsolet geworden ist, über andere Garantien gegen eine Rückkehr zur deutschen Hegemonie in Europa nachgedacht werden. Darauf haben die Nachbarn nach der leidvollen Erfahrung mit der Geschichte des Deutschen Reiches ein Recht, und daran sollten auch die Deutschen interessiert sein: Nur in der Einbindung in eine europäische Ordnung können sie produktiv an der Lösung der übrigen Probleme des alten Kontinents mitarbeiten. Nationales Auftrumpfen wäre zwar möglich, aber es würde nur erneutes Mißtrauen bei den Nachbarn produzieren. Eine schleichende Erosion der Europäischen Gemeinschaft und ihrer demokratisch verfaßten Gesellschaften wäre die Folge, bei der wieder verspielt würde, was in 40jähriger Aufbauarbeit schon an Integration erreicht worden ist.

Der Verlauf des deutschen Einigungsprozesses hat die Entwicklung in diese Richtung schon weiter vorangetrieben, als es den meisten Deutschen bewußt ist. Es mag sein, daß ohne energisches Zu-packen der Zeitpunkt für eine allseitige Zustimmung zur staatlichen Einheit der Deutschen im Rahmen des westlichen Bündnisses verpaßt worden wäre. Aber es bleibt, daß der überwiegende Teil der politischen Klasse des sich vereinigenden Deutschlands dabei die staatliche Einheit der Nation wieder als Wert an sich gehandelt hat, unabhängig von der Freiheit der DDR-Bürger, die ja schon erreicht war, und ohne sonderliche Rücksichten auf die Empfindungen der Nachbarn.

Im Einheitsrausch des Frühjahrs 1990 ging verloren, daß sich die offizielle Bonner Politik einst (etwa in den „Briefen zur deutschen Einheit“ bei Abschluß des Moskauer und des Grundlagenvertrages) auf die Priorität einer europäischen Friedensordnung vor der staatlichen Einheit festgelegt hatte Niemand dachte mehr an Richard von Weizsäckers Diktum, daß die deutsche Frage solange offen sei, „wie das Brandenburger Tor zu ist“. Das hat bei den Nachbarn den Verdacht genährt, den Deutschen gehe es letztlich um nichts anderes als um nationale Machtpolitik im klassischen Sinne; und es hat die Position all jener bestärkt, die im Nationalstaat die unabänderlich letzte Form der Organisation menschlichen Zusammenlebens sehen und darum einem Rückzug auf nationale Positionen das Wort reden. Es wer-den große Anstrengungen notwendig sein, um diese Regressionstendenzen wieder zu verdrängen.

Darüber hinaus kann die deutsche Einigung auch die Aussichten auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zunichte machen -dann nämlich, wenn sie als Sieg über die Sowjetunion gefeiert wird und damit dort die Rückkehr zu altem sicherheitspolitischen Denken fördert. Hier hat die Bundesregierung, vor allem dank Genschers Einsatz, bislang verantwortungsvoller gehandelt. Die militärischen Klauseln der Kohl-Gorbatschow-Vereinbarungen beinhalten keine dramatische Verschiebung der sicherheitspolitischen Balance zu Lasten der Sowjetunion und eröffnen zudem die Aussicht, daß ihr Verzicht auf konventionelle Faustpfänder mit dem Übergang zu einem gemeinsamen Sicherheitssystem honoriert wird. Allerdings bedeutet die von der NATO beschlossene Herabstufung der Atomwaffen zum „letzten Mittel“ noch keine definitive Abkehr von einer Verteidigungsstruktur, die ganz auf die Doktrin der „flexible response“ zugeschnitten ist. Das hat den Gegnern des „neuen Denkens“ schon Anlaß gegeben, Schewardnadse zum Rücktritt zu treiben. Sollten den verheißungsvollen westlichen Worten nicht rasch eindeutigere Taten folgen, könnten weiteren Verhandlungen über die Schaffung kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa bald ganz die Grundlagen entzogen werden.

III. Elemente gesamteuropäischer Integration

Was ist zu tun, wenn die Gefahren des Umbruchs eingedämmt und seine Chancen genutzt werden sollen?

Am dringendsten ist eine umfangreiche Wirtschaftshilfe für die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder, eine Art Marshall-Plan für Osteuropa. Natürlich muß das Entscheidende an Umstrukturierung in den Reformländern selbst geschehen und muß die Hilfe daher sehr gezielt, in Verknüpfung mit präzisen Reformschritten erfolgen. Dabei kann man die Erfahrungen aus dem Marshall-Plan auch nicht einfach übertragen. Aus dem Fehlen liberaler Traditionen und den Deformationen der staatlichen Zwangswirtschaft resultieren ganz andere Schwierigkeiten als aus den kriegsbedingten Blockaden der Nachkriegsära im westlichen Europa. Grundsätzlich können westliche Hilfen aber den schmerzhaften Erneuerungsprozeß abkürzen, und vielleicht können sie sogar im entscheidenden kritischen Moment einen Absturz in das Chaos nationalistischer Regression verhindern.

Nötig sind -in unterschiedlichen Kombinationen -Schuldenmoratorien, Startfinanzierungen (vor allem im Zusammenhang mit einer Währungsreform, die zumindest in der Sowjetunion unerläßlich ist), die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen sowie verbilligte Kredite und Steuervergünstigungen für westliche Investoren, die sich ansonsten nach günstigeren Renditen umsehen würden. Fast ebenso wichtig -und ungleich produktiver, wenn man das Verhältnis von Kapitaleinsatz und Resultat bedenkt -ist der Transfer von Know how, die Assistenz bei der Deckung des ungeheuren Nachholbedarfs an Wissen über soziale Marktwirtschaft und pluralistische Demokratie, der sich in den Reformländern aufgetan hat.

Es stimmt hoffnungsvoll, daß die Bundesregierung die Notwendigkeit solcher Hilfe erkannt hat und zumindest gegenüber der Sowjetunion und Polen bereits beträchtliche Verpflichtungen eingegangen ist. Es muß aber angemahnt werden, daß über die Unterstützung für die neuen Bundesländer und die Sowjetunion die übrigen Reformländer des europäischen Ostens nicht allzusehr ins Hintertreffen geraten. Eine solche Beschränkung wäre aus historischer Perspektive unerträglich: Sie würde ausgerechnet diejenigen benachteiligen, die schon die Opfer der deutschen Aggression gewesen sind und 45 Jahre kommunistischen Glücks allein dieser Aggression zu verdanken haben. Außerdem erscheint fraglich, ob die Bundesrepublik die erforderliche Hilfe im vollen Umfang allein leisten kann -problematisch wäre es in jedem Fall. Um allen Rapallo-Ängsten vorzubeugen und das Hilfsprogramm auf eine solide finanzielle Basis zu stellen, wird noch einmal eine gemeinsame Anstrengung des Westens notwendig sein. Was dazu bisher mit der Europäischen Entwicklungsbank geleistet worden ist, reicht noch nicht aus. Dazu verfügt sie nicht über genügend Kapital, ist sie zu bürokratisch organisiert und zu sehr auf private Unternehmer ausgerichtet, die es in den Reformländern noch gar nicht gibt.

Parallel zu einem solchen „Ost-Marshall-Plan" sind rasche und tiefgreifende Umbaumaßnahmen im europäischen Sicherheitssystem notwendig -über die jetzt erreichte Begrenzung der konventionellen Rüstung und die Errichtung der ersten KSZE-Institutionen hinaus. Sie müssen davon ausgehen, daß sich die NATO im Unterschied zum Warschauer Pakt behauptet hat, daß sie zur Abschreckung des östlichen Gegners nicht mehr gebraucht wird, wohl aber zur Organisation des Übergangs zu einem kooperativen Sicherheitssystem und mehr noch als in der Zeit der deutschen Teilung zur Einbindung der Deutschen. Daraus folgt, daß der effektivste Schritt zur Stabilisierung der sicherheitspolitischen Situation gegenwärtig darin bestehen würde, dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik alsbald einen Beitritt der Sowjetunion und der Reformländer des östlichen Europas zur -veränderten -NATO folgen zu lassen. Auf diese Weise -würde der gewachsenen Bedeutung der NATO als Stabilitätsfaktor Rechnung getragen und doch zugleich die Abkehr von ihrer jetzigen Verteidigungsdoktrin beschleunigt; -blieben nach Auflösung des Warschauer Paktes Verhandlungen über eine geordnete Abrüstung weiter möglich; sie würden sogar erleichtert; -behielte die Sowjetunion ihr Mitspracherecht in den europäischen und deutschen Angelegenheiten; gleichzeitig würden die Kräfte der Perestroika gestärkt.

Außerdem würde eine Einbindung der Sowjetunion in die NATO den Ausbau der deutsch-sowjetischen Kooperation erlauben, ohne daß bei den europäischen Nachbarn neue Rapallo-Ängste befürchtet werden müßten. Frankreich erhielte Gelegenheit, die überfällige Revision seiner Sicherheitspolitik zu vollziehen, ohne deswegen das Gesicht verlieren zu müssen. Die NATO könnte neue Legitimität gewinnen statt -was sonst unvermeidlich wäre -wegen mangelnder Wandlungsfähigkeit in quälende Agonie zu verfallen. Der Aufbau kooperativer Sicherheitsstrukturen würde definitiv beginnen können, ohne daß zuvor eine Stabilitätslücke entstünde.

Mit dem Beitritt der Sowjetunion würde sich die NATO rasch zu einem europäisch-atlantischen Sicherheitsbündnis wandeln, das -statt absurde Vorkehrungen für einen Konflikt zu treffen, der längst zur Chimäre geworden ist -im wesentlichen nur noch zwei Aufgaben hätte: Es würde den zunehmenden Vernetzungsprozeß seiner Mitglieder materiell und symbolisch absichern und sie zugleich für die Gefahren wappnen, die sich aus der Vernetzung ihrer gemeinsamen Interessen und Wertmaßstäbe innerhalb und außerhalb des Bündnisgebietes ergeben könnten. Dazu könnten konventionelle Rüstung und Atomwaffen auf aufeinander abgestimmte Mindestreserven reduziert werden; und dann hätten die Bündnisinstitutionen für fortwährende gemeinsame Rüstungssteuerung und gemeinsames Krisenmanagement zu sorgen.

Je schneller der sowjetische Beitritt erfolgt, desto größer sind die Aussichten, die sicherheitspolitischen Probleme in den Griff zu bekommen, die aus dem Zusammenbruch der DDR und des War-schauer Paktes resultieren. Hilfreich wäre aber auch schon alles, was die Aussicht auf ein gemeinsames Sicherheitsbündnis verstärkt: ein konföderatives Dach für die beiden bestehenden Bündnis-systeme (wenn die Mitgliedsländer des ehemaligen Warschauer Paktes da noch mitmachen); gemeinsame Einsatz-und Zielplanungen der beiden Bündnisse oder ihrer Hauptvertreter; substantielle Schritte in Richtung auf Nichtangriffsfähigkeit sowie die Errichtung von KSZE-Institutionen zur Krisensteuerung und Konversionsüberwachung.

Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß die KSZE die NATO nicht einfach ersetzen kann und daß die Bündnisse auch nicht in einem kollektiven Sicherheitssystem aufgehen können, wie es manche wohlmeinenden Beobachter Vorschlägen Für ein kollektives Sicherheitssystem, in dem die Verfügungsgewalt über militärische Machtmittel ganz auf gemeinsame Sicherheitsorgane übergegangen ist, sind die strategischen Interessen, die Potentiale und auch die innere Struktur der KSZE-Staaten zu verschieden. Der Kern eines europäischen Sicherheitssystems kann auch auf längere Sicht nur in einem Bündnis bestehen, ergänzt um supranationale Instanzen und zunehmende Vernetzung aller Lebensbereiche. Auf globaler Ebene nimmt die UNQ diese Funktion wahr, nachdem die Überwindung des Ost-West-Konflikts sie in die Lage versetzt hat, endlich so zu funktionieren, wie sie von Roosevelt konzipiert worden war. Im europäischen Bereich könnte dies die NATO tun, wenn sie durch den Beitritt der Länder des Warschauer Paktes tatsächlich zu dem würde, was sie schon immer zu sein beanspruchte: eine Regionalorganisation der Vereinten Nationen. Darüber hinaus wird -als drittes Element der nötigen Umgestaltung -auch die Europäische Gemeinschaft auszubauen sein. Das ist ohnehin nötig, wenn es in der Vernetzung des westlichen Europas keinen Rückschlag geben soll. Wenn der Deregulierung auf nationaler Ebene -die der Übergang zum Europäischen Binnenmarkt impliziert -nicht rasch Regulierungen auf EG-Ebene folgen, wird der Wachstumsschub, den er auslöst, einseitig auf Kosten der sozial Schwachen und der Umwelt gehen. Damit wäre allenthalben neuer „Eurofrust“ zu erwarten. Eine neue Phase zermürbender Stagnation würde die Folge sein, wie seinerzeit nach der Lähmung durch de Gaulle

Der Ausbau der EG ist zudem dringender geworden, weil ein vereintes Deutschland substantiellere Einbindungsanstrengungen erfordert als ein Deutschland, das in zwei unterschiedliche Bündnissysteme integriert ist. Die Notwendigkeiten, die sich hier ergeben, sind vorwiegend psychologischer Natur, aber nichtsdestoweniger sehr real: Weil Deutschland stärker erscheint, braucht man stärkere Symbole und Institutionen, um die Kontinuität gemeinsamer europäischer Politik sicherzustellen. Anders wären die Deutschen in Versuchung, die Europäische Gemeinschaft zu übersehen, und die übrigen EG-Partner fühlten sich von den Deutschen dominiert. Umgekehrt werden fortdauernde gemeinsame Projekte und gemeinschaftliche Regelungen dafür sorgen, daß sich die wirtschaftliche Potenz nicht in nationaler politischer Macht der Deutschen niederschlagen kann.

Die politischen Steuerungsfunktionen, die auf die EG zukommen, gehen sogar noch über die Regelung der deutschen Frage hinaus: Mit dem Ende der imperialen Präsenz der Sowjetunion in Europa verliert auch die amerikanische Präsenz an Bedeutung. Entsprechend wichtiger wird die EG als Stabilisierungsfaktor und Bezugspunkt -auch und gerade für die Reformländer des europäischen Ostens. Dabei kann die Integration dieser Länder in die Gemeinschaft nur schrittweise erfolgen: im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihres politischen Reifeprozesses. Wichtig ist aber, daß ihnen die Perspektive auf eine solche Mitgliedschäft jetzt schon eröffnet wird, durch Aufnahme in den Europarat, Assoziationsverträge mit der Gemeinschaft und zügige Beitrittsverhandlungen.

Die Gefahr einer Überforderung der EG durch all diese Integrationsaufgaben kann nur durch eine Stärkung ihrer Kompetenzen gebannt werden. Erweiterung oder Vertiefung sind keine Alternativen; vielmehr stellt die Vertiefung eine Bedingung für das Gelingen der Erweiterung dar. Neben der für 1994 beschlossenen Währungsunion, die eine europäische Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik ermöglichen wird, wird man insbesondere die demokratische Legitimation der Gemeinschaft stärken müssen. Daneben wird die Politische Union Gelegenheit zur Annäherung von Standpunkten und zur Entwicklung eines europäischen Politikbewußtseins bieten. Sie sollte eine Verständigung über sicherheitspolitische Probleme einschließen, nicht aber -das muß man gegen manche unausgegorene Vorstellungen von einer (west-) europäischen Sicherheitsgemeinschaft festhalten -zur Ausbildung einer eigenen militärischen Identität der EG führen: Sie würde quer zu allen Notwendigkeiten gesamteuropäischer Stabilität und Rüstungskonversion liegen und sollte daher zugunsten der erweiterten NATO-Lösung aufgegeben werden. Substantielle Integrationsfortschritte werden nur möglich sein, wenn man sich von einem zu pauschalen Integrationsbegriff löst und für die unterschiedlichen Integrationsbereiche die jeweils angemessenen Gemeinschaftsregelungen entwikkelt. Nach dem Ende der Nachkriegsordnung ist die Zukunft Europas offener denn je. Rasche Fortschritte auf dem Weg zu einer wirklichen Friedensordnung sind ebenso möglich wie quälende Handlungsunfähigkeit und blutige Unruhen im Osten und Südosten des alten Kontinents. Was wirklich geschehen wird, hängt in hohem Maße von der politischen Gestaltungskraft der Europäer ab. Dabei werden, weil die vertrauten Bezugsgrößen entschwunden sind und sich die Problemlagen vielfach verschoben haben, überall die Karten neu gemischt. Neue Herausforderungen lassen alte Frontstellungen verblassen und ermöglichen neue Kombinationen politischer Kräfte. Wer jetzt seinen Einfluß geltend machen will, tut gut daran, sich den neuen Realitäten zu stellen, statt weiter die Schlachten von gestern zu schlagen. Das Ende der Nachkriegsordnung stellt einen historischen Einschnitt dar, den man nicht ungestraft mißachtet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erinnert sei nur an die im nachhinein geradezu prophetische Analyse der Implikationen der Nationalitätenkonflikte bei Hlne Carrire d’Encausse, L’empire clat. La rvolte des nations en U. R. S. S., Paris 1978 -eine Studie, die trotz Übersetzung (Risse im roten Imperium, Wien 1979) hierzulande viel zu wenig wahrgenommen wurde.

  2. Leonid M. Batkin, Erneuerung der Geschichte, in: Juri Afanassjew (Hrsg.), Es gibt keine Alternative zu Perestroika: Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Nördlingen 1988, S. 209.

  3. Vgl. meinen Essay: Die Sowjetunion zwischen zwei Revolutionen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1989) 10, S. 1169-1172; zur Vorgeschichte der Perestroika vgl. Marc Ferro, Les origines de la perestroika, Paris 1990.

  4. Zur zentralen Rolle, die das Sicherheitsdilemma vor den Umbrüchen von 1989/90 spielte, vgl. Wilfried Loth, Die Zukunft des Ost-West-Konflikts, in: ders., Ost-West-Konflikt und deutsche Frage, München 1989, S. 203-214.

  5. Vgl. Klaus Segbers (Hrsg.), Perestrojka. Zwischenbilanz, Frankfurt/M. 1990.

  6. Vgl. Wilfried Loth, Deutsche Einheit, Europäisches Haus. Von der europäischen Dimension der deutschen Einigung, in: Arthur Heinrich/Klaus Naumann (Hrsg.), Alles Banane. Ausblicke auf das endgültige Deutschland, Köln 1990, S. 29-38.

  7. Wenn ich in früheren Veröffentlichungen davor gewarnt habe, die nationalstaatliche Einigung mutwillig auf die Tagesordnung der Weltpolitik zu setzen, sollte das nicht als Fixierung auf die Zweistaatlichkeit mißverstanden werden. Ich habe mich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, „den Status quo in der deutschen Frage als sakrosankt anzusehen und aus einem vordergründigen Realismus jede Veränderung dieses Status quo von sich zu weisen“. So in meinem Buch: Ost-West-Konflikt und deutsche Frage (Anm. 4), S. 24. Im übrigen ist es wohl nicht ganz müßig, darauf hinzuweisen, daß mir der damals eingenommene Standpunkt auch nach der Erfahrung des Jahres 1990 noch richtig erscheint: Schließlich hat nicht ein energisches Vorpreschen der Bundesregierung gegen den Willen der vier Siegermächte die jetzige Lösung ermöglicht; vielmehr war das Vertrauenskapital, das eine um Einbindung bemühte Politik in Ost und West im Laufe der Zeit angesammelt hatte, eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß sich die vier Mächte -wenn auch nicht leichten Herzens -für die jetzt gefundene Lösung gewinnen ließen.

  8. Ziel bundesdeutscher Politik sei es, so hieß es dort, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.

  9. Vgl. u. a. Dieter Senghaas, Europa 2000. Ein Friedensplan, Frankfurt/M. 1990.

  10. Zum gegenwärtigen Stand der europäischen Integration vgl. Wilfried Loth, Die Europäische Gemeinschaft. Bericht über ein unvollendetes Gesamtkunstwerk, in: Journal Geschichte, (1990) 2, S. 38-47.

Weitere Inhalte

Wilfried Loth, Dr. phil., geb. 1948; o. Professor für Neuere Geschichte an der Universität-Gesamthochschule Essen. Veröffentlichungen u. a.: Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940-1950, Stuttgart 1977; Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, München 19908; Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984; Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1987; Ost-West-Konflikt und deutsche Frage, München 1989; Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990.