I. Einleitung
Nachdem seit 1989 keine Erfolge bei der Lösung von entscheidenden Problemen der Perestroika verzeichnet wurden, steht die Sowjetunion vor einem Abgrund. Mit der fortschreitenden Entmachtung des Parteiapparats verlagerte sich die Verantwortung auf staatliche Institutionen. Die neuen wie auch die alten Organe sind mit der Aufgabe überfordert, einen Neubeginn zu organisieren. Die Initiatoren der Perestroika in Moskau haben durch Konzeptionsmangel und Führungsschwäche unwiederbringliche Zeit verloren, die neuen Organe des Zentralstaats haben ihren Kredit durch Entscheidungsunfähigkeit und Inkompetenz verspielt. Nicht zu unterschätzen ist auch der hinhaltende Widerstand der alten Apparate.
Die Verfassungs-und Gesetzesreformen zur Neuregelung des Verhältnisses zwischen Zentrale und Republiken sowie zur Umgestaltung der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung sind festgefahren. Die Möglichkeiten zu einer auf Konsens gestützten Integration der Republiken sind erschöpft. Die Kontrolle der Tagespolitik in Wirtschaft und Verwaltung liegt nicht mehr in Moskau, sondern bei den Verwaltungsinstanzen der Republiken, der Gebiete und Kommunen, in einigen Regionen auch noch bei örtlichen Parteifürsten bzw. -Organisationen. Strategische Entscheidungen des Unionspräsidenten, ja selbst grundlegende Beschlüsse des Obersten Sowjet der UdSSR, gehen ins Leere. Ein amerikanischer Beobachter beschrieb die heutige Situation mit der Formel „Nicht-Regierung durch Erlaß“ -das bedeutet nichts weniger als Anomie. Die Rezession der Wirtschaft und der Zusammenbruch traditioneller Verteilungssysteme haben beunruhigende Ausmaße angenommen. Seit Herbst 1990 verschlechterte sich die Versorgungslage der Bevölkerung in einem solchen Maße, daß entgegen früherer Praxis der Westen um Hilfe ersucht werden mußte.
Das neuerliche Insistieren Gorbatschows auf der Fiktion zentraler Macht beschleunigt den realen Zerfall des Zentralstaats, statt ihn aufzuhalten. Nach den Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Staaten haben die Auseinandersetzungen zwischen Zentrale und Republiken um die Gesetzgebungskompetenz bereits die Form eines offenen Konfliktes angenommen, der nun auch mit dem Mittel der Volksbefragungen ausgetragen wird. Zwar sind Zweifel an der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit der nach völkerrechtlicher Unabhängigkeit strebenden Unionsrepubliken angebracht, die im Überschwang nationaler Souveränitätspolitik den Überblick über die tatsächlichen Abhängigkeitsstrukturen verloren zu haben scheinen. Dies ändert jedoch nichts an ihrer politischen Entschlossenheit, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen.
Spätestens mit dem Rücktritt des sowjetischen Außenministers Edward Schewardnadse am 20. Dezember 1990 wurde die Weltöffentlichkeit auf eine bevorstehende Zuspitzung der innenpolitischen Krise der Sowjetunion aufmerksam. Versuche des Zentrums, die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Republiken mit Gewalt zu unterdrücken, lassen einen wachsenden Einfluß jener politischen Kräfte in Moskau erkennen, die mehr durch Machtnostalgie als durch eine nach vorne gerichtete Konzeption im Sinne der ersten Jahre der Perestroika verbunden sind. Damit aber werden die Hoffnungen auf eine von den Lasten des Ost-West-Konflikts befreite neue Weltordnung erneut in Frage gestellt.
II. Grenzen kurzfristiger Konsolidierung
Im Westen wurde „Perestroika“ vielfach als ein politischer Prozeß verstanden, dessen Tempo durch politische Interventionen zwar verlangsamt oder beschleunigt, in seiner Richtung aber nicht mehr grundsätzlich verändert werden kann. Diese Hypothese ist durch die aktuelle Entwicklung widerlegt. Auch wenn ein Rückfall in stalinistische Strukturen ausgeschlossen werden kann, so bestätigt sich doch die Hoffnung auf eine gleitende Transformation nicht. Der Verfall staatlicher Autorität auf allen Ebenen und die Unübersichtlichkeit der politischen Strukturen machen die Analyse besonders kompliziert. So wird es immer schwieriger, die Motive der Verfechter von Gesetz und Ordnung und eines sozial abgefederten Übergangs zur Marktwirtschaft zu unterscheiden von denen der Protagonisten der Erhaltung des Zentralstaates um jeden Preis und einer als „gelenkte Marktwirtschaft“ deklarierten Konservierung der Kommandowirtschaft. Um so mehr kommt es deshalb darauf an, die Rahmenbedingungen politischer Prozesse herauszuarbeiten, um das Spektrum denkbarer Entwicklungen einzugrenzen.
Das Instrumentarium hierzu ist freilich kaum entwickelt. Zwar dominierten in der westlichen Diskussion auch zu einer Zeit, als an der Ernsthaftigkeit des Bemühens Gorbatschows um eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft nicht gezweifelt werden konnte, eher skeptische Einschätzungen der möglichen Entwicklung der UdSSR. In aller Regel handelte es sich dabei allerdings um eher intuitiv gewonnene Thesen von geringem operativem Wert. Typisch war die Unterscheidung von drei „Szenarien“: eines konstatierte -trotz aller Schwierigkeiten -einen positiven Trend, ein zweites nahm eine Stagnation an, ein drittes vermutete einen Zusammenbruch des Systems.
Ein auch in der Sowjetunion häufig gebrauchter Begriff wie „Chaos“ erweist sich allerdings als ungeeignet, um Veränderungen eines Makrosystems von der Größenordnung der UdSSR zu erklären. Da Staaten nur in regionale Einheiten und Gesellschaften nur in ihre sozialen Gruppen zerfallen können, wäre zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation besser das Paradigma eines veränderten „Aggregatzustandes“ geeignet. Dessen Stabilität wäre dann zu überprüfen. Die anhaltende Unsicherheit der Herrschaft und die Versäumnisse bei der Institutionalisierung rechtsstaatlicher Strukturen haben in der Zwischenzeit zu einer tiefgreifenden Erosion jeglicher Autorität geführt. So geht es heute um die Chancen für einen Neubeginn und nicht mehr um die Fortsetzung dessen, was 1985 als „Perestroika“ begann.
Wenig hilfreich ist schließlich eine Reduktion grundlegender struktureller Probleme auf Persönlichkeiten an der Spitze. Sicher kompliziert die Rivalität zwischen Gorbatschow und Jelzin wegen der herausragenden Rolle, die der Russischen Republik (RSFSR) für den Fortbestand der Union zukommt, die Lage ganz erheblich. Andererseits wird auch eine Beilegung dieses Konflikts die akuten Probleme der Union nicht wirklich lösen, sondern bestenfalls das Unruhepotential in der Bevölkerung der RSFSR dämpfen. Jelzins kaum mehr zu steigernde Popularität könnte ihn in die Lage versetzen, die angesichts des eingetretenen destruktiven Chaos wachsende Demoralisierung breiter Bevölkerungsschichten für eine gewisse Zeit zu stoppen. Freilich trägt er ein großes Risiko: Wenn es ihm nicht gelingt, die Unumgänglichkeit einer fortgesetzten Politik von „Blut, Schweiß und Tränen“ zu vermitteln, dann wird der Zusammenbruch auch in Rußland unvermeidlich -mit unangenehmen Konsequenzen für die Nachbarrepubliken und die gesamte Union.
Bis heute liegt kein Versuch zur Formulierung ernsthafter Szenarien im technischen Sinn (d. h. einer Eingrenzung des Spektrums denkbarer Entwicklungen, Strukturierung des Ungewissen) vor. In einer systematischen Analyse müssen die für die Gesamtentwicklung der UdSSR strategischen Indikatoren herausgearbeitet werden. Dabei erweist es sich als zweckmäßig, zwischen prädeterminierten Rahmenbedingungen, Elementen politischer Steuerung sowie „Störungen“ des Systems durch externe Ereignisse zu unterscheiden:
Prädeterminiert, d. h. kurzfristig durch politische Eingriffe nicht veränderbar, sind demographische Strukturen, die Verfügbarkeit wirtschaftlicher Ressourcen, die Altersstruktur des Kapitalstocks, aber auch über Jahrzehnte gewachsene soziale Verhaltensweisen. Eine genaue Analyse der quantifizierbaren Zusammenhänge ermöglicht es, frühzeitig partielle und potentiell kumulative Engpässe zu erkennen, die kompensatorische Eingriffe von Seiten der Politik erfordern.
Möglichkeiten politischer Steuerung hängen ab vom Zusammenspiel der innenpolitischen Kräfte (Parteien, Funktionseliten, soziale Gruppen), d. h. funktionsfähigen und belastbaren Koordinationsmechanismen, sowie von der Fähigkeit, im Konsens konsistente Strategien zu entwickeln und durchzusetzen. Dabei muß die politische Führung sowohl über ein entsprechendes analytisches Frühwarnsystem zur Ortung von Engpässen wie auch über freie Reserven verfügen.
Als externe Störungen können im sowjetischen Fall Katastrophen wie das Erdbeben in Armenien oder der Reaktorunfall von Tschernobyl mit ihren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen angeführt werden. In diese Kategorie gehören aber auch politische Ereignisse, wie der Ausbruch gewalttätiger Nationalitätenkonflikte, deren soziale, wirtschaftliche und politische Folgen den Gesamtstaat aus dem Gleichgewicht bringen können. Eine systematische Analyse dieser Elemente läßt die Grenzen einer kurz-und mittelfristigen Konsolidierung und damit des Spektrums denkbarer Szenarien der sowjetischen Entwicklung erkennen, ohne daß damit gesicherte Prognosen möglich würden. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, daß die Lebensfähigkeit des „Systems UdSSR“ von der Stabilität wesentlicher (d. h. sich wechselseitig beeinflussender) Teilsysteme bzw. von der Verfügbarkeit von Reserven für einen Ausgleich von Teilzusammenbrüchen abhängt. Als relevante Teilsysteme im Sinne dieser Analyse sind anzusehen: die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie; die Versorgungssicherheit; die Belastbarkeit der technischen Infrastruktur; die öffentliche Sicherheit und Ordnung; die Haltung der Bevölkerung gegenüber einer Systemtransformation. 1. Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie Eine neue Phase offener Konfrontation in den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie begann im Jahr 1989. Förmliche Erklärungen der staatlichen Souveränität durch Litauen (Mai), Lettland (Juli) und Aserbaidschan (September) und deren Zurückweisung durch die KPdSU und das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR markieren den Beginn einer gefährlichen Eskalation. Die Unabhängigkeitserklärungen Litauens (vom 11. März 1990), Lettlands und Estlands, die wenig später folgten, sind als Signale einer politischen Entschlossenheit der baltischen Republiken zu werten, deren völkerrechtliche Implikationen nicht mehr ignoriert werden können. Die Zerfalls-tendenzen verstärkten sich im Sommer 1990 mit entsprechenden Erklärungen der RSFSR und der anderen Republiken (mit Ausnahme der Kirgisischen SSR). Seither dominieren die Auseinandersetzungen über den Vorrang der Unions-bzw.der republikanischen Gesetze, Fragen der Staatsbürgerschaft, der Gestaltung der Außenpolitik sowie der Verfügung über die Bodenschätze die innenpolitische Debatte um eine neue Unionsverfassung. Gleichzeitig komplizierten sie die Diskussion über eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems. Der Versuch der Wiederherstellung des Zentralstaates auf der Basis der Anerkennung einer dualen Souveränität, der mit der „Konzeption“ des Volkskongresses der UdSSR vom 25. Dezember 1990 für eine neue föderale Unionsverfassung unternommen wurde, läßt jedoch zu viele Fragen bezüglich der Kompetenzverteilung offen, um als Basis für einen baldigen Konsens zu dienen. Verfassungsänderungen, insbesondere die Stärkung der Stellung des Präsidenten und die Verabschiedung einer Resolution durch den Kongreß der Volksdeputierten zur Durchführung eines unionsweiten Referendums über die Erneuerung der Union als „Föderation gleicher souveräner Republiken“ verstärkten freilich eher das Mißtrauen gegenüber den Absichten der Zentrale.
Insgesamt sechs Republiken -die baltischen Staaten, die Ukraine, Georgien und Armenien -lehnten das für den 17. März 1991 beschlossene Referendum über die Erneuerung der Föderation von vornherein ab. Angesichts der Gefahr einer Majorisierung der kleinen Republiken durch Ergebnisse der unionsweiten Volksbefragung führten die baltischen Staaten am 9. Februar und 3. März 1991 eigene Referenden bzw. Umfragen zur Frage der Mitgliedschaft in der Union durch, deren Ergebnisse keinen Zweifel an der Authentizität und Eindeutigkeit des Unabhängigkeitswunsches mehr ließen. Die blutige Intervention von Truppen des Verteidigungs-und des Innenministeriums am 13. und 20. Januar 1991 in Wilna und Riga und die zunehmenden Einschüchterungsversuche gegenüber den anderen Republiken reduzierten die Hoffnungen auf eine Erneuerung der Union in einem neuen Vertrag nachhaltig. Die Ergebnisse des Referendums vom 17. März 1991 können schon wegen der Nichtbeteiligung von sechs Republiken und der Berichte über Wahlfälschungen an verschiedenen Orten nicht als Votum im Sinne der Zentristen interpretiert werden. Dazu kommen die eindrucksvollen Mehrheiten für Jelzins Zusatz-Referendum über die Direktwahl eines Präsidenten der RSFSR -ungeachtet massiver Warnungen Gorbatschows vor einer solchen Verfassungsänderung. Ein parallel durchgeführtes Referendum in der Ukraine, das Referendum über die Unabhängigkeit Georgiens vom 31. März und die angekündigte Volksbefragung in Armenien über den Austritt aus der Union für September 1991 unterstreichen die Unvereinbarkeit der Vorstellungen. Damit ist endgültig klar, daß für weitere Verhandlungen mit dem Zentrum über dessen Entwurf eines neuen Unionsvertrags keine Vertrauensbasis mehr besteht.
Der partielle Zusammenbruch der in Jahrzehnten gewachsenen interrepublikanischen Lieferbeziehungen -als Folge des Konflikts zwischen Zentrum und Peripherie -ist ein wichtiger Faktor für den beschleunigten Niedergang der sowjetischen Wirtschaft. Das Ausmaß wechselseitiger Abhängigkeiten, bedingt durch unterschiedliche Ausstattung mit Ressourcen bzw. eine Produktionsspezialisierung, die nur langfristig zugunsten eines neuen regionalen Konzepts geändert werden kann, ist nicht zu übersehen und muß auch bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken berücksichtigt werden. Eine Reorganisation der interregionalen Zusammenarbeit in der Form zwischenstaatlicher Außenhandelsabkommen dürfte insgesamt nicht weniger kompliziert sein als im Rahmen eines neuen Unionsverbunds. Wie das Beispiel des sogenannten „Bankenkriegs“ mit den baltischen Republiken im Jahr 1990 zeigt, verfügt die Zentrale nicht über ausreichende Sanktionen, um die Kooperation von Republiken, Regionen oder Betrieben in jedem Fall zu erzwingen. Die politischen Konflikte sprechen gegen eine rasche Wiederherstellung leistungsfähiger interregionaler Kooperationsstrukturen. 2. Versorgung der Bevölkerung Die Zuspitzung der Krise in der Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen (Nahrungsmittel, Energie, Verkehr, Gesundheitswesen) läßt sich exemplarisch am Zusammenbruch des staatlichen Einzelhandels ablesen. Die in Wirtschaft und Verwaltung Beschäftigten werden durch ihre Betriebe bzw. Organisationen nur unzureichend versorgt. Die Verteilung erfolgt überwiegend im Wege des Naturaltauschs der Konsumenten untereinander. Gleichzeitig beschleunigt sich die Differenzierung zwischen den Beziehern normaler Arbeitseinkommen einerseits, Rubelmillionären und Besitzern harter Währung andererseits.
Eine ausreichende und gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung bleibt solange gefährdet, wie das monetäre Ungleichgewicht auf allen sowjetischen Märkten anhält und die Zentrale sich weder für ein Konzept marktwirtschaftlicher Reform noch für eine konsequente Rationierung bei gleichzeitig verschärften Kontrollen der Verteilungswege entschlossen hat. Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage muß sich weiter öffnen, die Verunsicherung der Betriebe wie auch der Konsumenten mit dem Ergebnis massiver Spekulation bzw.der Hortung von Gütern wird anhalten. Der Versuch vom Februar 1991, einen Teil des Bargeldumlaufs aus dem Verkehr zu ziehen, hat das Vertrauen in die geldpolitische Kompetenz der Moskauer Wirtschaftspolitik eher erschüttert als stabilisiert. 3. Belastbarkeit der technischen Infrastruktur Die technische Infrastruktur des Landes steht wegen der anhaltenden Vernachlässigung technischer Sicherheitsstandards wie auch der erforderlichen Reinvestitionen in Transport-, Energie-und Kommunikationssysteme am Rande des Zusammenbruchs. Hier genügt der Hinweis auf sich häufende Unfälle der Eisenbahn und der Pipelines. Die Anlagen sind hoffnungslos veraltet und ständig überlastet, die Mechanisierung ist auf dem Stand der Technik der siebziger Jahre stehengeblieben. Der Reichtum des Landes an Energie und Rohstoffen kann auf absehbare Zeit weder in ausreichende Inputs für die heimische Wirtschaft noch in gesteigerte Exporte zur Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen umgesetzt werden. Angesichts der Dimensionen des Landes sind diese Engpässe -auch bei einer grundsätzlichen Änderung der Investitionsschwerpunkte -bestenfalls mittelfristig zu überwinden. Selbst massive Kapitaltransfers aus dem Ausland könnten die technisch bedingte Vor-laufzeit für eine Stabilisierung nicht verringern. So ist auf absehbare Zeit mit Engpässen, ja sogar weiteren durch menschliches Versagen bedingten Katastrophen zu rechnen. Da deren Auswirkungen nicht auf die unmittelbar betroffenen Regionen begrenzt werden können, tragen sie zur Destabilisierung der innenpolitischen Lage bei. 4. Probleme der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Ungeachtet aller Versuche einer Wiederbelebung zentraler Sicherheitsapparate ist das Prestige der mit Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschäftigten Apparate schwer angeschlagen. Die Demoralisierung ihrer Angehörigen wird selbst zum Problem für die öffentliche Sicherheit. Auch wenn die in der sowjetischen Presse genannten Statistiken über die Zunahme der Kriminalität mangels verläßlicher Vergleichszahlen aus früherer Zeit nur bedingt aussagekräftig sind, so kann doch an einem dramatischen Anstieg von Eigentumsdelikten, Drogenhandel und organisiertem Verbrechen nicht gezweifelt werden. Dazu kommt ein schwunghafter Waffenhandel, Indiz für die beginnende Auflösung der Sowjetarmee. Das Gewaltmonopol des Staates ist nicht nur im Süden in Frage gestellt, während das Gewaltpotential -gemessen an der Häufung von Zwischenfällen und der Zahl der ökonomisch, sozial und politisch Entwurzelten (demobilisierte Soldaten, arbeitslose Jugendliche, Flüchtlingsströme als Folge ethnischer Konflikte) -zunimmt. Weder Ausrüstung und Ausbildung noch Moral der Polizei entsprechen den neuen Herausforderungen. Auch das Instrument gemeinsamer Patrouillen von Miliz und Armee dürfte sich für die Lösung der Kernprobleme einer gefährdeten inneren Sicherheit als nur bedingt tauglich erweisen. Die Möglichkeiten, die beschriebenen Tendenzen wirksam und mit rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen, sind sehr skeptisch einzuschätzen. 5. Die Haltung der Bevölkerung zur Systemtransformation Angesichts der wechselseitigen Blockierung der politischen Kräfte und der sich vertiefenden Versorgungskrise hat die Bevölkerung das Interesse an Politik verloren. Zwar bleibt das Mißtrauen gegenüber der alten Nomenklatura erhalten, andererseits konnten die demokratischen Kräfte ihre Stellung nicht konsolidieren. Dabei spielt das Handicap einer der KPdSU fast hoffnungslos unterlegenen organisatorischen Infrastruktur sicher eine wichtige Rolle. Andererseits ist es den untereinander zerstrittenen und unentschlossenen neuen Parteien und Bewegungen nicht gelungen, den Eindruck technokratischer Kompetenz zu vermitteln. Die wuchernde Wirtschaftskriminalität, eine im Schatten der verworrenen Rechtslage einsetzende spontane Privatisierung sowie krasse Einkommens-und Versorgungsunterschiede diskreditieren die Argumente zugunsten einer auf Privateigentum an Produktionsmitteln und Wettbewerb gegründeten Marktwirtschaft. Die Glaubwürdigkeit des proklamierten Leitbilds einer neuen Leistungsgesellschaft ist in Frage gestellt.
Widersprüchliche Gesetzgebungsakte und der generelle Mangel an Erfahrung in selbständiger Verwaltungsführung verstärken bei der Bevölkerung auch dort den Eindruck der Inkompetenz, wo sinnvolle Reformen und Reorganisationen eingeleitet werden. Die für den Systemwechsel unerläßliche Kritik einer ungeduldigen Öffentlichkeit, aber auch der Wettbewerb von Anhängern wie Kritikern des alten Regimes bei der drastischen Beschreibung bevorstehender Risiken und Opfer erweisen sich als Problem für die Konsolidierung der Wirtschaft.
Das Ergebnis dieser Teilanalysen ist wenig ermutigend: Eine gescheiterte Nationalitätenpolitik und die Fehler zentralistischer Strukturpolitik haben den zur Erneuerung entschlossenen Politikern in der Sowjetunion mehr Probleme als Lösungsmöglichkeiten hinterlassen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, daß systematische Ansätze zu einem Systemwechsel, insbesondere in der Frage der Verfassungsreform in Richtung auf Föderalisierung und Rechtsstaat, durch spontane politische Prozesse sehr schnell zum Entgleisen gebracht werden können. Unter solchen Bedingungen verschlechtern sich die Voraussetzungen für eine Konsolidierung der Wirtschaft, die ihrerseits das Fundament für eine politische Stabilisierung liefern müßte. In keinem der oben betrachteten Teilsysteme sind rasche Erfolge möglich, die sich zur Stabilisierung in anderen Bereichen einsetzen ließen. Ohne mobilisierbare ökonomische und politische Reserven sind die Versuche zur Erhaltung des Zentralstaats zum Scheitern verurteilt.
Angesichts dieser Lage bliebe die Option einer gezielten Strategie der Föderalisierung von unten mit all ihren Risiken, aber auch mit der Chance für einen Neubeginn organischer, d. h. auf Interessenausgleich der beteiligten Republiken beruhender Kooperation. Die aktuelle Entwicklung freilich deutet darauf hin, daß Gorbatschow im Bündnis mit einer Koalition reaktionärer Kräfte den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat.
III. Eine konservative Wende
Eine konservative Wende in der sowjetischen Innenpolitik deutete sich schon seit Herbst 1990 an -nicht erst mit dem Rücktritt Schewardnadses im Dezember, den er mit einer drohenden Diktatur begründete. Nach den blutigen Armeeinsätzen am 13. Januar 1991 in Litauen und am 20. Januar in Lettland wird eine neue Konstellation politischer Kräfte sichtbar, die zu einer Überprüfung des in fünf Jahren Perestroika entstandenen Bildes zwingt. Vieles spricht für die Hypothese, daß ein „militärisch-ideologischer Komplex“ (Wjatscheslaw Daschitschew), d. h. eine Koalition konservativer Kräfte in Parteiapparat und Staatsbürokratie, Militär und Rüstungsindustrie, abgestützt durch das KGB, zum offenen Gegenangriff angetreten ist.
Die konservativen Interessengruppen zogen ihre Lehre aus den ersten Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR und den Sitzungen des Obersten Sowjet der UdSSR, die von Vertretern des demokratischen Flügels dominiert worden waren. Bereits am 14. Februar 1990 wurde „Sojus“ (Union), eine neue Gruppe konservativer Deputierter, gegründet, zu der zu Beginn des 4. Kongresses der Volksdeputierten im Dezember 1990 jeder vierte der 2250 Volksdeputierten zählte. Schwerpunkte ihres Programms bilden die Forderungen nach Erhaltung der Union mit einer star-19 ken Zentralmacht sowie die kompromißlose Ablehnung der Souveränitätsbestrebungen der Republiken. Den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise sieht die Gruppe „Sojus“ im Einsatz der Präsidial-vollmachten durch Verhängung des Ausnahmezustandes und in der Übergabe aller legislativen und exekutiven Vollmachten an ein Netz von „Komitees zur nationalen Rettung“.
Der Kampf dieser Allianz gegen die demokratisch gewählten Parlamente und Regierungen in den Republiken folgt den Regeln einer Strategie und Taktik, deren bolschewistische Traditionen bis in die Zeit der Oktoberrevolution zurückreichen. Dazu gehören allgemeine Destabilisierung der Lage, Verbreitung von Falschmeldungen über die Absichten der radikaldemokratischen Kräfte, deren unverhüllte Diffamierung als „nationalfaschistische Regime“ sowie die Anstiftung und Organisation von Streiks und Massenunruhen. „Komitees zur nationalen Rettung“ wurden in allen Unionsrepubliken gegründet. Deren Koordination liegt ganz offensichtlich bei „Sojus“. Die politische Argumentation bedient sich der Versatzstücke des ideologischen Klassenkampfs: Es gehe nicht nur um die Erhaltung der Union im Kontext der Nationalitätenfrage, sondern um die Verteidigung der „sozialistischen Wahl“, sozialistischer Werte, der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Bis vor kurzer Zeit wurde die Fraktion „Sojus“ weder von sowjetischen Politikern und Beobachtern noch von westlichen Analytikern ernstgenommen. Positive Äußerungen aus Kreisen der Führung (des Vizepräsidenten der Union, Janaew, oder des Vorsitzenden des Nationalitätenrates des Obersten Sowjet, Nischanow) und das beredte Schweigen Gorbatschows angesichts ihrer offenen Provokation und Machenschaften müssen jedoch als bedrohliche Anzeichen gewertet werden. Personelle Veränderungen in strategischen Positionen an der Spitze des Staates (die Ersetzung des Innenministers Bakatin durch Pugo, einen Kandidaten des KGB, aber auch die Ernennung Janaews zum Vizepräsidenten) deuten darauf hin, daß mit dieser Gruppe gerechnet werden muß. Seit Dezember 1990 häufen sich ultimative Forderungen und provokative Auftritte ihrer Sprecher, voran des Obersten Viktor Alksnis, die für die Wiederherstellung der Ordnung im Lande auftreten.
Weitere Anzeichen für einen veränderten Front-verlauf waren ein Treffen Gorbatschows mit 1100 Abgeordneten aus den Reihen der Armee am 13. Dezember und sein Auftritt vor den Direktoren der Großbetriebe (überwiegend aus dem Rüstungsbereich) am 7. Dezember 1990. Deren Forderungen nach einem „politischen und wirtschaftlichen Ausnahmezustand“ für die ganze UdSSR hatten die prompte Bestandsgarantie durch Ministerpräsident Ryshkow zur Folge. Andererseits traf keines der sowjetischen Führungsmitglieder in den Wochen vor dem 4. Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR mit Vertretern demokratischer Parteien oder Fraktionen zusammen.
Mit dem Hinweis auf angeblichen Verfassungsbruch, Verletzung der Menschenrechte von Minderheiten und Armeeangehörigen und bürgerliche Restauration wurde eine Eskalation militärischer Präsenz in der Region gerechtfertigt und die unverzügliche Auflösung der in freien Wahlen legitimierten Parlamente und Regierungen verlangt. Der Ablauf der Ereignisse läßt auf ein gut vorbereitetes Szenario schließen. Die Koinzidenz einer Aktivierung konservativer Kräfte in Moskau, von Hilferufen der „Komitees zur nationalen Rettung“, demonstrativer Truppenbewegungen und Provokationen in Litauen und Lettland, nicht zuletzt auch das Timing im Windschatten der Golf-krise, deuten darauf hin, daß die Konfrontation alles andere als Zufall war. Seit Gorbatschow im November 1990 seinen Entwurf eines neuen Unionsvertrags vorgelegt hatte, waren alle Aktionen des Zentrums darauf gerichtet, auf die Unionsrepubliken Druck auszuüben, sich der Zentralmacht zu unterstellen.
Entgegen vielfältigen Befürchtungen eines Putsches läßt das Militär keine eigenen Ambitionen auf die politische Führung erkennen. Seine Vertreter erklären sich besorgt wegen grassierender Wehrdienstverweigerung, Desertion, Bedrohung militärischer Einrichtungen und Armeeangehöriger sowie wegen einer Gefährdung der Landesverteidigung. Die Grenzen zur Innenpolitik werden freilich fließend, wenn Marschall Achromejew in einem Artikel in der konservativen Zeitung „Sowjetskaja Rossija“ am 14. November 1990 den Einsatz der Streitkräfte durch eine Entscheidung des Obersten Sowjet und des Präsidenten der UdSSR zur Sicherung der „Einheit des Vaterlandes“ und für die „Erhaltung der Gesellschaftsordnung“ gegen Bestrebungen der Separatisten und „anderer antisozialistischer Vereinigungen“ ankündigt.
Das Komitee für Staatssicherheit KGB spielt eine klassische Rolle im Sinne sowjetischer Traditionen: Es werden chaotische Zustände und Ausbrüche von Gewalt konstatiert und behauptet, das Land befinde sich im Griff extremistischer Gruppen. Dabei wird jedoch nicht zwischen ethnischen Konflikten (z. B. Armenien/Aserbaidschan) und ungelösten Verfassungs-und völkerrechtlichen Problemen (Moskau/Baltikum) unterschieden. Am 11. Dezember 1990 hielt der Vorsitzende des KGB, Wladimir Krjutschkow, eine in den schlimmsten Traditionen des Kalten Krieges abgefaßte Fernsehansprache -wie er betonte, auf Weisung des Präsidenten der UdSSR. Krjutschkow beschuldigte „ausländische Organisationen und Geheimdienste“, seit Jahrzehnten einen „geheimen Krieg“ zu führen, mit dem Ziel, den „wirtschaftlichen und staatlichen“ Zusammenbruch der Sowjetunion zu „provozieren“. Ziel solcher Behauptungen ist die Diskreditierung der demokratischen Kräfte in Rußland und der Nationalbewegungen in den Republiken als Instrumente der westlichen Geheimdienste.
Als Macht im Hintergrund agiert der Apparat der KPdSU. An seinem Zusammenspiel mit der Armee, den „Interfront“ -Organisationen „Sojus“ und Vertretern der Rüstungsindustrie besteht kein Zweifel, auch wenn dies nach Möglichkeit verschleiert wird. Hier muß beispielsweise die Weisung des Leiters der Verwaltungsabteilung des ZK der KPdSU an lokale Parteikomitees angeführt werden, den örtlichen „Sojus“ -Gruppen Räume und Kommunikationsanlagen zur Verfügung zu stellen. Vor allem aber sind die traditionellen organisatorischen Verflechtungen intakt geblieben. So sind die in den Republiken stationierten hohen Offiziere aus der Armee, dem Innenministerium und der Staatssicherheit ex officio Mitglieder der Zentral-oder Gebietskomitees der Kommunistischen Partei. Auch wenn anhaltender Mitgliederschwund und vernichtende Niederlagen der Vertreter der Nomenklatura in den letzten Regionalwahlen erkennen lassen, daß der Rückhalt der KPdSU in der Bevölkerung weiter schwindet, so verfügt diese auch nach dem Verlust der Verfassungsgarantie immer noch über erhebliche Möglichkeiten für den neuerlichen Griff nach einer Herrschaft ohne demokratische Legitimation.
Wo bleiben in einer solchen politischen Konstellation die demokratischen Kräfte? Bis heute haben sie nicht die Kraft zur Organisation unter einem gemeinsamen Programm aufgebracht, sieht man von wenig schlagkräftigen Wahlbündnissen und Plattformen wie dem „Demokratischen Rußland“ ab. Die etablierten Machtapparate profitieren von der anhaltenden Zersplitterung und organisatorischen Schwäche der demokratischen Kräfte und ihrer Unfähigkeit, ein attraktives Parteienspektrum zu formieren. Gestützt auf eine überlegene und erprobte technische Infrastruktur im Bereich der Medien und der Kommunikation versuchen sie, die allgemeine Frustration über eine Verschlechterung der Gesamtsituation, in der „Perestroika“ bereits zum Reizwort für viele Menschen geworden ist, auf ihre Mühlen zu leiten. Vielleicht war es ein Fehler wichtiger Vertreter der demokratischen Erneuerung, die Kommunistische Partei zu verlassen, ohne in neue, politisch klar identifizierbare Positionen neuer Parteien einrücken zu können. So schaltet innerhalb der KPdSU der Apparat ungestört durch innerparteiliche Kritiker -und sicherlich nicht zur Unterstützung jener Ziele, für die Gorbatschow in den ersten Jahren der Perestroika angetreten war.
Als Präsident der UdSSR ließ sich Gorbatschow 1990 mit praktisch unbeschränkten Sondervollmachten ausstatten. Damit aber hat er sich in eine konservative Falle begeben: Er akzeptierte die ungeteilte Verantwortung für operative Entscheidungen in allen Bereichen, zugleich machte er sich zum Gefangenen jener Apparate, mit denen allein er im Krisenfall Gesetz und Ordnung durchsetzen könnte. Die Form seiner Dementis jeglicher Verantwortung für die Ereignisse im Baltikum signalisiert Machtverlust und/oder Machtverzicht und muß als Bestätigung der konservativen Wende gewertet werden. Auch wenn man nicht unterstellt, Gorbatschow strebe eine Gewaltherrschaft an, so trägt er doch die politische Verantwortung für eine provokative Eskalation von Gewalt, die den Traditionalisten und Zentralisten wiederum Vorwände für neue Forderungen lieferte.
Einerseits distanzierte er sich nicht einmal verbal von den Machenschaften der Reaktion, andererseits aber schöpfte er seine Vollmachten entgegen den Forderungen der Befürworter einer gewaltsamen Lösung des Verfassungskonflikts mit den baltischen Staaten nicht aus -sehr zu deren Erbitterung. Ohne erkennbare eigene Konzeption laviert er zwischen den Fronten und erschwert mit einer Flut wolkiger Erklärungen sowie hektischer, unklarer und widersprüchlicher Erlasse die Orientierung. Die öffentlichen Auftritte machen die Grenzen seiner Vorstellungen von einer modernen Sowjetunion sichtbar: ein mit sowjet-patriotischer Großmachtverantwortung begründetes zentralistisches Verfassungsmodell für den Staat und ein eher unscharfes traditionell-sozialistisches Leitbild für die Gesellschaft.
IV. Szenarien der kurzfristigen Entwicklung
Macht im Sinne positiver Gestaltungsmöglichkei-ten für die gesamte Sowjetunion hat kein Politiker mehr. Gleiches gilt für die Institutionen und politi-schen Gruppierungen. Ganz anders verhält es sich, wenn es gilt, die Herausbildung neuer Strukturen zu verhindern: Viele Aktivitäten bleiben unverständlich, wenn man darin nicht den Versuch sieht, konkurrierende Kräfte zu blockieren. Meinungsumfragen signalisieren Anfälligkeit großer Teile der Bevölkerung für populistische Argumente und eine Erosion erster Ansätze zu einer Bürgergesellschaft, nicht nur in Rußland. Die selbstbewußte Aufbruchsstimmung der ersten Jahre der Perestroika weicht verbitterter Skepsis. Nur noch intellektuelle Protagonisten der Glasnost stemmen sich gegen die Resignation. Gleichzeitig aber verschlechtert sich die Versorgungslage weiter, und die ethnischen Konflikte nehmen an Schärfe zu. Was jetzt nur noch zählt, sind Chancen im Kampf ums Dasein vor Ort. Jedes Versprechen, die Ordnung -irgendeine Ordnung -herzustellen, fällt hier auf fruchtbaren Boden. Im Ergebnis interessieren sich die Menschen nicht mehr für Titanen-kämpfe der Politiker in Moskau. Ob die unsäglichen Versuche der Zentralregierung von der Bevölkerung akzeptiert werden, die westlichen Geheimdienste und Banken als Sündenböcke für den inneren Zerfall der Union abzustempeln, muß sehr bezweifelt werden. Die Schuld am gegenwärtigen Zustand wird sicher im Innern gesucht; dabei ist die Auseinandersetzung um gesellschafts-und wirtschaftspolitische Programme in den Hintergrund gerückt, ethnische Kategorien dominieren die Problemwahrnehmung.
Im Blick auf die oben diskutierten ökonomischen und politisch-sozialen Rahmenbedingungen reduziert sich das Spektrum plausibler Szenarien für einen Zeitraum von etwa drei Jahren auf folgende Entwicklungen, die sich durchaus überlagern können:
Szenario 1: Zustandekommen eines neuen Unionsvertrags zwischen der Mehrzahl der Republiken auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, d. h. ökonomischer Interdependenz (Währungsverbund, Sicherung der Kontinuität lebenswichtiger Lieferungen), eindeutiger Garantien für den Schutz ethnischer Minderheiten sowie der Vereinbarung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik mit Unions-Streitkräften (garantierte Stützpunkte für strategische Waffen, Luftverteidigung und Marine) bzw. territorialen Einheiten, organisiert als Nationalgarden. Für eine solche Entwicklung sprechen gemeinsame Sorgen über die rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, aber auch * über die Ineffizienz der gegenwärtigen Verteidigungspolitik und den inneren Zustand der Armee.
Hoffnungen auf einen Neubeginn stützen sich in letzter Zeit auf die Intensivierung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen den Unionsrepubliken, ausgehend von der Initiative eines geplanten Verbunds zwischen Rußland, der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan. Damit könnte ein Gravitationszentrum für weitere (sicher nicht alle) Republiken und ein Fundament für eine neue föderative oder konföderative Struktur entstehen. Verfassungskompromisse können freilich nur die Voraussetzungen für eine Änderung der Prioritäten schaffen. Die ordnungspolitischen und realwirtschaftlichen Ursachen der Krise werden nicht ausgeräumt. Die auch längerfristig mit einer Synchronisierung von Währungs-und Ordnungspolitiken in einer Konföderation verbundenen technischen Probleme sind nicht zu unterschätzen. Gleiches gilt für die Nationalitätenkonflikte, vor allem in den südlichen Republiken, wo wachsende Spannungen Anlaß zu Wanderungsbewegungen großer Bevölkerungsteile geworden sind. Hier ist die RSFSR durch Rückwanderung der in verschiedenen Regionen zur bedrohten Minderheit gewordenen Russen besonders belastet.
Szenario 2: Gewalttätige Zuspitzung der inneren Krise auf zwei Ebenen: a) durch fortgesetzten Einsatz zentraler Truppen gegen Unabhängigkeitsbestrebungen von Republiken (das „Modell Litauen“); b) durch Bürgerkrieg, d. h. bewaffnete Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, die sich zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Republiken ausweiten können und nur durch den Einsatz zentraler Truppen einzudämmen sind (das „Modell Karabach“).
Militärische Intervention von Ordnungstruppen der Zentrale wie im Fall der Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aseris oder Osseten und Georgiern kann Blutvergießen freilich nur vorübergehend verhindern. Für eine grundsätzliche Lösung sind komplizierte diplomatische Prozesse und belastbare Apparate gefordert. Massive Umsiedlungen werden z. B. im Konflikt um Nagornij Karabach nicht zu umgehen sein. Solche Bemühungen sind ohne eine allgemein akzeptierte zentrale Autorität (Präsident, Föderationsrat) kaum denkbar. Eine kurzfristige Stabilisierung wird nicht nur in den unmittelbar betroffenen Regionen durch die unvermeidliche Verschlechterung der Wirtschaftslage erschwert. Zusätzliche Komplikationen entstünden bei einem fortgesetzten Zerfall der Unionstruppen in nationale bzw. republikanische Milizen. Dieser hätte eine zumindest partielle Libanisierung des Landes zur Folge.
Szenario 3: Eine Periode autoritärer Herrschaft, vorstellbar im Zentrum (kombiniert mit Zwangsverwaltung der zum Austritt entschlossenen Republiken), aber auch in einzelnen Republiken. Eine Beruhigung der Lage und ein erneutes „Einfrieren der Konflikte“ ist auf diesem Wege für eine begrenzte Zeit möglich. Zu bezweifeln ist freilich, ob auf diesem Wege eine Regeneration der Union als Ganzes und/oder der Teilrepubliken zu lebensfähigen und dynamischen Staaten erzielt werden kann. Hier muß an das gescheiterte Experiment des Kriegsrechts unter General Jaruzelski erinnert werden, wobei Polens innere und äußere Situation noch ungleich günstigere Voraussetzungen für eine Stabilisierung auf autoritärem Wege geboten hatte (ethnische Homogenität, ausreichende Lebensmittelversorgung durch privatwirtschaftliche Landwirtschaft und die den patriotischen Konsens fördernde Drohung einer sowjetischen Intervention). Tatsächlich wurde eine konsensgestützte Lösung der ökonomischen und sozialen Probleme Polens nur verzögert, während sich die Krise des Landes vertiefte.
V. Autoritäres Regime: Durchgangsstadium oder Endstation?
Mit dem Hinweis auf untragbare politische Risiken scheiterten bislang alle Versuche eines raschen Übergangs zur Marktwirtschaft. Das Festhalten an der Reihenfolge: „Beschleunigung und Konsolidierung vor Übergang zur Marktwirtschaft“ entpuppte sich als schlichte Rationalisierung eines Mangels an Problembewußtsein und politischer Entschlußkraft. Die neue innenpolitische Macht-konstellation in Moskau läßt wenig Aufgeklärtheit erkennen, wirtschaftspolitische Fehlgriffe signalisieren Hilflosigkeit. Lippenbekenntnisse zur Marktwirtschaft sind noch kein Beweis für ernsthafte Absichten. Eine Politik, die sich weiter an der Änderung der Eigentumsordnung und einer radikalen Geld-und Preisreform vorbeimogeln will, wird in ihren Reformabsichten stecken-bleiben. Radikale Maßnahmen, wie sie noch der Schatalin-Plan vorsah, wären ohne verstärkte Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Ordnung wohl nicht durchsetzbar gewesen. Angesicht des Machtvakuums, der Erfahrung einer lebensbedrohlichen Krise von Staat und Wirtschaft, der technischen Probleme einer Synchronisierung politischer und ökonomischer Transformation in den verschiedenen Republiken und der Unfähigkeit der Entscheidungsträger, über die ideologischen Schatten der Vergangenheit zu springen, ist es nicht verwunderlich, wenn in letzter Zeit die Diskussion über ein autoritäres Regime als unvermeidliches Durchgangsstadium in den Vordergrund rückt. Keineswegs alle Argumente zugunsten einer solchen Konstruktion dürfen als Rechtfertigung der Vorbereitungen zum Putsch abgetan werden. Neben simplen Verherrlichungen faschistischer Militärregime stehen ernstzunehmende Argumente sowjeti-scher Politologen. Sie verweisen auf die Singularität der Situation Rußlands, d. h. die historischen Wurzeln einer unterentwickelten politischen Kultur, egalitäre Traditionen, das Fehlen einer demokratisch orientierten Mittelschicht, die tragische Erblast der Nationalitätenpolitik Stalins und des inneren Imperiums. Im Ergebnis solcher Analysen könnte nur ein aufgeklärtes autoritäres Regime Gesetz und Ordnung wiederherstellen, als Zwischenetappe auf dem Weg zu einer immer noch angesteuerten „Perestroika“ von Staat und Gesellschaft und als Wegbereiter für den Übergang zur Marktwirtschaft.
Wunschvorstellungen von einem aufgeklärten autoritären Regime, das die Transformation des Landes, insbesondere den Übergang zur Marktwirtschaft, durch Absicherung von Gesetz und Ordnung erzwingen soll, unterschätzen die Gefahren einer „autoritären Falle“. In den Argumenten der Reaktion steht die Stabilisierung der Lage so eindeutig im Vordergrund, daß die Absicht der Sicherung des machtpolitischen Status quo im Sinne eines übermächtigen Zentralstaats nicht übersehen werden kann. Anstelle der überfälligen Geld-reform wurde mit dem überraschenden Umtausch der 50-und 100-Rubel-Scheine eine Farce inszeniert mit verheerenden Auswirkungen auch für legale privatwirtschaftliche Aktivitäten und das Vertrauen der Bevölkerung in die Währung. Massive administrative Preiserhöhungen werden als Reform deklariert, von einem Programm zur Privatisierung ist keine Rede mehr. Gleichzeitig nehmen die Versuche zu, die parlamentarisch-demokratische Kontrolle über die Zentralmacht zurückzudrängen und die Pressefreiheit einzuschränken. Sicherheit und Ordnung werden zum Selbstzweck. In diesem Zusammenhang sind die zunehmenden Hinweise auf die Erfolge autoritärer Regime in Südamerika aufschlußreich. Als denkbare Modelle werden die Militärregime Chiles, Südkoreas und Südeuropas (Spanien, Griechenland, Portugal) angeführt. Außer Betracht bleibt dabei, daß diese Länder mit traditionell privatwirtschaftlicher Eigentumsordnung und einer gewachsenen sozialen Mittelschicht bereits über entscheidende Voraussetzungen für einen Modernisierungsschub und wirtschaftlichen Aufschwung verfügten. Verschwiegen werden die akuten innen-und sozialpolitischen Probleme der genannten Staaten, an denen die Regime wiederum scheiterten, was sie nicht hinderte, die Übergabe der Macht an demokratisch legitimierte Kräfte zu verweigern. Den konservativen Anhängern der Idee autoritärer Herrschaft in der Sowjetunion geht es erkennbar um kurzfristige Machtsicherung durch Wirtschaftsaufschwung und nicht um eine aufgeklärte Strategie zur Transformation der Gesellschaft in langfristig tragfähige, demokratisch legitimierte Strukturen. Wenn die Koalition der Anhänger eines reaktionären Ordnungsdenkens mit den Verteidigern der „sozialistischen Ordnung“ weiter die Hebel der Macht besetzt, bleibt kein Raum für eine aufgeklärte Übergangsstrategie.
Die demokratischen Kräfte sind gut beraten, wenn sie den Hymnen auf das Konsolidierungspotential autoritärer Herrschaft widersprechen. Die Verfechter einer wirtschaftlichen und politischen Transformation müssen allerdings endlich selbst die Kraft zur Formulierung eines konsistenten Programms der wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung aufbringen, wenn sie die Unterstützung einer müde gewordenen Gesellschaft finden wollen. Auch noch so „progressive Modelle“ einer konföderalen Verfassung reichen nicht aus, um dauerhafte und belastbare Autorität zu gewinnen. Es wäre verfehlt anzunehmen, daß die unumgänglichen ordnungspolitischen Maßnahmen im Bereich der Wirtschaft ohne schmerzhafte Inflationsund Umverteilungsprozesse eingeleitet werden könnten, auch wenn sie alle sozialpolitischen Aspekte berücksichtigen. Eine Konsolidierung der Konsumgütermärkte ist auch bei konsequenten ordnungspolitischen Eingriffen nur mittelfristig möglich. Für ein Andauern der Ungleichgewichte, vor allem der regionalen Versorgungsprobleme, spricht nicht zuletzt das Fehlen strategischer Reserven an Gütern und Transportkapazitäten. Gerade diese vorhersehbaren Komplikationen verpflichten die Verantwortlichen, weitere Verzögerungen zu vermeiden, die einen gefährlichen Verlust an politischer Substanz im Inneren und politischen Vertrauens im Ausland zur Folge hätten.
Da nicht mit einer Stabilisierung der Lage, d. h. einer Wiederherstellung der innen-und wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit der sowjetischen Politik auf allen Ebenen, gerechnet werden kann, bleiben auch die außen-und sicherheitspolitischen Perspektiven unerfreulich. Die sowjetische Führung versucht zwar, den von der innenpolitischen Krise ausgehenden Schaden für ihre Außen-und Sicherheitspolitik durch Rückgriff auf überholte diplomatische Formeln („Einmischung in innere Angelegenheiten“) zu begrenzen. Die einmütige Ablehnung von Gewaltanwendung im Baltikum durch die westliche Welt zeigt, daß solche Argumente nicht verfangen. Gleichzeitig blieben die Versuche der Militärs, Verpflichtungen des Wiener Abkommens durch heimliche Manipulationen bei der Dislozierung relevanter Waffensysteme und Etikettenschwindel in der Zuordnung von Truppenteilen zu umgehen, nicht unentdeckt. Damit wurden die Chancen für die Festigung jener Vertrauensbasis reduziert, von der die westliche Politik glaubte ausgehen zu können.
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag und der deutsch-sowjetische Vertrag über „gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ wurden am 4. März 1991 ratifiziert, die beiden Abkommen über den Aufenthalt und den Rückzug sowjetischer Truppen bis 1994 jedoch zunächst nur gebilligt, bevor ihre Ratifizierung „mit überwältigender Mehrheit“ am 2. April folgte. Gleichgültig, welche widerstreitenden Motive hinter der Verschiebung eines völkerrechtlich erheblichen Votums im vorliegenden Fall standen, so wird doch deutlich, daß die Fortsetzung der Außenpolitik des „neuen Denkens“ durch innenpolitische Konflikte zumindest kompliziert wird. In Zukunft muß mit verstärkter Rücksichtnahme der Außen-und Sicherheitspolitiker in Moskau auf eine wohlorganisierte Garde frustrierter Machtnostalgiker gerechnet werden. Hoffnungen auf ein „Ende der Nachkriegszeit“, wie es angesichts der dramatischen Veränderungen des Jahres 1990 diagnostiziert wurde, sind jedoch nur dann weiter gerechtfertigt, wenn uneingeschränkte Vertragstreue der sowjetischen Führung nach außen durch konsequente Bemühungen um eine konsensgestützte Konsolidierung der sowjetischen Innenpolitik ergänzt werden.