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Die Parteitage der GRÜNEN | APuZ 11-12/1991 | bpb.de

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APuZ 11-12/1991 Auf dem Weg zum politischen Alltag. Eine Analyse der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 Zur politischen Akkulturation der vereinten Deutschen. Eine Analyse aus Anlaß der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Eine in die unmittelbare Vergangenheit gerichtete Prognose Konsequenzen einer bundesweiten Kandidatur der CSU bei Wahlen Die Parteitage der GRÜNEN

Die Parteitage der GRÜNEN

Joachim Raschke

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt und analysiert formelle und informelle Strukturmerkmale grüner Parteitage, wobei sich die Grenzen der Basisdemokratie an Schwächen der Effizienz und Transparenz, überraschenderweise aber auch an Partizipationsdefiziten verdeutlichen lassen. Zunächst werden die relevanten Parteitagsakteure beschrieben: das Präsidium, die Delegierten, die Parteiführung und die richtungspolitischen Strömungen. Die Aktivitäten der einzelnen Akteure lassen sich zwar als rational durch Regeln und Ressourcen gesteuert nachvollziehen, sie fügen sich aber kaum zu einer Gesamtrationalität. Das Auseinanderfallen formeller und informeller Prozesse führt zum Phänomen einer doppelten Realität grüner Parteitage. Die Delegierten sollen Hauptakteure dieser basisdemokratischen Veranstaltung sein, spielen in mancher Hinsicht aber doch nur eine nicht selten frustrierende Nebenrolle; die durch formelle Regelungen an den Rand gedrängten Parteieliten dagegen suchen sich informelle Wege der Einflußnahme. Allerdings erreichen sie nicht das gleiche Maß an Kontrolle über die Parteitage wie die Eliten in den etablierten Parteien. Fragen der Einflußverteilung, der Kompetenz und der Leistungsfähigkeit werden an den vier Aufgabenfeldern von Parteitagen untersucht: Debatte, Abstimmung, Wahl und Kontrolle. Ein systematisches Resümee ergibt sich durch die Frage nach der Realisierung von drei demokratischen Kriterien: Partizipation, Transparenz, Effizienz. Defizite in allen drei Bereichen verweisen auf restriktive Faktoren, die der Demokratisierungin Großorganisationen deutliche Grenzen setzen, u. a. die Zeitknappheit, die große Teilnehmerzahl, Interessenheterogenität und Faktionierung, ein deutliches Kompetenzgefälle sowie Komplexität der Sachfragen. Eine Reform grüner Parteitage ist für die Steigerung von Effizienz und Transparenz, aber auch von der qualitativen Partizipation her unerläßlich.

Parteitage der GRÜNEN gelten als chaotisch oder doch als „nahezu chaotisch“ 2). Sieht man genauer hin, finden sich — wie bei anderen Parteien auch — irrational anmutende Momente. Auffallend aber ist das Ausmaß rationalen Handelns bei so vielen unterschiedlichen Akteuren. Allerdings fügen sich die rationalen Tätigkeiten der einzelnen Akteure kaum zu einer Gesamtrationalität. Parteitage der GRÜNEN sind strapaziös. Kreisverbän-den gelingt es häufig nicht mehr, alle ihnen zustehenden Mandate zu besetzen; nicht alle, die gewählt wurden, fahren auch zum Tagungsort; vor Ort kommt es zum Tagungsmarathon: ohne Mittagspause, bis in den späten Abend, dafür mit viel Papier und Worten. Hunderte von Delegierten verlassen den Parteitag, ohne einen Redebeitrag gehalten zu haben — sie ertragen den Streß passiven Engagements.

I. Akteure

„Die Bundesversammlung ist oberstes Organ der Partei“, heißt es im Statut. Aber wer nimmt es ernst? Auf jeden Fall, so scheint es, die Anwesenden. Wer sind nun die Akteure dieser Großveranstaltungen? 1) Das Präsidium ist das offizielle Leitungsgremium, die Antragskommission assistiert ihm. Die Delegierten sind die vom Statut vorgesehenen Hauptakteure — aber sie sind weder ein geschlossen handelndes Kollektiv noch eine Ansammlung unverbundener und unberechenbarer Individuen. 3) Die Parteiführung und die Bundestagsfraktion haben keine formellen Rechte auf Parteitagen, ihre Mitglieder sind selten auch Delegierte, und dennoch sind ihre Interventionen relevant für den Ablauf. 4) Das gilt noch stärker für die Strömungen, deren zwar gleichzeitig Mitglieder durch die anderen Akteursgruppen tätig werden, nachhaltig aber auch durch die kollektive Identität dieser Richtungsgruppen bestimmt sind. 1. Präsidium Bevor der Parteitag beginnt, hat das Präsidium der Delegiertenversammlung schon gearbeitet. Seine Mitglieder haben die Vielzahl von Anträgen durchgesehen und sich — arbeitsteilig — mit den Materien des Parteitags vertraut gemacht. Das Präsidium ist die wichtigste Institution der Versammlung: Es steuert den Verlauf und strukturiert die Anträge Antragsdebatte. vereint in sich sowie die Es die Aufgaben, die normalerweise zwischen dem — verfahrenssteuernden — Präsidium und der Antrags-kommission getrennt sind. Das Präsidium wird auf Vorschlag des Bundeshauptausschusses per Akklamation von der Versammlung bestätigt. Die Vorab-stimmung mit den Landesverbänden führt zur gleichmäßigen Berücksichtigung der regionalen Interessen. Aufgrund der bekannten regionalen Verteilung der Strömungen wird so auch der richtungspolitische Pluralismus des Präsidiums sichergestellt. Das Präsidium sieht es nicht als seine Aufgabe an, dem Vorstand Mehrheiten zu beschaffen. In diesem Sinne ist das Präsidium autonom gegenüber dem Vorstand. Das zeigt sich u. a. daran, daß häufig Anträge unterliegen, an denen Vorstandsmitglieder beteiligt sind. Andererseits gehören dem Präsidium auch meist zwei Vorstandsmitglieder an; wie die Vertreter der innerparteilichen Strömungen versuchen sie, kleinere interessengeleitete Strukturierungen vorzunehmen, aber die Gegengewichte im Pluralismus des Gesamtgremiums und bei den bemerkenswert wachsamen und interventionsbereiten Delegierten bleiben wirksam.

Im allgemeinen entwickelt das Präsidium eine aufgabenbezogene Professionalität. In kritischen Situationen werden gelegentlich weniger geübte bzw. weniger erfolgreiche Präsidiumsmitglieder im fliegenden Wechsel abgelöst: Effizienz ist dann wichtiger als formale Gleichheit. Die Kontrolle des Präsidiums durch die Versammlung ist stark. Fast regelmäßig gibt es zu Verfahrensvorschlägen des Präsidiums alternative Geschäftsordnungsanträge. Auch wenn das Präsidium in den Verhandlungen schon fortgefahren ist, Widerspruch zum Verfahren aber ex post entsteht oder aufrechterhalten wird, kehrt es nicht selten zum vorhergehenden Tagesordnungspunkt zurück. Das Präsidium wird nur akzeptiert, wenn es eine Verbindung von Bestimmtheit und Flexibilität praktiziert; das ist eine beachtliche Leistung, vor allem, wenn man sich die Bedingungen grüner Versammlungsdemokratie vergeB genwärtigt: Aus den ersten Reihen oder von gut positionierten Antragstellern gibt es eine Fülle von Zwischenrufen, Protesten und Beschimpfungen des Präsidiums; Antragsteller umringen den Präsidiumstisch; Debattenredner überschreiten die Redezeit und müssen vom Präsidium gedrängt werden, zu Ende zu kommen — notfalls durch Abstellen des Mikrofons. Das Präsidium muß auch mit gezielten Einflußnahmen kleiner Delegiertengruppen fertig werden, und in turbulenten Situationen hilft nur die Autorität des richtigen Wortes, während die reine Amtsautorität nicht weit trägt.

Die (kleine Antragskommission, die in den etablierten Parteien eine zentrale Institution des Parteitags ist, hat bei den GRÜNEN lediglich einige technische Aufgaben zur Unterstützung des Präsidiums. Sie prüft den formgerechten Eingang von Anträgen, sortiert sie nach Sachbereichen und lost die Redeliste aus. Sie ist nie der verlängerte Arm des Vorstands. In dieser Form erscheint die Antragskommission einerseits als ein Demokratisierungsschritt gegenüber den Verhältnissen bei den etablierten Parteien, aber andererseits werden so die inhaltlichen Strukturierungsaufgaben dem Präsidium und dem Plenum aufgeladen, die dann bei komplexeren Materien an die Grenze der Versammlungsdemokratie stoßen. 2. Delegierte Die Delegierten stehen permanent unter dem Diktat von Zahl und Zeit und versuchen, dies abzuschütteln. Die Zahl von 500— 800 Delegierten ist zugleich Ausdruck und Grenze von Basisdemokratie. Die große Delegiertenzahl gilt als ein Zeichen von Basisnähe: Jeder Kreisverband schickt — je nach Größe — einen oder mehrere Delegierte, die manchmal vor jedem Parteitag im Kreisverband gewählt werden. Die große Teilnehmerzahl symbolisiert auch Bewegungselemente: Mit den vielen dezentralen Einheiten vermittelt der Parteitag ein Gefühl von Volksversammlung, mit ihren vielen unbekannten Teilnehmern und dem Eindruck von Spontaneität und Unberechenbarkeit.

Die GRÜNEN veranstalten durchschnittlich zwei Parteitage pro Jahr. Die große Zahl an Delegierten ist stets eine unaufhebbare Barriere für die direkte Beteiligung vieler. Ist sie der demokratische Kern, kann Demokratie aus Zeitmangel nicht stattfinden. Diskussion ist auf Sequenz angelegt, und das heißt bei vielen Beteiligten: Schlangestehen. Zeit ist nicht demokratisierbar. Durcheinander und Stimmengewirr, das große Palaver — es sind eher irreführende Außeneindrücke. Der Parteitag hat seine festen Strukturen, wenig sichtbare, aber dennoch wirksame. Zum Beispiel gibt es eine Sitzordnung. Die Delegierten sitzen geordnet nach Landesverbänden. Wegen der Dominanz einer Strömung in den meisten Landesverbänden hat das Konsequenzen für das politische Verhalten von Delegierten. Es ermöglicht rasche direkte Kommunikation über richtungspolitische Manöver und stärkt somit die Konformität der Gruppe.

Folgenreich für die Delegierten ist auch das permanente Plenarprinzip als Ausdruck der Versammlungsdemokratie. Von 9 Uhr bis nicht selten 23 oder 24 Uhr ist der Platz der Delegierten im großen Saal. Der Parteitag kennt keine Arbeitskreise, keine Form offizieller Arbeitsteilung. Kleingruppen gibt es — außer mit den unmittelbaren Tischnachbarn — allenfalls für diejenigen, die ins Geschäft der Vorbereitung oder informellen Verhandlung von Anträgen involviert sind. So entsteht im Grunde eine eher restringierte und monotone Kommunikationssituation für die einzelnen Delegierten, die deshalb für Abwechslung vom Präsidium oder Rednerpult immer dankbar sind. Hinzu kommt, daß die große Zahl und die starke Rotation zur Anonymität vieler Delegierter führen.

Alle Delegierten sind gleichberechtigt, ihre Ressourcen sind es nicht. Die Kompetenzen polarisieren sich zwischen den Delegierten, und einige egalitäre Verfahren machen das besonders deutlich. Das gilt für beide Dimensionen von Kompetenz: für den Sachverstand und für jene politisch-sozialen Fertigkeiten („Skills“), die die Rede-, Organisations-und Kontaktfähigkeiten einschließen. Die Sachverstandskluft wird deutlich, wenn beispielsweise die Laienrede einer pauschalen Ablehnung jeder biotechnologischen Forschung durch den Zufall des Loses unmittelbar vor den sachkundig-differenzierten Beitrag eines anderen Delegierten gesetzt wird, der als Beschäftigter in einem biologischen Forschungsinstitut täglich gentechnologische Manipulationen vornimmt.

Die offenkundige und sich erweiternde Kluft in den Skills der Parteitagsakteure zeigt sich nicht zuletzt an den ungleichen Fähigkeiten, dieses große Publikum durch die Rede zu bewegen. Ihre Erfahrungen verschaffen den Berufspolitikern Vorteile hinsichtlich der Aufmerksamkeit des Auditoriums und der Wirkung ihrer Ausführungen, die von den „Sonntagsrednern“ bzw. Amateuren in der Regel nicht ausgeglichen werden können.

Entsprechend solcher Unterschiede der Kompetenz, des Aktivitätsgrades und inzwischen auch der Position in der strömungspolitischen Richtungsgruppe und der Bekanntheit, zu der Massenmedien Entscheidendes beitragen, verläuft die informelle Struktur von Parteitagen. In der Sprache der Grup47 pensoziologie Den „Passiven“, die so etwas wie die „Galerie“ bilden und lediglich „passive Resonanz“ beisteuern, steht die Führung gegenüber, die „Hauptsprecher“ genannt werden kann, bei den GRÜNEN — aufgrund besonderer Verfahrensweisen — auf Parteitagen allerdings häufig nicht zu Wort kommt. Zwischen beiden steht eine „interaktive Mittelschicht“, die bei GRÜNEN wahrscheinlich größer ist als bei anderen Parteien, also Delegierte aus Vorständen und Fraktionen, aus Arbeitsgemeinschaften und Strömungen. Deren Aktivität ist für den Löwenanteil der Anträge verantwortlich und steuert die Geschäftsordnungs-und Antragsdebatte, kurz: Sie ermöglicht es, daß zwei Parteitage in einem stattfinden, nämlich derjenige, der „lange andauernden Gespräche der prominenten Grünen auf den Gängen“ und der andere der „zumeist brav auf ihren Plätzen sitzenden Delegierten.“

Die Parteitagsdelegierten sind stark an Abstimmungen beteiligt, dagegen prozentual wenig an Debatten und Initiativen. Bis zum Karlsruher Parteitag im Dezember 1988, bei dem ein sehr hoher Anteil der Delegierten parallel zum Plenum an Strömungssitzungen teilnahm, wurde die geringe Plenumsaktivität des normalen Delegierten durch die Strömungsaktivitäten nicht kompensiert. Zwar tagten diese Gruppen häufiger vor, während oder auch unmittelbar nach dem Parteitag, bisher aber fast stets mit kleinerer Besetzung.

Zu rühmen ist die hohe „Verarbeitungsleistung“ des durchschnittlichen Delegierten. Sein Verantwortungsgefühl zwingt ihn zur Aufmerksamkeit, denn er will wissen, worüber er entscheidet, er will und muß im Kreisverband, der ihn geschickt hat, zusammenhängend vom Parteitag berichten. Er entwickelt über die Stunden und Tage so etwas wie zerstreute Aufmerksamkeit, er liest, unterhält sich, ißt und schläft auch zwischendurch an seinem Platz, aber er hat dabei immer sein Augenmerk auf Erscheinungen gerichtet, die es nicht zu verpassen gilt.

Sicherlich kann sich der „rasende Aktivist“, der „davon überzeugt ist, daß er nicht nur das Ergebnis formen kann, sondern daß ein Unglück hereinbricht, falls er sich nicht beteiligt“ auf grünen Parteitagen entsprechend betätigen. Wie aber werden die anderen mit ihrem — zum Teil freiwilligen, häufig aber auch unfreiwilligen — Aktivitätsverzicht fertig, der doch im eklatanten Widerspruch steht zum normativen Ideal der Basisdemokratie und sicherlich nicht selten auch zum Selbstbild vieler Mitglieder einer Bewegungspartei? Einerseits schaltet er um auf die passive Partizipation an den vielen Abstimmungen, andererseits verstärkt er sein Orientierungsbedürfnis, und schließlich hat er einige wenige Mechanismen zur Umlenkung frustrierter individueller Bedürfnisse zur Verfügung.

Wer als einfacher Delegierter wirklich informiert den Parteitag verlassen will, muß ungeheuer aufpassen: Die Antragsflut, komplexe Geschäftsordnungs-und Antragsdebatten sowie unbekannte Kandidaten für Vorstandsämter erfordern hohe Aufmerksamkeit; sichtbare Partei-und Fraktionsführung steht nur begrenzt zur Verfügung. Einige Journalisten sind über die informellen Prozesse besser informiert, sie verfügen über den direkten Zugang zu den signifikanten Personen der Richtungsgruppen, die häufig mit Journalisten und der aktiven Mittelschicht der eigenen Strömung, aber wenig mit einfachen Delegierten sprechen. Bei der Orientierung helfen kann die unmittelbare Umgebung und der Block des Landesverbandes. Allerdings gibt es auf grünen Parteitagen normalerweise keine Pausen, die zur Klärung und Kommentierung des Geschehens genutzt werden könnten.

Auch manche Emotionalisierungen grüner Parteitage können als Umlenkung individueller Bedürfnisse interpretiert werden: der häufige Beifall, heftige Mißfallensbekundungen, Zwischenrufe, gelegentlich rhythmisches Klatschen oder auch schon mal „Jauchzen“ — wie es im Protokoll heißt — über Abstimmungs-oder Wahlsiege; die individuelle Unterbrechung des Parteitages; die Dankbarkeit gegenüber einem witzigen Präsidium oder kauzigen Debattenrednern bzw. Kandidaten; die gelegentliche Abwechslung durch eine abendliche Kulturveranstaltung (dagegen fehlen die Entlastungen, die sich Delegierte der etablierten Parteien auf „geselligen Abenden“ gönnen). Es gibt also eine Reihe von „Umlenkungen“, aber es gibt keine Möglichkeit, dem Dilemma zwischen kollektiven Erfordernissen und individuellen Bedürfnissen zu entrinnen. Im Gegenteil: Die Zumutungen an das Individuum sind bei den GRÜNEN besonders groß — trotz ihrer Fähigkeit im Ertragen von „Unordnungsstreß“. Verstärkt wird die Frustration durch eine höhere Erwartung an direkte Kommunikation und durch die Enttäuschung über das soziale Elend von Basisdemokratie in großen Kollektiven. 3. Parteiführung Auf Parteitagen der etablierten Parteien ist die Parteiführung der zentrale Akteur; hier sucht sie um Zustimmung für ihre Politik und erhält sie in der Regel auch. Diese privilegierte Stellung kommt auch rechtlich und symbolisch zum Ausdruck. An-ders ist das bei den GRÜNEN. Das Statut gibt der Parteiführung kein Ex-officio-Stimmrecht, und da die Mitglieder des Bundesvorstandes meist kein Delegiertenmandat ihres Kreisverbandes vorweisen können, sind sie nicht stimmberechtigt. Der Bundesvorstand als Gremium verfügt auch nicht über das Antragsrecht. Der spätere Versuch, ein solches Antragsrecht in die Satzung aufnehmen zu lassen, scheiterte am Votum des Parteitags (Hagen 1985). Einzelne Vorstandsmitglieder sind an Anträgen beteiligt, aber nie kommt es zu Verknüpfungen von Amt und Antrag, die Vertrauensfragen ähnlich sind.

Die Parteiführung beherrscht auch nicht symbolisch den Parteitag. Bei den GRÜNEN steht am Kopf des Saales ein tuchbedeckter Tisch für die Versammlungsleitung, etwa wie bei der Jahresversammlung eines größeren Vereins, daneben ein Rednerpult, an der Stirnseite hängen großformatige politische Gebrauchsgrafiken. Bei den etablierten Parteien ist die terrassenförmig auf dem Podium plazierte Parteiführung der eigentliche Blickfang für Teilnehmer und Medien; bei den GRÜNEN sind in der ersten Reihe des Tagungssaales einige Plätze für den Vorstand reserviert.

Solche Beobachtungen sprechen dafür, daß der Parteivorstand bei den GRÜNEN keine Orientierungsgröße für die Delegierten ist wie bei den etablierten Parteien. Soweit entspricht die Praxis basis-demokratischen Intentionen. Aber der Machtkampf sucht sich seine eigenen Wege. Es ist üblich geworden, daß die Grußworte des Bundesvorstands am Beginn der Tagung zu einer längeren politischen Grundsatzrede ausgebaut werden. Gibt es relevante Differenzen unter den drei Vorstandssprechern, können es auch zwei Vorstandsreferate werden. Durch ihren Platz in der ersten Reihe sind die Vorstandsmitglieder immer schon am Mikrofon, um einem Tagesordnungs-oder Geschäftsordnungsantrag zu widersprechen oder in der Antrags-debatte die Gegenrede zu halten; bei einer Versammlung von 600 Personen und den dabei sich ergebenden räumlichen Entfernungen ein nicht unwichtiges Moment. Hinzu kommt natürlich deren Amtswissen, das häufig auch von der Sache her schnellere Reaktionen und Initiativen möglich macht.

Der entscheidende Vorteil des Vorstandes auch bei den GRÜNEN resultiert aus dessen starker Verflechtung mit den innerparteilichen Gruppenbildungen (Faktionalismus). Die Aufmerksamkeit, die inner-und außerparteilich die Gruppenkämpfe auf sich ziehen, erhalten durch Vorstandsämter einen Verstärkungseffekt. Die „zweite Realität“ des Parteitags, die begleitenden Aktivitäten vor, während und nach der Versammlung, wird, außer von den innerparteilichen Oppositionsführern, ganz wesentlich vom Bundesvorstand bzw. von dessen Sprechern getragen. Hier ist nicht der Parteitag der Resonanzboden (außer für die Steuerungsversuche etwa qua Interview vor dem Parteitag), sondern es sind Journalisten, Medien und die weitere Öffentlichkeit, die durch parteibegleitende Kommentierung und Pressekonferenzen bzw. Interviews nach dem Parteitag erreicht werden sollen. 4. Innerparteiliche Strömungen Die innerparteilichen Strömungen (Faktionen) als wichtigste Akteure grüner Parteitage profitieren von der Diffusität, die gerade aus den egalitären Strukturen hervorgeht. Die Parteitage sind seit 1984 zunehmend strömungspolitisch durchstrukturiert, und die „zweite Realität“ ist die Domäne der Faktionen.

Der Anteil der richtungspolitisch Identifizierbaren auf den grünen Parteitagen ist gestiegen. Das läßt sich am Abstimmungsverhalten zeigen, insbesondere an den Überschneidungen zwischen dem Verhalten richtungspolitisch dominierter Landesverbände und den Gesamtfaktionen. Nicht ungewöhnlich sind überregionale Vorbereitungstreffen der Strömungen, auf denen Strategien, Wahlvorschläge etc. besprochen werden. Parallel zum Parteitag kommt es zu Gruppentreffen, die bisher allerdings — von der Ausnahme in Karlsruhe 1988 abgesehen — „unvollständig“ (kleine bis mittlere Teilnehmerkreise), zeitlich begrenzt (häufig — wegen der zeitraubenden Versammlungsdemokratie — in den späten Abend-oder frühen Nachtstunden), nicht allgemein zugänglich (ohne offizielle Ankündigung, in Kneipen oder Hotels stattfindend) und unregelmäßig stattfanden.

Grenzen der richtungspolitischen Steuerung der Parteitage liegen darin, daß erstens die Faktionen bisher nicht institutionalisierter Teil der Versammlungsstruktur sind und daß zweitens angesichts der großen Zahl und der starken Fluktuation der Delegierten immer wieder mit Akteuren zu rechnen ist, die sich mit den bestehenden faktionalistischen Strukturen nicht auskennen oder auch einfach auf einer unabhängigen Art der Meinungsbildung beharren. Drittens lassen die egalitären Formalstrukturen, wie etwa das Los, keine systematische, alle Delegierten sofort erreichende Intervention von Faktionsführern zu.

II. Aufgaben der Parteitage

Ein Parteitag hat Aufgaben der Debatte, Abstimmung, Wahl und Kontrolle zu erfüllen. Nachfolgend wird untersucht, wie die verschiedenen Akteure unter Anwendung (oder Umgehung) bestimmter Regeln diesen Aufgaben nachzukommen suchen. 1. Debatte Die GRÜNEN gelten als diskussionsfreudige Partei, bis hin zur pejorativen Einschätzung, nichts als ein Debattierclub zu sein. Auf dem Hamburger Parteitag z. B. gab es zum Tagesordnungspunkt „Perspektiven“ 115 Wortmeldungen (85 von Männern, 30 von Frauen). Nun bedarf es bei großer Teilnehmerzahl und großer Diskutierfreudigkeit strenger Regeln, um auch zum Ergebnis zu kommen. Die Quotenregel (Frauen und Männer wechseln einander auf der Redeliste ab) und das Losverfahren sind die wichtigsten Regeln zur Verteilung der Redezeit bei den GRÜNEN. In der Satzung heißt es: „Die Bundesversammlung ist mitglieder-öffentlich“. Diese basisdemokratisch gemeinte Regel bedeutet u. a. Rederecht für alle Mitglieder — wobei die Praxis natürlich keine zufällige Verteilung zu Tage fördert.

Für drei Parteitage wurde die Verteilung der Redezeit errechnet: Im Durchschnitt konnten die so-genannten einfachen Delegierten nur 24 Prozent der Redezeit auf sich vereinen (das Präsidium kam auf einen durchschnittlichen Anteil von 25 Prozent). Das entsprach einem Anteil von etwa 20 Prozent aller auf einem Parteitag getätigten Beiträge. Auf einem Parteitag normaler Länge kommen etwa 8 Prozent aller Delegierten zu Wort.

Die Egalisierungseffekte der Regelungen sind also sehr begrenzt. Die Parteielite verliert durch Los-pech nicht ihren privilegierten Medienzugang, auf dem Oldenburger Parteitag 1987 zum Beispiel ließen nicht ausgeloste Parteiprominente (wie Jutta Ditfurth und Christian Schmidt) ihre Redemanuskripte ausdrucken und verteilen.

Ein beliebtes Mittel, sich außerhalb der Regeln zusätzliche Redezeit zu verschaffen, sind die „persönlichen Erklärungen“. Anfangs erinnerte das Präsidium noch an den Sinn persönlicher Erklärungen, sich aufgrund eines persönlichen Angesprochen-und Betroffenseins in der vorhergehenden Debatte „erklären“ zu dürfen. Gelegentlich gab es auch den Widerstand des Plenums gegen schlimme Formen des Mißbrauchs, aber im allgemeinen hat sich eine Praxis der Umfunktionierung dieser Einrichtung herausgebildet. Reden werden nachgeholt, Repliken auf vorherige Debattenbeiträge nachgereicht, Kommentierungen zum Ablauf des gerade abgeschlossenen Tagesordnungspunktes werden abgegeben

Auch die Überflutung der Parteitage mit Anträgen zur Tages-bzw. Geschäftsordnung und zu Sachfragen erklärt sich mindestens teilweise aus dem Bemühen, überhaupt zu Wort zu kommen Bei Tages-und Geschäftsordnungsdebatten hat jeder Rederecht, bei Einreichung von Anträgen erhalten die Antragsteller das Rederecht zur Begründung des Antrags. So kommt es häufig zur inhaltlichen Aufladung von Diskussionsbeiträgen, die sich auf die Tages-bzw. Geschäftsordnung beziehen.

Sicherlich repräsentiert die Debatte nach Los und unter der Bedingung von Zeitknappheit nur einen Teil der vorhandenen Ansichten. Am günstigsten für eine solche Meinungsrepräsentanz ist es, wenn die Positionen zum Thema klar polarisiert sind, und wenn die Debatte nach dem Verfahren von Rede und Gegenrede organisiert wird Schon in der Koalitionsfrage aber gibt es wesentlich mehr Positionen und Differenzierungen, als es sich in einem einfachen Gegensatz ausdrücken ließe. Die entsprechenden Debatten in Hamburg 1984 und Hagen 1985 waren deshalb nach dem Los-(und Quoten-) Prinzip organisiert. Generell wird man das Losverfahren für zu schematisch und zufällig halten müssen im Vergleich zu einem Verfahren, bei dem „man alle Standpunkte vorher einholt und sicherstellt, daß alle durch einen Sprecher vertreten werden“

Auch die Repräsentativität der existierenden Richtungsgruppen wird bei Los-und Quotenverfahren häufig verfehlt Am wirksamsten sind die Regeln bei den Geschlechtergruppen — allerdings zeigt sich auch hier, daß viele Positionen im Meinungsstreit nicht geschlechtsspezifisch determiniert sind. Bei sogenannten Frauenfragen kommt es meist zu einer Monopolisierung der Rede durch Frauen. Die Qualität von Debatten ist sicherlich schwierig zu beurteilen. Die Trennung von Sach-und Antragsdebatten ist (auch) den GRÜNEN nicht immer gelungen, und die Begrenzung der Redebeiträge auf drei-oder fünf Minuten trägt eher zu einer gewissen Sprechblasenkultur bei. Eine transparente Strukturierung der Debatte, die Zentrierung auf Hauptaspekte oder die wechselseitige Bezugnahme der Redner — das alles ist auf einem Parteitag schwer zu erreichen. Daß auch öffentliches Reden eine Kunst ist, die nicht jeder beherrscht, wird durch die egalitären Verfahrensformen noch deutlicher. Gerade in Debatten, die auch wissenschaftlich-technische Kenntnisse voraussetzen, wird das Gefälle zwischen Fachleuten und Laien klar ersichtlich. Bei allgemeineren Fragen ist es die mangelnde Rhetorik, die zur „Bestrafung“ der Laienredner durch den steigenden Lärmpegel des Plenums führt.

Parteitage sind im allgemeinen nicht die Foren, die besondere Anreize für Differenzierung und Innovation bieten. Auch die grüne Debattenkultur scheint sich konträr zum positiven Selbstbild der Partei zu entwickeln, vor allem wohl aufgrund der Verschärfung des Richtungsstreits. Tumultartige Szenen finden sich oft in den Protokollen wieder. Grüne Parteitage sind lebhaft, aber auch diese „Lebhaftigkeit“ scheint nicht zufällig verteilt Statt von großen Debatten kann eher von heißen Debatten mit Spannung gesprochen werden, weil die genaue Zusammensetzung des Parteitags und das voraussichtliche Abstimmungsergebnis in wichtigeren Fragen ja meist noch offen sind, wenn die Debatten stattfinden. 2. Abstimmung Bevor es zu Entscheidungen über Sachfragen kommt, kann man auf grünen Parteitagen zeitraubende Geschäftsordnungsdebatten erleben. Das einzig Positive, was sich zu dieser Unsitte sagen ließe, ist, daß in der Regel keine inhaltlichen Optionen auf formalem Wege gekippt werden. Die politische Selbstblockierung durch das viele Jahre lang schwer erträgliche Ausmaß von Verfahrensfragen hat verschiedene Ursachen: Mangel an Erfahrung, Kontinuität und Routine; Ventilfunktion für die Restriktionen inhaltlicher Debatten (sichtbar an der häufigen inhaltlichen Aufladung von Verfahrensfragen); wechselseitiges Mißtrauen und der Versuch, durch verfahrensmäßige „Vorsorge“ einen ideologischen Sieg wahrscheinlicher zu machen. Das Strukturierungsdefizit der Partei, das auch hier als Fehlen verläßlicher Abläufe seinen Ausdruck findet, ist vielleicht doch mehr als nur ihre Kinderkrankheit

Es ist nicht die absolute Zahl der Anträge, die jeden Parteitag in Schwierigkeiten bringt, sondern die un-gefilterte Plenarbehandlung der Anträge und vor allem die beträchtliche Zahl von Dringlichkeitsanträgen, die ad hoc eingebracht werden. Eine Schwelle für diese Initiativanträge besteht faktisch nicht: Die im Statut vorgesehene Möglichkeit der Mehrheit, solche Anträge abzulehnen, wird nicht genutzt. Was urdemokratisch aussieht und Bewegungsspontaneität suggerieren könnte, wird faktisch auch von Routiniers angewendet und führt zur selbsteingestandenen Überforderung der Delegierten, zu Intransparenz und zu Ineffizienz.

Abgesehen von der Zweidrittelmehrheit für Satzungsänderungen bzw. für die Rückholung bereits entschiedener Anträge und vom Vetorecht für Frauen ist das Prinzip der einfachen Mehrheit die normale Entscheidungsregel. Es gibt viele Fragen, bei denen eine Mehrheit eine Minderheit überstimmt, und nicht wenige, bei denen die Mehrheit sehr knapp ist. Das Besondere bei den GRÜNEN liegt im Ausmaß informeller Konsenssuche. Diese hat auch ihr festes Instrumentarium: — Das Meinungsbild ist „die grüne Erfindung zur Vermeidung unkorrigierbarer Entscheidungen“ Erst nach der Feststellung des Meinungsbildes als Probeabstimmung findet die formelle Abstimmung statt, manchmal ist erst danach der Antrag auf Debatte möglich, oder es werden dadurch Verständigungsprozesse zwischen verschiedenen Antragstellern eingeleitet. Positiv gesehen ist das regelmäßig angewendete Meinungsbild ein Mittel, die Selbstreflexivität einer großen, heterogenen, sich selbst in ihrer Meinungsverteilung unbekannten Versammlung zu erhöhen. Sie kann aber auch als Mittel zur Manipulation einer zuvor eindeutigeren Mehrheit benutzt werden. Eine zusätzliche Erfindung war das regionale Meinungsbild, das bisher nur einmal praktiziert wurde. Dabei hatten sich in Nürnberg 1986 die bayerischen Delegierten kurz vor der Landtagswahl mit 80: 21 für eine Unterstützung der verbotenen Anti-WAA-Demonstration in München ausgesprochen — der Parteitag folgte dann diesem Meinungsbild, das in einem separaten Sitzungssaal abgegeben worden war. — Die Verhandlung zwischen verschiedenen Antragstellern (und zum Teil zwischen Präsidium und Antragstellern) ist naturgemäß bei politisch weniger polarisierten Fragen einfacher als bei den stark kontroversen Themen des Strömungskonfliktes. — Neben Meinungsbild und Verhandeln gibt es eine spezifisch grüne Variante des Durchwurstelns, die man paritätische Nicht-Entscheidung nennen kann. In der Annahme eines ungefähren Kräfte-gleichgewichts und beeinflußt durch den Wunsch nach (oder: den Druck der) „Konsensgemeinschaft“ (Dahl) einigen sich die Akteure, nicht bzw. nicht wirklich zu entscheiden. Ein Punkt wird vertagt; zwei Beschlüsse mit unterschiedlichen Akzenten, aber ohne direkten Widerspruch bleiben nebeneinander stehen; es wird der „Kampf um Revision eines einmal beschlossenen Textes“ durch Änderungsanträge geführt, eine Prozedur, die so oft das grüne „Zwei-Schritt-vor-einer-zurück“ hervorbringt.

Solche Praktiken informeller Abschwächung des Mehrheitsprinzips können umso eher eingesetzt werden, je geringer der „Entscheidungsdruck“ für die Versammlung ist. Auf Bundesparteitagen gab es bisher objektiven Entscheidungsdruck nur durch Wahltermine. So mußte das Wahlprogramm für die Bundestagswahl an Pfingsten 1986 in Hannover beschlossen werden. Entsprechend hart waren die Prozeduren am letzten Tag der Versammlung. Das Durchpeitschen des Programms bestätigt die Hypothese von Pfetsch, daß das „Diktat der Majorität“ umso wahrscheinlicher wird, je weniger Zeit zur Verfügung steht. Eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene müßte bei den GRÜNEN zum Einbau eines Zeitraffers führen, wenn ihre Form von Basisdemokratie auch nur annäherungsweise dem Zeithorizont von Parlaments-und Regierungshandeln folgen soll. 3. Wahlen Im Statut gibt es einige folgenreiche Regelungen, die die Voraussetzungen der Wahl festlegen: Unvereinbarkeit von Amt und Mandat; Rotation nach höchstens zwei Wahlperioden; Geschlechterparität und „angemessene“ Beteiligung von Minderheiten. Auf diese Regelungen ist u. a. zurückzuführen, daß der Frauenanteil im Bundesvorstand der GRÜNEN höher ist als erje in einer deutschen Partei war und ist, daß die Fluktuation von Vorstandsmitgliedern Spitzenwerte erreicht, daß auf Bundesebene die Realpolitiker ihren Schwerpunkt in der Fraktion, die Linken im Bundesvorstand hatten.

Die ausführlichen Bewerbungsunterlagen sowie mündliche Vorstellungen und Befragungen in der Versammlung machen einige der relevanten Auswahlkriterien sichtbar: 1. Basisanbindung: Ohne das Votum der Basis gibt es keine erfolgreiche Kandidatur. In der Regel ist das positive Votum des Kreisverbandes vorzuweisen. 2. Bewegungsbezug: Engagement in einem der Zweige der neuen sozialen Bewegungen wird sehr häufig angegeben. Es ist allerdings kein unabdingbares Kriterium, da es ad hoc nicht überprüfbar ist. Umgekehrt kann auch der Hinweis auf langjähriges Engagement in der autonomen Frauenbewegung nicht das positive Votum bzw. die längere Mitarbeit in einem Kreisverband ersetzen.

3. Bekanntheitsgrad: Gerade auch aufgrund der Unvereinbarkeit von Amt und Mandat kandidieren für die Beisitzerpositionen häufig überregional wenig bekannte Personen, die — ohne die Unterstützung einer Strömung — einer großen Versammlung schwer zu vermitteln sind.

4. Kompetenz: Da der Vorstand weder Führungsorgan noch Expertengremium, kein Bewegungsausschuß oder ähnliches sein soll, ist dieses Kriterium eher diffus. Vorsichtig läßt sich nur formulieren, daß irgendwelche besonderen Qualifikationen bzw. ausweisbaren Erfahrungen günstig für die erfolgreiche Kandidatur sind.

5. Faktionszurechnung: Spätestens seit 1984 ist das Interesse der Delegierten immer deutlicher geworden, eine richtungspolitische Zuordnung der Bewerber vornehmen zu können. Man wird die Empfehlung der Richtungsgruppe inzwischen für das dominierende Auswahlkriterium halten müssen.

6. Landesverband: Kleinere Effekte gehen von der Unterstützung der Bewerber durch den eigenen Landesverband aus; insgesamt bleibt dieses Kriterium aber eng verbunden mit dem richtungspolitischen und wird durch dieses auch gefiltert.

7. Gesamtproporz: Ein häufig zu hörendes Kriterium, das wohl vor allem auf richtungspolitisch weniger festgelegte und Personen mit stärkeren Integrationsbedürfnissen zielt und zusätzlich die Legitimation für „monokolore" Personalentscheidungen schaffen soll, lautet, daß der Parteivorstand links sein müsse, als Gegengewicht zur realpolitisch dominierten Bundestagsfraktion. 4. Kontrolle Grüne Parteitage sind vergleichsweise kontrollfreudig und doch in vieler Hinsicht — wie alle Parteitage — unfähig zur Kontrolle. Die Delegierten teilen erfreulicherweise nicht den in der deutschen politischen Kultur verbreiteten Glauben, mit einem Amt erhielte man auch den dazugehörigen Verstand. In Hamburg 1984 wurde ein Mißbilligungsantrag gegen das Vorstandsmitglied Uli Tost mit knapper Mehrheit angenommen. In Offenburg 1985 scheiterte der gegen Jutta Ditfurth gerichtete Abwahlantrag, die beiden anderen Sprecher erhielten eine deutliche Mehrheit in der daraufhin von ihnen gewünschten Vertrauensabstimmung. Mißbilligungs-und Abwahlanträge waren immer auch ein Kampfmittel der innerparteilichen Opposition, ihr Erfolg war bisher aber auch stets von situationsspezifisch Urteilenden abhängig.

Die Diskussion von Rechenschaftsberichten auf Parteitagen ist eher spärlich und noch ohne klare Orientierung über Möglichkeiten und Grenzen solcher Debatten. Vielfach fehlen auch Informationsgrundlagen für eine kompetente, fortlaufende Kontrolle (Beschlußlage, Ausführung der Anträge etc.). Die Sachkontrolle müßte sich vor allem auf die Verwaltung der Finanzen beziehen — ein weiteres Gebiet, auf dem große Versammlungen überfordert sind, und das in wesentlichen Teilen in den spezialisierten Finanzrat ausgelagert ist, in dem die Schatzmeister der Landesverbände vertreten sind.

III. Bewertung grüner Parteitage

Der Anspruch des grünen Parteiexperiments ist nicht gering: die Anwendung basisdemokratischer Prinzipien und Regeln auf der zentralen Ebene einer Großorganisation. Die Bundesdelegiertenversammlung ist das grüne Gremium mit der breitesten Beteiligung, das den Gesamtwillen der Partei konstituieren soll. Was hier an Basisdemokratie nicht gelingt, wird sich unter den ungünstigeren gesamtgesellschaftlichen Bedingungen noch weiter vom Ideal entfernen, denn so viel Konsens und authentische Motivation für Basisdemokratie wie bei den GRÜNEN der frühen achtziger Jahre hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Die sinn-vollsten Kriterien zur Beurteilung von Demokratie und Demokratisierung sind: Partizipation, Transparenz, Effizienz. 1. Partizipation Das Resümee hinsichtlich des Kriteriums Partizipation ist widersprüchlich: Einigen Partizipationsgewinnen steht eine beträchtliche Kostenliste gegenüber — und die Gesamtbeurteilung ergibt sich erst in Abwägung mit dem Transparenz-und insbesondere dem Effizienzkriterium.

Sicherlich gibt es Momente der Partizipationsausweitung. Die Beteiligungsmöglichkeiten für viele Delegierte aus untersten Organisationseinheiten gehören dazu. Die Strukturierung von Debatte und Abstimmung durch Präsidium und Delegierte sowie die Beteiligung an den vielen Abstimmungen, die jeder Parteitag durchführt, haben Effekte einer Dezentrierung gegenüber monopolisierenden Oligarchien. Die Partizipation von Frauen ist in allen Bereichen größer als in den etablierten Parteien. Als Kontrolleur wird der Parteitag auch von jenen Parteiakteuren ernst genommen, die seine Bedeutung in Kommentaren herunterspielen.

Unverkennbar sind aber auch die Grenzen der Basisdemokratie, die vielfach auf strukturelle Ursachen verweisen. Es gibt Grenzen der Partizipationsmöglichkeiten. Die geringe prozentuale Redezeit für einfache Delegierte, die relativ wenigen folgenreichen Abstimmungen über Sachfragen — bei einem Ausufern der Tages-und Geschäftsordnungsdebatte — gehören ebenso dazu wie das Fehlen von Arbeitsgruppen auf dem Parteitag.

Es gibt auch Grenzen der Partizipationswilligkeit (allerdings sind sie schwieriger objektivierbar). Dies läßt sich z. B. über den Redewunsch auf Parteitagen ermitteln. Selbst die Rekordzahl von 115 Wortmeldungen für die Generaldebatte beim Hamburger Parteitag 1984 machte nur ca. 15 Prozent der Gesamtzahl der Delegierten aus. Und wie ist die Beobachtung einzuschätzen, daß durchschnittlich etwa zehn Prozent der für einen Parteitag gewählten Delegierten die Reise an den Ta-gungsort gar nicht antreten?

Sind damit Hinweise gegeben auf eine Selbstbegrenzung von Partizipation — aus Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten oder aus begrenzter Nei-gung, sich zu exponieren? Verweist das nicht auch auf Bedürfnisse, die mit der aktiven Partizipation konkurrieren, z. B. auf das Orientierungsbedürfnis? Der große Komplex einer Frustration individueller Bedürfnisse, die generell mit Massenpolitik verbunden, aber auch spezifisches Ergebnis von Basisdemokratie sind, gehören wohl auch in diesen Zusammenhang. Läßt sich damit auch die extrem starke Fluktuation von Parteitagsdelegierten erklären, sozusagen als ein Frustrationsvermeidungsverhalten? Dazu kommen Grenzen der Partizipationswirkung, die wohl vielen Akteuren bewußt sind, ohne daß es — und auch dies aus z. T. strukturellen Gründen — dagegen Rezepte gäbe. Die begrenzte Bedeutung von Parteitagsbeschlüssen, deren Verarbeitung im Faktionshandeln meist Spielräume läßt, oder die doppelte Machtstruktur in den „zwei Realitäten“, d. h.des realen Ablaufs und der Kommentierungsrealität der informellen Führungspersonen, gehören dazu. 2. Transparenz Eine schwach oder vieldeutig strukturierte Partei verfügt auch über geringe Transparenz. Das gilt intern wie extern, für Mitglieder bzw. Funktionsträger wie für Journalisten bzw. Beobachter.

Vor allem die Organisationstransparenz ist bei den GRÜNEN defizitär: die realen Machtstrukturen, das Zustandekommen und die Bedeutung von Entscheidungen, die Repräsentativität gewählter Personen, die doppelte Realität. Wofür steht die Partei wirklich? Nur dank der Arbeitsteilung und Professionalisierung im journalistischen Bereich bzw. dank einiger weniger, kompetenter journalistischer Dauerbeobachter (insbesondere überregionaler Tageszeitungen) ist über die GRÜNEN so viel bekannt. Hinsichtlich der Sachtransparenz gab es einige wenige umstrittene Materien (z. B. die Problematik des Verbots von Tierversuchen), in denen ein beachtlicher Grad an politisierter, kontroverser Sachinformation verfügbar gemacht wurde. Allerdings haben gerade diese Aktivitäten aufgrund struktureller Eigenarten der Massenmedien das weitere Publikum am wenigsten erreicht.

Die bekannten Koalitions-und Perspektivdebatten sind häufig mit verdeckter Argumentation geführt worden. Das Nebeneinander von Wahlaussagen mit unterschiedlichen Tendenzen, die von kurz aufeinander folgenden, aber unterschiedlich zusammengesetzten Parteitagen beschlossen wurden, erhöhte sicherlich nicht die Sachtransparenz für die Wählerschaft. So gab es z. B. zur Bundestagswahl 1987 ein fundamentalistisches Wahlprogramm (Hannover, Juni 1986), ein gemäßigtes mittelfristiges Umbauprogramm und eine moderate Bündnis-aussage (beide Nürnberg, September 1986), über deren Verhältnis zueinander „die“ Partei keine verbindliche Aussage machen konnte. 3. Effizienz Versteht man unter Effizienz eine auf Ziele bezogene Leistung und sieht man das allgemeine Ziel darin, eine interventionsfähige radikaldemokratische Partei zu sein, dann kommt man zur Einschätzung der GRÜNEN als Partei von mittelmäßiger Effizienz. Dies wäre an verschiedenen Leistungsindikatoren zu verdeutlichen:

— Geringe Zahl von Entscheidungen: Immer wieder mußten Sach-und auch Wahlentscheidungen verschoben werden, weil der Parteitag mit seinem Pensum nicht fertig wurde. Serien von Fortsetzungsparteitagen und die Überweisung unerledigter Anträge an den Bundeshauptausschuß sind die Folgen. In Hamburg 1984 wurde etwa ein Viertel aller vorliegenden Anträge behandelt. Wenn man so will, war die Stiftungsfrage die einzige unmittelbar folgenreiche Entscheidung grüner Parteitage. In Nürnberg 1986 wurde die Frage von der Tagesordnung abgesetzt, Oldenburg 1987 war der „Stiftungsparteitag“, der ohne Ergebnis endete, und noch die Hälfte des Parteitages von Ludwigshafen 1988 wurde benötigt, um in der Stiftungsfrage zu einem Abschluß zu kommen. Vier Parteitage für eine etwas schwierigere Entscheidung machen die Schwächen der Koordinations-und Entscheidungsstrukturen überdeutlich.

— Instabilität von Entscheidungen: Die Fluktuation von Delegierten, die mangelnde Transparenz der Verteilung von Meinungspräferenzen oder auch schlichte Unbelehrbarkeit führten dazu, daß einmal getroffene Entscheidungen in kürzesten Zeitabständen erneut zur Disposition gestellt wurden. So verfuhr man z. B. in der Bündnisfrage (Hamburg 1984, Hagen 1985 — ein halbes Jahr nach Hamburg, Nürnberg 1986) oder in der Debatte über das Tierversuchsverbot, die nach der Entscheidung in Hamburg ein halbes Jahr später in Hagen wieder aufgerollt wurde. Unter Zeitdruck (und auch zur 'Sicherung einer radikalen Beschlußlage) wurde in Nürnberg 1986 ausdrücklich beschlossen, die Beschlüsse von Hannover nicht erneut zu diskutieren, womit viele Anträge sich erledigt hatten. — Mehrdeutigkeit und Unverbindlichkeit von Entscheidungen: Die verschiedentlich widersprüchliche Koexistenz grüner Entscheidungen wurde schon erwähnt. Die Unverbindlichkeit . von Entscheidungen kann nur in ihrer symbolischen Radikalität und in ihrer Leerformelhaftigkeit (aus Über-integration) bestehen, sie kann sich auch in einer fast demonstrativen Abstinenz relevanter Parteiführer ausdrücken, die in Gesprächen mit Journalisten die Programmarbeit etwa als „Sozialtherapie“ abklassifizieren.

Die Strukturierungen der radikaldemokratischen Versammlungsdemokratie sind — sachlich, organisatorisch, machtpolitisch — nicht komplex genug, um alleine effiziente Aufgabenerfüllung zu gewährleisten. Die Delegation, die Verhandlung, informelle Differenzierungen sowie die Kanalisierung von Kompetenzen (z. B. über Bundesarbeitsgemeinschaften) sind die Hilfsmittel, derer sich die Basisdemokratie bedienen muß. Die „zwei Realitäten“ sind deutlich geworden: die Realität des obersten Organs bzw.der Repräsentanten der Basisdemokratie und die andere Wirklichkeit der normalen, alltäglichen Machtstruktur. Nicht die Tatsache, daß der Parteitag bei ihnen nicht das tatsächlich ausschlaggebende Gremium ist, unterscheidet die GRÜNEN von den etablierten Parteien, sondern der Umstand, daß bei ihnen die Versammlungsdemokratie des Parteitags und die normale bzw. alltägliche Machtstruktur auseinanderfallen, während sie bei den anderen Parteien so verschmolzen werden, daß der Parteitag nur den in der Regel akklamierenden Resonanzboden für die Parteielite darstellt. Die Träger der normalen Machtstruktur treten in ihren Aktivitäten vor, neben und nach dem Parteitag in Erscheinung. Diese Machtelite der großen Strömungen baut im Zusammenspiel mit den Journalisten die Kulisse des Parteitags mindestens eine Woche vorher auf, kommentiert begleitend das Spiel des Parteitags in dieser Kulisse und gibt nach dem Parteitag ein Urteil über die Aufführung ab — um meist genau an dem Punkt mit der Routine der Macht fortzufahren, wo sie für einige Tage die Bühne gewechselt hatte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag steht im Zusammenhang mit der aktuellen Publikation: Joachim Raschke, Krise der Grünen. Bilanz und Neubeginn, Marburg 1991.

  2. Süddeutsche Zeitung vom 21. September 1987.

  3. Heute umfaßt der Parteitag in der Regel etwa 600 gemeldete Delegierte; durchschnittlich 10 Prozent dieser in den Kreisverbänden gewählten Delegierten treten die Reise nicht an.

  4. Vgl. Herbert Rauch. Partizipation und Leistung in Groß-gruppen-Sitzungen. Qualitative und quantitative Vergleichs-analyse von 20 Fallstudien zum Sitzungsprozeß entscheidungsfindender Großgruppen, in: Friedhelm Neidhart (Hrsg.), Gruppensoziologie, Opladen 1983, S. 256— 274.

  5. Die Tageszeitung (taz) vom 4. Mai 1987.

  6. Robert A. Dahl. Und nach der Revolution? Herrschaft in einer Gesellschaft freier Menschen, Frankfurt/M. -New York 1975, S. 42.

  7. Vgl. H. Rauch (Anm. 4).

  8. In Karlsruhe 1988 gab es nach der Abwahl des Bundesvorstands zum ersten Mal auf einem Parteitag offizielle Statements von Vertretern aller Strömungen.

  9. Es handelt sich um die Parteitage in Offenburg 1985, Hagen 1986 und Hannover 1986.

  10. Als einfache Delegierte werden diejenigen verstanden, für die kein weiteres Amt auf Landes-oder Bundesebene angegeben wurde.

  11. An der Spitze lag der Parteitag in Hannover 1986 mit 15 persönlichen Erklärungen, bei einem Durchschnitt von etwa acht persönlichen Erklärungen pro Parteitag.

  12. So benutzte etwa Hubert Kleinert in Ludwigshafen 1988 einen Antrag zur Änderung der Tagesordnung, um die Delegierten inhaltlich einzustimmen auf die politische Bedeutung der Fragen einer Arbeitsumverteilung.

  13. In Hagen 1985 kam so eine bemerkenswerte, organisiert kontroverse Debatte über das Thema Tierversuchsverbote zustande.

  14. R. A. Dahl (Anm. 6). S. 61 f.

  15. In Hagen 1985 bei der offenen Debatte über Perspektiven kamen z. B. — nach meiner Zurechnung — acht realpolitische, drei linke, vier mittlere bzw. vermittelnde und fünf nur schwer oder gar nicht einzuordnende Positionen zu Wort.

  16. Nach meinen Beobachtungen und der Protokollektüre richtete sich diese lautstarke Emotionalität besonders häufig gegen Redner, die dezidiert realpolitische Positionen vertraten. Insbesondere die Hamburger Linken schrien häufiger, versuchten massiv und gezielt, die Redner zu stören. Es war jedenfalls kein alphabetisch oder sonstwie nachzuvollziehender Zufall, daß der Hamburger Block häufiger als andere Landesverbände nahe zum Redepult plaziert wurde. Inzwischen ist es auch in dieser Hinsicht etwas ruhiger geworden bei den GRÜNEN.

  17. In der letzten Zeit ist der Zeitanteil der Verfahrensdebatte allerdings rückläufig.

  18. Die Zeit vom 20. Dezember 1985.

  19. Frank Pfetsch, Politische Theorie der Entscheidung in Gremien, in: Journal für Sozialforschung, 27 (1987), S. 258.

Weitere Inhalte

Joachim Raschke, Dr. phil., geb. 1938; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Innerparteiliche Opposition, Hamburg 1974; Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien, Opladen 1977; Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/M. -New York 19882; Krise der Grünen. Bilanz und Neubeginn, Marburg 1991.