Die nationale Aufwallung anläßlich des Falls der Mauer und der innerdeutschen Grenzen am 9. November 1989 hat sich längst wieder gelegt. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde nicht zum Startschuß eines neuen deutschen Nationalismus, wie viele befürchtet hatten. Vielmehr wurden gerade an diesem Tag sehr gegensätzliche, überwiegend nachdenkliche Stimmen laut, die insgesamt bewiesen, daß die Deutschen ihre Lektion aus den von ihren unmittelbaren Vorfahren verursachten Katastrophen gelernt hatten und daß sie bereit sind, sich zukünftig als ganz „normale“ Nation unter anderen Nationen zu repräsentieren -mit Vorzügen und Fehlern, die denen der anderen nicht unähnlich sind.
Trotzdem ist die so plötzlich „gelöste“ deutsche Frage noch mit so viel unverarbeiteter Geschichte belastet, daß ein gedankenloses Hinübergleiten in die „Normalität“ (das durch aufwühlendere Ereignisse wie den Golfkrieg noch begünstigt zu werden scheint) Gefahren für die Zukunft in sich birgt. Schon jetzt ist deutlich, daß zwar Mauer und Stacheldraht beseitigt werden konnten, nicht aber die durch sie markierte Spaltung der Deutschen in zwei höchst unterschiedliche Sphären des Denkens und Fühlens. Die noch für längere Zeit vorhergesagte unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung in den alten und neuen Bundesländern ist in mancher Hinsicht nur die Außenseite einer Teilung, die wesentlich tiefer ging, als die höchst unterschiedlichen Wirtschaftsdaten es anzeigen. Denken, Fühlen und Sprechen waren und sind davon nachhaltig betroffen. Was da in 45 Jahren gespalten war, erfordert und verdient gerade im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft mehr als nur ein linguistisches Fachinteresse, zumal wenn man die jüngste Sprachgeschichte nicht nur als Geschichte geteilter Wörterbücher, sondern als Kommunikations-und Mentalitätsgeschichte versteht.
I. Die sprachliche Ost-West-Differenzierung: nur eine Episode?
Sowohl zu Beginn wie nun am Ende einer Teilung, die nicht ohne Auswirkungen auf die Sprache bleiben konnte, glaubten Sprachwissenschaftler feststellen zu müssen, daß sich in Deutschland etwas „Einmaliges“ vollziehe: Hier werde. gleichsam modellartig vorgeführt, wie sich eine Sprache innerhalb kurzer Zeit unter besonderen politischen und sozialen Bedingungen verändere -nach 1945/49 in Richtung einer völlig neuen Sprache („Sowjet-Deutsch“ /„DDR-Sprache“ nach 1989 im Sinne einer Rückverwandlung des DDR-Sprachgebrauchs ins „Normaldeutsche“ (sprich: Anpassung an westdeutsche Normen).
Nimmt man diese Deutungen ernst, wäre die sprachliche Ost-West-Differenzierung nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine mehr oder weniger belanglose Episode der deutschen Sprachgeschichte gewesen -allenfalls interessant für sprachsoziologische Spekulationen: etwa zu verstehen als eine Art Laborversuch zur Simulierung längerfristiger Sprachprozesse, vergleichbar etwa der Differenzierung romanischer und arabischer Sprachen oder des Englischen bei der Verteilung ihrer Sprecher auf unterschiedliche staatliche Kommunikationsgemeinschaften Die Beendigung dieses „Großversuchs“ könnte nun -so wäre daraus zu folgern -der deutschen Sprache erlauben, ihre „eigentliche“ Entwicklung ungestört fortzusetzen.
Eine solche Einschätzung, die in der alten Bundesrepublik überdies von einem ungebrochenen Gefühl der Überlegenheit über die zeitweilig „abgeirrten“ Mit-Deutschen des Nordostens politisch unterstützt zu werden scheint, übersieht leicht dreierlei: zum ersten, daß sehr vieles, was als DDR-spezifisch erschien, nur die veröffentlichte Sprache der SED-Machthaber und nicht die Sprache der Deutschen in der DDR schlechthin war (das ließe sich freilich noch in die Vorstellung vom Episodenhaften der DDR-Geschichte einpassen); zum zweiten, daß an der sprachlichen Nachkriegs-differenzierung die Westzonen bzw. die spätere Bundesrepublik mindestens so aktiv, vielleicht sogar noch aktiver als die Ostzone und spätere DDR beteiligt waren; zum dritten aber würde übersehen, daß in der Ost-West-Differenzierung der deutschen Sprache nur ein Prozeß kulminierte, der bereits in der Polarisierung der öffentlichen Kommunikation während der Weimarer Republik (mit Präludien schon im 19. Jahrhundert) begann -ein Prozeß zumal, der durch die Vernichtung und Vertreibung wichtigster Vertreter der deutschen Sprachkultur durch die Nazis eine ungemeine Verschärfung erfuhr (merkwürdigerweise hat bisher kaum jemand die Differenzierung der deutschen Sprache in Exil und NS-beherrschte Kommunikationsgemeinschaft als „Sprachspaltung“ erwogen).
Diese oft übersehenen Aspekte lassen sich für ein durchaus einheitliches Bild der jüngeren deutschen Sprachentwicklung nutzbar machen, in dem die häufig allzu isolierten Ausschnitte der Betrachtung an ihre richtige Stelle rücken können. Danach hat die Niederwerfung des „Dritten Reiches“ auch in sprachlicher Hinsicht keine „Stunde Null“ ergeben. Selbst das abrupte Ende der NS-Diktatur ermöglichte noch gleitende Übergänge in die neuen Verhältnisse, wie ein genaueres Hinsehen auf die Sprache vor und nach der Kapitulation von 1945 lehrt. Wohl aber hat es eine unübersehbare Neuordnung der öffentlichen Kommunikationsbedingungen gegeben, und dies bekanntermaßen mit politisch unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Zielen.
Dabei ist -addiert man einmal die Ergebnisse der Neuordnung -zunächst nichts anderes geschehen als der Versuch, nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Sprachlenkung die Vielstimmigkeit der öffentlichen Kommunikation von vor 1933 wiederherzustellen, wobei freilich auf vieles verzichtet werden mußte, was die Nazis oft auch im physischen Sinne mundtot gemacht hatten. Entscheidend aber wurde, daß man sich in Ost und West um einen neuen Pluralismus nicht mehr gemeinsam, sondern in scharfem Gegeneinander bemühte. Die ostzonalen Kommunisten beschränkten sich letztlich auf die Wiederherstellung und Monopolisierung ihrer eigenen Sprachtradition, mit taktischen Erweiterungen um weniger spezifische „linke“, allgemein-„sozialistische“, ja, sogar um nationale („gesamtdeutsche“) Töne In den Westzonen hingegen hatte man zwar von vornherein einen sprachlichen Pluralismus im Sinn, der freilich im Gefolge des Kalten Krieges mehr und mehr um jenen in der SBZ monopolisierten Ausschnitt „linker“ Traditionen beschnitten wurde (selbst West-SPD und -Gewerkschaften mieden damals jegliche sprachliche Erinnerung an ihre klassenkämpferischen Ursprünge, weil sie nicht der Komplizenschaft mit der KPD und späteren SED geziehen werden wollten!).
Was nach 1945 in Deutschland sprachlich geschah, läßt sich mithin als der zweigeteilte Versuch werten, die Trümmer der schon ab 1933 zerschlagenen öffentlichen Kommunikation als Materialien für einen Neubau zu nutzen, dessen östlicher Flügel von vornherein monotoner ausfallen mußte, weil in ihm -zumindest für die Fassade -nur ganz bestimmte „Bausteine“ zugelassen waren. Auf der Westseite wurden dagegen ganz bewußt sehr verschiedene „Baumaterialien“ in teilweise bunter Mischung verwendet, die daher freilich auch nicht mehr für eine ungebrochene gesamtdeutsche Entwicklung der Sprache gehalten werden darf, an der die östlichen Spezifika gemessen werden könnten. Nachdem jedoch -um im Bild zu bleiben -die zweigeteilte Architektur einer neuen öffentlichen Kommunikation die Zerstörungen von mehr als zwölf Jahren zu heilen versuchte und die Bewohner der beiden Flügel auch über das Ende der Teilung hinaus deutlich unterschiedliches Sprachverhalten zeigen, markieren die Jahreszahlen 1945 bzw. 1949 und 1989 nur höchst oberflächlich Einschnitte sprachlicher Entwicklung im Sinne einer Kommunikations-und Mentalitätsgeschichte. Die Epochengrenzen sind unbedingt weiter zu ziehen, zumindest so weit zurück, daß das massenwirksame Aufkommen jenes zutiefst inhumanen Anspruchs von Kommunisten (Gründung der KPD 1918/19) und Nationalsozialisten (Gründung der NSDAP 1920/25), der deutschen Gesellschaft eine einzige Weltdeutung aufzuzwingen, Berücksichtigung finden kann. Die Daten staatlicher Spaltung, die in gewisser Weise auch eine Folge der inneren Spaltung war, kennzeichnen in diesem notwendig weiteren Rahmen weit mehr als eine bald wieder zu vergessende Episode.
II. Der mißglückte Bruch mit der Vergangenheit
Der Erfolg, den die beiden politischen Extreme in Deutschland nacheinander erringen konnten, wäre ohne bestimmte Dispositionen der Deutschen 1933 und 1945 kaum zu erklären. Trotz der äußerlich tiefen Zäsuren hat es sowohl 1933 als auch 1945 im Sprachlichen -das stets als Indikator mentaler Bedingungen gelten kann -sehr viele gleitende Übergänge gegeben, welche die Mehrheit der Bevölkerung das Ausmaß der tatsächlichen Veränderungen kaum erkennen ließen.
Die „völkischen“ Töne der Nazis etwa waren längst in der öffentlichen Kommunikation von Weimar verankert. Als Beispiel diene das Wort „Volksgemeinschaft“, das oft als Teil jener hypertrophen NS-Komposita mit „Volk“ gilt, jedoch schon aus dem frühen 19. Jahrhundert stammt und von F. Siegmund-Schultze, einem 1885 geborenen evangelischen Pfarrer, vor und nach 1918 -unter lebhafter Zustimmung der hündischen Jugend -für eine fortschrittliche Staatsform ohne soziale Schranken und doktrinäre Ideologien propagiert wurde, also für das genaue Gegenteil dessen, was die Nazis unter „Volksgemeinschaft“ verstanden und durchsetzten (vgl. auch „Volksgenosse“ contra „Volksschädling“). Auch der „Volksstaat“ war keine NS-Erfindung, sondern benannte eine der ebenfalls schon im 19. Jahrhundert virulenten Ideen derer sich die Nazis für eigene Zwecke bemächtigten.
Um so erstaunlicher war, daß die Korrumpierung solcher Begriffe die Kommunisten nach 1945 nicht daran hinderte, die Alleinherrschaft einer Partei („der“ Partei, wie sich die SED -darin der NSDAP völlig gleich -nennen ließ) mit der ständigen Berufung auf das „Volk“ zu camouflieren. In diesem Umfeld stoßen wir auf zahlreiche Belege, wie auch in der SBZ 1945 mental wie sprachlich gleitende Übergänge genutzt wurden, um eine neue politische Qualität annehmbarer zu machen.
Die formal nur unwesentlichen Variationen in zentralen Begriffsfeldem entbehren -spätestens aus heutiger Sicht -nicht der Peinlichkeit:
Kaum war der „Volksgerichtshof“ unseligen Angedenkens beseitigt, wurden in der SBZ „Volksrichter“ bestallt. Im Sozialwesen schloß sich dort an die NS-„Volkswohlfahrt“ (NSV) die „Volkssolidarität“ (VS) an. Noch waren zahllose „Volkssturm" -Männer aus Hitlers „letztem Aufgebot“ interniert, da wurde bereits (am l. Juni 1945) die „Deutsche Volkspolizei“ (DVP) gegründet aus deren kasernierten Verbänden später die „Nationale Volksarmee“ (NVA) hervorgehen sollte. „Volksdemokratie“ sowie „Volkskongreß“, „Volksrat“ und „Volkskammer“ waren auch sprachlich höchst problematische Institutionen. Ähnliches gilt für die Fortsetzung des NS-Massen-kults mit anderen Vorzeichen. Die immer wieder angesprochenen „werktätigen Massen“ hatten sich in „Massenorganisationen“ wie FDGB, Kultur-bund, Demokratischer Frauenbund Deutschlands usw. zu organisieren, hatten sich in „Masseninitiativen“ zu engagieren. Das erst mit linken Attitüden der Studentenbewegung in Westdeutschland gebräuchlich gewordene Wort „massenhaft“ hatte in SBZ und DDR eine seit 1945 ungebrochene Geltung.
An solchen Schlüsselwörtern wie „Volk“ und „Masse“ läßt sich exemplarisch nachweisen, daß entgegen einer oft gehörten Behauptung in den Westzonen mit der NS-Vergangenheit nicht nur sprachlich radikaler gebrochen worden ist Die westdeutsche Nachkriegspädagogik ebnete in ihrem intensiven Kampf gegen das Gespenst des „Massenmenschen“ und der „Vermassung“ den Weg zu einem Individualismus, der aus der Sicht jener Deutschen, die fast übergangslos vom braunen in einen roten Kollektivismus gerieten, durchaus auch häßliche Züge der Egozentrik und der Ellenbogenmentalität trägt. An allgemeingültigen Komposita mit „Volk“ hat sich im Westen fast nur der „Volkstrauertag“ gehalten, während sich schon traditionelle Erscheinungen wie „Volkswagen“ (seit 1937!) oder „Volkshochschule“ (schon aus dem 19. Jahrhundert und skandinavischen Ursprungs) fast ganz hinter ihren Kürzeln (VW, VHS) verstecken.
Die „Massenorganisation“ der FDJ (gegründet am 7. März 1946) kam überdies sehr bald auch dem damals offenbar noch ungestillten Verlangen nach Uniformierung und Militarisierung entgegen. Noch vor der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST; ab 1952) sorgte sie nicht zuletzt auch für vormilitärische und wehrsportliche Betätigungen, die unzählige fast noch Gleichaltrige erst kurz zuvor als Hitler-Jungen bereits kennengelernt hatten, wenn sie nicht sogar als Flakhelfer oder Meldegänger schon in militärische Aktivitäten verwikkelt worden waren. Zur selben Zeit, da in der US-Zone im Zuge der „reeducation“ sogar das Aufstellen der Schüler vor Unterrichtsbeginn in Zwei-erreihen als „militaristisch“ verboten war, feierten in der SBZ die Schulhofappelle (bis 1945 „Fahnenappelle“) fröhliche Urständ. Die Militarisierung der Jugend (der bis zum Ende der DDR jegliche Form der Wehrdienstverweigerung bei Strafe versagt war steigerte sich über zunächst noch metaphorisch gemeinte „Kampfaufträge“ in der FDJ schließlich zur Einführung des „Wehrunterrichts“ in den Schulen (ab 1978, mit regelrechten Manövern).
Die Bemühungen um einen wenigstens sprachlichen Nachvollzug der „Revolution“, die in SBZ und DDR faktisch nur eine rein bürokratisch verhängte Umwälzung von Besitzverhältnissen (zugunsten von „Volkseigentum“) war, schlug selbst in harmlosen Alltagsbedingungen terminologisch durch, etwa wenn Filialen von Verkaufsorganisationen „Stützpunkte“ genannt wurden oder wenn „Ernte-“ oder „Produktionsschlachten“ zu schlagen waren.
Vor allem unmittelbar nach dem Kriegsende, als man sich noch keineswegs auf die Früchte einer ideologischen Schulung im Sinne einer „Unterscheidung der Geister“ verlassen konnte, waren die nur leichten Variationen altbekannter Sprach-und Handlungsmuster kaum geeignet, den vielbeschworenen Bruch mit der Vergangenheit plausibel zu machen. Im Verein mit den schon angedeuteten deutsch-nationalen Tönen, für die hier nur das Liedzitat „Deutschland muß leben!“ in einem SED-Flugblatt von 1946 stehen möge baute die kommunistische Neuordnung im Osten Deutschlands ganz offensichtlich auf noch ungebrochene mentale Dispositionen der Bevölkerung. Schon an dieser Stelle soll daher erwogen werden, ob darin nicht auch eines der Motive für das im Vergleich zu westdeutschen Verhältnissen wesentlich „deutschere“ Bewußtsein der DDR-Bürger zu sehen ist, von dem die Westdeutschen einschließlich ihrer politischen Repräsentanten im Herbst 1989 so sehr überrascht worden sind.
III. Die Verwandlung von Kommunisten in „Sozialisten“
Zu den Dispositionen vieler Deutscher gehörte 1945 -in Ost wie in West -eine gewisse Aufgeschlossenheit für einen „echten“ Sozialismus. Der Bankrott des National-„Sozialismus“ war zu eindeutig, als daß von hier aus die Propagierung von „Sozialismus“ als Rezept gegen neue politische Verirrungen ernsthaft hätte gefährdet werden können. Dennoch wird man nicht übersehen dürfen, daß die NS-Terminologie und -Rhetorik der Hypostasierung von „Arbeitern“ und „Bauern“ und der Hochschätzung von „Genossen“ mächtig vorgearbeitet hatte (vgl. „Volks“ -/„Parteigenosse“, „Arbeiter der Stirn und der Faust“). Für die deutsche Katastrophe wurde nun -nicht nur in der SBZ -die durch die Pseudo-Sozialisten der NSDAP nicht beseitigte „kapitalistische“ Gesellschaftsordnung mit ihrer Anfälligkeit für „Imperialismus“ verantwortlich gemacht. Auch das war kein neues Gedankengut, sondern hatte sich in weltanschaulich sehr unterschiedlichen Gruppierungen über die NS-Diktatur hinweg halten können. Als Beispiel dafür, daß diese Deutung des deutschen Untergangs keineswegs nur in traditionell „linken“ Kreisen galt, sei auf das „Ahlener Programm“ der CDU für die britische Zone von 1947 verwiesen, in dem sozialistische Argumente ihren deutlichen Niederschlag fanden
Es war nicht nur die Einsicht in die Mängel eigener Attraktivität welche die Kommunisten der SBZ dazu bewog, über ein einfaches Bündnis mit anderen „antifaschistischen“ Kräften (im sogenannten „Antifa-Block“ hinaus eine politische Organisationsform zu suchen, in der sich die auch in nichtkommunistischen Kreisen geltenden „sozialistischen“ Neigungen bündeln ließen. Daraus ist 1946 bekanntlich die Zwangsvereinigung von KPD und Ost-SPD entstanden, die zur nicht ganz uneigennützigen Aufgabe des Begriffs „kommunistisch“ zugunsten einer sich „sozialistisch“ nennenden Einheitspartei (SED) führte. Pressionen der Sowjets gegen Sozialdemokraten, die sich dieser Vereinigung zu widersetzen versuchten, erklären allein keineswegs, daß die Einheitsstrategie (eine Neuauflage des alten „Volksfront“ -Gedankens vor 1933) so umfassend durchgeführt werden konnte. Die Verschleierung der wahren Absicht -die kommunistische Machtbasis, die in Wahlen zu schwach blieb, zu erweitern -war so perfekt und nachhaltig, daß auch in der alten Bundesrepublik nach dem Ende einer direkt antikommunistischen Phase kaum jemand der in Wahrheit kommunistisch regierten DDR den Anspruch, ein „sozialistischer“ Staat zu sein, bestreiten wollte Überhaupt gehört es zu den Merkwürdigkeiten einer angeblich pluralistischen politischen Bildung im Westen, daß in ihr wichtige Schlüsselwörter der Gegenwarts-und Vergangenheitsdeutung direkt den Lehrbüchern von KPD oder SED entnommen zu sein scheinen und offenbar sogar den Untergang der DDR noch lange überleben werden. Zwar haben Kommunisten schon vor 1933 den Nationalsozialismus unter dem Begriff „Faschismus“ rubriziert, wobei noch nicht ganz ausgemacht ist, inwieweit nicht schon damals die Furcht vor einer Verwechslung des eigenen mit einem „nationalen Sozialismus“ Pate gestanden hat. Doch haben nicht wenige DDR-Deutsche die im SED-Staat verordnete Verwendung von „Faschismus“ für die NS-Ideologie und -Politik als Ausdruck einer solchen Verwechslungsangst empfunden. Eine objektivere Geschichtsbetrachtung jedenfalls kommt nicht umhin, zwischen den gewiß brutalen Erscheinungen des italienischen oder spanischen Faschismus und den Greueln der Nazis doch so gewaltige Unterschiede zu sehen, daß nur eine ideologisch bornierte Systematisierung der Weltgeschichte dazu verführen kann, so unterschiedliche Phänomene mit einer identischen Benennung zu belegen.
Für wie entscheidend in strategischer und taktischer Hinsicht die ostdeutschen Kommunisten die Etikettierung der von ihnen geschaffenen Verhält-, nisse mit „Sozialismus“ und „sozialistisch“ hielten, läßt sich aus der frühen Inflationierung dieser Tarnnamen ablesen. Das reichte zuletzt von „sozialistischer Arbeitsdisziplin“ bis zum „sozialistischen Wirtschaftsrecht“ In dieser Penetrierung hat sich denn schließlich auch die anfängliche Attraktivität von „Sozialismus“ verbraucht, bis schließlich nur mehr leere Worthülsen übrig blieben, zumal die damit ursprünglich verbundenen Verheißungen mehr und mehr von einer immer grauer werdenden Realität verschlungen wurden.
Der Konkurs einer zunächst auf Weltverbesserung angelegten Ideologie deutete sich spätestens in der Bescheidung der SED auf einen „real existierenden Sozialismus“ an -eine Formel, die nur scheinbar tautologisch („real“ = „existierend“) ist, vielmehr auf einer bis in die höchsten Ränge der DDR-Partei-und Staatsführung gepflegten Verwechslung von „real“ und „realistisch“ beruht („real existierender S.“ = realistischer/die Realitäten anerkennender S.“) Dennoch sollte man nicht unterschätzen, wie viele Spezifika sich im Vergleich mit westdeutschen Verhältnissen unter den Etiketten „Sozialismus“ und „sozialistisch“ tatsächlich verbargen, die sich erst nach und nach in Spätfolgen mentaler und sprachlicher Art offenbaren. Bei deren Beurteilung ist es aber nicht ohne weiteres zulässig, allein die westdeutschen Verhältnisse als ungebrochen gesamtdeutsche oder als politisch einzig mögliche Maßstäbe zu nehmen. Vielen der immer wieder zitierten sächlichen und terminologischen Spezifika auf östlicher Seite -sei es im Erziehungswesen, in der Verwaltung, in der Rechtspflege usw. -standen auf westlicher Seite keinesweges unverändert gesamtdeutsche Phänomene gegenüber. Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur wurde in allen Besatzungszonen eine neue Ordnung des öffentlichen Lebens eingeführt, wobei im Westen gegenüber der unmittelbaren Vergangenheit oft mehr verändert wurde als in der SBZ. Die im Westen entstandene Vielfalt bot außerdem nur in den seltensten Fällen die Möglichkeit unmittelbarer semantischer Vergleiche, wie sie gleichwohl immer wieder nach dem Muster Ost-Lexem : West-Lexem angestellt wurden
IV. Folgen unterschiedlicher Lebensbedingungen und Wertesysteme
Im Laufe der getrennten politischen Entwicklungen in Ost und West waren letztlich alle wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens nur noch schwer vergleichbar geworden. Und das nicht nur, weil sich die SED ständig bemühte zu betonen, daß selbst dort, wo „formale“ Übereinstimmungen weiterhin erkennbar waren, die ideologische Einbettung -Begründung wie Zielsetzung -völlig konträr sei. Es waren nicht zuletzt die unterschied-liehenSachstrukturen, die dem einzelnen Phänomen und seiner Benennung in Ost und West je eigene „Stellenwerte“ zuwiesen. So ist hinlänglich bekannt, daß das Mediensystem der DDR in seiner Einbindung in die SED-gelenkte Informationspolitik sowohl in seinen Großformen (Radio-und TV-Programme oder Zeitungen und Zeitschriften) als auch in seinen Einzelprodukten (Nachrichtensendung, Kommentar, Leitartikel usw.) eigentlich mit keiner westdeutschen Erscheinung mehr direkt zu vergleichen war Welches bundesdeutsche Blatt etwa wäre als Pendant zum „Neuen Deutsch-land“ für einen Vergleich überhaupt in Frage gekommen? Vergleichbar waren allenfalls einzelne lexikalische und phraseologische Elemente, die aber -jeweils von ihrem weiteren, pragmatischen Kontext isoliert -kaum noch befriedigende inhaltliche Aussagen zuließen. Erst allmählich lernen wir die Strategien der Rezipienten in der DDR kennen, wie sie aus scheinbar belanglosen Formulierungen oft wichtige Informationen gewinnen konnten
Auf zwei anderen wichtigen Sektoren läßt sich relativ leicht nachvollziehen, daß es eigentlich die SBZ und spätere DDR war, die an älteren Ordnungsprinzipien festhielt, die allen Deutschen schon in der NS-Zeit vertraut geworden waren, die aber den Westdeutschen sehr bald schon wieder fremd geworden waren, weil bei ihnen gänzlich neue Lebensbedingungen eingeführt wurden. Gemeint sind die staatliche Einheitsverwaltung und die Staatsplanwirtschaft. In beiden Fällen muß man den generellen Bruch mit einer gemeinsamen Vergangenheit schon in den dreißiger Jahren ansetzen. Hinsichtlich der staatlichen Verwaltung liegt der entscheidende Bruch in der Beseitigung der föderalen Elemente der Weimarer Verfassung durch die Nazis, was nicht von vornherein erkennbar war, weil auch in jener Verfassung vieles reichseinheitlich geregelt war. Die Hypertrophie des Reichseinheitsgedankens ließ sich jedoch schon an der explosionsartigen Vermehrung von Komposita mit „Reich“ nach 1933 erkennen Die Aufteilung des Restreichs in Besatzungszonen mit unterschiedlichen Militärverwaltungen ergab sodann den ersten Schritt zu neuer Regionalisierung, die in den Westzonen durch Einführung von Ländern zum föderalen Pluralismus der späteren Bundesrepublik weiter differenziert wurde. Die sprachlichen Folgen sind in der bunten Vielfalt von öffentlichen Terminologien, etwa für Staatsorgane und Schultypen, erkennbar
Formal wurden in der SBZ zunächst ebenfalls Länder wiederhergestellt, doch schon 1952 wurden diese zugunsten einer einheitlichen „Bezirks“ -Verwaltung mit strenger Unterordnung unter die OstBerliner Zentralregierung (Ministerrat) wieder aufgelöst. Hier ist nicht der Raum, die unterschiedlichen politischen Absichten der Besatzungsmächte nachzuzeichnen, wohl aber ist festzuhalten, daß die Sowjets wie die mit ihnen verbündeten Kommunisten für ganz Deutschland einen Zentral-staat wünschten, den sie ab 1949 nur noch im „Kleinformat“ der DDR verwirklichen konnten mit der terminologischen Folge, daß dieser Staat eine einheitliche Nomenklatur für alle Verwaltungsbereiche festlegte. Wichtiger aber für die Alltagsmentalität der Deutschen in der DDR war die jederzeit ins Bewußtsein gerückte hierarchisch gestufte Abhängigkeit von der Berliner „Zentrale“, in der alles seinen weitgehend vorherbestimmten Platz hatte mit nur geringen Spielräumen individueller Entfaltung auch die Staatspartei war in ihrer Gliederung parallel zum Staatsaufbau dem Leninschen Prinzip des „Demokratischen Zentralismus“ verpflichtet. Die materiellen Unterschiede zu den NS-Verhältnissen einschließlich der Durchdringung des Staates und seiner Organe mit permanenten Parteieinflüssen blieben in der DDR also denkbar gering.
In gleicher Weise zentral-/parteigelenkt stellten sich die wirtschaftlichen Strukturen der DDR dar, die ebenfalls ihre Vorläufer in der Wirtschaftspolitik des NS-Reiches hatten. Auch hier durchliefen zunächst die Deutschen aller Zonen nach 1945 eine gemeinsame Phase planwirtschaftlicher Politik, die allein mit der ungeheuren Nachkriegsnot fertigzuwerden versprach. Daß Planwirtschaft in einem grundsätzlichen Zusammenhang mit Mängelverwaltung steht, zeigen die frühen Versuche mit dieser Wirtschaftsform im Ersten Weltkrieg, aus denen auch die ersten deutschen planwirtschaftlichen Begriffe stammen Den Nazis war es Vorbehalten, in der Vorbereitung auf einen neuen Krieg 1936 eine neue Mängelverwaltung durch Planwirtschaft einzuführen. In diesem Jahr wurde unter Leitung von Hermann Göring der erste „Vierjahresplan“ der deutschen Wirtschaft in Kraft gesetzt, der als terminologischer Vorläufer der „Halb-/Zwei-/Fünf-/Siebenjahr(es) pläne“ gelten kann.
Die Prolongierung der Planwirtschaft über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus war in der SBZ und DDR vorwiegend ideologisch bedingt, was hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Wohl aber muß auch bei diesem Thema ausdrücklich auf die lebenspraktischen Folgen hingewiesen werden, die grundsätzlich denen aus der Beibehaltung einer zentralstaatlichen Ordnung entsprachen: hierarchisch gestufte Abhängigkeit von einer zentralen Leitungsinstanz, hier der „Staatlichen Plankommission“, die bis in das wirtschaftliche Handeln auf den untersten Ebenen wirkte
Die jahrzehntelange Eingewöhnung in so gestaltete Lebensbedingungen konnte -ähnlich wie die spätere, aber gleichfalls intensive Anpassung der Westdeutschen an marktwirtschaftliche Strukturen -nicht ohne Folgen für Denken und Sprechen bleiben. Sie zeigen sich beispielsweise in der Unvergleichbarkeit der semantischen Qualitäten von Begriffen wie „Plan“ und „Markt“, die nicht nur in ihrer Gebrauchshäufigkeit differierten, sondern auch in einem reziproken Bewertungsverhältnis zueinander standen; vereinfacht dargestellt: „Plan“ Ost: positiv -West: negativ, „Markt“ Ost: negativ -West: positiv. Unterhalb dieser Zentral-begriffe gruppierten sich zahlreiche in Ost und West äußerlich identische Termini der Ökonomie auf höchst unterschiedliche Weise, ergaben infolge sachlich bedingter Unterschiede je eigene „Wortoder Begriffsfelder“ so etwa bei Begriffen wie „Bilanz“, „Fonds“, „Gewinn“ oder „Preis“.
Es bedurfte also kaum jener in den siebziger Jahren von SED-Führung und willfährigen Linguisten betriebenen Kampagne gegen die Überzeugung, die deutsche Spracheinheit bestehe nach wie vor um zu erkennen, daß die Deutschen in Ost und West sich auch sprachlich, in Wortwahl und Semantik, auseinanderlebten. Von der ideologischen Borniertheit mancher „Analyse“ einmal abgesehen, die das Verlautbarungsdeutsch der DDR dem Sprachgebrauch in der Bundesrepublik als inhaltlich wie stilistisch überlegen feierten litten die Nachweise einer „Sprachspaltung“ oder auch nur des Zerfalls des Deutschen in „nationalsprachliche Varianten“ unter dem methodischen Mangel, daß sie die offiziellen Äußerungen aus der DDR zum ausschließlichen Maßstab machten, die Alltags-sprache hingegen außer acht ließen Dadurch blieb diejenige sprachliche Ebene ausgeblendet, in der sich Innovationen erst einmal behaupten müssen, wenn sie längere Geltung erlangen sollen. In der DDR war dieser Blackout ideologisch bedingt; westdeutsche Forscher wurden durch Verordnungen daran gehindert, die Alltagssprache „vor Ort“ systematisch zu beobachten.
Gleichwohl behalten viele der auf das öffentliche Deutsch in der DDR konzentrierten Arbeiten ihren Wert, weil in ihnen zumindest die Rahmenbedingungen auch der DDR-Alltagskommunikation aufscheinen. Die politisch-ideologisch wie sächlich strenge Normierung der DDR-Kommunikation vermittelte ja selbst kritischen DDR-Deutschen nicht wenige Denk-und Sprachmuster, so daß sich noch heute in der nicht mehr gegängelten, wieder spontan gewordenen Sprache der neuen Bundesbürger manches findet, das unüberhörbar eine kognitive wie emotionale Eigenart bezeugt
Ein eklatantes Beispiel für das Nachwirken SED-marxistischer Normen der Weltdeutung war nach der „Wende“ etwa die mehrfache, also nicht durch Versprecher zu erklärende Formulierung des Innenministers Diestel in einer Volkskammerdebatte, er wolle den Mitarbeitern seines Hauses und der Polizei ein neues Selbstbewußtsein, ein neues Berufsdenken „organisieren“ Solche und ähnliche Äußerungen lassen sich nur vor dem Hintergrund einer jahrzehntelang verkündeten Machbarkeitsideologie verstehen, die den „Überbau“ geistiger Phänomene nur als sekundäre Erscheinung einer rein materialistisch gedeuteten „Basis“ gelten ließ. Es blieb eben nicht ohne Folgen, daß in zahllosen Texten -von der Verfassung der DDR über die Bildungsgesetzgebung bis in die Wörterbuchartikel -grundsätzlich die „materiellen Bedürfnisse“ vor den „kulturellen Bedürfnissen“ rangierten und daß die Rechte von Kollektiven stets Individualrechten (falls man sie überhaupt noch erwähnte!) übergeordnet wurden
So wie die DDR-spezifischen Lebensbedingungen ihren Einfluß auf die Alltagskommunikation hatten, weil auch ein Dissident um ihre offiziell gültige Benennung nicht herumkam, so schlug sich auch das DDR-spezifische Wertesystem im Denken, Fühlen und Sprechen nieder, am deutlichsten dort, wo auch SED-Gegner jeweils die identitätsstiftenden Pronomina „wir“ und „unser“ („Wir hier/in der DDR“, „unsere Menschen“) benutzten und angesichts der weiterhin ungleichen Lebensbedingungen in den alten und neuen Bundesländern wohl noch lange benutzen werden.
V. Nachzuholende Lernprozesse
Einflüsse der offiziellen Sprache der DDR auf die dortige Alltagskommunikation sind also nicht zu übersehen und wirken fort. Die strenge Hierarchisierung kommunikativer Akte, die den Sprechenden bei offiziellen Anlässen und offiziellen Themen in weit höherem Maße, als in demokratischen Gesellschaften vorstellbar, dazu zwang, sich der vorgestanzten Schablonen zu bedienen, hatte für die Alltagssprache zwei höchst gegensätzliche Folgen. Zum einen blieb sie mangels eines ungezwungeneren Austauschs mit der offiziellen Sprache deutlich hinter der geradezu stürmischen Entwicklung ihres westlichen Pendants zurück und konservierte viele alte deutsche Sprachgepflogenheiten, die im Westen längst „literarisch“ oder gar „archaisch“ anmuteten (z. B. in Wendungen wie „barmen“, „Bescheid tun“, „erheischen“, „es gebricht“ u. ä. Zum anderen konnte sich in ihr in dieser größeren Nähe zu alten deutschen Traditionen über alle semantischen Engführungen durch die SED hinweg ganz offensichtlich auch eine alte Bedeutungsfülle vieler Wörter und Begriffe halten, die schließlich die Befreiung von ideologischen Schablonen ermöglichte. Begriffe wie „Freiheit“, „Demokratie“, „Deutschland“ bewahrten in der DDR unterhalb der Verlautbarungssprache einen sehr viel weiteren semantischen Horizont, als die SED glauben machen wollte, und hatten infolge jahrelanger Verdrängung schließlich einen sehr viel höheren emphatischen Wert als in der Bundesrepublik, wo in satter Selbstgenügsamkeit etwa „Deutschland“ nur noch für den westdeutschen Staat galt.
Die DDR-Alltagssprache war mithin gleichsam ein Rückzugsraum für alternative Gesinnungen, aus dem heraus entscheidende Impulse der Selbstbefreiung von einem Regime kommen konnten, das seine einstmals hehren Zukunftsvisionen in erstarrten Formeln verkommen ließ. Der hohe Konsum an West-Fernsehen und -Hörfunk hat sicherlich zur Stabilisierung der inoffiziellen Bedeutungsfülle der Wörter beigetragen; in entscheidenden Punkten aber machte sich dann doch eine DDR-eigene Dynamik des Sprachgebrauchs bemerkbar.
Man kann dies an der zentralen Parole der Protest-bewegung im Herbst 1989 „Wir sind das Volk!“ nachweisen. „Volk“, das in der SED-Rhetorik längst zum Alibiargument für die Parteidiktatur geworden war, gab -auch wenn es zunächst vielleicht nur parödistisch gegen die gängigen SED-Parolen („Mit dem Volk für das Wohl des Volkes“) gewendet war -sehr bald seine alte semantische Kraft zu erkennen, die im Westen in dieser Weise längst nicht mehr allgemein galt. Da wurde unüberhörbar der traditionelle demokratische Anspruch auf „Volkssouveränität“ evoziert, ein Anspruch, der sich in dieser Intensität vielleicht tatsächlich nur dort halten konnte, wo seit 1933 ununterbrochen kollektive Gesinnungen propagiert worden waren und Partikularinteressep oder gar individuelle Ansprüche als verpönt galten.
Vergleicht man damit Grundströmungen westdeutscher Mentalität, so erscheint es schlechterdings unvorstellbar, daß eine westdeutsche Protestbewegung vor 1989 mit gleicher Inbrunst ein so totales Kollektiv wie „das Volk“ hätte berufen können. Das zerfiel und zerfällt noch heute in zahllose Interessengruppen („Wir Steuerzahler“, „Wir Atomkraftgegner“, „Wir Naturschützer“), so daß die häufigen Beschwörungen von „Solidarität“ geradezu als untrügliches Indiz eines grundsätzlichen Mangels eben dieser Tugend gelten müssen. (Der Umgang westdeutscher Politiker und westdeutscher Interessenverbände mit den „Kosten der Einheit“ spricht da eine deutliche Sprache, was sicher dazu beitragen wird, daß sich das Kollektivbewußtsein derjenigen Deutschen, die einige Jahrzehnte länger als die Westdeutschen für einen gemeinsam angezettelten Weltkrieg büßen mußten, so schnell nicht auflösen wird).
In der sicheren Entfernung zu materieller und geistiger Not, die durch 45 Jahre kommunistischer Herrschaft verursacht worden ist, gab es seit dem Herbst 1989 nicht wenige Westdeutsche, die sich anmaßten, die schnelle Anpassung der ehemaligen DDR-Gesellschaft an durchaus problematische westliche Standards wie den Konsumrausch oder die schnellfertige Sprüchemacherei zu kritisieren. Tatsächlich war die „Wende-Zeit“ mit ihren idealistischen Programmen und ihrer sprachlichen Kreativität nur von kurzer Dauer. Doch belegt die Kritik daran nicht letztlich eher westliche Mängel-erscheinungen, die die ehemaligen DDR-Deutschen gleichsam stellvertretend (erneut stellvertretend) für den größeren immobilen Rest abarbeiten sollen? Wo sind denn in der alten Bundesrepublik etwa die einstmals von Alternativbewegungen auch in den Parlamenten inszenierten und von den „Altparteien“ nachgeahmten Aufschwünge sprachlicher Kreativität geblieben? Wenn die Wiederherstellung der deutschen Einheit mehr sein soll als die besinnungslose Anpassung an westdeutsche Normen oder eine nur äußerliche Angleichung im Lebensstandard, dann wird es höchste Zeit, daß auch der Sprachgebrauch der westdeutschen Öffentlichkeit mit seinen oft unsäglichen (und dann leider doch gesagten) Gedankenlosigkeiten einmal „von außen“, also aus der Sicht derer unter die Lupe genommen wird, die noch nicht im Strom der Selbstgefälligkeit schwimmen gelernt haben. Die Arroganz, mit der etwa die (zweifellos notwendige) Untersuchung von ehemaligen DDR-Lehr-und Forschungsstätten auf ihre Zukunftschancen hin als „Abwicklung“, die Phase sozialer Unsicherheit der Geprüften als „Warteschleife“ benannt werden, läßt wenig westdeutsche Sensibilität erkennen.
Aus dem östlichen Teil Deutschlands stammt ein Klassiker der deutschen Sprachkritik: das Buch des jüdischen Romanisten Victor Klemperer „LTI [Lingua Tertii Imperii]. Die unbewältigte Sprache“ (zuerst erschienen 1946); sein methodischer Ansatz mag inzwischen umstritten sein, diese kritische Untersuchung der Sprache des „Dritten Reiches“ stellt aber immer noch eine Herausforderung dar, die Sprache der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart nicht nur späteren Sprachhistorikem zu geziemend distanzierter Betrachtung zu überlassen.