I. Probleme internationaler Gewerkschaftsorganisationen
Mit der politischen und ökonomischen Umwälzung in Osteuropa vollziehen sich auch tiefgreifende Entwicklungen in den Gewerkschaftsbewegungen dieser Länder Um die Auswirkungen auf die internationale Gewerkschaftsbewegung zutreffend einschätzen zu können, erscheint es notwendig, zunächst einen kurzen Überblick über die allgemeinen Tendenzen in der internationalen Gewerkschaftsbewegung seit 1945/49 zu geben
Die internationalen Gewerkschaftsorganisationen sind seit dem Zweiten Weltkrieg durch mehrere Entwicklungslinien geprägt, die mehr oder weniger deutlich für alle Organisationen gelten. Als wichtigstes Merkmal ist die politisch-ideologische Spaltung zu nennen, die durch Blockbildung und Kalten Krieg verschärft wurde im Zuge der Entspannungspolitik seit den sechziger Jahren sich abschwächte, ohne jedoch bis Ende der achtziger Jahre zu einer Annäherung der Organisationen zu führen.
Die Ideologisierung der internationalen Gewerkschaftsorganisationen und deren Spaltung in drei Richtungen (kommunistischer Weltgewerkschaftsbund [WGB], sozialdemokratisch/sozialistischer Internationaler Bund Freier Gewerkschaften [IBFG] sowie der konfessionell geprägte Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften [IBCG], der 1968 mit der Umbenennung in Weltverband der Arbeitnehmer [WVA] seine Öffnung für die Zielsetzung sozialengagierter Gewerkschafts-und Basisbewegungen zum Ausdruck brachte) beeinflußte nicht unerheblich die globale Ausdehnung der internationalen Gewerkschaftsverbände, die bis zu Beginn der fünfziger Jahre in ihrem Organisationsbereich fast ausnahmslos auf Europa beschränkt waren Neben der Verbesserung von Kommunikations-und Transportsystemen, die es erlaubten, insbesondere zu den nordamerikanischen Gewerkschaften beständige Verbindungen herzustellen, gingen von der Reorganisation der Gewerkschaften in Lateinamerika und dem Dekolonisationsprozeß in Afrika und Asien, der von der Bildung eigenständiger Gewerkschaftsbewegungen begleitet war, wesentliche Impulse dazu aus. Begünstigt wurde das Engagement in Ländern der Dritten Welt durch konkurrierende Bestrebungen der richtungsgebundenen Internationalen, Einfluß auf diese häufig labilen und oft mit Unterdrückung, Verfolgung und Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte konfrontierten Organisationen zu gewinnen.
Organisatorisch umgesetzt wurde diese Expansion durch die Einrichtung von Regionalorganisationen, entweder als interne Untergliederungen (IBFG. WVA. Internationale Berufssekretariate [IBS]) oder in Form von formal eigenständigen und assoziierten Regionalverbänden (WGB).
Einen Bedeutungszuwachs erfuhren die internationalen Gewerkschaftsorganisationen einerseits durch die Zunahme und Erweiterung internationaler und supranationaler gouvernementaler Organisationen (UN. Internationale Arbeits-Organisation [ILO], OECD. EWG/EG), indem Koordination und Repräsentation der Mitgliedsverbände gegenüber diesen Institutionen ihre Bedeutung steigerten. Andererseits bewirkte der wachsende Einfluß von Multinationalen Konzernen (MNK) eine Ausweitung der Handlungsanforderungen an die internationalen Gewerkschaftsorganisationen. Insbesondere die IBS reagierten auf die Internationalisierung der Produktion und den wachsenden Einfluß der MNK mit der Einrichtung von regionalen und globalen Koordinationsstrukturen für ihre nationalen Mitgliedsgewerkschaften. Parallel dazu waren die internationalen Gewerkschaftsorganisationen bestrebt, auf UN-Organisationen und EG-Institutionen dahin gehend Einfluß auszuüben, daß reglementierende und verpflichtende Verhaltenskodices für die MNK geschaffen wurden.
Bevor wir der Frage nachgehen, inwieweit die Umwälzungen in den osteuropäischen Staaten Rückwirkungen auf die Grundzüge der internationalen Gewerkschaftsentwicklungen haben, gilt es zunächst, die wesentlichen Aspekte der Veränderungen der Gewerkschaftsbewegungen Osteuropas zu skizzieren.
Keine Berücksichtigung finden im folgenden Albanien, weil hier der Erneuerungsprozeß kaum begonnen hat, und Jugoslawien, wo die Reformtendenzen noch völlig unübersichtlich sind. Fest steht lediglich, daß trotz Namensänderung der Bund der autonomen Gewerkschaften Jugoslawiens keinesfalls die Gründung einer demokratischen, freien Gewerkschaftsorganisation darstellt Ansätze einer freien Gewerkschaftsbewegung gibt es — parallel zu einer weitgehenden Änderung im politischen System (freie Wahlen, Mehrparteiensystem) — nur in Slowenien und Kroatien sowie ansatzweise im Unabhängigen Gewerkschaftsverband von Kosovo.
II. Zur neueren Entwicklung der Gewerkschaftsbewegungen in Mittel-und Osteuropa
Mit der Überwindung der von kommunistischen Parteien kontrollierten zentralistischen Staatsapparate, der Reduzierung des Macht-und Vertretungsanspruchs der ehemaligen Staatsparteien durch Bürgerrechtsbewegungen und im Entstehen begriffene pluralistische Parteiensysteme einerseits sowie durch die begonnene Liberalisierung der staatskontrollierten Wirtschaftssysteme und deren marktwirtschaftlichen Umbau andererseits haben sich Stellung, Funktion und Aufgaben der Gewerkschaften grundsätzlich geändert. Die Gewerkschaften sind nicht mehr partei-und staatsabhängige Transmissionsriemen, deren wichtigste Funktionen in der Verwaltung und Verteilung von Sozialleistungcn sowie in der Erfüllung von Produktionsplänen bestanden, sondern sie sind mit dem Wandel zu marktwirtschaftlichen Strukturen und pluralistischen Parteiensystemen nunmehr mit der Anforderung konfrontiert, als originäre Gewerkschaften Schutz-und Gestaltungsfunktionen im Interesse der Arbeitnehmerschaft zu übernehmen.
Die ökonomischen Ausgangssituationen der Länder machen deutlich, daß es beim Umbau der staatlichen Planwirtschaften zu erheblichen Spannungen kommen wird -Bis auf die SFR haben die übrigen Länder erst nach dem Zweiten Weltkrieg einen enormen Industrialisierungsschub erfahren. Im Vergleich zu westeuropäischen Industriestaaten blieb der Agrarsektor weiterhin bedeutend und ist bis auf Polen zu einem hohen Anteil kollektiviert. Gemeinsam ist allen Ländern die systematische Vernachlässigung dieses Sektors. Geringe Investitionen haben zu einem veralteten Maschinenpark, geringen Lagerungsräumlichkeiten, einem veralteten Transportsystem und einem unzureichenden Verteilungs-und Verkaufsnetz, letztlich zu erheblichen Produktionsrückgängen geführt. Die Industriestrukturen aller Länder sind durch geringe Effizienz und Modernität, technologische Defizite, Überbeschäftigung, Mangel an qualifiziertem Management, geringe Sicherheitsstandards usf. gekennzeichnet. Die Anpassung dieser Industrie-strukturen an den Weltmarkt und an marktwirtschaftliche Bedingungen wird ein rasches Anwachsen von Arbeitslosigkeit zur Folge haben. Hinzu kommen unzureichende Verkehrsinfrastrukturen und — bis auf Rumänien — hohe Auslandsverschuldungen mit entsprechenden Konsequenzen für den Modernisierungsprozeß.
Keineswegs optimistisch einzuschätzen sind die Chancen der reformierten und neuen unabhängigen Gewerkschaften, auf den anstehenden Modernisierungsprozeß maßgebenden Einfluß nehmen zu können. Die Veränderungen in den Gewerkschaftsbewegungen der ehemaligen Ostblockländer zeigen unterschiedliche Verlaufs-und Organisationsmuster. Sie sind in erster Linie davon abhängig, ob eine breite, von der Bevölkerung anerkannte und getragene Oppositionsbewegung bereits vor der Umwälzung bestand, welche Organisationsformen diese bisher angenommen hat und in welchem Maße eine Ablösung der Staatsparteien und eine personelle Veränderung des Regierungsapparates stattfand. Tschechoslowakei So ist die Entwicklung in der Tschechoslowakei 7) sehr stark durch die Bürgerrechtskomitees geprägt, mit denen die Streikkomitees verbunden waren, die mit der landesweiten Streikbewegung im November/Dezember 1989 entstanden und denen es gelang, den offiziellen Verband (ROH), seine Infrastruktur und sein Personal zu übernehmen und damit eine Erneuerung von den Betrieben aus zu initiieren. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist die Bewahrung einer Einheitsgewerkschaft (SKOS), wobei die frühere zentralistische Struktur der ROH jedoch zugunsten eines föderalen Organisationsprinzips umgestaltet wurde. Außerhalb dieser neu-strukturierten föderalen Einheitsgewerkschaft SKOS besteht als relevante Organisation lediglich der Gewerkschaftsbund für Kunst und Kultur.
Der neue Dachverband SKOS verfügt über eine zweifach föderale Struktur. Sie orientiert sich zum einen an der wiederbelebten Nationalitätendifferenz, indem innerhalb der Organisation — parallel zur politischen Ebene — beide Landesteile (Böhmen und Mähren sowie Slovakei) repräsentiert sind (bereits auf dem Gründungskongreß benötigten Beschlüsse die Mehrheit beider getrennt abstimmender Delegiertengruppen).
Die Bedeutung, die der Nationalitätenfrage zukommen kann — sie hat historische Wurzeln, wird durch verschiedene konfessionelle Strukturen und unterschiedliche industrielle Entwicklungen belebt —. markiert auch deutlich die unmittelbar vor dem CSKOS-Kongreß im März 1990 erfolgte Gründung eines Slovakischen Dachverbandes (NOS), der aber inzwischen in die föderale Struktur der SKOS integriert ist, sowie das Bestehen von zahlreichen Branchenverbänden mit nur regionalem Organisationsbereich. Föderativ ist die Struktur des Dachverbandes auch in der Hinsicht, daß nunmehr die Autonomie der Einzelgewerkschaften, die dem Dachverband angeschlossen sind, gewahrt ist.
Obwohl die SKOS sich als föderativer Einheitsverband etablieren konnte, dem es zudem gelang, das Vermögen der alten Staatsgewerkschaft zu übernehmen, ist diese Entwicklung von Tendenzen zur Dezentralisierung und Fragmentierung gekennzeichnet.
Der bislang stark konzentrierte Organisationsaufbau (die ROH war in 17 Industrieverbände untergliedert) erfuhr mit der Reorganisation der Gewerkschaften einen Differenzierungsprozeß, aus dem ca. 60 Einzelgewerkschaften entstanden. Teils erfolgte diese Zergliederung durch die Aufspaltung von Organisationen (z. B. Bergbau und Energie), teils durch die Bildung regionaler Gewerkschaften; letzteres mit der Folge, daß nur wenige Verbände landesübergreifend sind (so die Verbände der Metallarbeiter, Chemiearbeiter, Bauarbeiter). Die Liberalisierung nach dem November 1989 führte aber auch dazu, daß Organisationen für Berufsgruppen geschaffen wurden, die bislang über keine Interessenvertretung verfügten (Polizei, Armee, Landwirtschaft). Dieser Umgestaltungsprozeß erfolgte insgesamt derart tiefgreifend, daß der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) die neue Einheitsgewerkschaft als zweite Gewerkschaft — nach Solidamosc — aus den ehemaligen Ostblockländern aufgenommen hat.
Polen Ähnlich wie in der SFR war auch in Polen 8) die politische Entwicklung seit 1988 von einer breiten Bürger-und Streikbewegung getragen, die von Solidarnosc, die bis heute ihre Doppelfunktion als politische Bewegung und Gewerkschaft bewahrt hat, repräsentiert wurde. Die politischen Veränderungen haben auf gewerkschaftlicher Ebene zu konkurrierenden Organisationen geführt: Seit Herbst 1988 konnte die NZZ Solida die politische Entwicklung seit 1988 von einer breiten Bürger-und Streikbewegung getragen, die von Solidarnosc, die bis heute ihre Doppelfunktion als politische Bewegung und Gewerkschaft bewahrt hat, repräsentiert wurde. Die politischen Veränderungen haben auf gewerkschaftlicher Ebene zu konkurrierenden Organisationen geführt: Seit Herbst 1988 konnte die NZZ Solidamosc aus der Illegalität heraustreten und wurde im April 1989 offiziell legalisiert; daneben besteht die nach dem 1981 erfolgten Verbot aller Gewerkschaften unter Kontrolle der PVAP seit 1982 neu aufgebaute OPZZ (Oglnopolskie Porozumienie Zwizkw Zawodowych) als bislang mitgliederstärkster Dachverband (ca. 3— 4 Mio. Mitglieder) fort. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von unabhängigen, häufig nur auf Betriebsebene angesiedelten Gewerkschaften ohne Bindung an eine Dachorganisation.
Während die NZZ Solidamosc in der kurzen Phase ihres legalen Bestehens 1980/81 über 10 Mio. Anhänger zählte, vertrat sie zum Zeitpunkt ihres zweiten offiziellen Kongresses im April 1990 etwa 2 Mio. Mitglieder (nach anderen Angaben für Ende 1990: ca. 2, 7 Mio.). In diesen Zahlen kommt nicht zuletzt der Funktionswandel zum Ausdruck, den der Reformprozeß in Polen Ende der achtziger Jahre für Solidamosc bedeutet. War sie Anfang der achtziger Jahre Sammelbecken einer heterogenen Opposition gegen das kommunistische System, so ist sie seit den ersten Gesprächen am Runden Tisch im Februar 1989 zur wichtigsten politischen Kraft des Landes geworden und hat in wachsendem Maße Regierungsverantwortung übernommen. Für Solidarnosc war damit die Übernahme von ordnungs-politischen Aufgaben verbunden. Um die Demokratisierung des Landes politisch nicht zu gefährden, billigt Solidarnosc den mit drastischen Maßnahmen — nicht zuletzt auf Kosten der Arbeitnehmer — eingeleiteten Liberalisierungs-und Modernisierungsprozeß, der auf die Einführung des kapitalistischen Wirtschaftsmodells zielt, und verzichtet bislang auf eine konfliktorische, destabilisierend wirkende Interessenvertretung.
Die mitgliederstärkere OPZZ, die nach dem Verbot aller Gewerkschaften Ende 1981 von den Betrieben her — koordiniert durch einen nationalen Zentralrat — aufgebaut wurde, hat sich seit 1988, ähnlich wie andere ehemalige offizielle staats-und parteinahe Gewerkschaften, reformiert, wenngleich sie 1988 noch die Gründung konkurrierender Gewerkschaften ablehnte. Sie hat ihre Parteibindung abgelegt, vertritt Positionen, die auf eine soziale Marktwirtschaft hinzielen, und sieht eine mögliche politische Vertretung in Zusammenarbeit mit einer sozialdemokratischen Partei. Allerdings erfolgte der Umbruch nicht so radikal, daß auch die Führungsspitze ausgewechselt wurde.
Begünstigt wird die föderativ aufgebaute OPZZ durch ihre sektorale Organisationsstruktur, durch die nach wie vor bestehende Verfügung über erhebliche Vermögenswerte, lukrative Unternehmen und verschiedene Sozialeinrichtungen, aber auch durch die günstige Position, nunmehr als Interessenvertretung ohne Staats-und Regierungsbindung agieren und durch populistische Kritik am gegenwärtigen Reformprogramm Protestpotentiale binden zu können.
Ungarn Im Vergleich zu Polen und der SFR kennzeichnet die Gewerkschaftsbewegung in Ungarn ein extremer Pluralismus und eine ausgeprägte Tendenz zur Abkehr von zentralen Strukturen. Die nahezu 1 000 gewerkschaftlichen Organisationen, in der Mehrzahl Betriebs-und Unternehmensgewerkschaften sowie Berufsorganisationen, lassen sich insgesamt jedoch zwei verschiedenen Grundrichtungen — den reformierten ehemaligen offiziellen und den neugegründeten unabhängigen Gewerkschaften — zuordnen, die ihrerseits in mehrere Gruppierungen/Dachorganisationen bzw. Koordinierungs-und Aktionsgemeinschaften gespalten sind. Mitgliedermäßig am bedeutendsten ist der Anfang März 1990 gegründete föderale Magyar Szakszervezetek Orszägos Stövetsege (MSZOSZ), die reformierte Nachfolgeorganisation des alten Zentralrates der ungarischen Gewerkschaften (SZOT), der nach eigenen Angaben 3. 5 Mio., nach Auffassung internationaler Gewerkschaftsvertreter eher weniger als 1, 5 Mio. zahlende Mitglieder angehören. Zur Richtung der ehemals offiziellen Gewerkschaften gehören auch die 35 autonomen Gewerkschaften mit ca. 300 000 Mitgliedern (Stand November 1990) und das Kooperations-Forum, das nach eigenen Angaben zusammen mit der Allianz der Gewerkschaften der Intellektuellen etwa 700 000 Mitglieder vertritt.
Diese autonomen Gewerkschaften gehörten vor der Wende überwiegend dem Zentralrat an, traten jedoch dem neuen Bund nicht bei oder verließen ihn nach kurzer Zeit. Zu dieser Gruppe zählen ferner die Gewerkschaften von Angehörigen solcher Berufe, die unter dem kommunistischen Regime gewerkschaftlich nicht organisiert werden konnten (Polizei und Armee). Da programmatisch kaum Unterschiede zu den MSZOSZ-Gewerkschaften festzustellen sind und der früher berechtigte Vorwurf des Zentralismus gegenüber der neuen Dachorganisation sich schwerlich aufrechterhalten läßt, sind die Motive für die Existenz der autonomen Gewerkschaften außerhalb des MSZOSZ in erster Linie wohl im bürokratischen Eigeninteresse der Gewerkschaftsführer dieser Einzelgewerkschaften (z. B. Verteilung der Mitgliederbeiträge), in der Vertretung fachspezifischer Interessen und im Statusdenken ihrer Mitglieder zu suchen. Das gilt zumindest für die Gewerkschaften der Intellektuellen und für diejenigen aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes, die sich als Minderheit innerhalb des alten Zentralrates vernachlässigt fühlten.
Diese Selbständigkeitsbestrebungen sind zweifellos auch eine Reaktion auf den Zentralismus des ehemaligen Zentralrates und auf die schleppenden Reformbestrebungen innerhalb des MSZOSZ. Ihm gegenüber stehen die mehr als 100 neugegründeten Einzelgewerkschaften (überwiegend Betriebs-und Unternehmensgewerkschaften, aber auch einige Branchenorganisationen), die sich in der im Dezember 1988 gegründeten Demokratischen Liga der unabhängigen Gewerkschaften zusammengeschlossen haben und ca. 130 000 Mitglieder vertreten.
Neben den neuen unabhängigen Gewerkschaften kommt der Arbeitersolidarität, über die keine verläßlichen Angaben vorliegen, eine geringere, den etwa 1 500 Arbeiterräten, die sich in der Tradition der Arbeiterräte des Volksaufstandes von 1956 sehen, eine wichtige Rolle zu. Da die SZOT-Gewerkschaften sich in den Augen zahlreicher Arbeitnehmer diskreditiert hatten und für das Versagen des kommunistischen Wirtschafts-und Herrschaftssystems mitverantwortlich gemacht wurden, übernahmen in zahlreichen Betrieben die Arbeiterräte Aufgaben und Funktionen der Gewerkschaften, obwohl sie häufig wegen der Diskreditierung der gewerkschaftlichen Politik die Bezeichnung „Gewerkschaft“ ablehnen.
Die wachsenden Interessengegensätze zwischen der Regierung Antall und den Arbeiterräten — z. B. Arbeitslosigkeit und starker Preisanstieg als Folge des Übergangs zu marktwirtschaftlichen Strukturen — haben das zunächst enge Verhältnis der Arbeiterräte zum Demokratischen Forum (DF), der Partei des ungarischen Ministerpräsidenten, inzwischen kräftig abgekühlt. Obwohl auch heute noch maßgebende Vertreter der Arbeiterräte Funktionen im DF innehaben, mehren sich in ihren Reihen die Stimmen, die eine enge Anlehnung der Arbeiterräte an diese und andere Parteien ablehnen. Ob die im Sommer 1990 erfolgte Bildung einer nationalen Föderation der Arbeiterräte, an der sich lediglich ein gutes Drittel von ihnen beteiligte, zur Gründung einer weiteren gewerkschaftlichen Dachorganisation führen wird, oder ob die Arbeiterräte sich weiterhin vorrangig als betriebliche Interessenvertretung ihrer Mitglieder verstehen und sich in Zukunft stärker als Betriebsräte (in enger Zusammenarbeit mit den unabhängigen Gewerkschaften der Liga) profilieren werden, läßt sich gegenwärtig noch nicht feststellen.
In Rumänien und Bulgarien, wo keine breite Oppositionsbewegung vor dem Umsturz vorhanden war. entstanden während der Umwälzung oppositionelle Gewerkschaften, die zur wichtigsten Kraft einer allerdings noch schwachen und zersplitterten politischen Opposition wurden.
Bulgarien In Bulgarien 10) entstand aus einer kleinen Bürgerrechtsbewegung die gewerkschaftliche Dachorganisation Podkrepa. Sie verfügt über einen demokratischen Organisationsaufbau und ist bemüht, regionale Strukturen zu bilden und unabhängige Branchengewerkschaften als Mitgliedsverbände zu gewinnen. Sie fungiert als Dachverband von etwa 20 Einzelgewerkschaften (überwiegend Berufsverbände). Anfangs lag der Schwerpunkt bei Organisationen. die Angestelltengruppen (u. a. Wissenschaftler, Beschäftigte des Gesundheitswesens. Lehrer, Techniker. Postbeschäftigte) vertraten; inzwischen organisiert sie u. a. auch Berg-. Metall-und Chemiearbeiter. Es handelt sich allerdings durchweg um Gewerkschaften mit nur wenigen tausend Mitgliedern, die eine Minderheit gegenüber den Industrieverbänden der reformierten Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens (KUGB) vertreten. Dennoch genießt Podkrepa eine über die Mitgliederzahl hinausreichende Anerkennung ihrer politischen Ziele aufgrund ihrer Opposition gegen die offiziellen Gewerkschaften und gegen die Regierung vor dem November 1989. aufgrund ihrer Beteiligung an der Streikbewegung nach dem November 1989 und aufgrund von Erfolgen bei Tarifverhandlungen. Schließlich trägt dazu auch bei. daß es ihr gelang, die Regierung zu einem Dialog mit der Opposition (Runder Tisch) zu zwingen. Ihr steht die aus dem alten Zentralrat der Bulgarischen Gewerkschaften hervorgegangene (Februar 1990) Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens (KUGB) gegenüber; im Unterschied zum alten Zentralverband ist die neue Organisation ein föderal strukturierter Dachverband mit 52 Mitgliedsgewerkschaften, der nach eigenen Angaben 3. 6 Mio. Mitglieder (nach anderen, realistischeren Schätzungen ca. 1. 8 Mio.) vertritt.
Organisatorische Umgestaltung und programmatische Erneuerung der neuen Konföderation wurden zunächst von der Podkrepa und verschiedenen internationalen Gewerkschaftsorganisationen eher als Kosmetik abgetan, wozu zweifellos die enge Zusammenarbeit von altem Management und bisherigen Gewerkschaftsvertretern auf Betriebs-ebene beitrug, ferner zahlreiche gegen die Podkrepa gerichtete Streikbrecheraktivitäten und die Tatsache, daß zumindest einige Mitgliedsorganisationen der neuen Konföderation auf Betriebsebene ihre Gewerkschaftsaktivisten aus den inzwischen aufgelösten kommunistischen Betriebszellen rekrutierten. Hinzu kam. daß selbst nach Aussage der stellvertretenden Vorsitzenden der neuen Konföderation (Damianova) die Demokratisierung der Strukturen und des Willensbildungsprozesses keineswegs als abgeschlossen gelten kann.
Nach der Absichtserklärung der neuen Konföderation (April 1990). aus dem WGB auszutreten, und seiner Bereitschaft, den Mitgliedern der Podkrepa Zugang zu den vom ihm verwalteten Ferienzentren zu gewähren, gibt es sowohl auf Branchenebene als auch auf Bundesebene (z. B. bei Verhandlungen am Runden Tisch und in verschiedenen Regierungsinstitutionen) zahlreiche Kontakte zwischen Podkrepa und der Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens. Die gegen die Regierung und das Parlament gerichteten Streikaktivitäten des Bundes (Juli 1990). die Unterstützung des von der Podkrepa gegen die Regierung initiierten Generalstreiks durch zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder der Konföderation (November 1990) und deren Unterschriftensammlung (ca. 500 000) sowie Petition, die die Auflösung des von der Bulgarisch-Sozialistischen Partei (BSP. ehemalige kommunistische Partei) dominierten Parlaments fordern, lassen erkennen, daß sich die Konföderation zweifellos von ihrer früheren Funktion als Massenorganisation und Transmissionsriemen für die Interessen und Politik der kommunistischen Partei emanzipiert hat. Rumänien Mit der im Dezember 1989 gegründeten Fratia („Bruderschaft“) entstand in Rumänien ein unabhängiger. föderal strukturierter Gewerkschaftsbund.der innerhalb eines Jahres von wenigen tausend auf etwa 1 Mio. Mitglieder angewachsen ist. Fratia, die ohne Rückgriff auf die Infrastruktur des alten Dachverbandes mit einer selbstbestimmten Struktur und gewählten Gremien (Vorstand und Nationalrat) aufgebaut wurde — ein Kongreß wurde bis Ende 1990 nicht abgehalten, um offen für den Beitritt weiterer Gewerkschaften zu sein —, stützt sich vor allem auf neugegründete Betriebsgewerkschaften und Berufsverbände (Industrieverbandsstrukturen sind durch die bisherige Staatsgewerkschaft weitgehend diskreditiert). Zu deren wichtigsten Verbänden zählt die inzwischen von der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) aufgenommene Berufsfahrergewerkschaft (SSR) mit landesweit inzwischen ca. 80 000 bis 100 000 Mitgliedern, deren Vorsitzender. Miron Mitrea. auch Vorsitzender der Fratia ist. Neben den Transportgewerkschaften gehören der Fratia Gewerkschaften in der Bauwirtschaft, im Dienstleistungssektor und Gesundheitswesen, in der industriellen Fertigung, in Forschung und Wissenschaft an.
Ein zentrales organisatorisches Problem des Verbandes ist bislang der nur langsam entwickelte regionale Aufbau, wenngleich Fratia Gewerkschaften aus allen Landesteilen zu ihren Mitgliedern zählt. Obwohl Fratia mit verschiedenen Gewerkschaften zusammenarbeitet und die Bildung von Branchen-und Berufsföderationen unterstützt, bestehen bei verschiedenen Verbänden Vorbehalte gegenüber einem Beitritt — teils aufgrund der damit verbundenen Beitragsleistungen, teils aufgrund von Vorbehalten gegenüber der politischen Rolle, die Fratia eingenommen, teils aufgrund der verbreiteten Skepsis gegenüber zentralisierten Strukturen.
Parallel dazu benannte sich der ehemalige offizielle Gewerkschaftsbund noch Ende 1989 in Nationaler Bund Freier Gewerkschaften (CNSLR) um. Der CNSLR hatte anfangs die Unterstützung der Front der Nationalen Rettung (FNR). Offen ist bislang, wie weit ein eingeleiteter Erneuerungsprozeß durchgesetzt wurde. Zwar wählte der Kongreß im Juni 1990 Victor Ciorbea — Vorsitzender der neuen Lehrergewerkschaft, die kurz vorher provisorisch vom Internationalen Verband Freier Lehrergewerkschaften (IVFL, der dem IBFG assoziiert ist) aufgenommen wurde — zum Vorsitzenden. Zumindest auf lokaler und regionaler Ebene scheint es kaum zu personellen Veränderungen gekommen zu sein. Klare Aussagen über den Mitgliederstand (Angaben schwanken zwischen 1, 8 Mio. und 3, 5 Mio.) lassen sich derzeit nicht machen. Erkennbar ist jedoch, daß es noch eine starke Bindewirkung des CNSLR gibt, zumal er die Sozialfonds verwaltet, über Ferieneinrichtungen verfügt und auf verschiedenen Ebenen, wo es bislang zu keiner Veränderung in der Administration gekommen ist, mit Verwaltungsstellen kooperiert.
Darüber hinaus bestehen noch fünf weitere nationale Organisationen, die jedoch bis Ende 1990 keine offizielle Registrierung erlangten; ihre Gründung resultiert nicht zuletzt aus dem Bemühen, Einfluß auf die Verteilung des Vermögens der ehemaligen Staatsgewerkschaft zu gewinnen. Als bedeutendster dieser Verbände ist das im Mai 1990 gebildete Cartel Alpha, ein Zusammenschluß von gewerkschaftlichen Föderationen im Bereich der Schwerindustrie, zu nennen. Dem Cartel, dem nach eigenen Angaben ca. 1, 3 Mio. Mitglieder angeschlossen sind, gehört auch die durch das brutale Auftreten von Bergarbeitern in Bukarest Mitte Juni 1990 diskreditierte Bergarbeitergewerkschaft an. Daneben bestehen sowohl verschiedene regionale Gewerkschaftszusammenschlüsse als auch eine Vielzahl von Betriebs-. Unternehmens-und Berufs-gewerkschaften, die sich keiner Dachorganisation angeschlossen haben.
Sowjetunion Im Vergleich zu den bisher genannten Ländern sind die Veränderungen in der Gewerkschaftsbewegung der Sowjetunion weniger tiefgreifend. Auf seinem letzten Kongreß vom 22. bis 28. Oktober 1990 hat sich der Zentralrat der sowjetischen Gewerkschaften — der bis in die letzten Monate seiner Existenz eher zu den konservativen Kräften im Lande zu zählen war und bis zuletzt wenig Bereitschaft erkennen ließ, sich aus seiner Abhängigkeit von der KPdSU zu lösen und im Interesse der sowjetischen Arbeitnehmerschaft ein neues Funktionsverständnis zu vertreten — aufgelöst und sich als Allgemeiner Gewerkschaftsbund der Sowjetunion neu konstituiert (die Mitgliederangaben schwanken zwischen 100 Mio. und 140 Mio. Organisierten). Laut Satzung ist diese neue Dachorganisation im Unterschied zum ehemaligen Zentralrat ein föderalistisch strukturierter Bund autonomer Branchengewerkschaften und der gewerkschaftlichen Dachorganisationen der einzelnen Sowjetrepubliken. Einschränkend bleibt festzuhalten, daß die Gewerkschaftsbünde von Estland, Lettland, Litauen und Georgien keine Delegierten zum Gründungskongreß entsandten und sich der neuen Dachorganisation nicht angeschlossen haben.
Auch die im Juni 1990 gegründete Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Rußlands die innerhalb des Zentralrats bzw.des im Oktober 1990 gegründeten Gewerkschaftsbundes „keine grundlegende Alternative“ darstellt, ist eher zu den beharrenden Kräften zu zählen. Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, daß sich nur ein Teil der russischen Gewerkschaften mit 50 Mio.der insgesamt 70 Mio. Organisierten der neuen Dachorganisation Rußlands angeschlossen hat. Die Chancen für weitergehende Änderungen der offiziellen Gewerkschaften sind zweifellos in den nach Unabhängigkeit strebenden Republiken am größten.
Neben diesen mitgliederstarken alten Organisationen gibt es eine große Anzahl neugegründeter unabhängiger Gewerkschaften, die noch vergleichsweise wenig Mitglieder organisieren. Eine größere Bedeutung kommt der Bergarbeitergewerkschaft zu. Im Oktober 1990 beschloß der 2. Unabhängige Bergarbeiterkongreß, die erste überregionale unabhängige Gewerkschaft der Bergarbeiter außerhalb des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes aufzubauen und für das Frühjahr 1991 einen Gründungskongreß einzuberufen. Die 1989 gebildeten zahlreichen Streikkomitees als Keimzelle neuer Arbeitnehmerorganisationen und die Politik des Verbandes der Werktätigen des Kusbass haben zweifellos mit dazu beigetragen, diese Entwicklung vorzubereiten. Da einige der Führer der neuen Bergarbeitergewerkschaft zu den Gründungsmitgliedern des Anfang Mai 1990 in Novokusnezk gegründeten unabhängigen Gewerkschaftsbundes gehörten, könnte bei einem Zusammengehen beider Organisationen, die in gleicher Weise in kritischer Distanz zur Regierung und zur KPdSU stehen, hier der Nukleus für eine starke unabhängige Gewerkschaftsorganisation in der Sowjetunion liegen.
Das gleiche erwarten andere Beobachter der sowjetischen Gewerkschaftsentwicklung eher von den Sozialistischen Gewerkschaften, SOZPROF genannt — eine Organisation, die sich innerhalb kurzer Zeit von einer lokalen Moskauer Gewerkschaftsinitiative mit wenigen tausend Mitgliedern zu einer landesweiten Organisation entwickelte, die im November 1990 bereits 250 000 Mitglieder hatte. Da in dieser Organisation sowohl Gruppen vertreten sind, die an einer „sozialistischen Perspektive diesseits des abgewirtschafteten sowjetischen Modells und jenseits der... so populären Sozialdemokratie“ festhalten als auch Verfechter einer Kooperativengewerkschaft, und diese Organisation ferner auch für kleine Privatunternehmer offenstehen soll und sie zudem verdächtigt wird, von Seiten der offiziellen Gewerkschaften instrumentalisiert zu werden, ist es eher unwahrscheinlich, daß sich die SOZPROF zur Keimzelle einer starken Konkurrenzorganisation gegenüber dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund zu entwickeln vermag.
Da die zahlreichen, insgesamt noch vergleichsweise schwachen unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen einerseits vielfältigen Benachteiligungen seitens des Managements der Betriebe, der KPdSU und der Verwaltung unterliegen — dieses bestätigte auch die 2. Internationale Menschenrechts-konferenz in Leningrad vom September 1990 —, andererseits den zahlreichen lokalen unabhängigen Arbeiterklubs. Streikkomitees und demokratischen Gewerkschaftsorganisationen bis heute die Kommunikationsstrukturen, der Apparat, die Finanzen und sonstigen Mittel für ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen fehlen, erscheint die Stellung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes mit seinen 100 Mio. bis 140 Mio. Mitgliedern bisher wenig gefährdet, zumal er nicht nur vom Zentralrat das ungeteilte Vermögen übernehmen konnte, sondern auch seine Stellung als Verwalter der riesigen Sozialfonds (ca. 50 Mrd. Rubel pro Jahr) bisher zu verteidigen vermochte.
III. Allgemeine Tendenzen der Gewerkschaftsentwicklung
Mit Ausnahme der ÖSFR ist in allen Ländern eine pluralistische Gewerkschaftsstruktur mit konkurrierenden Verbänden entstanden. Kennzeichnend für die neuen Organisationen ist ferner eine ausgeprägte föderalistische, dezentrale Struktur. Darüber hinaus wurde die Konzentration der alten Gewerkschaften auf wenige Industrieverbände abgelöst durch deren Aufsplitterung, so daß eine Viel-zahl von Gewerkschaften entstand, die unterschiedlichen Organisationsprinzipien folgen; u. a. zeigt sich in den meisten Ländern eine Wiederbelebung von Berufsverbänden sowie Unternehmens-und Betriebsgewerkschaften neben Branchenverbänden. Verbunden mit dieser Entwicklung ist eine Kompetenzanreicherung der unteren Organisationsebenen der Gewerkschaften, die sich u. a. auch bei der Finanzausstattung von Betriebs-und Unternehmenseinheiten der Einzelgewerkschaften zeigt, bei denen nicht selten mehr als die Hälfte der Mitgliedsbeiträge verbleibt. Diese Dezentralisierung resultiert vor allem aus dem Mißtrauen der Gewerkschaftsmitglieder gegen den Zentralismus der ehemaligen offiziellen Gewerkschaften sowie aus Zweifeln an deren Reformfähigkeit, aber auch aus einem berufsbezogenen Statusdenken und aus einem generellen Vorbehalt gegenüber dem politischen Engagement der neugegründeten Gewerkschaften.
Ein neues Organisationsmuster ist zudem mit dem wiedererwachenden Nationalismus in verschiedenen Ländern entstanden, so daß die Zugehörigkeit zu Nationalitätengruppen (in der SFR bislang eher differenzierend, in Rumänien, der Sowjetunion, Jugoslawien separierend) zur Grundlage von Gewerkschaftsbildungen wird.
Der Unterschied zwischen den neuen und alten Organisationen ist weniger ideologisch geprägt, vielmehr durch die Nähe oder Feme zum ehemaligen Staatsapparat und durch die Verfügung oder Nichtverfügung über das Gewerkschaftsvermögen der ehemaligen Staatsgewerkschaften bestimmt. Generell gilt für alle ehemals offiziellen — inzwischen reformierten — Gewerkschaften, daß die Verfügung über Sozialeinrichtungen und das angesammelte Gewerkschaftsvermögen ein wichtiger Grund für ihre hohen Mitgliederzahlen ist. Der weitgehende Ideologieverzicht der Gewerkschaften zeigt sich auch im Fehlen christlicher Gewerkschaftsgründungen.
Demgegenüber gibt es ein überall zu findendes Bekenntnis zur Einführung der Marktwirtschaft, die durch soziale Komponenten (Vorbilder sind das schwedische oder das österreichische Modell sowie die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik) abgesichert sein soll, während sozialistische Zielsetzungen oder nur Modelle einer wirtschaftlichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer selten zum programmatischen Repertoire der neuen wie der reformierten Gewerkschaften zählen (Ausnahmen sind z. B. die SOZPROF in der UdSSR und die Arbeiterräte in Ungarn); diese sind durch den auf allen Ebenen gescheiterten Realsozialismus grundlegend diskreditiert. Auch die westeuropäischen Gewerkschaften und die internationalen Gewerkschaftsorganisationen. die intensive Kontakte zu den Gewerkschaftsbewegungen in Mittel-und Osteuropa aufgebaut haben, waren bisher nicht in der Lage, dieses konzeptionelle Defizit mit alternativen Zielsetzungen zu der von den neuen Parteien und Regierungen überwiegend angestrebten neoliberalen Wirtschaftspolitik zu füllen.
Während die reformierten alten wie die neuen Gewerkschaften wenig an eigenen Programmen für die Gestaltung des Umbaus der Staatswirtschaften zu Marktwirtschaften anzubieten oder konkret zu fordern wissen, sehen sie sich mit der Ablösung der alten politischen Machtapparate durch neue, aus den Oppositionsbewegungen heraus entstandene politische Kräfte zu einem Funktionswandel gedrängt.
Um die mit dem ökonomischen Umbau verbundenen sozialen Konflikte zu begrenzen, sind sie gehalten, sich von der Rolle der politischen Opposition zu trennen, sich auf einen Modernisierungspakt einzulassen und als Ordnungsfaktor zu agieren. (Nicht nur Solidarnosä hat seit der Bildung der Regierung Mazowiecki durch lohnpolitische Zurückhaltung die neoliberale Wirtschaftspolitik Balcerowicz’ mit-getragen, auch Podkrepa in Bulgarien hat im Januar 1991 mit der neugebildeten Regierung D. Popow ein siebenmonatiges Streikmoratorium vereinbart, zu dem auch Fratia in Rumänien gegenüber der Regierung P. Roman bereit war, um unabwendbare wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzusetzen). Es sind demgegenüber eher die reformierten Gewerkschaften, z. B. die polnische OPZZ, die eine populistische Interessenvertretungspolitik betreiben und die sozialen Konflikte infolge erheblicher Kaufkraftverluste und anwachsender Arbeitslosigkeit zur eigenen Profilierung nutzen.
In Bulgarien und Rumänien, wo der politische Demokratisierungsprozeß noch nicht so weit fortgeschritten ist, daß die alten Partei-und Verwaltungsstrukturen durch ein pluralistisches Parteiensystem und ein kontrollfähiges Parlament abgelöst wurden, sind die neuen Gewerkschaften (Podkrepa, Fratia) noch immer die wichtigsten Kräfte der Oppositionsbewegung; dies gilt bei ähnlichen Voraussetzungen jedoch nicht für die neugegründeten sowjetischen Gewerkschaften. Angesichts der bestehenden sozialen Spannungen verfügen die Gewerkschaften zudem über ein hohes Konfliktpotential, wie z. B. die Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften in Ungarn (Benzinpreiskonflikt/Taxistreik) zeigte, wo sich inzwischen ein funktionierendes Mehrparteiensystem herausgebildet hat.
Dennoch sind die Möglichkeiten der Gewerkschaften, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluß zu nehmen, aus verschiedenen Gründen begrenzt. Abgesehen von fehlenden konzeptionellen Vorstellungen und einer häufig nur sozial defensiven, reaktiven Interessenwahrnehmung verfügen sie in den neugewählten Parlamenten kaum über etablierte Beziehungen zu Parteien oder Parlamentsgruppen, über die eine kontinuierliche Einflußnahme auf den Gesetzgebungsprozeß möglich wäre. Für die meisten Verbände sind die Beziehungen zur Regierung unklar, schwankend und nicht durch einen kontinuierlichen Informationsaustausch gestaltet. Und zwar deshalb, weil die Gewerkschaften selbst häufig noch nicht über zentrale Entscheidungsgremien verfügen und noch nicht hinreichend in der Lage sind, ihre Positionen öffentlichkeitswirksam gegenüber Parlament. Parteien und Regierungen zu vertreten und weil es an Erfahrungen über die Einbeziehung von Interessengruppen in den politischen Entscheidungsprozeß mangelt.
Diese strukturellen Schwierigkeiten für eine erfolgreiche Politik der Gewerkschaften, die eine maßgebende Mitgestaltung des ökonomischen und sozialen Umbaus trotz ihrer (z. T. erst beginnenden) Einbindung in einen Modernisierungspakt hemB men, werden ergänzt durch vielfältige Probleme und Erfahrungsdefizite in den Aufgabenbereichen, die durch den Funktionswandel der Gewerkschaften nunmehr zu zentralen Handlungsfeldern geworden sind. Das heißt z. B., daß es den Gewerkschaften an tarifpolitischen Erfahrungen fehlt, daß sie kaum über Experten für Sozialpolitik und Fragen des Arbeitsschutzes usf. verfügen. Hinzu kommt häufig ein grundlegender Mangel an praktischer Organisationserfahrung. Ergänzt werden diese Probleme einerseits durch das Fehlen von Gegnerorganisationen, d. h. unabhängiger Arbeitgeberverbände, andererseits durch Erwartungen der Mitglieder an die Gewerkschaften, die von den sozialpolitischen Verteilungsfunktionen der Staatsgewerkschaften bestimmt sind und von den neuen Organisationen nicht mehr erfüllt werden können.
Zusammenfassend kann die Situation und die Perspektive der neuen wie der reformierten Gewerkschaften folgendermaßen charakterisiert werden:
— Sie sind, sobald die alten Machteliten den politischen Entscheidungsprozeß nicht mehr dominieren, veranlaßt, sich auf einen Modernisierungspakt einzulassen, ohne ihre relative Stärke, die auf ihrem Mobilisierungspotential angesichts sich verschärfender sozialer Spannungen beruht, für eine maßgebende Einflußnahme auf den Umgestaltungsprozeß nutzen zu können (abgesehen von der Sicherung gewerkschaftlicher Standardrechte). — Mit der Stabilisierung eines pluralistischen Parteiensystems und eines demokratischen parlamentarischen Systems werden sie zunehmend an Gestaltungschancen einbüßen, weil — wie es sich bereits in der CSFR und in Ungarn gezeigt hat und wie es sich in Polen andeutet — auf parlamentarischer Ebene eine konservativ-liberale Mehrheit entstehen wird als Folge der Diskreditierung der „Linken“ durch das gescheiterte realsozialistische Experiment, so daß den Gewerkschaften für den politischen Entscheidungsprozeß kein „natürlicher“ Bündnispartner zur Verfügung steht. — Parallel dazu werden die Organisationen vermutlich einen erheblichen Mitgliederverlust erfahren, und zwar aufgrund ihrer Beteiligung am Modernisierungspakt. aufgrund der geringen ökonomischen Verteilungsspielräume in den nächsten Jahren, schließlich aufgrund eines schnell Raum greifenden individualistischen Orientierungsmusters.
IV. Auswirkungen des Wandels in Mittel-und Osteuropa auf die internationalen Gewerkschaftsstrukturen
1. Weltgewerkschaftsbund (WGB)
Durch die Umwälzungen und Reformen in Mittel-und Osteuropa, die zum Entstehen von neuen und reformierten Gewerkschaften geführt haben, sind auch die internationalen Gewerkschaftsstrukturen in Bewegung geraten. Bislang schien zumindest auf internationaler Ebene die Richtungsabgrenzung unüberwindlich, wie sie mit der Spaltung des Weltgewerkschaftsbundes (WGB), der Gründung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) und der Wiederbelebung des Internationalen Bundes Christlicher Gewerkschaften (IBCG, 1968 in WVA umbenannt) Ende der vierziger Jahre entstand. Vor allem durch den Rückzug der meisten Gewerkschaftsbünde Ost-und Mitteleuropas aus dem WGB und der meisten Industrieverbände dieser Gewerkschaften aus den elf Internationalen Vereinigungen der Gewerkschaften (IVG), den Branchenorganisationen des WGB, ist die kommunistische Gewerkschaftsinternationale in eine tiefe Krise geraten, die den Bestand der Organisation gefährdet. Auf seinem Weltkongreß, der vom 13. — 20. November 1990 in Moskau stattfand, konnte der WGB nur noch die polnische OPZZ und den Sowjetischen Gewerkschaftsbund zu seinen Mitgliedern aus Mittel-und Osteuropa zählen, während die reformierten Organisationen aus der SFR, aus Bulgarien, Ungarn und Rumänien die Bindung bereits gelöst hatten.
Obwohl der WGB mit diesem Mitgliederexodus einen erheblichen Teil seines Beitragsaufkommens und wichtige Infrastruktureinrichtungen (Prager Hauptsitz, verschiedene Büros der IVG. Schulungseinrichtungen) einbüßte, sah der Kongreß den Bestand des WGB noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wenngleich seine zukünftige Entwicklung noch unklar blieb. Am Bestand des WGB in seiner bisherigen Ausrichtung als „antikapitalistische und antiimperialistische Klassenorganisation“ halten insbesondere die französische Confederation Generale du Travail (CGT), Gewerkschaften aus Kuba und Vietnam sowie aus arabischen Staaten und aus Indien fest, die ohne den WGB nicht über ein internationales Koordinationsforum verfügen würden und für die gegenwärtig keine Chance besteht. sich dem IBFG anzuschließen. Eine ähnliche Position nimmt eine Vielzahl häufig kleiner Organisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika ein. die von Unterstützungsleistungen des WGB abhängig sind.
Der sowjetische Gewerkschaftsbund, der mit Alexander Dzarikov den neuen Generalsekretär stellt, hält ebenfalls am Bestand des WGB fest, tritt jedoch für eine Struktur-und Funktionsreform ein, die einerseits den WGB als Koordinationszentrum und Forum für internationale Dialoge erhält, andererseits durch programmatische Veränderungen eine Annäherung an den IBFG und westliche Gewerkschaften gestattet. Keineswegs unwahrschein43 lieh ist, daß der WGB dem sowjetischen Gewerkschaftsbund als Verhandlungsinstrument dienen soll, wenn mittelfristig eine einheitliche Gewerkschaftsinternationale angestrebt wird oder gar Verhandlungen über einen Beitritt zum IBFG angeboten werden.
Dramatischer als beim WGB selbst verläuft anscheinend die Desorientierung bei seinen Branchenorganisationen, den Internationalen Vereinigungen der Gewerkschaften (IVG), die nach den Kongreßbeschlüssen nunmehr am zukünftigen Hauptsitz des WGB angesiedelt werden sollen. Der Verlust von Büros und Mitgliedern in verschiedenen osteuropäischen Ländern sowie die Einschränkung des Sekretariatspersonals hat einzelne IVG veranlaßt, Kontakte mit den entsprechenden Internationalen Berufssekretariaten (IBS) aufzunehmen, um über eine mögliche Vereinigung zu verhandeln. Das wurde zwar von den IBS zurückgewiesen, stieß aber ebenfalls auf Kritik bei den Gewerkschaftsorganisationen, die am Bestand des WGB festhalten wollen. Allerdings ist bislang auch noch nicht bei allen reformierten Einzelgewerkschaften in Mittel-und Osteuropa geklärt, welche internationalen Beziehungen sie anstreben.
Ob und in welchem Umfang der WGB und seine Branchenintemationalen ihre Strukturen und Funktionen aufrechterhalten können, hängt wesentlich von zwei Entwicklungslinien ab: Zum einen, auf nationaler Ebene, wie tiefgreifend die ehemaligen offiziellen Gewerkschaften ihre personelle und programmatische Veränderung durchführen, ob sich die neugegründeten, unabhängigen Organisationen auf Dauer etablieren können und welche politisch-programmatischen Orientierungen die Verbände annehmen werden; zum anderen, ob die internationalen Organisationen — vor allem IBFG, EGB und die IBS — mittelfristig in der Lage sein werden, sämtliche relevanten Organisationen an sich zu binden, so daß insbesondere für die reformierten Gewerkschaftsorganisationen kein zeitlich unabsehbares Vakuum an internationalen Beziehungen entsteht. 2. Veränderungen der internationalen Gewerkschaftsstrukturen (IBFG, WVA, EGB)
Die Umwälzungen in Osteuropa verändern das Kräfteverhältnis zwischen den Richtungsgewerkschaften auf nationaler Ebene und zwischen den internationalen Gewerkschaftsorganisationen. Während der WGB die Mehrzahl der ihn bislang tragenden Organisationen in Mittel-und Osteuropa verloren hat, eröffnet sich für IBFG, WVA und EGB ein neuer Organisationsraum. Den ersten Schritt in diese Richtung hat der IBFG 1990 mit der Aufnahme des reformierten tschechoslowakischen Gewerkschaftsbundes SKOS — die polnische Solidarnosc ist seit 1980 Mitglied des IBFG und des WVA — getan. Obgleich IBFG und WVA in allen anderen hier angesprochenen Ländern Präsenz zeigen und den Aufbau bzw. die Reform von Gewerkschaften mit Organisations-und Schulungsprogrammen sowie mit vielfältigen Informationshilfen unterstützen sind Beziehungen zu anderen Organisationen bislang nicht in gleicher Weise formalisiert worden.
Diese Zurückhaltung liegt vor allem darin begründet, daß sich in Ungarn, Bulgarien und Rumänien neben den reformierten ehemals offiziellen Gewerkschaften neue, unabhängige Dachverbände gebildet haben. Eine frühe Entscheidung über die Aufnahme einer Organisation, was in der Regel die Anerkennung oppositioneller Verbände wie Podkrepa und Fratia bedeuten dürfte, würde konkurrierende Gewerkschaften von internationalen Bindungen entweder abschneiden oder sie zumindest — angesichts des Stellenwerts, den internationale (westliche) Anerkennung für die einzelnen Organisationen darstellt —, zurücksetzen und könnte damit deren Orientierung an den WGB wieder beleben. Dieses Problem ist nicht auf die ehemaligen Ostblockländer beschränkt. Die Diskreditierung und der ideologische, politische und ökonomische Zerfall der von der Sowjetunion repräsentierten kommunistischen Bewegung verändert mittelfristig auch die politisch-ideologische Abgrenzung von Richtungsgewerkschaften in Europa, Lateinamerika, Afrika und Asien. Noch offen, aber keineswegs unwahrscheinlich könnte eine Entwicklung sein, die den IBFG mit einem wachsenden Interesse an der Mitgliedschaft von ehemals kommunistischen Gewerkschaften konfrontiert, die im nationalen Rahmen mit IBFG-Mitgliedsverbänden konkurrieren. Zwar hat der WGB auf seinem letzten Kongreß die Einrichtung von Regionalbüros in Afrika, Asien, Lateinamerika und im arabischen Raum beschlossen, um seinem Auflösungsprozeß durch regionale Diskussions-und Koordinationsstrukturen entgegenzuwirken. Es dürfte aber zweifelhaft sein, ob damit angesichts der erheblich verminderten Ressourcen eine effektive regionale Informations-, Koordinations-und Unterstützungsstruktur entstehen wird, die bestehende WGB-Mitgliedschaften konservieren kann.
Mit dem Abbau ideologischer Gegensätze erscheint durchaus die Entwicklung zu einem umfassenderen internationalen Gewerkschaftsbund mit geringem politisch-ideologischem Profil möglich. Die Kooperation zwischen Weltverband der Arbeitnehmer (WVA) und IBFG bei der Unterstützung des Reformprozesses in Mittel-und Osteuropa und die Hoffnung des WVA, daß sich einige neugegründete Gewerkschaften, ähnlich der polnischen Solidarnosc und der baskischen ELA/STA, für eine Mit-gliedschaft in beiden Organisationen entscheiden könnten als erste Schritte in Richtung einer Vereinigung verstanden werden, zumal es keine Anzeichen dafür gibt, daß in Osteuropa eine christlich orientierte Gewerkschaftsbewegung entsteht, die den eigenständigen WVA stärkt. Ein Modell dafür gibt der richtungsübergreifende Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ab. Nicht zuletzt als Folge der Entideologisierung hat er im letzten Jahr bereits die bislang kommunistisch orientierten Comisiones Obreras (CC. OO) Spaniens, aber auch die christliche französische Confederation Franaise des Travailleurs (CFTC) aufgenommen.
Mit dem Beitritt mittel-und osteuropäischer Verbände zum IBFG und zum EGB wird diese Region insbesondere gegenüber den Gewerkschaften in den Ländern und Regionen der Dritten Welt an Bedeutung und Einfluß zunehmen. Die Intensität der Unterstützungsleistungen von IBFG, WVA und von einer Vielzahl westeuropäischer Gewerkschaften sowie der AFL-CIO für die mittel-und osteuropäischen Organisationen läßt die Befürchtung von Gewerkschaften in Ländern der Dritten Welt nicht unberechtigt erscheinen, daß die Umwälzung in Osteuropa zu einer Umverteilung von Ressourcen zu Lasten von Programmen in Afrika, Asien und Lateinamerika führt. Die richtungsübergreifende Integrationskraft, die der EGB und die ihm assoziierten Gewerkschaftsausschüsse inzwischen entwickeln konnten, wird durch die Einbeziehung der Gewerkschaften Mittel-und Osteuropas gesteigert werden. Nicht auszuschließen ist. daß hierdurch die regionalen Differenzierungen verstärkt werden und eine Umverteilung der knappen Ressourcen zu Lasten des IBFG erfolgt.
Mit dem Abbau ideologisch-politischer Abgrenzungen kann diese Entwicklung durchaus also auch auf Kosten des IBFG gehen. Dessen politische Geschichte und Profil könnten der erforderlichen Offenheit für die Integration von Gewerkschaften mit unterschiedlichen politischen Orientierungen entgegenstehen. Dem steht allerdings gegenüber, daß die zentralen, für die Länder der Dritten Welt relevanten Themen und Aktivitäten des IBFG — Verteidigung von Gewerkschafts-und Menschenrechten, Initiativen für die Verbesserung von Arbeitsschutz und Umweltschutz, Förderung von Schulungs-und Organisationsprogrammen sowie die Interessenvertretung und Koordination der Mitgliedsverbände in Internationalen Organisationen — keineswegs obsolet geworden sind. 3. Internationale Berufssekretariate (IBS)
Vielfach pragmatischer als der IBFG haben die Internationalen Berufssekretariate auf die Veränderung in Osteuropa reagieren können, zumal die Reform der Industrieverbände bzw. die Bildung neuer Organisationen häufig schneller vollzogen wurde und deren Struktur, Aktivitäten und politische Orientierung einfacher zu bewerten ist als bei den Dachverbandsorganisationen. Hinzu kommt, daß einerseits die meisten IBS weniger ideologisch geprägt sind als IBFG und WVA, andererseits die Erwartungen an Unterstützung und Hilfe ebenfalls einen pragmatischen, auf konkrete Handlungsanforderungen ausgerichteten Charakter aufweisen.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß die IBS inzwischen eine Vielzahl von Verbindungen zu den verschiedenen Branchengewerkschaften in den mittel-und osteuropäischen Ländern aufgebaut haben und daß diese Kontakte bei den meisten IBS zu Beitritten teils neu gegründeter, teils reformierter Organisationen geführt haben, wenngleich sich auch für die IBS das Problem stellt, welche Organisation als repräsentative und authentische Gewerkschaft anerkannt werden kann.
Diese schnelle und pragmatische Reaktion der IBS resultiert nicht zuletzt aus den besonderen Handlungsanforderungen der Gewerkschaften in Osteuropa. Konfrontiert mit dem Umbau der planwirtschaftlichen Systeme auf Marktwirtschaften fehlen den Gewerkschaften sowohl grundlegende tarifpolitische Erfahrungen als auch Vorstellungen über sozialpolitische Ziele. Darüber hinaus ist mit der wirtschaftlichen Liberalisierung — abgesehen von Migrationsbewegungen in westeuropäische Länder — die Gefahr eines sozialen Dumpings in der gesamten Region gegeben, der erhebliche Rückwirkungen auf den westeuropäischen Arbeitsmarkt, auf das Investitionsverhalten insbesondere von Multinationalen Konzernen, und nicht zuletzt auf die Akzeptanz von Gewerkschaften haben kann. Erste Beispiele, daß Unternehmen auf den Verzicht der Bildung von Betriebsgewerkschaften und die Unterzeichnung von Streikverzichtsabkommen drängen, liegen z. B. bereits aus Ungarn vor. 4. Beispiel: Auswirkungen auf afrikanische Gewerkschaften In seinem leidenschaftlichen Artikel „Ein Kontinent draußen vor der Tür“ vertritt F. Ansprenger die These: „Afrika leidet nicht unter zu viel, sondern unter zu wenig Einsatz produktiven Fremdkapitals.“ Aufgrund der Umwälzung in Osteuropa werden die Direktinvestitionen westlicher Industriestaaten weiter abnehmen und die ökonomischen Schwierigkeiten der meisten afrikanischen Länder weiter wachsen — eine Entwicklung, die der Golfkrieg durch höhere Energiepreise schon heute verschärft. Dennoch spricht einiges dafür, daß der Wandel in Osteuropa und „das Ende des Ost-West-Konflikts Afrika eine hervorragende Chance zu besserer Politik“ bieten. Die Stützpunktfunktion Afrikas in den Blockstrategien verliert zunehmend an Bedeutung. Das gilt auch für die internationale Gewerkschaftsbewegung, die bei ihrer Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg von einer europa-zentrierten zu einer internationalen Bewegung ihre Ideologisierung und Spaltung in drei Richtungen in die Länder der Dritten Welt exportierte, denn die richtungsgebundenen Internationalen waren bestrebt, möglichst auf Kosten der Konkurrenzorganisationen die Gewerkschaften der Dritte-Welt-Länder dem eigenen Einflußbereich einzuordnen.
Die Schwächung der kommunistischen Bewegung in Osteuropa und das Verschwinden bzw. die abnehmende Bedeutung der von ihr abhängigen Gewerkschaften haben nicht nur Auswirkungen, wie gezeigt, auf den Weltgewerkschaftsbund, sondern auch auf zahlreiche Gewerkschaften der Dritten Welt, insbesondere in Afrika. Diese Auswirkungen zeigen sich sowohl bei Gewerkschaften, die sich bisher einer bestimmten Richtung zuordneten, als auch bei denjenigen, die versuchten, zwischen den Blöcken eine neutrale Politik gegenüber WGB und IBFG einzunehmen. Diese neutralen Gewerkschaften sehen sich nun aufgrund der Ereignisse in Osteuropa gezwungen, ihre bisherige Position gegenüber dem IBFG zu überdenken. Die Beteiligung an der Gründung (Ende 1989) und die Besetzung der Führungsgremien des neuen Gewerkschaftsbundes der Maghreb-Staaten, dem Gewerkschaften aus Libyen, Tunesien, Algerien. Marokko und Mauretanien angehören, zeigt, daß die dem IBFG angeschlossenen Gewerkschaften dieser Region, die bis dahin mehr oder weniger isoliert waren, starke Berücksichtigung fanden, was sich nur durch eine Änderung in der Haltung ehemals neutraler oder dem WGB nahestehender Gewerkschaften erklären läßt Aufgrund des Golfkrieges, der die proirakische Haltung von großen Teilen der Bevölkerung und der Gewerkschaften sichtbar macht, kann diese Neuorientierung der Gewerkschaften der Maghreb-Staaten allerdings sehr schnell wieder umschlagen.
Auswirkungen gibt es ferner in Staaten mit diktatorischen Regimen, die bisher Moskau nahestanden, aber auch in solchen Diktaturen, die vom Westen unterstützt wurden, für die nach dem Ende des Kalten Krieges ein wichtiger Grund zur Rechtfertigung der Existenz ihrer Einparteien-Systeme weggefallen ist. Die neue Situation bietet nach Auffassung des IBFG den afrikanischen Gewerkschaften „eine einmalige Gelegenheit, die Führung der pro-demokratischen Bewegung zu übernehmen, und einige tun das auch“ So z. B. die Gewerkschaften in Sambia, Simbabwe und Niger, die für echte Mehr-parteien-Systeme eintreten und in Sambia in Pro-Demokratie-Kampagnen mitarbeiten. In Benin, im Kongo (Brazzaville) und im Niger gibt es mehr oder weniger (Benin) ernsthafte Bestrebungen, sich von der jeweiligen regierenden Einheitspartei zu lösen. Im Kongo hat sich die Confederation Syndicale Congolaise (CSC) erst auf Druck der Basis und einiger Einzelgewerkschaften, die mit ihrem Austritt drohten, für die Unabhängigkeit entschieden. Der Vorsitzende der Konföderation ist jedoch weiterhin Mitglied des Politbüros der Kongolesischen Partei der Arbeit.
Auch in Afrika wird der Weltgewerkschaftsbund einige Mitgliedsorganisationen verlieren. Den Anfang machte die Union Nationale des Syndicats de Travailleurs du Benin (UNSTB). In der Elfenbeinküste, in Gabun und Zaire verlieren die Arbeitnehmer zunehmend das Vertrauen in die offiziellen Gewerkschaften und versuchen, unter deren Umgehung direkt mit den politischen Entscheidungsträgern zu verhandeln oder beginnen, unabhängige Gewerkschaften zu bilden.
Auch wenn man die allzu positiven Erwartungen einer IBFG-Studie nicht teilt, die die Hoffnung äußert, daß „ 40 von 53 afrikanischen Ländern in nicht allzu ferner Zukunft Mehrparteiensysteme haben werden“ — das Machterhaltungsinteresse und -potential der herrschenden Machtcliquen sollte nicht unterschätzt werden —, können die angeführten Beispiele dennoch als ermutigende Anzeichen für mehr politische und gewerkschaftliche Demokratie auch in Afrika gewertet werden.