I. Die Gefahr einer Flucht aus dem Politischen
Der vielkommentierte Paradigmenwechsel der Sozialwissenschaften in den siebziger Jahren war ein mattes Säuseln gegenüber dem Paradigmenwechsel, wie er derzeit in Wissenschaft und Schule der ehemaligen DDR vor sich geht. Das gilt auch für alles, was mit politischer Bildung zu tun hat. Vom Erfolg der politischen Bildung hängt aber zu einem nicht geringen Teil die Übernahme demokratischer Werte und somit ein Stück Zukunft für uns alle ab.
In den fünf neuen Ländern wird mit Hochdruck an neuen Lehrplänen und Unterrichtskonzepten der politischen Bildung — genauer: des Geschichtsunterrichts und der „Gesellschaftslehre“ — gearbeitet. Der Eifer freilich überdeckt manche Unsicherheit: Soll es z. B. spezifische, auf die besonderen Verhältnisse der fünf neuen Bundesländer zugeschnittene Lehrpläne und Lehrbücher geben, oder soll man sich an das halten, was in den alten Bundesländern gebräuchlich ist? Überwiegend scheint der letztere Weg betreten zu werden. Die Geschichtslehrbücher der Bundesrepublik werden vielerorts direkt übernommen, bei der Lehrplanarbeit geben die westdeutschen Lehrpläne die Muster ab. Möglichst rasch soll der Zug auf neuem Gleis weiterfahren. So verständlich diese Verfahrensweise angesichts des Zeitdrucks ist, unter dem die Schulverwaltungen stehen, so ist doch die Gefahr mit Händen zu greifen, daß an der falschen Stelle angesetzt wird. Westdeutsche Lehrpläne und Lehrbücher können nur dann eine pädagogisch sinnvolle Funktion ausüben, wenn die Ausgangslage der Schüler hüben wie drüben dieselbe oder doch sehr ähnlich ist. Was aber, wenn sie sehr verschieden ist? Dann werden die Schüler drüben an der falschen Stelle „abgeholt“. Damit hängt aber noch eine andere, vielleicht größere Gefahr zusammen — die Gefahr einer drohenden Entpolitisierung der politischen Bildung. Die ersten Anzeichen dafür waren bereits bald nach der „Wende“ zu erkennen, als die alte Staatsbürger-kunde mancherorts durch eine Art Philosophie-oder Ethikunterricht ersetzt wurde; erste Versuche einer nichtmarxistischen politischen Bildung setzten bei einer altertümelnden Gemeinschaftserziehung (Verhalten im Straßenverkehr, richtiges Zähneputzen usw.) an. Auf anderer Ebene zeugte die rasche Umbenennung von ML-Instituten in „Institut für Gesellschaftslehren“ von derselben Verlegenheit, was denn nun eigentlich an die Stelle der alten Muster gesetzt werden sollte.
Diese raschen, verlegenen Ersatzlösungen mögen Oberflächenerscheinungen gewesen sein. Die Gefahr des Apolitischen reicht jedoch tiefer und hat viele Gesichter:
— Viele Schüler, jahrelang mit einer Staatsideologie gefüttert, dürften — deutlich gesagt — zunächst einmal die Nase voll haben und ihre Abneigung leicht auf die Politik und das Gemeinwesen allgemein übertragen.
— Viele Lehrer, jahrelang an autoritäre Führung gewöhnt, werden vermutlich nicht so rasch ihre Furcht los, etwas „Falsches“ zu sagen, gerade auch unter den ungeklärten Lehrplanbedingungen in der gegenwärtigen Übergangsphase. (Das eigentümlich Verdruckste in vielen Diskussionen auf Tagungen in der ehemaligen DDR ist nicht nur mir, sondern auch vielen anderen aufgefallen.)
— In einem politischen System, das dem Kollektiven prinzipiell den Vorrang vor dem Privaten gab, hat sich ein großer Nachholbedarf an privater Lebensgestaltung aufgestaut. Das fördert die Abwendung von der Politik.
— Habitualisierte Verhaltensweisen — wie z. B. das Sich-Unauffällig-Machen — können in der Regel nicht von heute auf morgen abgelegt werden.
— Auf Situationen raschesten Normen-und Werte-wandels pflegen die meisten Menschen mit ver-mehrter Unsicherheit zu reagieren. Auch dadurch wird die Abwendung vom Politischen gefördert. — Für die Bewohner der ehemaligen DDR war etwas anderes mit „Politik“ verbunden als für die Bewohner der Bundesrepublik: dogmatische Lehre, ein umfangreiches, bis tief in den Alltag reichendes politisches Ritual (freiwillige Verpflichtungen, Versammlungen aller Art, Aufmärsche, Festspiele, Feiern, Fahnenkult usw.), große Vorsicht bei Meinungsäußerungen, Allgegenwärtigsein von Überwachung — lauter Momente, die eher eine emotionale Abwendung als eine Hinwendung zur Politik begünstigen.
Schlechte Zeiten mithin für politische Bildung! So könnte man jedenfalls vermuten. Diese allgemeine Einschätzung genügt aber noch nicht, um zu einem genaueren Bild der Vorbedingungen für eine künftige politische Bildung zu gelangen. Es ist nötig, über (mindestens) vier Komplexe eines möglichen jugendlichen Mentalitätswandels näheren Aufschluß zu bekommen:
1, über die emotionalen Einstellungen Jugendlicher gegenüber der „Wende“ im Herbst 1989;
über das Maß von Fremdheit zwischen der Jugend hüben und drüben, wie es sich durch vierzigjährige Trennung entwickelt hat;
über das Maß der Verwurzelung des marxistischleninistischen Denkens bei DDR-Jugendlichen, und 4. über die Aufnahmebereitschaft gegenüber dem westlichen System parlamentarischer Demokratie.
II. Zur politischen Mentalität Jugendlicher in der ehemaligen DDR
Um erste Auskünfte über diese Fragen zum Zwecke didaktischer Weiterarbeit in die Hand zu bekommen, habe ich im Juni/Juli 1990 eine Befragung von DDR-Jugendlichen zwischen 17 und 27 Jahren durchgeführt. Es handelte sich dabei nicht um eine repräsentative Umfrage, sondern um eine Ein-Mann-Initiative 2) mit begrenzten Möglichkeiten, die man vielleicht als Momentaufnahme einer in Fluß befindlichen politischen Mentalitätsentwicklung bezeichnen kann 3). Besonders erfreulich war die Bereitschaft zu ausführlichen Antworten. Viele Fragebögen waren auf der Rückseite, am Rand oder in Form beigefügter Briefe so ausgiebig kommentiert, daß sich fast schon ein Interview-charakter ergab. Offenbar haben viele Jugendliche die Fragen als eine Art Gesprächsangebot verstanden. 1. Emotionale Einstellungen gegenüber der „Wende“
Die Vorstellungen von den Ereignissen im Herbst 1989 und den durch sie ausgelösten Gefühlen sind bei den meisten Zeitgenossen — nicht nur im Westen — von den Bildern des Fernsehens geprägt worden, die um die Welt gingen: Jubel, sprachlose Erschütterung, Weinen, die „Wahnsinn!“ -Ausrufe. Aber Bilder können täuschen. Die meisten Menschen — auch die Jugendlichen — in der DDR waren „weit vom Schuß“, irgendwo in der Provinz und gar nicht sehr beteiligt; sie erfuhren die Geschehnisse genau wie die Bürger im Westen erst aus dem Fernsehen, wechselten von einer Passivität in die andere. Wenn etwas mit einem geschieht, reagiert man in der Regel anders — verdrossener —, als wenn man es selbst macht. Nicht wenige aber waren ja auch selbst aktiv geworden. So erschien es mir keineswegs von vornherein ausgemacht, daß die Einstellungen gegenüber den Herbstereignissen auch nur einigermaßen einheitlich wären.
Meine Frage 1. 1 lautete: „Wie würden Sie Ihre damaligen Gefühle gegenüber den Herbstereignissen bezeichnen?“ Ich gab als Antwortvorgabe fünf graduelle Abstufungen. Das Ergebnis lautete: Begeisterung 17, 6% Freude und Befriedigung 26, 7% Zurückhaltende Zustimmung 33. 0% Zweifel 22, 1% Enttäuschung, Ablehnung 0, 6% Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich die große Mehrheit zu den Herbstereignissen bekennt; aber es ist nicht die Begeisterung, nicht einmal die Freude und Befriedigung, sondern die zurückhaltende Zustimmung, die am häufigsten angekreuzt wurde. Aus den vielen Kommentaren zu dieser Frage wird deutlich, wie dieses eigentümlich gebrochene Resultat zu verstehen ist: Kaum einer der Kommentare ist frei vom Motiv „Zukunftsangst“, das in mehreren Varianten auftritt — als Sorge um eine rechtslastige politische Entwicklung, als Enttäuschung, daß die in der „friedlichen Revolution“ maßgebenden Kräfte so rasch von den Parteien verdrängt wurden, und als Sorge um die berufliche Zukunft. Dieses Motiv wird auch von denen geäußert, die „Freude und Befriedigung“ empfunden haben; bei den Zweifelnden wird es stark hervorgehoben. Die äußerst geringe Zahl der Ablehnenden bedeutet übrigens nicht — worauf ich hier schon hinweisen möchte —, daß die Spuren des alten Regimes so gut wie verschwunden seien (vgl. dazu Kapitel II. 3.).
Mit dem Ankreuzen der Stichwörter war aber noch nicht geklärt, in welchen Verständnisrahmen die Befragten die Herbstereignisse einordneten. Bei meinen Zusatzfragen stellte sich heraus, daß die große Mehrzahl das Ende der DDR als den „Zusammenbruch des Honecker-Regimes“ verstanden (80 %). Nur eine Minderheit (13, 6 %) sah darin vor allem den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ und eine noch kleinere Zahl (6, 4%) ein Symptom für die „weltweite Krise des marxistischen Sozialismus bzw.der Planwirtschaft“ Offenkundig herrschte eine Neigung zur engsten diesbezüglichen Interpretation vor. Man mag daraus schließen, daß die Aufmerksamkeit der DDR-Jugendlichen stark auf %) sah darin vor allem den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ und eine noch kleinere Zahl (6, 4%) ein Symptom für die „weltweite Krise des marxistischen Sozialismus bzw.der Planwirtschaft“ 4). Offenkundig herrschte eine Neigung zur engsten diesbezüglichen Interpretation vor. Man mag daraus schließen, daß die Aufmerksamkeit der DDR-Jugendlichen stark auf das eigene Land und weit weniger stark auf die Weltereignisse gerichtet war — was recht normal und nicht weiter bemerkenswert wäre; es kann aber auch bedeuten, daß hier eine Art Schadensbegrenzungsmechanik am Werk war: Wenn man das Honecker-Regime — das übrigens oft mit den Epitheta „Altmännerriege“ oder „verrottet“ bezeichnet wurde — abschreibt, muß man noch lange nicht den gesamten marxistischen Sozialismus in Frage stellen.
Auch bei den Zweifelnden oder Enttäuschten wollte ich herausfinden, worauf sich ihre Enttäuschung richtete: auf den Verlust einer Idee, einer Hoffnung, auf den Verlust realer Errungenschaften oder auf die persönliche Zukunftsunsicherheit. Nach den Kommentaren zur ersten Frage war damit zu rechnen, daß die Zukunftsunsicherheit an erster Stelle stehen würde. Das war keineswegs der Fall; 57% bezeichneten den Verlust einer Hoffnung, ei-ner Idee, als den Grund ihrer Enttäuschungsgefühle 5). Das ist ein bemerkenswerter Tatbestand, denn er signalisiert, daß — auch angesichts einer weitreichenden Zustimmung zu den Herbstereignissen — Merkmale einer Sinnkrise bei den Jugendlichen anzutreffen sind. Die angesprochene Hoffnung oder Idee kann nur der Sozialismus sein, und der Verlust wird als schmerzlich empfunden. Einige Kommentare: „Obwohl ich mich über die Revolution freute, ist es traurig, daß eine Idee wie der Sozialismus an der Habgier und der Herrschsucht der Menschen scheiterte!“ — „Mir persönlich tun die Leute wie Marx, Engels und Lenin leid, weil ihre Ziele, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, mißbraucht wurden.“
Offenkundig ist die Idee des Sozialismus, die Menschheitsutopie, erheblich stärker im Bewußtsein der jungen Leute verankert als die Bindung an das SED-Regime und den DDR-Sozialismus. Hier ist ein Punkt, von dem man sagen kann, daß die sozialistische Erziehung nicht ohne Wirkung geblieben ist. Die Bindungen scheinen aber eher im Humanen und Ideellen als im Realpolitischen, eher in den psychischen Tiefenschichten als an der Oberfläche zu liegen 6).
Die folgende Frage hat ein besonderes Gewicht: „Haben Sie das Gefühl, in den vergangenen Jahren irgendwie betrogen worden zu sein?“ 83, 7% antworteten mit „Ja“, 16, 3% antworteten mit „Nein“ Das Ergebnis ist deutlich genug! Man möchte sagen: Wiederum eine betrogene Generation in Deutschland, zum zweitenmal in einem halben Jahrhundert . . . Gerade die „Jugend 1945“ hatte sich als betrogen empfunden, und zwar nicht nur die Hitlergläubigen Auch jetzt, 1990, sind es in der DDR nicht nur die enttäuschten Anhänger des Sozialismus, die mit „Ja“ geantwortet haben, vielmehr zieht sich dieses Gefühl durch die verschiedenen Positionen. Natürlich ist das Betrogen-sein-Motiv eine subjektive Deutung. Deshalb ist es nötig, Näheres darüber zu erfahren. Worum fühlte man sich betrogen? 12, 5% gaben an: um reale Berufsmöglichkeiten, 23, 4%: um Lebensgenuß und 64, 1%: um Lebenszeit und Lebenssinn. Hier wird bestätigt, was sich schon vorher andeutete: Die Wende wurde (auch) als Sinnkrise erlebt. Eine große Mehrheit der Befragten wählt die radikalste Deutung: Wer sich um Lebenszeit und Lebenssinn betrogen fühlt, fühlt sich um das schlechthin Einmalige, nicht Nachholbare betrogen. Diese Antwort macht glaubhaft, daß die Abneigung gegen die SED-Herrschaft sehr tief in die Psyche hinabreicht. Vermutlich wird deshalb die Aufarbeitung lange Zeit in Anspruch nehmen. Von dieser Aufarbeitung hängt Entscheidendes ab: Wenn es bei dem Gefühl des Beleidigtseins bleibt, wird die Abwendung vom Politischen die Folge sein. Andererseits kann auch der Impuls daraus erwachsen: „Ein weiteres Mal lasse ich mich nicht betrügen!“ — und das wäre keine schlechte Voraussetzung für einen wachsamen demokratischen Bürger. 2. Wie tief ist die Kluft, die durch die Jugend geht?
Zu den Alpträumen der älteren Generation, die die Einheit Deutschlands noch als Selbstverständlichkeit erlebt hatte, gehörte die Vorstellung, daß sich die Jugend in beiden Teilen Deutschlands einander völlig entfremden würde und eine Verständigung auf die Dauer gar nicht mehr möglich sei. Plausible Gründe für solche Sorgen gab es in Fülle: Feindschaftserziehung gegenüber dem „Klassenfeind“, Beargwöhnung selbst harmlosester Westkontakte, Abqualifizierung westlicher Medieneinflüsse in der DDR u. a. m. Inzwischen hat sich die Sorge im großen und ganzen als hinfällig erwiesen. Es gibt offenkundig keine unüberwindbaren Schwierigkeiten zwischen der Jugend hüben und drüben. Dennoch: Sind da nicht Widerhaken im gegenseitigen Verständnis geblieben, geht die Jugend hier mit der Jugend dort wirklich von gleich zu gleich um? Fühlt sich die Jugend in der ehemaligen DDR in gewisser Weise nicht doch als etwas Eigenes? Mit anderen Worten: Gibt es so etwas wie eine DDR-Identität als verbindendes Gefühl bei dieser Jugend?
Die ganz überwiegende Zahl der Befragten (84, 7%) hat „Stolz“ auf die DDR empfunden. An erster Stelle wird hier der Sport genannt, an zweiter Stelle die „sozialen Errungenschaften“ (gesicherter Arbeitsplatz, Kinderbetreuung, niedrige Lebenshaltungskosten), es folgen „Bildung und Kultur“ sowie „Ausländerfreundlichkeit“. Sehr deutlich wird an den Antworten, daß dieser Stolz ganz un-ideologisch verstanden wird: „In erster Linie ist es das Heimatgefühl. Ich bin hier geboren, ich lebe hier, ich gehöre hierher.“ Oder: „Ich bin in Leipzig aufgewachsen, habe hier Freunde, stehe hier meine Ängste aus, erlebe hier meine Freuden. Ich glaube, eine gewisse Verbundenheit mit der DDR als Land (ohne an die Regierung zu denken) hat fast jeder hier.“ Die Verbundenheit unter denselben Lebensbedingungen ist es, die eine Art DDR-Identität geschaffen hat; hier wird die vierzigjährige Sonder-entwicklung in ihren Wirkungen greifbar, und zwar unterhalb der ideologischen Ebene.
Über das Sonderbewußtsein der DDR-Jugendlichen geben auch die Antworten auf die Frage, wie sie denn die „Wessies“ einschätzten, eine recht drastische Auskunft. An keiner Stelle des Fragebogens sind die Antworten so einheitlich wie bei den Fragen: „Gibt es bestimmte Dinge an den , Wessies‘, die Ihnen auf die Nerven gehen?“ und „Gibt es Dinge, die Ihnen an den , Wessies 1 gefallen?“ Zur ersten Frage wird ausnahmslos gesagt: Arroganz, Überlegenheitsgefühle, Überheblichkeit, Bemitleiden der DDR-ler, „Be-positive-Getue“ und Ähnliches, was auf derselben Linie hegt. Was an den „Wessies“ gefällt, wird bezeichnet mit Wörtern wie locker, lässig, flippig, nicht so verklemmt, weltoffen, kontaktfreudig, natürlich, wortgewandt, Fähigkeit zu freiem Vortrag, rhetorisch überlegen.
Indirekt wird in den Antworten zur zweiten Frage ein gewisses eigenes Unterlegenheitsgefühl spürbar: Offenbar hat man den Eindruck, gegenüber den „Wessies“ ein bißchen steif und gehemmt zu wirken Auch wird in manchen Kommentaren Verletzbarkeit erkennbar, die gewiß aus ähnlichen Wurzeln erwächst. Deutlich ist jedenfalls, daß es (noch?) ein Wir-Gefühl unter den Jugendlichen der DDR gibt und die „Wessies“ (noch?) als etwas Fremdes betrachtet werden — wobei die Fremdheitsschwelle aber nicht sehr hoch ist, u. a. auch deshalb nicht, weil (wie an anderen Stellen der Befragung klar wird) eine einheitliche internationale Jugendkultur in Musik, Kleidung, Sprachgebaren und Lebensstil rasche Verbindungen schafft. 3. Zur Verwurzelung marxistisch-leninistischer Denkstrukturen Der „ML“ — wie der Marxismus-Leninismus in der DDR kurz genannt wurde — gab nicht nur das oberste Normensystem ab, sondern war unmittelbar für die Staatsbürgerkunde und den Geschichtsunterricht maßgebend. Er bestimmte Ziele und Inhalte der Lehrpläne und die Struktur der Lehrbücher. Das einheitlich eingeführte Lehrbuchwerk „Geschichte 5 — 10“ des Verlags Volk und Wissen zum Beispiel war nach den Denkstrukturen des ML aufgebaut, ohne dies freilich deutlich zu sagen, so daß den Schülern das ML-Geschichtsbild als etwas scheinbar Natürliches, der Realgeschichte Inne-wohnendes erscheinen mußte.
Aber es gab bei den Schülern auch Abwehrmechanismen gegenüber dem Monopolanspruch des ML. „Ich schaltete meine Ohren sofort auf Durchzug“, schreibt eine 18jährige Schülerin in einem Fragebogen, „aber jetzt allmählich meine ich, mich mit den Dingen doch einmal beschäftigen zu müssen.“ Solche Stimmen dürfen aber nicht den Blick davor verschließen, daß gerade die Sinngebungskompetenz des ML — eine seiner großen Stärken — viele begabte und an Fragen des Gemeinwesens interessierte Schüler erreichte. Sie sind jetzt mit einer Situation konfrontiert, in der das alles nicht mehr gilt. Aber: Gilt es wirklich nicht mehr? Ist der ML nicht eine Lehre, deren theoretische Bedeutung weit über die Wellenschläge der Gegenwartsereignisse hinausreicht? Seine ungewöhnliche Fähigkeit, auch in ausweglosen Situationen seine Anhänger in ihren Überzeugungen zu stärken, hat der ML ja oft genug bewiesen — während des Spanischen Bürgerkriegs, im Dritten Reich und in Nachkriegskrisen.
Für eine künftige politische Bildung ist es von besonderer Bedeutung zu wissen, was von den Denkstrukturen des ML bei den jungen Leuten die „Wende“ überlebt hat. Es gibt möglicherweise Bewußtseinsbestände. die vom ML „besetzt“, und andere, die „frei“ sind für Neues. Dies muß man, wenigstens in einigen Umrissen, abschätzen können, wenn man didaktisch Weiterarbeiten will.
Angesichts der hohen Zustimmung zur „Wende“ überrascht es, daß immerhin 78, 1 % die Frage: „Bedeuten für Sie die Herbstereignisse 1989 das Ende der marxistischen Geschichtsauffassung?“ mit „Nein“ beantworteten. Offenkundig sind für die Mehrzahl der Befragten die realpolitische Situation und die Ideologie etwas sehr Verschiedenes.
Kann man mithin davon ausgehen, daß der ML noch festgegründet im Bewußtsein sitzt? Das wäre zu vereinfacht gesehen, wie die Antworten auf die folgende Frage zeigen, mit der ich ein differenzierteres Bild anzielte als mit der vorigen, pauschal gehaltenen Frage. Gefragt wurde, ob die genannten Teillehren des ML für unhaltbar oder nach wie vor für gültig angesehen wurden:
Auffallend an dieser Bewertung ist der sehr hohe Wert für „unhaltbar“ bei der führenden Rolle der Arbeiterklasse. Dazu steht in einem Gegensatz die hohe Gültigkeitsbewertung beim Klassenkampf und auch noch bei der ersten, verwandten Frage nach der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen in der Geschichte. Bei Frage 3 und 4 ist das Ergebnis zwar nicht sehr signifikant, aber doch so, daß hier eine Mehrheit für „unhaltbar“ plädiert.
Das Ergebnis erscheint unstimmig, freilich nur auf den ersten Blick. Die drei letzten Teillehren besitzen Realitätsnähe und sind aus dem eigenen Erfahrungsbereich bis zu einem gewissen Grad überprüfbar. zum mindesten aber erreichbar. Man konnte sich aus dem eigenen Erleben ein Urteil zu Punkt 5 bilden; bei Punkt 3 ist es immerhin möglich, aus dem zeitgeschichtlichen Horizont Unstimmigkeiten der Lehre zu erkennen — etwa imperialistische Politik, hinter der keineswegs der Kapitalismus als Treibkraft steht. Ähnliches gilt für die Ideologie-lehre, die ja die Antwort schuldig bleibt auf die sich aufdrängende Erfahrung etwa von der Überlegenheit westlicher Wissenschaft. Die beiden ersten Teillehren kann man dagegen viel schwerer für „unhaltbar“ erklären, weil sie nicht nur eine Gesamtübersicht über die Weltgeschichte voraussetzen, sondern weil eine Kritik nur möglich ist. wenn man über alternative Denkmodelle verfügt. Man kann, wenn man dieser — freilich sehr schmalen — Zahlenbasis folgt, von einer asymmetrischen Abtragung des ML sprechen. Bestimmte Momente oder Teillehren scheinen recht stabil zu sein; entweder, weil ihnen eine starke Sinngebungskompetenz innewohnt oder weil sie wegen ihres hohen Theoretisierungsgrads nur schwer von der Kritik des „ungeübten“ einzelnen zu erreichen sind. Dazu gehören in erster Linie die obersten, auf den gesamten Geschichtsprozeß und gleichzeitig auf die Zukunftsgestaltung zielenden Vorstellungen einer gerechten Menschheitsordnung und vom zwar mühevollen, aber doch gesetzmäßigen Weg dorthin. Ganz anders sieht es mit den Momenten der Doktrin aus, die näher an der praktischen Politik gelagert sind. Diese scheinen sich in voller Auflösung zu befinden. Der ML ähnelt im Bewußtsein der Jugendlichen der ehemaligen DDR einem Gebäude, das baufällig ist: Einzelne Stockwerke sind noch begehbar, andere nicht mehr. Man darf vermuten: Es bröckelt weiter. 4. Aufnahmebereitschaft gegenüber der westlichen parlamentarischen Demokratie Wenn alte Bewußtseinsbestände ihre Wirksamkeit verlieren, bedeutet dies noch nicht, daß automatisch etwas Neues an ihre Stelle träte. Die westlichen Demokratien galten jahrzehntelang als Feind. Nun findet man sich plötzlich, noch atemlos, als Teil dieser Welt. Viele Menschen haben das als eine Art Überwältigung oder Überrumpelung erlebt. Zum Zeitpunkt der Befragung hatte die DDR-Bevölkerung ihre ersten Erfahrungen mit Parlamentarismus und Mehrparteiensystem gemacht — genauer gesagt: mit einem Vierteljahr erster Gehversuche der neuen Volkskammer nach den Märzwahlen 1990. Es handelte sich dabei um eine sehr transitorische Phase des neuen demokratischen Systems. Vermutlich haben sich auch angesichts der raschen politischen Weiterentwicklung die Einstellungen inzwischen wiederum verändert. Die Befragung hält eine Momentaufnahme fest, aber vor allem macht sie auf eine Gefahr aufmerksam, der die politische Didaktik große Wachsamkeit widmen muß.
Es geht um die Frage, wie die politische Entwicklung nach den Herbstereignissen beurteilt wurde. Dabei wird eine Umkehrung der günstigen Bewertungen der Herbstereignisse sichtbar. Etwa die Hälfte der Befragten (48%) hat keine Antwort gegeben. Von der anderen Hälfte kommen überwiegend, nämlich zu 68 % skeptische bis äußerst ablehnende Beurteilungen; nur ein Viertel der Beantworter fühlt sich in seiner günstigen Anfangsbeurteilung der Herbstereignisse bestätigt, 6, 4% drükken sich unentschieden aus
Diese Zahlen signalisieren einen deutlichen Stimmungseinbruch. Die anfängliche Freude und Befriedigung hat sich nur selten als dauerhaft erwiesen. Neue Motive des Zweifels, ja der Ablehnung sind hinzugekommen. Die meisten der genannten Motive sind aus Presse und Medien bekannt und überraschen nicht besonders: Man fürchtet sich vor der Macht der D-Mark; man möchte nicht so rasch wiedervereinigt werden; nicht wenige sind ganz gegen eine Wiedervereinigung; man bedauert, daß die Initiativgruppen des Herbstes von der Bildfläche verschwunden sind. Es kommt aber noch ein weiterer Komplex hinzu: Das neue Parteiwesen und die Arbeit der Volkskammer werden durchweg vernichtend beurteilt. „Geschrei über Bonzen-Privilegien der SED — und nun Politiker, die sich in ihrer Selbstherrlichkeit sonnen und als erstes an ihre Privilegien denken. Statt SED-Diktatur jetzt eine arrogante CDU, die die Opposition ausgrenzt. Größter Fehler war die Abschaffung des Runden Tisches.“ — „Mit dieser Regierung wird genauso Macht und keine Demokratie vertreten wie mit der unter Honecker.“ — „Ich bin traurig, daß die Ideale des Neuen Forums von CDU/CSU, die in den Oktobertagen nicht auftraten, verraten und mit Geld übergangen wurden.“ In diesen und anderen Kommentaren wird deutlich, daß die CDU mit dem großen Geld identifiziert wird. Für die SPD sieht das Bild nicht besser aus: Sie kommt überhaupt nicht vor.
Die ersten Schritte der westlichen Demokratie auf dem Boden der DDR haben jedenfalls nicht für die Demokratie geworben, sondern förmlich einen Fundus für negative Einstellungen angelegt. Aus der Aufbruchstimmung des Herbstes 1989 ist im Sommer 1990 eine mürrische Passivität gegenüber den demokratischen Gehversuchen geworden.
Mir scheinen darin zwei unterschiedliche Momente zum Ausdruck zu kommen: Zum einen war diese Mißstimmung eine unmittelbare Spiegelung der vielfach problematischen, zeitweise ganz unglücklichen Arbeit der Volkskammer nach den Märzwahlen; zum anderen aber — und dieser Tatbestand ist für die politische Bildungbedenkenswert — kommt in den negativen Urteilen auch ein gut Teil Unverständnis für Meinungsunterschiede, parlamentari-sehen Streit, Parteientaktik und zeitraubendes Ringen um Lösungen zum Ausdruck. Man ist ungehalten über mangelnde Einigkeit, wünscht entschlossenes Handeln, hat wenig Sinn für unterschiedliche Interessenlagen. Ich halte dies auch für die Nachwirkung einer jahrzehntelangen Konsenserziehung die wahrscheinlich tief eingewurzelt ist und sich der Reflexion nicht leicht öffnet. Man kann im Grunde nicht recht verstehen, warum sich die Parteien im Parlament stundenlange Redeschlachten liefern und es so schwer ist, handlungsfähige Mehrheiten zustandezubringen. (Ich erinnere mich sehr wohl, daß in den Jahren 1948/49 die Grundeinstellungen im Westen gegenüber der frühen Arbeit der Länderparlamente und des Bundestages gerade bei der Jugend ganz ähnlich waren.)
III. Zusammenfassung der Ergebnisse und didaktische Konsequenzen
1. Die Jugend der ehemaligen DDR ist, was ihr politisches Denken betrifft, eine „Jugend auf dem Wege“. Im Spektrum der politischen Mentalitäten hat es im Sommer 1990 sehr wenig feste Positionen links und rechts gegeben, aber viel Unsicherheit und Nachdenklichkeit bei der großen Mittelgruppe. Nicht zu verkennen ist der Stimmungsumschwung im Frühjahr 1990 von einer eher optimistischen zu einer vorwiegend pessimistischen Lageeinschätzung. Insgesamt herrscht eine starke Turbulenz vor. Zweifel an der Richtigkeit der Entwicklung gibt es selbst bei denen, die die Herbstereignisse freudig begrüßten, andererseits lassen nach wie vor überzeugte Marxisten die Honecker-Regierung und den SED-Sozialismus ohne Bedauern „abfahren“. 2. Es kann kein Zweifel sein, daß es so etwas wie eine „DDR-Identität“ bzw. — um diesen totgeredeten Begriff zu vermeiden — ein Gemeinsamkeits-und Zusammengehörigkeitsgefühl der DDR-Jugendlichen im Sommer 1990 gegeben hat. Dieses versteht sich nicht als politische Ideologie, sondern läßt sich am besten mit Wörtern bezeichnen, die die Befragten selbst gewählt haben: „Heimat“, „unser Land“, „gemeinsame Lebensbedingungen“, „Solidarität“. Dieses Gemeinsamkeitsgefühl wird sich auch nach der staatlichen Vereinigung nicht über Nacht in Luft auflösen.
3. Es ist im Verhältnis der DDR-Jugend zu den westlichen Jugendlichen eine Spannung erkennbar, die aber nicht besonders tief geht und bereits in spöttischen Bemerkungen ihr Ventil findet. Bemerkenswerter dürfte ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl, verbunden mit eigener Verletzbarkeit, auf Seiten der DDR-Jugend sein.
4. Für den überwiegenden Teil der Befragten gilt, daß die Festigkeit marxistisch-leninistischer Über-zeugungen — wenn es sie denn je bei größeren Teilen der Jugend gegeben hat — stark abgebröckelt und teilweise schon aufgelöst ist. An bestimmten Punkten — z. B.der angeblichen Überlegenheit der Planwirtschaft, der führenden Rolle der Arbeiterklasse und der Diktatur des Proletariats — scheint sie bereits völlig unglaubwürdig geworden zu sein und darf als erledigt gelten. Dagegen kann keine Rede davon sein, daß sich die Idee des Sozialismus als politische Konzeption humanen Zusammenlebens ähnlich aufgebraucht hätte. Die Aufzehrung des ML verläuft unregelmäßig: Je allgemeiner die Idee, um so stärker ist die Beharrungskraft; je konkreter das Erscheinungsbild, um so deutlicher ist die Ablehnung. Auf jeden Fall aber gilt: Die Jugend befindet sich noch mitten in der Auseinandersetzung. 5. Der wichtigste Befund auf diesem Feld scheint mir kein intellektueller, sondern ein emotionaler zu sein: das weit verbreitete Gefühl des Betrogenwordenseins. Gefühle dieser Art sitzen tief und sind langfristig wirksam. Mit einiger Sicherheit führen sie dazu, daß das blauäugige Aufschauen zu politischen Führern, verbunden gar noch mit letzten Heilserwartungen, sein Ende hat. Andererseits begünstigt dieses Gefühl die völlige Abwendung von der Politik.
6. Bei vielen Antworten fällt eine Denkfigur auf, die nicht ungefährlich ist. Sie lautet vereinfacht: „Der Sozialismus ist davon ausgegangen, daß der Mensch gut ist. Das war eine Illusion, die gescheitert ist. Jetzt müssen wir lernen, daß der Mensch böse und egoistisch ist.“ Hier herrschen Mißverständnisse vor, denn die Demokratietheorien des Westens beruhen weder in ihren historischen Ursprüngen noch in ihren heutigen Ausprägungen auf der Vorstellung von der Wolfsnatur des Menschen. Hier bleiben, ohne daß den Betreffenden das bewußt ist, die Feindbilder des alten DDR-Sozialismus auf verdeckte Weise noch in Kraft. 7. Ein Antiparteienaffekt ist in der ehemaligen DDR nicht erst im Entstehen begriffen, er ist bereits da. Von hier könnte eine problematische Wirkung ausgehen, die sich auf die gesamte pluralisti-sehe Gesellschaft bezieht. Zweifellos ist hier Wachsamkeit geboten, gerade auch für die politische Bildung.
Aus dieser Bestandsaufnahme ergeben sich einige Konsequenzenfür eine zukünftigepolitische Bildung in den fünf neuen Ländern.
Die alte Staatsbürgerkunde der DDR ist abgeschafft, mit Recht; es besteht teilweise die Tendenz, sie ersatzlos abzuschaffen, zu Unrecht. Das Stundenvolumen muß unbedingt erhalten bleiben. Es kann nicht Verzicht geleistet werden auf ein Schulfach, das etwa der Sozialkunde oder „Politik“ in den alten Ländern der Bundesrepublik entspricht und das neben und mit dem Geschichtsunterricht dafür sorgt, daß die Jugendlichen in der DDR ihre enorme Verspätung im Weltverstehen aufholen und die ohnehin immer komplexer werdenden Zusammenhänge des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens der Gegenwart besser begreifen lernen. Geschieht das nicht, ist der Weg des Ausflippens ins Unpolitische schon vorgezeichnet. Die gegenwärtig in den neuen Bundesländern mit Hochdruck betriebene Lehrplan-und Lehrbuchangleichung kann leicht dazu führen, daß man nur eine Autorität gegen eine andere austauscht — gerade die Lehrpläne sind das „autoritärste“ Element im Gesamtspektrum der Didaktik. Was die Schüler in der ehemaligen DDR vor allem anderen benötigen, ist ein neuer Unterrichtsstil mit erheblich mehr Schülerinitiative, Selbstermutigung, Freiräumen des Lernens. Methodisch gesprochen: Es ist ein Schub an Projektunterricht, Gruppenunterricht, Beteiligung der Schüler an der Auswahl der Unterrichtsthemen nötig. Dies umso mehr, als der Erziehungsstil an den Schulen der DDR — in merkwürdigem Gegensatz zum amtlich verordneten Materialismus — durchaus noch viele Züge eines älteren deutschen „idealistischen“ Erziehungsstils hatte: Zurücktreten des Individuellen, Überwiegen von Sollensgeboten, Über-Ich-Ausrichtung, Appell an Pflichten, unbezweifelbare Sachautoritäten. Freilich — ein neuer Erziehungsstil ist nicht Sache obrigkeitlicher Anweisungen; er muß von innen heraus wachsen.
DDR-Jugendliche kommen schwer zurecht mit der Vielgestaltigkeit, Widersprüchlichkeit und Undurchschaubarkeit des politischen Lebens. Sie möchten gern wissen, „wo es lang geht“. Was not tut, ist der Aufbau einer Konfliktkultur. Im Westen hat sich die politische Bildung seit den siebziger Jahren um eine solche Konfliktkultur sehr verdient gemacht: Konflikte nicht einfach ablehnen als Störungen von Harmonie, sondern sie als Motiv gesellschaftlicher Dynamik verstehen und nutzen lernen. Aber auch: Konflikte aushalten können. Diese Fähigkeiten in einer gewissen Breite durchzusetzen, hat in der Bundesrepublik die Demokratie deutlich stabilisiert. Das wird heute nicht einmal mehr von denen bestritten, die seinerzeit viel lieber strikte Konsensmodelle bevorzugt hätten.
Welche didaktischen Folgerungen sind aus dem charakteristischen Abbröckelungsprozeß des ML zu ziehen? Bestimmte Momente des marxistischen Geschichtsbildes sind ja im Bewußtsein vieler Jugendlicher noch deutlich vorhanden. Soll man sie sich selbst überlassen? Die Antwort ist einfach: Wenn man die Heranwachsenden zu einem erhöhten Maß an Selbstbestimmungsfähigkeit erziehen will, so setzt dies eine erhöhte Urteilsfähigkeit voraus. Diese aber kann man nicht erreichen, wenn man der aufarbeitenden Auseinandersetzung ausweicht. So klar diese Folgerung ist — die Wirklichkeit sieht gegenwärtig anders aus, weil die Bereitschaft groß ist, den Problemen auszuweichen oder sie einfach hegenzulassen. Sicher ist, daß die Aufarbeitung Schwierigkeiten mit sich bringt. Es ist hier nicht der Ort, ein förmliches Programm zu entwickeln. Vielleicht genügt es zunächst, ein paar realistische — d. h. im Geschichtsunterricht zu verwirklichende — Möglichkeiten zu skizzieren:
Man sollte sich vor zu großen Brocken hüten. Den ganzen historischen Materialismus pauschal aufzuarbeiten, dürfte im normalen Schulalltag nur selten möglich sein. Der Geschichtsunterricht aber könnte Aufarbeitung an begrenzten, ohnehin zum Stoff gehörenden Themen durchführen, etwa so, daß in den Klassen 8, 9 und 10 je eine Unterrichtseinheit angesetzt wird, die an Hand von Themen wie Französische Revolution, Industrielle Revolution, Weimarer Republik. Nationalsozialismus, Kalter Krieg u. a. m. die Ergebnisse des ML und die Darstellung der neu eingeführten Geschichtsbücher aus dem Westen vergleicht und dabei die Erkenntnisleistungen, aber auch -Verengungen des ML sichtbar macht.
Neben die Sichtbarmachung der Erkenntnisleistungen und -Verengungen gehört dann auf einer weiteren Ebene der Aufarbeitung die politische Funktion einer bestimmten Geschichtsvorstellung für die Herrschaftslegitimation. Beispiel: Was bedeutete ein bestimmtes Bild vom Faschismus für die Legitimation und Stabilisierung der SED-Herrschaft, und welche Bilder vom Faschismus konnten solche Legitimation stören? Schließlich darf nicht darauf verzichtet werden, die Erfassung und Beeinflussung des einzelnen via Geschichtsbild zum Gegenstand des politisch-historischen Nachdenkens zu machen. Hierher gehört dann etwa die Sichtbarmachung von Heroisierungen im ML-Geschichtsbild. Der ML-Geschichtsunterricht beruhte weitgehend noch auf einer Vorbild-und Identifikationsdidaktik! Diese durch eine kritische Geschichtsdidaktik zu ersetzen, darf man als wichtigste Aufgabe des Geschichtsunterrichts in den neuen Bundesländern bezeichnen.
Ein Problem freilich kann auch der kritischste Geschichtsunterricht nicht lösen: Er kann nicht die sinnstiftende Funktion des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes ersetzen wollen durch die Lieferung neuer „letzter Werte“. Mit diesem Vakuum — wenn es denn ein Vakuum ist und nicht die Chance einer neuen Art von Freiheit — müssen die Jugendlichen „drüben“ leben lernen.